Sigmund Freud
Zur Psychopathologie des Alltagslebens
Sigmund Freud

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III.

Über die Deckerinnerungen.

In einer zweiten Abhandlung (1899 in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie veröffentlicht) habe ich die tendenziöse Natur unseres Erinnerns an unvermuteter Stelle nachweisen können. Ich bin von der auffälligen Tatsache ausgegangen, dass die frühesten Kindheitserinnerungen einer Person häufig bewahrt zu haben scheinen, was gleichgiltig und nebensächlich ist, während von wichtigen, eindrucksvollen und affektreichen Eindrücken dieser Zeit (häufig, gewiss nicht allgemein!) sich im Gedächtnis des Erwachsenen keine Spur vorfindet. Da es bekannt ist, dass das Gedächtnis unter den ihm dargebotenen Eindrücken eine Auswahl trifft, stände man hier vor der Annahme, dass diese Auswahl im Kindesalter nach ganz anderen Prinzipien vor sich geht, als zur Zeit der intellektuellen Reife. Eingehende Untersuchung weist aber nach, dass diese Annahme überflüssig ist. Die indifferenten Kindheitserinnerungen verdanken ihre Existenz einem Verschiebungsvorgang; sie sind der Ersatz in der Reproduktion für andere wirklich bedeutsame Eindrücke, deren Erinnerung sich durch psychische Analyse aus ihnen entwickeln lässt, deren direkte Reproduktion aber durch einen Widerstand gehindert ist. Da sie ihre Erhaltung nicht dem eigenen Inhalt, sondern einer assoziativen Beziehung ihres Inhaltes zu einem anderen, verdrängten, verdanken, haben sie auf den Namen »Deckerinnerungen«, mit welchem ich sie ausgezeichnet habe, begründeten Anspruch.

Die Mannigfaltigkeiten in den Beziehungen und Bedeutungen der Deckerinnerungen habe ich in dem erwähnten Aufsatze nur gestreift, keineswegs erschöpft. An dem dort ausführlich analysierten Beispiel habe ich eine Besonderheit der zeitlichen Relation zwischen der Deckerinnerung und dem durch sie gedeckten Inhalt besonders hervorgehoben. Der Inhalt der Deckerinnerung gehörte dort nämlich einem der ersten Kinderjahre an, während die durch sie im Gedächtnis vertretenen Gedankenerlebnisse, die fast unbewusst geblieben waren, in späte Jahre des Betreffenden fielen. Ich nannte diese Art der Verschiebung eine rückgreifende oder rückläufige. Vielleicht noch häufiger begegnet man dem entgegengesetzten Verhältnis, dass ein indifferenter Eindruck der jüngsten Zeit sich als Deckerinnerung im Gedächtnis festsetzt, der diese Auszeichnung nur der Verknüpfung mit einem früheren Erlebnis verdankt, gegen dessen direkte Reproduktion sich Widerstände erheben. Dies wären vorgreifende oder vorgeschobene Deckerinnerungen. Das Wesentliche, was das Gedächtnis bekümmert, liegt hier der Zeit nach hinter der Deckerinnerung. Endlich wird der dritte noch mögliche Fall nicht vermisst, dass die Deckerinnerung nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch Kontiguität in der Zeit mit dem von ihr gedeckten Eindruck verknüpft ist, also die gleichzeitige oder anstossende Deckerinnerung.

Ein wie grosser Teil unseres Gedächtnisschatzes in die Kategorie der Deckerinnerungen gehört, und welche Rolle bei verschiedenen neurotischen Denkvorgängen diesen zufällt, das sind Probleme, in deren Würdigung ich weder dort eingegangen bin, noch hier eintreten werde. Es kommt mir nur darauf an, die Gleichartigkeit zwischen dem Vergessen von Eigennamen mit Fehlerinnern und der Bildung der Deckerinnerungen hervorzuheben.

Auf den ersten Anblick sind die Verschiedenheiten der beiden Phänomene weit auffälliger als ihre etwaigen Analogien. Dort handelt es sich um Eigennamen, hier um komplette Eindrücke, um entweder in der Realität oder in Gedanken Erlebtes; dort um ein manifestes Versagen der Erinnerungsfunktion, hier um eine Erinnerungsleistung, die uns befremdend erscheint; dort um eine momentane Störung – denn der eben vergessene Name kann vorher hundert Male richtig reproduziert worden sein und es von morgen an wieder werden –, hier um dauernden Besitz ohne Ausfall, denn die indifferenten Kindheitserinnerungen scheinen uns durch ein langes Stück unseres Lebens begleiten zu können. Das Rätsel scheint in diesen beiden Fällen ganz anders orientiert zu sein. Dort ist es das Vergessen, hier das Merken, was unsere wissenschaftliche Neugierde rege macht. Nach einiger Vertiefung merkt man, dass trotz der Verschiedenheit im psychischen Material und in der Zeitdauer der beiden Phänomene die Übereinstimmungen weit überwiegen. Es handelt sich hier wie dort um das Fehlgehen des Erinnerns; es wird nicht das vom Gedächtnis reproduziert, was korrekterweise reproduziert werden sollte, sondern etwas anderes zum Ersatz. Dem Falle des Namenvergessens fehlt nicht die Gedächtnisleistung in der Form der Ersatznamen. Der Fall der Deckerinnerungsbildung beruht auf dem Vergessen von anderen wesentlichen Eindrücken. In beiden Fällen gibt uns eine intellektuelle Empfindung Kunde von der Einmengung einer Störung, nur jedesmal in anderer Form. Beim Namenvergessen wissen wir, dass die Ersatznamen falsch sind; bei den Deckerinnerungen verwundern wir uns, dass wir sie überhaupt besitzen. Wenn dann die psychologische Analyse nachweist, dass die Ersatzbildung in beiden Fällen auf die nämliche Weise durch Verschiebung längs einer oberflächlichen Assoziation zustande gekommen ist, so tragen gerade die Verschiedenheiten im Material, in der Zeitdauer und in der Zentrierung der beiden Phänomene dazu bei, unsere Erwartung zu steigern, dass wir etwas Wichtiges und Allgemeingiltiges aufgefunden haben. Dieses Allgemeine würde lauten, dass das Versagen und Irregehen der reproduzierenden Funktion weit häufiger, als wir vermuten, auf die Einmengung eines parteiischen Faktors, einer Tendenz hinweist, welche die eine Erinnerung begünstigt, während sie einer anderen entgegenzuarbeiten bemüht ist.


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