Sigmund Freud
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
Sigmund Freud

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VII.

Das Vergreifen.

Der dankenswerten Arbeit von Meringer und Mayer entnehme ich noch die Stelle ( p. 98):

»Die Sprechfehler stehen nicht ganz allein da. Sie entsprechen den Fehlern, die bei anderen Tätigkeiten des Menschen sich oft einstellen und ziemlich töricht »Vergesslichkeiten« genannt werden.«

Ich bin also keinesfalls der erste, der Sinn und Absicht hinter den kleinen Funktionsstörungen des täglichen Lebens Gesunder vermutet.

Wenn die Fehler beim Sprechen, das ja eine motorische Leistung ist, eine solche Auffassung zugelassen haben, so liegt es nahe, auf die Fehler unserer sonstigen motorischen Verrichtungen die nämliche Erwartung zu übertragen. Ich habe hier zwei Gruppen von Fällen gebildet; alle die Fälle, in denen der Fehleffekt das Wesentliche scheint, also die Abirrung von der Intention, bezeichne ich als » Vergreifen«, die anderen, in denen eher die ganze Handlung unzweckmässig erscheint, benenne ich » Symptom- und Zufallshandlungen«. Die Scheidung ist aber wiederum nicht reinlich durchzuführen; wir kommen ja wohl zur Einsicht, dass alle in dieser Abhandlung gebrauchten Einteilungen nur deskriptiv bedeutsame sind und der inneren Einheit des Erscheinungsgebietes widersprechen.

Das psychologische Verständnis des »Vergreifens« erfährt offenbar keine besondere Förderung, wenn wir es der Ataxie und speziell der »kortikalen Ataxie« subsumieren. Versuchen wir lieber, die einzelnen Beispiele auf ihre jeweiligen Bedingungen zurückzuführen. Ich werde wiederum Selbstbeobachtungen hierzu verwenden, zu denen sich die Anlässe bei mir nicht besonders häufig finden.

  1. In früheren Jahren, als ich Hausbesuche bei Patienten noch häufiger machte als gegenwärtig, geschah es mir oft, dass ich, vor der Türe, an die ich klopfen oder läuten sollte, angekommen, die Schlüssel meiner eigenen Wohnung aus der Tasche zog, um – sie dann fast beschämt wieder einzustecken. Wenn ich mir zusammenstelle, bei welchen Patienten dies der Fall war, so muss ich annehmen, die Fehlhandlung – Schlüssel herausziehen anstatt zu läuten – bedeutete eine Huldigung für das Haus, wo ich in diesen Missgriff verfiel. Sie war äquivalent dem Gedanken: »Hier bin ich wie zu Hause«, denn sie trug sich nur zu, wo ich den Kranken lieb gewonnen hatte. (An meiner eigenen Wohnungstür läute ich natürlich niemals.) Die Fehlhandlung war also eine symbolische Darstellung eines doch eigentlich nicht für ernsthafte, bewusste Annahme bestimmten Gedankens, denn in der Realität weiss der Nervenarzt genau, dass der Kranke ihm nur so lange anhänglich bleibt, als er noch Vorteil von ihm erwartet, und dass er selbst nur zum Zweck der psychischen Hilfeleistung ein übermässig warmes Interesse für seine Patienten bei sich gewähren lässt.

  2. In einem bestimmten Hause, wo ich seit sechs Jahren zweimal täglich zu festgesetzten Zeiten vor einer Türe im zweiten Stock auf Einlass warte, ist es mir während dieses langen Zeitraums zweimal (mit einem kurzen Intervall) geschehen, dass ich um einen Stock höher gegangen bin, also mich » verstiegen« habe. Das eine mal befand ich mich in einem ehrgeizigen Tagtraum, der mich »höher und immer höher steigen« liess. Ich überhörte damals sogar, dass sich die fragliche Tür geöffnet hatte, als ich den Fuss auf die ersten Stufen des dritten Stockwerks setzte. Das anderemal ging ich wiederum »in Gedanken versunken« zu weit; als ich es bemerkte, umkehrte und die mich beherrschende Phantasie zu erhaschen suchte, fand ich, dass ich mich über eine (phantasierte) Kritik meiner Schriften ärgerte, in welcher mir der Vorwurf gemacht wurde, dass ich immer »zu weit ginge«, und in die ich nun den wenig respektvollen Ausdruck » verstiegen« einzusetzen hatte.

  3. Auf meinem Schreibtische liegen seit vielen Jahren neben einander ein Reflexhammer und eine Stimmgabel. Eines Tages eile ich nach Schluss der Sprechstunde fort, weil ich einen bestimmten Stadtbahnzug erreichen will, stecke bei vollem Tageslicht anstatt des Hammers die Stimmgabel in die Rocktasche und werde durch die Schwere des die Tasche herabziehenden Gegenstandes auf meinen Missgriff aufmerksam gemacht. Wer sich über so kleine Vorkommnisse Gedanken zu machen nicht gewöhnt ist, wird ohne Zweifel den Fehlgriff durch die Eile des Momentes erklären und entschuldigen. Ich habe es trotzdem vorgezogen, mir die Frage zu stellen, warum ich eigentlich die Stimmgabel anstatt des Hammers genommen. Die Eilfertigkeit hätte ebensowohl ein Motiv sein können, den Griff richtig auszuführen, um nicht Zeit mit der Korrektur zu versäumen.

    Wer hat zuletzt nach der Stimmgabel gegriffen? lautet die Frage, die sich mir da aufdrängt. Das war vor wenigen Tagen ein idiotisches Kind, bei dem ich die Aufmerksamkeit auf Sinneseindrücke prüfte, und das durch die Stimmgabel so gefesselt wurde, dass ich sie ihm nur schwer entreissen konnte. Soll das also heissen, ich sei ein Idiot? Allerdings scheint es so, denn der nächste Einfall, der sich an Hammer assoziiert, lautet » Chamer« (hebräisch: Esel).

    Was soll aber dieses Geschimpfe? Man muss hier die Situation befragen. Ich eile zu einer Konsultation in einem Ort an der Westbahnstrecke, zu einer Kranken, die nach der brieflich mitgeteilten Anamnese vor Monaten vom Balkon herabgestürzt ist und seither nicht gehen kann. Der Arzt, der mich einlädt, schreibt, er wisse trotzdem nicht, ob es sich um Rückenmarksverletzung oder um traumatische Neurose – Hysterie – handle. Das soll ich nun entscheiden. Da wäre also eine Mahnung am Platze, in der heiklen Differentialdiagnose besonders vorsichtig zu sein. Die Kollegen meinen ohnedies, man diagnostiziere viel zu leichtsinnig Hysterie, wo es sich um ernstere Dinge handle. Aber die Beschimpfung ist noch nicht gerechtfertigt! Ja, es kommt hinzu, dass die kleine Bahnstation der nämliche Ort ist, an dem ich vor Jahren einen jungen Mann gesehen, der seit einer Gemütsbewegung nicht ordentlich gehen konnte. Ich diagnostizierte damals Hysterie und nahm den Kranken später in psychische Behandlung, und dann stellte es sich heraus, dass ich freilich nicht unrichtig diagnostiziert hatte, aber auch nicht richtig. Eine ganze Anzahl der Symptome des Kranken war hysterisch gewesen, und diese schwanden auch prompt im Laufe der Behandlung. Aber hinter diesen wurde nun ein für die Therapie unantastbarer Rest sichtbar, der sich nur auf eine multiple Sklerose beziehen liess. Die den Kranken nach mir sahen, hatten es leicht, die organische Affektion zu erkennen; ich hätte kaum anders vorgehen und anders urteilen können, aber der Eindruck war doch der eines schweren Irrtums; das Versprechen der Heilung, das ich ihm gegeben hatte, war natürlich nicht zu halten. Der Missgriff nach der Stimmgabel anstatt nach dem Hammer liess sich also so in Worte übersetzen: Du Trottel, Du Esel, nimm Dich diesmal zusammen, dass du nicht wieder eine Hysterie diagnostizierst, wo eine unheilbare Krankheit vorliegt, wie bei dem armen Mann an demselben Ort vor Jahren! Und zum Glück für diese kleine Analyse, wenn auch zum Unglück für meine Stimmung, war dieser selbe Mann mit schwerer spastischer Lähmung wenige Tage vorher und einen Tag nach dem idiotischen Kind in meiner Sprechstunde gewesen.

    Man merkt, es ist diesmal die Stimme der Selbstkritik, die sich durch das Fehlgreifen vernehmlich macht. Zu solcher Verwendung als Selbstvorwurf ist der Fehlgriff ganz besonders geeignet. Der Missgriff hier will den Missgriff, den man anderswo begangen hat, darstellen.

  4. Selbstverständlich kann das Fehlgreifen auch einer ganzen Reihe anderer dunkler Absichten dienen. Hier ein erstes Beispiel: Es kommt sehr selten vor, dass ich etwas zerschlage. Ich bin nicht besonders geschickt, aber infolge der anatomischen Integrität meiner Nervmuskelapparate sind Gründe für so ungeschickte Bewegungen mit unerwünschtem Erfolg bei mir offenbar nicht gegeben. Ich weiss also kein Objekt in meinem Hause zu erinnern, dessengleichen ich je zerschlagen hätte. Ich bin durch die Enge in meinem Studierzimmer oft genötigt, in den unbequemsten Stellungen mit einer Anzahl von antiken Ton- und Steinsachen, von denen ich eine kleine Sammlung habe, zu hantieren, so dass Zuschauer die Besorgnis ausdrücken, ich würde etwas herunterschleudern und zerschlagen. Es ist aber niemals geschehen. Warum habe ich also unlängst den marmornen Deckel meines einfachen Tintengefässes zu Boden geworfen, so dass er zerbrach?

    Mein Tintenzeug besteht aus einer Platte von Untersberger Marmor, die für die Aufnahme des gläsernen Tintenfässchens ausgehöhlt ist; das Tintenfass trägt einen Deckel mit Knopf aus demselben Stein. Ein Kranz von Bronzestatuetten und Terrakotta-Figürchen ist hinter diesem Tintenzeug aufgestellt. Ich setze mich an den Tisch, um zu schreiben, mache mit der Hand, welche den Federstiel hält, eine merkwürdig ungeschickte, ausfahrende Bewegung und werfe so den Deckel des Tintenfasses, der bereits auf dem Tische lag, zu Boden. Die Erklärung ist nicht schwer zu finden. Einige Stunden vorher war meine Schwester im Zimmer gewesen, um sich einige neue Erwerbungen anzusehen. Sie fand sie sehr schön und äusserte dann: ›Jetzt sieht Dein Schreibtisch wirklich hübsch aus, nur das Tintenzeug passt nicht dazu. Du musst ein schöneres haben.‹ Ich begleitete die Schwester hinaus und kam erst nach Stunden zurück. Dann aber habe ich, wie es scheint, an dem verurteilten Tintenzeug die Exekution vollzogen. Schloss ich etwa aus den Worten der Schwester, dass sie sich vorgenommen habe, mich zur nächsten festlichen Gelegenheit mit einem schöneren Tintenzeug zu beschenken, und zerschlug das unschöne alte, um sie zur Verwirklichung ihrer angedeuteten Absicht zu nötigen? Wenn dem so ist, so war meine schleudernde Bewegung nur scheinbar ungeschickt; in Wirklichkeit war sie höchst geschickt und zielbewusst und verstand es, allen wertvolleren in der Nähe befindlichen Objekten schonend auszuweichen.

    Ich glaube wirklich, dass man diese Beurteilung für eine ganze Reihe von anscheinend zufällig ungeschickten Bewegungen annehmen muss. Es ist richtig, dass diese etwas Gewaltsames, Schleuderndes, wie Spastisch-ataktisches zur Schau tragen, aber sie erweisen sich als von einer Intention beherrscht und treffen ihr Ziel mit einer Sicherheit, die man den bewusst willkürlichen Bewegungen nicht allgemein nachrühmen kann. Beide Charaktere, die Gewaltsamkeit wie die Treffsicherheit, haben sie übrigens mit den motorischen Äusserungen der hysterischen Neurose und zum Teil auch mit den motorischen Leistungen des Somnambulismus gemeinsam, was wohl hier wie dort auf die nämliche unbekannte Modifikation des Innervationsvorganges hinweist.

    Das Fallenlassen von Objekten, Umwerfen, Zerschlagen derselben scheint sehr häufig zum Ausdruck unbewusster Gedankengänge verwendet zu werden, wie man gelegentlich durch Analyse beweisen kann, häufiger aber aus den abergläubisch oder scherzhaft daran geknüpften Deutungen im Volksmunde erraten möchte. Es ist bekannt, welche Deutungen sich an das Ausschütten von Salz, Umwerfen eines Weinglases, Steckenbleiben eines zu Boden gefallenen Messers u. dgl. knüpfen. Welches Anrecht auf Beachtung solche abergläubische Deutungen haben, werde ich erst an späterer Stelle erörtern; hierher gehört nur die Bemerkung, dass die einzelne ungeschickte Verrichtung keineswegs einen konstanten Sinn hat, sondern je nach Umständen sich dieser oder jener Absicht als Darstellungsmittel bietet.

    Wenn dienende Personen gebrechliche Gegenstände durch Fallenlassen vernichten, so wird man an eine psychologische Erklärung hiefür gewiss nicht in erster Linie denken, doch ist auch dabei ein Beitrag dunkler Motive nicht unwahrscheinlich. Nichts liegt dem Ungebildeten ferner als die Schätzung der Kunst und der Kunstwerke. Eine dumpfe Feindseligkeit gegen deren Erzeugnisse beherrscht unser dienendes Volk, zumal wenn die Gegenstände, deren Wert sie nicht einsehen, eine Quelle von Arbeitsanforderung für sie werden. Leute von derselben Bildungsstufe und Herkunft zeichnen sich dagegen in wissenschaftlichen Instituten oft durch grosse Geschicklichkeit und Verlässlichkeit in der Handhabung heikler Objekte aus, wenn sie erst begonnen haben, sich mit ihrem Herrn zu identifizieren und sich zum wesentlichen Personal des Instituts zu rechnen.

    Sich selbst fallen lassen, einen Fehltritt machen, ausgleiten, braucht gleichfalls nicht immer als rein zufälliges Fehlschlagen motorischer Aktion gedeutet zu werden. Der sprachliche Doppelsinn dieser Ausdrücke weist bereits auf die Art von verhaltenen Phantasien hin, die sich durch solches Aufgeben des Körpergleichgewichts darstellen können. Ich erinnere mich an eine Anzahl von leichteren nervösen Erkrankungen bei Frauen und Mädchen, die nach einem Fall ohne Verletzung aufgetreten waren und als traumatische Hysterie zufolge des Schrecks beim Falle aufgefasst wurden. Ich bekam schon damals den Eindruck, als ob die Dinge anders zusammenhingen, als wäre das Fallen bereits eine Veranstaltung der Neurose und ein Ausdruck derselben unbewussten Phantasien sexuellen Inhalts gewesen, die man als die bewegenden Kräfte hinter den Symptomen vermuten darf. Sollte dasselbe nicht auch ein Sprichwort sagen wollen, welches lautet: ›Wenn eine Jungfrau fällt, fällt sie auf den Rücken‹?

  5. Dass zufällige Aktionen eigentlich absichtliche sind, wird auf keinem anderen Gebiete eher Glauben finden als auf dem der sexuellen Betätigung, wo die Grenze zwischen beiderlei Arten sich wirklich zu verwischen scheint. Dass eine scheinbar ungeschickte Bewegung höchst raffiniert zu sexuellen Zwecken ausgenutzt werden kann, davon habe ich vor einigen Jahren an mir selbst ein schönes Beispiel erlebt. Ich traf in einem befreundeten Hause ein als Gast angelangtes junges Mädchen, welches ein längst für erloschen gehaltenes Wohlgefallen bei mir erregte und mich darum heiter, gesprächig und zuvorkommend stimmte. Ich habe damals auch nachgeforscht, auf welchen Bahnen dies zuging; ein Jahr vorher hatte dasselbe Mädchen mich kühl gelassen. Als nun der Onkel des Mädchens, ein sehr alter Herr, ins Zimmer trat, sprangen wir beide auf, um ihm einen in der Ecke stehenden Stuhl zu bringen. Sie war behender als ich, wohl auch dem Objekt näher; so hatte sie sich zuerst des Sessels bemächtigt und trug ihn mit der Lehne nach rückwärts, beide Hände auf die Sesselränder gelegt, vor sich hin. Indem ich später hinzutrat und den Anspruch, den Sessel zu tragen, doch nicht aufgab, stand ich plötzlich dicht hinter ihr, hatte beide Arme von rückwärts um sie geschlungen, und die Hände trafen sich einen Moment lang vor ihrem Schoss. Ich löste natürlich die Situation ebenso rasch, als sie entstanden war. Es schien auch keinem aufzufallen, wie geschickt ich diese ungeschickte Bewegung ausgebeutet hatte.

    Gelegentlich habe ich mir auch sagen müssen, dass das ärgerliche, ungeschickte Ausweichen auf der Strasse, wobei man durch einige Sekunden hin und her, aber doch stets nach der nämlichen Seite wie der oder die Andere, Schritte macht, bis endlich beide vor einander stehen bleiben, dass auch dieses »den Weg Vertreten« ein unartig provozierendes Benehmen früherer Jahre wiederholt und sexuelle Absichten unter der Maske der Ungeschicklichkeit verfolgt. Aus meinen Psychoanalysen Neurotischer weiss ich, dass die sogenannte Naivität junger Leute und Kinder häufig nur solch eine Maske ist, um das Unanständige unbeirrt durch Genieren aussprechen oder tun zu können.

  6. Die Effekte, die durch das Fehlgreifen normaler Menschen zustande kommen, sind in der Regel von harmlosester Art. Gerade darum wird sich ein besonderes Interesse an die Frage knüpfen, ob Fehlgriffe von erheblicher Tragweite, die von bedeutsamen Folgen begleitet sein können, wie z. B. die des Arztes oder Apothekers, nach irgend einer Richtung unter unsere Gesichtspunkte fallen.

    Da ich sehr selten in die Lage komme, ärztliche Eingriffe vorzunehmen, habe ich nur über ein Beispiel von ärztlichem Vergreifen aus eigener Erfahrung zu berichten. Bei einer sehr alten Dame, die ich seit Jahren zweimal täglich besuche, beschränkt sich meine ärztliche Tätigkeit beim Morgenbesuch auf zwei Akte: ich träufle ihr ein paar Tropfen Augenwasser ins Auge und gebe ihr eine Morphiuminjektion. Zwei Fläschchen, ein blaues für das Kollyrium und ein weisses mit der Morphinlösung, sind regelmässig vorbereitet. Während der beiden Verrichtungen beschäftigen sich meine Gedanken wohl meist mit etwas anderem; das hat sich eben schon so oft wiederholt, dass die Aufmerksamkeit sich wie frei benimmt. Eines Morgens bemerkte ich, dass der Automat falsch gearbeitet hatte, das Tropfröhrchen hatte ins weisse anstatt ins blaue Fläschchen eingetaucht und nicht Kollyrium, sondern Morphin ins Auge geträufelt. Ich erschrak heftig und beruhigte mich dann durch die Überlegung, dass einige Tropfen einer zweiprozentigen Morphinlösung auch im Bindehautsack kein Unheil anzurichten vermögen. Die Schreckempfindung war offenbar anderswoher abzuleiten.

    Bei dem Versuch, den kleinen Fehlgriff zu analysieren, fiel mir zunächst die Phrase ein: ›sich an der Alten vergreifen‹, die den kurzen Weg zur Lösung weisen konnte. Ich stand unter dem Eindrucke eines Traumes, den mir am Abend vorher ein junger Mann erzählt hatte, dessen Inhalt sich nur auf sexuellen Verkehr mit der eigenen Mutter deuten liess.Des Oedipus-Traumes, wie ich ihn zu nennen pflege, weil er den Schlüssel zum Verständnis der Sage von König Oedipus enthält. Im Text des Sophokles ist die Beziehung auf einen solchen Traum der Jokaste in den Mund gelegt. (Vgl. ›Traumdeutung‹, p. 182.) Die Sonderbarkeit, dass die Sage keinen Anstoss an dem Alter der Königin Jokaste nimmt, schien mir gut zu dem Ergebnis zu stimmen, dass es sich bei der Verliebtheit in die eigene Mutter niemals um deren gegenwärtige Person handelt, sondern um ihr jugendliches Erinnerungsbild aus den Kinderjahren. Solche Inkongruenzen stellen sich immer heraus, wo eine zwischen zwei Zeiten schwankende Phantasie bewusst gemacht und dadurch an eine bestimmte Zeit gebunden wird. In Gedanken solcher Art versunken kam ich zu meiner über neunzigjährigen Patientin, und ich muss wohl auf dem Wege gewesen sein, den allgemein menschlichen Charakter der Oedipusfabel als das Korrelat des Verhängnisses, das sich in den Orakeln äussert, zu erfassen, denn ich vergriff mich dann ›bei oder an der Alten‹. Indes dies Vergreifen war wiederum harmlos; ich hatte von den beiden möglichen Irrtümern, die Morphinlösung fürs Auge zu verwenden, oder das Augenwasser zur Injektion zu nehmen, den bei weitem harmloseren gewählt. Es bleibt immer noch die Frage, ob man bei Fehlgriffen, die schweren Schaden stiften können, in ähnlicher Weise wie bei den hier behandelten eine unbewusste Absicht in Erwägung ziehen darf.

    Hier lässt mich denn, wie zu erwarten steht, das Material im Stiche, und ich bleibe auf Vermutungen und Annäherungen angewiesen. Es ist bekannt, dass bei den schwereren Fällen von Psychoneurose Selbstbeschädigungen gelegentlich als Krankheitssymptome auftreten, und dass der Ausgang des psychischen Konfliktes in Selbstmord bei ihnen niemals auszuschliessen ist. Ich habe nun erfahren, und werde es eines Tages durch gut aufgeklärte Beispiele belegen, dass viele scheinbar zufällige Schädigungen, die solche Kranke treffen, eigentlich Selbstbeschädigungen sind, indem eine beständig lauernde Tendenz zur Selbstbestrafung, die sich sonst als Selbstvorwurf äussert, oder ihren Beitrag zur Symptombildung stellt, eine zufällig gebotene äussere Situation geschickt ausnützt, oder ihr etwa noch bis zur Erreichung des gewünschten schädigenden Effektes nachhilft. Solche Vorkommnisse sind auch bei mittelschweren Fällen keineswegs selten, und sie verraten den Anteil der unbewussten Absicht durch eine Reihe von besonderen Zügen, z. B. durch die auffällige Fassung, welche die Kranken bei dem angeblichen Unglücksfalle bewahren.

    Wer an das Vorkommen von halb absichtlicher Selbstbeschädigung – wenn der ungeschickte Ausdruck gestattet ist – glaubt, der wird dadurch vorbereitet anzunehmen, dass es ausser dem bewusst absichtlichen Selbstmord auch halb absichtliche Selbstvernichtung – mit unbewusster Absicht – gibt, die eine Lebensbedrohung geschickt auszunützen und sie als zufällige Verunglückung zu maskieren weiss. Eine solche braucht keineswegs selten zu sein. Denn die Tendenz zur Selbstvernichtung ist bei sehr viel mehr Menschen in einer gewissen Stärke vorhanden, als bei denen sie sich durchsetzt; die Selbstbeschädigungen sind in der Regel ein Kompromiss zwischen diesem Trieb und den ihm noch entgegenwirkenden Kräften, und auch wo es wirklich zum Selbstmord kommt, da ist die Neigung dazu eine lange Zeit vorher in geringerer Stärke oder als unbewusste und unterdrückte Tendenz vorhanden gewesen.

    Auch die bewusste Selbstmordabsicht wählt ihre Zeit, Mittel und Gelegenheit: es ist ganz im Einklang damit, wenn die unbewusste einen Anlass abwartet, der einen Teil der Verursachung auf sich nehmen und sie durch Inanspruchnahme der Abwehrkräfte des Individuums von ihrer Bedrückung frei machen kann.Der Fall ist dann schliesslich kein anderer als der des sexuellen Attentats auf eine Frau, bei dem der Angriff des Mannes nicht durch die volle Muskelkraft des Weibes abgewehrt werden kann, weil ihm ein Teil der unbewussten Regungen der Angegriffenen fördernd entgegen kommt. Man sagt ja wohl, eine solche Situation lähme die Kräfte der Frau; man braucht dann nur noch die Gründe für diese Schwächung hinzufügen. Insofern ist der geistreiche Richterspruch des Sancho Pansa, den er als Gouverneur auf seiner Insel fällt, psychologisch ungerecht. ( Don Quijote II. T. Kap. XLV.) Eine Frau zerrt einen Mann vor den Richter, der sie angeblich gewaltsam ihrer Ehre beraubt hat. Sancho entschädigt sie durch die volle Geldbörse, die er dem Angeklagten abnimmt, und gibt diesem nach dem Abgange der Frau die Erlaubnis, ihr nachzueilen und ihr die Börse wieder zu entreissen. Sie kommen beide ringend wieder, und die Frau berühmt sich, dass der Bösewicht nicht imstande gewesen sei, sich der Börse zu bemächtigen. Darauf Sancho: Hättest Du Deine Ehre halb so ernsthaft verteidigt wie diese Börse, so hätte sie Dir der Mann nicht rauben können. Es sind keineswegs müssige Erwägungen, die ich da vorbringe; mir ist mehr als ein Fall von anscheinend zufälligem Verunglücken (zu Pferde oder aus dem Wagen) bekannt geworden, dessen nähere Umstände den Verdacht auf unbewusst zugelassenen Selbstmord rechtfertigen. Da stürzt z. B. während eines Offizierswettrennens ein Offizier vom Pferde und verletzt sich so schwer, dass er mehrere Tage nachher erliegt. Sein Benehmen, nachdem er zu sich gekommen, ist in manchen Stücken auffällig. Noch bemerkenswerter ist sein Benehmen vorher gewesen. Er ist tief verstimmt durch den Tod seiner geliebten Mutter, wird von Weinkrämpfen in der Gesellschaft seiner Kameraden befallen, er äussert Lebensüberdruss gegen seine vertrauten Freunde, will den Dienst quittieren, um an einem Kriege in Afrika Anteil zu nehmen, der ihn sonst nicht berühr;Dass die Situation des Schlachtfeldes eine solche ist, wie sie der bewussten Selbstmordabsicht entgegenkommt, die doch den direkten Weg scheut, ist einleuchtend. Vgl. im ›Wallenstein‹ die Worte des schwedischen Hauptmanns über den Tod des Max Piccolomini: ›Man sagt, er wollte sterben‹. früher ein schneidiger Reiter, weicht er jetzt dem Reiten aus, wo es nur möglich ist. Vor dem Wettrennen endlich, dem er sich nicht entziehen kann, äussert er eine trübe Ahnung; wir werden uns bei unserer Auffassung nicht mehr verwundern, dass diese Ahnung Recht behielt. Man wird mir entgegenhalten, es sei ja ohne weiteres verständlich, dass ein Mensch in solcher nervöser Depression das Tier nicht zu meistern versteht wie in gesunden Tagen. Ich bin ganz einverstanden; nur möchte ich den Mechanismus dieser motorischen Hemmung durch die Nervosität in der hier betonten Selbstvernichtungsabsicht suchen.

    Wenn so ein Wüten gegen die eigene Integrität und das eigene Leben hinter anscheinend zufälliger Ungeschicklichkeit und motorischer Unzulänglichkeit verborgen sein kann, so braucht man keinen grossen Schritt mehr zu tun, um die Übertragung der nämlichen Auffassung auf Fehlgriffe möglich zu finden, welche Leben und Gesundheit anderer ernstlich in Gefahr bringen. Was ich an Belegen für die Triftigkeit dieser Auffassung vorbringen kann, ist der Erfahrung an Neurotikern entnommen, deckt sich also nicht völlig mit dem Erfordernis. Ich werde über einen Fall berichten, in dem mich nicht eigentlich ein Fehlgriff, sondern, was man eher eine Symptom- oder Zufallshandlung nennen kann, auf die Spur brachte, welche dann die Lösung des Konflikts bei dem Patienten ermöglichte. Ich übernahm es einmal, die Ehe eines sehr intelligenten Mannes zu bessern, dessen Misshelligkeiten mit seiner ihn zärtlich liebenden jungen Frau sich gewiss auf reale Begründungen berufen konnten, aber wie er selbst zugab, durch diese nicht voll erklärt wurden. Er beschäftigte sich unablässig mit dem Gedanken der Scheidung, den er dann wieder verwarf, weil er seine beiden kleinen Kinder zärtlich liebte. Trotzdem kam er immer wieder auf den Vorsatz zurück und versuchte dabei kein Mittel, um sich die Situation erträglich zu gestalten. Solches Nichtfertigwerden mit einem Konflikt gilt mir als Beweis dafür, dass sich unbewusste und verdrängte Motive zur Verstärkung der mit einander streitenden bewussten bereit gefunden haben, und ich unternehme es in solchen Fällen, den Konflikt durch psychische Analyse zu beenden. Der Mann erzählte mir eines Tages von einem kleinen Vorfall, der ihn aufs äusserste erschreckt hatte. Er »hetzte« mit seinem älteren Kind, dem weitaus geliebteren, hob es hoch und liess es nieder und einmal an solcher Stelle und so hoch, dass das Kind mit dem Scheitel fast an den schwer herabhängenden Gasluster angestossen hätte. Fast, aber doch eigentlich nicht oder gerade eben noch! Dem Kind war nichts geschehen, aber es wurde vor Schreck schwindlig. Der Vater blieb entsetzt mit dem Kinde im Arme stehen, die Mutter bekam einen hysterischen Anfall. Die besondere Geschicklichkeit dieser unvorsichtigen Bewegung, die Heftigkeit der Reaktion bei den Eltern legten es mir nahe, in dieser Zufälligkeit eine Symptomhandlung zu suchen, welche eine böse Absicht gegen das geliebte Kind zum Ausdruck bringen sollte. Den Widerspruch gegen die aktuelle Zärtlichkeit dieses Vaters zu seinem Kinde konnte ich mildern, wenn ich den Impuls zur Schädigung in die Zeit zurückverlegte, da dieses Kind das einzige und so klein gewesen war, dass sich der Vater noch nicht zärtlich für dasselbe zu interessieren brauchte. Dann hatte ich es leicht, anzunehmen, dass der von seiner Frau wenig befriedigte Mann damals den Gedanken gehabt oder den Vorsatz gefasst: Wenn dieses kleine Wesen, an dem mir gar nichts liegt, stirbt, dann bin ich frei und kann mich von der Frau scheiden lassen. Ein Wunsch nach dem Tode dieses jetzt so geliebten Wesens musste also unbewusst weiterbestehen. Von hier ab war der Weg zur unbewussten Fixierung dieses Wunsches leicht zu finden. Eine mächtige Determinierung ergab sich wirklich aus der Kindheitserinnerung des Patienten, dass der Tod eines kleinen Bruders, den die Mutter der Nachlässigkeit des Vaters zur Last legte, zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Eltern mit Scheidungsandrohung geführt hatte. Der weitere Verlauf der Ehe meines Patienten bestätigte meine Kombination auch durch den therapeutischen Erfolg.


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