Sigmund Freud
Die Frage der Laienanalyse
Sigmund Freud

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309 V

»Ich glaube, Ihre Absicht zu verstehen. Sie wollen mir zeigen, was für Kenntnisse man für die Ausübung der Analyse braucht, damit ich urteilen kann, ob der Arzt allein zu ihr berechtigt sein soll. Nun, bisher ist wenig Ärztliches vorgekommen, viel Psychologie und ein Stück Biologie oder Sexualwissenschaft. Aber vielleicht haben wir noch nicht das Ende gesehen?«

Gewiß nicht, es bleiben noch Lücken auszufüllen. Darf ich Sie um etwas bitten? Wollen Sie mir schildern, wie Sie sich jetzt eine analytische Behandlung vorstellen? So, als ob Sie sie selbst vorzunehmen hätten?

»Nun, das kann gut werden. Ich habe wirklich nicht die Absicht, unsere Streitfrage durch ein solches Experiment zu entscheiden. Aber ich will Ihnen den Gefallen tun, die Verantwortlichkeit fiele ja auf Sie. Also ich nehme an, der Kranke kommt zu mir und beklagt sich über seine Beschwerden. Ich verspreche ihm Heilung oder Besserung, wenn er meinen Anweisungen folgen will. Ich fordere ihn auf, mir in vollster Aufrichtigkeit alles zu sagen, was er weiß und was ihm einfällt, und sich von diesem Vorsatz nicht abhalten zu lassen, auch wenn manches ihm zu sagen unangenehm sein sollte. Habe ich mir diese Regel gut gemerkt?«

Ja, Sie sollten noch hinzufügen, auch wenn er meint, daß das, was ihm einfällt, unwichtig oder unsinnig ist.

»Auch das. Dann beginnt er zu erzählen, und ich höre zu. Ja und dann? Aus seinen Mitteilungen errate ich, was er für Eindrücke, Erlebnisse, Wunschregungen verdrängt hat, weil sie ihm zu einer Zeit entgegengetreten sind, da sein Ich noch schwach war und sich vor ihnen fürchtete, anstatt sich mit ihnen abzugeben. Wenn er das von mir erfahren hat, versetzt er sich in die Situationen von damals und macht es jetzt mit meiner Hilfe besser. Dann verschwinden die Einschränkungen, zu denen sein Ich genötigt war, und er ist hergestellt. Ist es so recht?«

Bravo, bravo! Ich sehe, man wird mir wieder den Vorwurf machen können, daß ich einen Nichtarzt zum Analytiker ausgebildet habe. Sie haben sich das sehr gut zu eigen gemacht.

»Ich habe nur wiederholt, was ich von Ihnen gehört habe, wie wenn 310 man etwas Auswendiggelerntes hersagt. Ich kann mir ja doch nicht vorstellen, wie ich's machen würde, und verstehe gar nicht, warum eine solche Arbeit so viele Monate hindurch täglich eine Stunde brauchen sollte. Ein gewöhnlicher Mensch hat doch in der Regel nicht soviel erlebt, und was in der Kindheit verdrängt wird, das ist doch wahrscheinlich in allen Fällen das nämliche.«

Man lernt noch allerlei bei der wirklichen Ausübung der Analyse. Zum Beispiel: Sie würden es gar nicht so einfach finden, aus den Mitteilungen, die der Patient macht, auf die Erlebnisse zu schließen, die er vergessen, die Triebregungen, die er verdrängt hat. Er sagt Ihnen irgend etwas, was zunächst für Sie ebensowenig Sinn hat wie für ihn. Sie werden sich entschließen müssen, das Material, das Ihnen der Analysierte im Gehorsam gegen die Regel liefert, in einer ganz besonderen Weise aufzufassen. Etwa wie ein Erz, dem der Gehalt an wertvollem Metall durch bestimmte Prozesse abzugewinnen ist. Sie sind dann auch vorbereitet, viele Tonnen Erz zu verarbeiten, die vielleicht nur wenig von dem gesuchten kostbaren Stoff enthalten. Hier wäre die erste Begründung für die Weitläufigkeit der Kur.

»Wie verarbeitet man aber diesen Rohstoff, um in Ihrem Gleichnis zu bleiben?«

Indem man annimmt, daß die Mitteilungen und Einfälle des Kranken nur Entstellungen des Gesuchten sind, gleichsam Anspielungen, aus denen Sie zu erraten haben, was sich dahinter verbirgt. Mit einem Wort, Sie müssen dieses Material, seien es Erinnerungen, Einfälle oder Träume, erst deuten. Das geschieht natürlich mit Hinblick auf die Erwartungen, die sich in Ihnen dank Ihrer Sachkenntnis, während Sie zuhörten, gebildet haben.

»Deuten! Das ist ein garstiges Wort. Das höre ich nicht gerne, damit bringen Sie mich um alle Sicherheit. Wenn alles von meiner Deutung abhängt, wer steht mir dafür ein, daß ich richtig deute? Dann ist doch alles meiner Willkür überlassen.«

Gemach, es steht nicht so schlimm. Warum wollen Sie Ihre eigenen seelischen Vorgänge von der Gesetzmäßigkeit ausnehmen, die Sie für die des anderen anerkennen? Wenn Sie eine gewisse Selbstzucht gewonnen haben und über bestimmte Kenntnisse verfügen, werden Ihre Deutungen von Ihren persönlichen Eigenheiten unbeeinflußt sein und das Richtige treffen. Ich sage nicht, daß für diesen Teil der Aufgabe die Persönlichkeit des Analytikers gleichgiltig ist. Es kommt eine gewisse Feinhörigkeit für das unbewußte Verdrängte in Betracht, von der nicht 311 jeder das gleiche Maß besitzt. Und vor allem knüpft hier die Verpflichtung für den Analytiker an, sich durch tiefreichende eigene Analyse für die vorurteilslose Aufnahme des analytischen Materials tauglich zu machen. Eines bleibt freilich übrig, was der »persönlichen Gleichung« bei astronomischen Beobachtungen gleichzusetzen ist; dies individuelle Moment wird in der Psychoanalyse immer eine größere Rolle spielen als anderswo. Ein abnormer Mensch mag ein korrekter Physiker werden können, als Analytiker wird er durch seine eigene Abnormität behindert sein, die Bilder des seelischen Lebens ohne Verzerrung zu erfassen. Da man niemand seine Abnormität beweisen kann, wird eine allgemeine Übereinstimmung in den Dingen der Tiefenpsychologie besonders schwer zu erreichen sein. Manche Psychologen meinen sogar, dies sei ganz aussichtslos und jeder Narr habe das gleiche Recht, seine Narrheit für Weisheit auszugeben. Ich bekenne, ich bin hierin optimistischer. Unsere Erfahrungen zeigen doch, daß auch in der Psychologie ziemlich befriedigende Übereinstimmungen zu erreichen sind. Jedes Forschungsgebiet hat eben seine besondere Schwierigkeit, die zu eliminieren wir uns bemühen müssen. Übrigens ist auch in der Deutungskunst der Analyse manches wie ein anderer Wissensstoff zu erlernen, zum Beispiel, was mit der eigentümlichen indirekten Darstellung durch Symbole zusammenhängt.

»Nun, ich habe keine Lust mehr, auch nur in Gedanken eine analytische Behandlung zu unternehmen. Wer weiß, was für Überraschungen da noch auf mich warten würden.«

Sie tun recht daran, eine solche Absicht aufzugeben. Sie merken, wieviel Schulung und Übung noch erforderlich wäre. Wenn Sie die richtigen Deutungen gefunden haben, stellt sich eine neue Aufgabe her. Sie müssen den richtigen Moment abwarten, um dem Patienten Ihre Deutung mit Aussicht auf Erfolg mitzuteilen.

»Woran erkennt man jedesmal den richtigen Moment?«

Das ist Sache eines Takts, der durch Erfahrung sehr verfeinert werden kann. Sie begehen einen schweren Fehler, wenn Sie etwa im Bestreben, die Analyse zu verkürzen, dem Patienten Ihre Deutungen an den Kopf werfen, sobald Sie sie gefunden haben. Sie erzielen damit bei ihm Äußerungen von Widerstand, Ablehnung, Entrüstung, erreichen es aber nicht, daß sein Ich sich des Verdrängten bemächtigt. Die Vorschrift ist zu warten, bis er sich diesem so weit angenähert hat, daß er unter der Anleitung Ihres Deutungsvorschlages nur noch wenige Schritte zu machen braucht.

312 »Ich glaube, das würde ich nie erlernen. Und wenn ich diese Vorsichten bei der Deutung befolgt habe, was dann?«

Dann ist es Ihnen bestimmt, eine Entdeckung zu machen, auf die Sie nicht vorbereitet sind.

»Die wäre?«

Daß Sie sich in Ihrem Patienten getäuscht haben, daß Sie gar nicht auf seine Mithilfe und Gefügigkeit rechnen dürfen, daß er bereit ist, der gemeinsamen Arbeit alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg zu legen, mit einem Wort: daß er überhaupt nicht gesund werden will.

»Nein, das ist das Tollste, das Sie mir bisher erzählt haben! Ich glaube es auch nicht. Der Kranke, der so schwer leidet, der so ergreifend über seine Beschwerden klagt, der so große Opfer für die Behandlung bringt, der soll nicht gesund werden wollen! Sie meinen es auch gewiß nicht so.«

Fassen Sie sich, ich meine es. Was ich sagte, ist die Wahrheit, nicht die ganze freilich, aber ein sehr beachtenswertes Stück derselben. Der Kranke will allerdings gesund werden, aber er will es auch nicht. Sein Ich hat seine Einheit verloren, darum bringt er auch keinen einheitlichen Willen auf. Er wäre kein Neurotiker, wenn er anders wäre.

»›Wär' ich besonnen, hieß ich nicht der Tell‹.«

Die Abkömmlinge des Verdrängten sind in sein Ich durchgebrochen, behaupten sich darin, und über die Strebungen dieser Herkunft hat das Ich sowenig Herrschaft wie über das Verdrängte selbst, weiß auch für gewöhnlich nichts von ihnen. Diese Kranken sind eben von einer besonderen Art und machen Schwierigkeiten, mit denen wir nicht zu rechnen gewohnt sind. Alle unsere sozialen Institutionen sind auf Personen mit einheitlichem, normalem Ich zugeschnitten, das man als gut oder böse klassifizieren kann, das entweder seine Funktion versieht oder durch einen übermächtigen Einfluß ausgeschaltet ist. Daher die gerichtliche Alternative: verantwortlich oder unverantwortlich. Auf die Neurotiker passen alle diese Entscheidungen nicht. Man muß gestehen, es ist schwer, die sozialen Anforderungen ihrem psychologischen Zustand anzupassen. Im großen Maßstab hat man das im letzten Krieg erfahren. Waren die Neurotiker, die sich dem Dienst entzogen, Simulanten oder nicht? Sie waren beides. Wenn man sie wie Simulanten behandelte und ihnen das Kranksein recht unbehaglich machte, wurden sie gesund; wenn man die angeblich Hergestellten in den Dienst schickte, 313 flüchteten sie prompt wieder in die Krankheit. Es war mit ihnen nichts anzufangen. Und das nämliche ist mit den Neurotikern des zivilen Lebens. Sie klagen über ihre Krankheit, aber sie nützen sie nach Kräften aus, und wenn man sie ihnen nehmen will, verteidigen sie sie wie die sprichwörtliche Löwin ihr Junges, ohne daß es einen Sinn hätte, ihnen aus diesem Widerspruch einen Vorwurf zu machen.

»Aber, wäre es dann nicht das beste, wenn man diese schwierigen Leute gar nicht behandelte, sondern sich selbst überließe? Ich kann nicht glauben, daß es der Mühe lohnt, auf jeden einzelnen dieser Kranken so viel Anstrengung zu verwenden, wie ich nach Ihren Andeutungen annehmen muß.«

Ich kann Ihren Vorschlag nicht gutheißen. Es ist gewiß richtiger, die Komplikationen des Lebens zu akzeptieren, anstatt sich gegen sie zu sträuben. Nicht jeder der Neurotiker, den wir behandeln, mag des Aufwands der Analyse würdig sein, aber es sind doch auch sehr wertvolle Personen unter ihnen. Wir müssen uns das Ziel setzen, zu erreichen, daß möglichst wenig menschliche Individuen mit so mangelhafter seelischer Ausrüstung dem Kulturleben entgegentreten, und darum müssen wir viel Erfahrungen sammeln, viel verstehen lernen. Jede Analyse kann instruktiv sein, uns Gewinn an neuen Aufklärungen bringen, ganz abgesehen vom persönlichen Wert der einzelnen Kranken.

»Wenn sich aber im Ich des Kranken eine Willensregung gebildet hat, welche die Krankheit behalten will, so muß sich diese auch auf Gründe und Motive berufen, sich durch etwas rechtfertigen können. Es ist aber gar nicht einzusehen, wozu ein Mensch krank sein wollte, was er davon hat.«

O doch, das liegt nicht so ferne. Denken Sie an die Kriegsneurotiker, die eben keinen Dienst zu leisten brauchen, weil sie krank sind. Im bürgerlichen Leben kann die Krankheit als Schutz gebraucht werden, um seine Unzulänglichkeit im Beruf und in der Konkurrenz mit anderen zu beschönigen, in der Familie als Mittel, um die anderen zu Opfern und Liebesbeweisen zu zwingen oder ihnen seinen Willen aufzunötigen. Das liegt alles ziemlich oberflächlich, wir fassen es als »Krankheitsgewinn« zusammen; merkwürdig ist nur, daß der Kranke, sein Ich, von der ganzen Verkettung solcher Motive mit seinen folgerichtigen Handlungen doch nichts weiß. Man bekämpft den Einfluß dieser Strebungen, indem man das Ich nötigt, von ihnen Kenntnis zu nehmen. Es gibt aber noch andere, tieferliegende Motive, am Kranksein festzuhalten, mit denen man nicht so leicht fertig wird. Ohne einen neuen Ausflug in 314 die psychologische Theorie kann man diese letzteren aber nicht verstehen.

»Erzählen Sie nur weiter, auf ein bißchen Theorie mehr kommt es jetzt schon nicht an.«

Als ich Ihnen das Verhältnis von Ich und Es auseinandersetzte, habe ich Ihnen ein wichtiges Stück der Lehre vom seelischen Apparat unterschlagen. Wir waren nämlich gezwungen anzunehmen, daß sich im Ich selbst eine besondere Instanz differenziert hat, die wir das Über-Ich heißen. Dieses Über-Ich hat eine besondere Stellung zwischen dem Ich und dem Es. Es gehört dem Ich an, teilt dessen hohe psychologische Organisation, steht aber in besonders inniger Beziehung zum Es. Es ist in Wirklichkeit der Niederschlag der ersten Objektbesetzungen des Es, der Erbe des Ödipuskomplexes nach dessen Auflassung. Dieses Über-Ich kann sich dem Ich gegenüberstellen, es wie ein Objekt behandeln und behandelt es oft sehr hart. Es ist für das Ich ebenso wichtig, mit dem Über-Ich im Einvernehmen zu bleiben, wie mit dem Es. Entzweiungen zwischen Ich und Über-Ich haben eine große Bedeutung für das Seelenleben. Sie erraten schon, daß das Über-Ich der Träger jenes Phänomens ist, das wir Gewissen heißen. Für die seelische Gesundheit kommt sehr viel darauf an, daß das Über-Ich normal ausgebildet, das heißt genügend unpersönlich geworden sei. Gerade das ist beim Neurotiker, dessen Ödipuskomplex nicht die richtige Umwandlung erfahren hat, nicht der Fall. Sein Über-Ich steht dem Ich noch immer gegenüber wie der strenge Vater dem Kind, und seine Moralität betätigt sich in primitiver Weise darin, daß sich das Ich vom Über-Ich bestrafen läßt. Die Krankheit wird als Mittel dieser »Selbstbestrafung« verwendet, der Neurotiker muß sich so benehmen, als beherrschte ihn ein Schuldgefühl, welches zu seiner Befriedigung der Krankheit als Strafe bedarf.

»Das klingt wirklich sehr geheimnisvoll. Das Merkwürdigste daran ist, daß dem Kranken auch diese Macht seines Gewissens nicht zum Bewußtsein kommen soll.«

Ja, wir fangen erst an, die Bedeutung all dieser wichtigen Verhältnisse zu würdigen. Deshalb mußte meine Darstellung so dunkel geraten. Ich kann nun fortsetzen. Wir heißen alle die Kräfte, die sich der Genesungsarbeit widersetzen, die »Widerstände« des Kranken. Der Krankheitsgewinn ist die Quelle eines solchen Widerstandes, das »unbewußte Schuldgefühl« repräsentiert den Widerstand des Über-Ichs, es ist der mächtigste und von uns gefürchtetste Faktor. Wir treffen in der Kur 315 noch mit anderen Widerständen zusammen. Wenn das Ich in der Frühzeit aus Angst eine Verdrängung vorgenommen hat, so besteht diese Angst noch fort und äußert sich nun als ein Widerstand, wenn das Ich an das Verdrängte herangehen soll. Endlich kann man sich vorstellen, daß es nicht ohne Schwierigkeiten abgeht, wenn ein Triebvorgang, der durch Dezennien einen bestimmten Weg gegangen ist, plötzlich den neuen Weg gehen soll, den man ihm eröffnet hat. Das könnte man den Widerstand des Es heißen. Der Kampf gegen alle diese Widerstände ist unsere Hauptarbeit während der analytischen Kur, die Aufgabe der Deutungen verschwindet dagegen. Durch diesen Kampf und die Überwindung der Widerstände wird aber auch das Ich des Kranken so verändert und gestärkt, daß wir seinem zukünftigen Verhalten nach Beendigung der Kur mit Ruhe entgegensehen dürfen. Anderseits verstehen Sie jetzt, wozu wir die lange Behandlungsdauer brauchen. Die Länge des Entwicklungsweges und die Reichhaltigkeit des Materials sind nicht das Entscheidende. Es kommt mehr darauf an, ob der Weg frei ist. Auf einer Strecke, die man in Friedenszeiten in ein paar Eisenbahnstunden durchfliegt, kann eine Armee wochenlang aufgehalten sein, wenn sie dort den Widerstand des Feindes zu überwinden hat. Solche Kämpfe verbrauchen Zeit auch im seelischen Leben. Ich muß leider konstatieren, alle Bemühungen, die analytische Kur ausgiebig zu beschleunigen, sind bisher gescheitert. Der beste Weg zu ihrer Abkürzung scheint ihre korrekte Durchführung zu sein.

»Wenn ich je Lust verspürt hätte, Ihnen ins Handwerk zu pfuschen und selbst eine Analyse an einem anderen zu versuchen, Ihre Mitteilungen über die Widerstände würden mich davon geheilt haben. Aber wie steht es mit dem besonderen persönlichen Einfluß, den Sie doch zugestanden haben? Kommt der nicht gegen die Widerstände auf?«

Es ist gut, daß Sie jetzt danach fragen. Dieser persönliche Einfluß ist unsere stärkste dynamische Waffe, er ist dasjenige, was wir neu in die Situation einführen und wodurch wir sie in Fluß bringen. Der intellektuelle Gehalt unserer Aufklärungen kann das nicht leisten, denn der Kranke, der alle Vorurteile der Umwelt teilt, brauchte uns sowenig zu glauben wie unsere wissenschaftlichen Kritiker. Der Neurotiker macht sich an die Arbeit, weil er dem Analytiker Glauben schenkt, und er glaubt ihm, weil er eine besondere Gefühlseinstellung zu der Person des Analytikers gewinnt. Auch das Kind glaubt nur jenen Menschen, denen es anhängt. Ich sagte Ihnen schon, wozu wir diesen besonders großen »suggestiven« Einfluß verwenden. Nicht zur Unterdrückung der 316 Symptome – das unterscheidet die analytische Methode von anderen Verfahren der Psychotherapie –, sondern als Triebkraft, um das Ich des Kranken zur Überwindung seiner Widerstände zu veranlassen.

»Nun, und wenn das gelingt, geht dann nicht alles glatt?«

Ja, es sollte. Aber es stellt sich eine unerwartete Komplikation heraus. Es war vielleicht die größte Überraschung für den Analytiker, daß die Gefühlsbeziehung, die der Kranke zu ihm annimmt, von einer ganz eigentümlichen Natur ist. Schon der erste Arzt, der eine Analyse versuchte – es war nicht ich –, ist auf dieses Phänomen gestoßen – und an ihm irre geworden. Diese Gefühlsbeziehung ist nämlich – um es klar herauszusagen – von der Natur einer Verliebtheit. Merkwürdig, nicht wahr? Wenn Sie überdies in Betracht ziehen, daß der Analytiker nichts dazu tut, sie zu provozieren, daß er im Gegenteil sich eher menschlich vom Patienten fernhält, seine eigene Person mit einer gewissen Reserve umgibt. Und wenn Sie ferner erfahren, daß diese sonderbare Liebesbeziehung von allen anderen realen Begünstigungen absieht, sich über alle Variationen der persönlichen Anziehung, des Alters, Geschlechts und Standes hinaussetzt. Diese Liebe ist direkt zwangsläufig. Nicht, daß dieser Charakter der spontanen Verliebtheit sonst fremd bleiben müßte. Sie wissen, das Gegenteil kommt oft genug vor, aber in der analytischen Situation stellt er sich ganz regelmäßig her, ohne doch in ihr eine rationelle Erklärung zu finden. Man sollte meinen, aus dem Verhältnis des Patienten zum Analytiker brauchte sich für den ersteren nicht mehr zu ergeben als ein gewisses Maß von Respekt, Zutrauen, Dankbarkeit und menschlicher Sympathie. Anstatt dessen diese Verliebtheit, die selbst den Eindruck einer krankhaften Erscheinung macht.

»Nun, ich sollte meinen, das ist doch für Ihre analytischen Absichten günstig. Wenn man liebt, ist man gefügig und tut dem anderen Teil alles mögliche zuliebe.«

Ja, zu Anfang ist es auch günstig, aber späterhin, wenn sich diese Verliebtheit vertieft hat, kommt ihre ganze Natur zum Vorschein, an der vieles mit der Aufgabe der Analyse unverträglich ist. Die Liebe des Patienten begnügt sich nicht damit zu gehorchen, sie wird anspruchsvoll, verlangt zärtliche und sinnliche Befriedigungen, fordert Ausschließlichkeit, entwickelt Eifersucht, zeigt immer deutlicher ihre Kehrseite, die 317 Bereitschaft zu Feindseligkeit und Rachsucht, wenn sie ihre Absichten nicht erreichen kann. Gleichzeitig drängt sie, wie jede Verliebtheit, alle anderen seelischen Inhalte zurück, sie löscht das Interesse an der Kur und an der Genesung aus, kurz, wir können nicht daran zweifeln, sie hat sich an die Stelle der Neurose gesetzt, und unsere Arbeit hat den Erfolg gehabt, eine Form des Krankseins durch eine andere zu vertreiben.

»Das klingt nun trostlos. Was macht man da? Man sollte die Analyse aufgeben, aber da, wie Sie sagen, ein solcher Erfolg in jedem Fall eintritt, so könnte man ja überhaupt keine Analyse durchführen.«

Wir wollen zuerst die Situation ausnützen, um aus ihr zu lernen. Was wir so gewonnen haben, kann uns dann helfen, sie zu beherrschen. Ist es nicht höchst beachtenswert, daß es uns gelingt, eine Neurose mit beliebigem Inhalt in einen Zustand von krankhafter Verliebtheit zu verwandeln?

Unsere Überzeugung, daß der Neurose ein Stück abnorm verwendeten Liebeslebens zugrunde liegt, muß doch durch diese Erfahrung unerschütterlich befestigt werden. Mit dieser Einsicht fassen wir wieder festen Fuß, wir getrauen uns nun, diese Verliebtheit selbst zum Objekt der Analyse zu nehmen. Wir machen auch eine andere Beobachtung. Nicht in allen Fällen äußert sich die analytische Verliebtheit so klar und so grell, wie ich's zu schildern versuchte. Warum aber geschieht das nicht? Man sieht es bald ein. In dem Maß, als die vollsinnlichen und die feindseligen Seiten seiner Verliebtheit sich zeigen wollen, erwacht auch das Widerstreben des Patienten gegen dieselben. Er kämpft mit ihnen, sucht sie zu verdrängen, unter unseren Augen. Und nun verstehen wir den Vorgang. Der Patient wiederholt in der Form der Verliebtheit in den Analytiker seelische Erlebnisse, die er bereits früher einmal durchgemacht hat – er hat seelische Einstellungen, die in ihm bereitlagen und mit der Entstehung seiner Neurose innig verknüpft waren, auf den Analytiker übertragen. Er wiederholt auch seine damaligen Abwehraktionen vor unseren Augen, möchte am liebsten alle Schicksale jener vergessenen Lebensperiode in seinem Verhältnis zum Analytiker wiederholen. Was er uns zeigt, ist also der Kern seiner intimen Lebensgeschichte, er reproduziert ihn greifbar, wie gegenwärtig, anstatt ihn zu erinnern. Damit ist das Rätsel der Übertragungsliebe gelöst, und die Analyse kann gerade mit Hilfe der neuen Situation, die für sie so bedrohlich schien, fortgesetzt werden.

»Das ist raffiniert. Und glaubt Ihnen der Kranke so leicht, daß er nicht 318 verliebt, sondern nur gezwungen ist, ein altes Stück wieder aufzuführen?«

Alles kommt jetzt darauf an, und die volle Geschicklichkeit in der Handhabung der »Übertragung« gehört dazu, es zu erreichen. Sie sehen, daß die Anforderungen an die analytische Technik an dieser Stelle die höchste Steigerung erfahren. Hier kann man die schwersten Fehler begehen oder sich der größten Erfolge versichern. Der Versuch, sich den Schwierigkeiten zu entziehen, indem man die Übertragung unterdrückt oder vernachlässigt, wäre unsinnig; was immer man sonst getan hat, es verdiente nicht den Namen einer Analyse. Den Kranken wegzuschicken, sobald sich die Unannehmlichkeiten seiner Übertragungsneurose herstellen, ist nicht sinnreicher und außerdem eine Feigheit; es wäre ungefähr so, als ob man Geister beschworen hätte und dann davongerannt wäre, sobald sie erscheinen. Zwar manchmal kann man wirklich nicht anders; es gibt Fälle, in denen man der entfesselten Übertragung nicht Herr wird und die Analyse abbrechen muß, aber man soll wenigstens mit den bösen Geistern nach Kräften gerungen haben. Den Anforderungen der Übertragung nachgeben, die Wünsche des Patienten nach zärtlicher und sinnlicher Befriedigung erfüllen, ist nicht nur berechtigterweise durch moralische Rücksichten versagt, sondern auch als technisches Mittel zur Erreichung der analytischen Absicht völlig unzureichend. Der Neurotiker kann dadurch, daß man ihm die unkorrigierte Wiederholung eines in ihm vorbereiteten unbewußten Klischees ermöglicht hat, nicht geheilt werden. Wenn man sich auf Kompromisse mit ihm einläßt, indem man ihm partielle Befriedigungen zum Austausch gegen seine weitere Mitarbeit an der Analyse bietet, muß man achthaben, daß man nicht in die lächerliche Situation des Geistlichen gerät, der den kranken Versicherungsagenten bekehren soll. Der Kranke bleibt unbekehrt, aber der Geistliche zieht versichert ab. Der einzig mögliche Ausweg aus der Situation der Übertragung ist die Rückführung auf die Vergangenheit des Kranken, wie er sie wirklich erlebt oder durch die wunscherfüllende Tätigkeit seiner Phantasie gestaltet hat. Und dies erfordert beim Analytiker viel Geschick, Geduld, Ruhe und Selbstverleugnung.

»Und wo, meinen Sie, hat der Neurotiker das Vorbild seiner Übertragungsliebe erlebt?«

In seiner Kindheit, in der Regel in der Beziehung zu einem Elternteil. 319 Sie erinnern sich, welche Wichtigkeit wir diesen frühesten Gefühlsbeziehungen zuschreiben mußten. Hier schließt sich also der Kreis.

»Sind Sie endlich fertig? Mir ist ein bißchen wirre vor der Fülle dessen, was ich von Ihnen gehört habe. Sagen Sie mir nur noch, wie und wo lernt man das, was man zur Ausübung der Analyse braucht?«

Es gibt derzeit zwei Institute, an denen Unterricht in der Psychoanalyse erteilt wird. Das erste in Berlin hat Dr. Max Eitingon der dortigen Vereinigung eingerichtet. Das zweite erhält die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aus eigenen Mitteln unter beträchtlichen Opfern. Die Anteilnahme der Behörden erschöpft sich vorläufig in den mancherlei Schwierigkeiten, die sie dem jungen Unternehmen bereiten. Ein drittes Lehrinstitut soll eben jetzt in London von der dortigen Gesellschaft unter der Leitung von Dr. E. Jones eröffnet werden. An diesen Instituten werden die Kandidaten selbst in Analyse genommen, erhalten theoretischen Unterricht durch Vorlesungen in allen für sie wichtigen Gegenständen und genießen die Aufsicht älterer, erfahrener Analytiker, wenn sie zu ihren ersten Versuchen an leichteren Fällen zugelassen werden. Man rechnet für eine solche Ausbildung etwa zwei Jahre. Natürlich ist man auch nach dieser Zeit nur ein Anfänger, noch kein Meister. Was noch mangelt, muß durch Übung und durch den Gedankenaustausch in den psychoanalytischen Gesellschaften, in denen jüngere Mitglieder mit älteren zusammentreffen, erworben werden. Die Vorbereitung für die analytische Tätigkeit ist gar nicht so leicht und einfach, die Arbeit ist schwer, die Verantwortlichkeit groß. Aber wer eine solche Unterweisung durchgemacht hat, selbst analysiert worden ist, von der Psychologie des Unbewußten erfaßt hat, was sich heute eben lehren läßt, in der Wissenschaft des Sexuallebens Bescheid weiß und die heikle Technik der Psychoanalyse erlernt hat, die Deutungskunst, die Bekämpfung der Widerstände und die Handhabung der Übertragung, der ist kein Laie mehr auf dem Gebiet der Psychoanalyse. Er ist dazu befähigt, die Behandlung neurotischer Störungen zu unternehmen, und wird mit der Zeit darin alles leisten können, was man von dieser Therapie verlangen kann.


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