Sigmund Freud
Die Frage der Laienanalyse
Sigmund Freud

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297 IV

»Alles, was Sie mir bisher erzählt haben, war Psychologie. Es klang oft befremdlich, spröde, dunkel, aber es war doch immer, wenn ich so sagen soll: reinlich. Nun habe ich zwar bisher sehr wenig von Ihrer Psychoanalyse gewußt, aber das Gerücht ist doch zu mir gedrungen, daß sie sich vorwiegend mit Dingen beschäftigt, die auf dieses Prädikat keinen Anspruch haben. Es macht mir den Eindruck einer beabsichtigten Zurückhaltung, daß Sie bisher nichts Ähnliches berührt haben. Auch kann ich einen anderen Zweifel nicht unterdrücken. Die Neurosen sind doch, wie Sie selbst sagen, Störungen des Seelenlebens. Und so wichtige Dinge wie unsere Ethik, unser Gewissen, unsere Ideale sollten bei diesen tiefgreifenden Störungen gar keine Rolle spielen?«

Sie vermissen also in unseren bisherigen Besprechungen die Berücksichtigung des Niedrigsten wie des Höchsten. Das kommt aber daher, daß wir von den Inhalten des Seelenlebens überhaupt noch nicht gehandelt haben. Lassen Sie mich aber jetzt einmal selbst die Rolle des Unterbrechers spielen, der den Fortschritt der Unterredung aufhält. Ich habe Ihnen soviel Psychologie erzählt, weil ich wünschte, daß Sie den Eindruck empfangen, die analytische Arbeit sei ein Stück angewandter Psychologie, und zwar einer Psychologie, die außerhalb der Analyse nicht bekannt ist. Der Analytiker muß also vor allem diese Psychologie, die Tiefenpsychologie oder Psychologie des Unbewußten, gelernt haben, wenigstens soviel als heute davon bekannt ist. Wir werden das für unsere späteren Folgerungen brauchen. Aber jetzt, was meinten Sie mit der Anspielung auf die Reinlichkeit?

»Nun, es wird allgemein erzählt, daß in den Analysen die intimsten – und garstigsten Angelegenheiten des Geschlechtslebens mit allen Details zur Sprache kommen. Wenn das so ist – aus Ihren psychologischen Auseinandersetzungen habe ich nicht entnehmen können, daß es so sein muß –, so wäre es ein starkes Argument dafür, solche Behandlungen nur Ärzten zu gestatten. Wie kann man daran denken, anderen Personen, deren Diskretion man nicht sicher ist, für deren Charakter man keine Bürgschaft hat, so gefährliche Freiheiten einzuräumen?«

Es ist wahr, die Ärzte genießen auf sexuellem Gebiet gewisse Vorrechte; 298 sie dürfen ja auch die Genitalien inspizieren. Obwohl sie es im Orient nicht durften; auch manche Idealreformer – Sie wissen, wen ich meine – haben diese Vorrechte bekämpft. Aber Sie wollen zunächst wissen, ob es in der Analyse so ist und warum es so sein muß? – Ja, es ist so.

Es muß aber so sein, erstens weil die Analyse überhaupt auf volle Aufrichtigkeit gebaut ist. Man behandelt in ihr z. B. Vermögensverhältnisse mit ebensolcher Ausführlichkeit und Offenheit, sagt Dinge, die man jedem Mitbürger vorenthält, auch wenn er nicht Konkurrent oder Steuerbeamter ist. Daß diese Verpflichtung zur Aufrichtigkeit auch den Analytiker unter schwere moralische Verantwortlichkeit setzt, werde ich nicht bestreiten, sondern selbst energisch betonen. Zweitens muß es so sein, weil unter den Ursachen und Anlässen der nervösen Erkrankungen Momente des Geschlechtslebens eine überaus wichtige, eine überragende, vielleicht selbst eine spezifische Rolle spielen. Was kann die Analyse anderes tun, als sich ihrem Stoff, dem Material, das der Kranke bringt, anzuschmiegen? Der Analytiker lockt den Patienten niemals auf das sexuelle Gebiet, er sagt ihm nicht voraus: Es wird sich um die Intimitäten Ihres Geschlechtslebens handeln! Er läßt ihn seine Mitteilungen beginnen, wo es ihm beliebt, und wartet ruhig ab, bis der Patient selbst die geschlechtlichen Dinge anrührt. Ich pflegte meine Schüler immer zu mahnen: Unsere Gegner haben uns angekündigt, daß wir auf Fälle stoßen werden, bei denen das sexuelle Moment keine Rolle spielt; hüten wir uns davor, es in die Analyse einzuführen, verderben wir uns die Chance nicht, einen solchen Fall zu finden. Nun, bis jetzt hat niemand von uns dieses Glück gehabt.

Ich weiß natürlich, daß unsere Anerkennung der Sexualität – eingestandener- oder uneingestandermaßen – das stärkste Motiv für die Feindseligkeit der anderen gegen die Analyse geworden ist. Kann uns das irremachen? Es zeigt uns nur, wie neurotisch unser ganzes Kulturleben ist, da sich die angeblich Normalen nicht viel anders benehmen als die Nervösen. Zur Zeit als in gelehrten Gesellschaften Deutschlands feierlich Gericht über die Psychoanalyse gehalten wurde – heute ist es wesentlich stiller geworden –, beanspruchte ein Redner besondere Autorität, weil er nach seiner Mitteilung auch die Kranken sich äußern lasse. Offenbar in diagnostischer Absicht und um die Behauptungen der Analytiker zu prüfen. Aber, setzte er hinzu, wenn sie anfangen, von sexuellen Dingen zu reden, dann verschließe ich ihnen den Mund. Was denken Sie 299 von einem solchen Beweisverfahren? Die gelehrte Gesellschaft jubelte dem Redner Beifall zu, anstatt sich gebührenderweise für ihn zu schämen. Nur die triumphierende Sicherheit, welche das Bewußtsein gemeinsamer Vorurteile verleiht, kann die logische Sorglosigkeit dieses Redners erklären. Jahre später haben einige meiner damaligen Schüler dem Bedürfnis nachgegeben, die menschliche Gesellschaft vom Joch der Sexualität, das ihr die Psychoanalyse auferlegen will, zu befreien. Der eine hat erklärt, das Sexuelle bedeute gar nicht die Sexualität, sondern etwas anderes, Abstraktes, Mystisches; ein zweiter gar, das Sexualleben sei nur eines der Gebiete, auf dem der Mensch das ihn treibende Bedürfnis nach Macht und Herrschaft betätigen wolle. Sie haben sehr viel Beifall gefunden, für die nächste Zeit wenigstens.

»Da getraue ich mich aber doch einmal Partei zu nehmen. Es scheint mir sehr gewagt zu behaupten, daß die Sexualität kein natürliches, ursprüngliches Bedürfnis der lebenden Wesen ist, sondern der Ausdruck für etwas anderes. Man braucht sich da nur an das Beispiel der Tiere zu halten.«

Das macht nichts. Es gibt keine noch so absurde Mixtur, die die Gesellschaft nicht bereitwillig schlucken würde, wenn sie nur als Gegenmittel gegen die gefürchtete Übermacht der Sexualität ausgerufen wird.

Ich gestehe Ihnen übrigens, daß mir die Abneigung, die Sie selbst verraten haben, dem sexuellen Moment eine so große Rolle in der Verursachung der Neurosen einzuräumen, mit Ihrer Aufgabe als Unparteiischer nicht gut verträglich scheint. Fürchten Sie nicht, daß Sie durch solche Antipathie in der Fällung eines gerechten Urteils gestört sein werden?

»Es tut mir leid, daß Sie das sagen. Ihr Vertrauen zu mir scheint erschüttert. Warum haben Sie dann nicht einen anderen zum Unparteiischen gewählt?«

Weil dieser andere auch nicht anders gedacht hätte als Sie. Wenn er aber von vornherein bereit gewesen wäre, die Bedeutung des Geschlechtslebens anzuerkennen, so hätte alle Welt gerufen: »Das ist ja kein Unparteiischer, das ist ja ein Anhänger von Ihnen.« Nein, ich gebe die Erwartung keineswegs auf, Einfluß auf Ihre Meinungen zu gewinnen. Ich bekenne aber, dieser Fall liegt für mich anders als der vorhin behandelte. Bei den psychologischen Erörterungen mußte es mir gleich gelten, ob Sie mir Glauben schenken oder nicht, wenn Sie nur den Eindruck bekommen, es handle sich um rein psychologische Probleme. 300 Diesmal, bei der Frage der Sexualität, möchte ich doch, daß Sie der Einsicht zugänglich werden, Ihr stärkstes Motiv zum Widerspruch sei eben die mitgebrachte Feindseligkeit, die Sie mit so vielen anderen teilen.

»Es fehlt mir doch die Erfahrung, welche Ihnen eine so unerschütterliche Sicherheit geschaffen hat.«

Gut, ich darf jetzt in meiner Darstellung fortfahren. Das Geschlechtsleben ist nicht nur eine Pikanterie, sondern auch ein ernsthaftes wissenschaftliches Problem. Es gab da viel Neues zu erfahren, viel Sonderbares zu erklären. Ich sagte Ihnen schon, daß die Analyse bis in die frühen Kindheitsjahre des Patienten zurückgehen mußte, weil in diesen Zeiten und während der Schwäche des Ichs die entscheidenden Verdrängungen vorgefallen sind. In der Kindheit gibt es aber doch gewiß kein Geschlechtsleben, das hebt erst mit der Pubertätszeit an? Im Gegenteile, wir hatten die Entdeckung zu machen, daß die sexuellen Triebregungen das Leben von der Geburt an begleiten und daß es gerade diese Triebe sind, zu deren Abwehr das infantile Ich die Verdrängungen vornimmt. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, nicht wahr, daß schon das kleine Kind sich gegen die Macht der Sexualität sträubt, wie später der Redner in der gelehrten Gesellschaft und noch später meine Schüler, die ihre eigenen Theorien aufstellen? Wie das zugeht? Die allgemeinste Auskunft wäre, daß unsere Kultur überhaupt auf Kosten der Sexualität aufgebaut wird, aber es ist viel anderes darüber zu sagen.

Die Entdeckung der kindlichen Sexualität gehört zu jenen Funden, deren man sich zu schämen hat. Einige Kinderärzte haben immer darum gewußt, wie es scheint, auch einige Kinderpflegerinnen. Geistreiche Männer, die sich Kinderpsychologen heißen, haben dann in vorwurfsvollem Ton von einer »Entharmlosung der Kindheit« gesprochen. Immer wieder Sentimente an Stelle von Argumenten! In unseren politischen Körperschaften sind solche Vorkommnisse alltäglich. Irgendwer von der Opposition steht auf und denunziert eine Mißwirtschaft in der Verwaltung, Armee, Justiz u. dgl. Darauf erklärt ein anderer, am liebsten einer von der Regierung, solche Konstatierungen beleidigen das staatliche, militärische, dynastische oder gar das nationale Ehrgefühl. Sie seien also so gut wie nicht wahr. Diese Gefühle vertragen keine Beleidigung.

Das Geschlechtsleben des Kindes ist natürlich ein anderes als das des 301 Erwachsenen. Die Sexualfunktion macht von ihren Anfängen bis zu der uns so vertrauten Endgestaltung eine komplizierte Entwicklung durch. Sie wächst aus zahlreichen Partialtrieben mit besonderen Zielen zusammen, durchläuft mehrere Phasen der Organisation, bis sie sich endlich in den Dienst der Fortpflanzung stellt. Von den einzelnen Partialtrieben sind nicht alle für den Endausgang gleich brauchbar, sie müssen abgelenkt, umgemodelt, zum Teil unterdrückt werden. Eine so weitläufige Entwicklung wird nicht immer tadellos durchgemacht, es kommt zu Entwicklungshemmungen, partiellen Fixierungen auf frühen Entwicklungsstufen; wo sich später der Ausübung der Sexualfunktion Hindernisse entgegenstellen, weicht das sexuelle Streben – die Libido, wie wir sagen – gern auf solche frühere Fixierungsstellen zurück. Das Studium der kindlichen Sexualität und ihrer Umwandlungen bis zur Reife hat uns auch den Schlüssel zum Verständnis der sogenannten sexuellen Perversionen gegeben, die man immer mit allen geforderten Anzeichen des Abscheus zu beschreiben pflegte, deren Entstehung man aber nicht aufklären konnte. Das ganze Gebiet ist ungemein interessant, es hat nur für die Zwecke unserer Unterredungen nicht viel Sinn, wenn ich Ihnen mehr davon erzähle. Man braucht, um sich hier zurechtzufinden, natürlich anatomische und physiologische Kenntnisse, die leider nicht sämtlich in der medizinischen Schule zu erwerben sind, aber eine Vertrautheit mit Kulturgeschichte und Mythologie ist ebenso unerläßlich.

»Nach alledem kann ich mir vom Geschlechtsleben des Kindes doch keine Vorstellung machen.«

So will ich noch länger bei dem Thema verweilen; es fällt mir ohnedies nicht leicht, mich davon loszureißen. Hören Sie, das Merkwürdigste am Geschlechtsleben des Kindes scheint mir, daß es seine ganze, sehr weitgehende Entwicklung in den ersten fünf Lebensjahren durchläuft; von da an bis zur Pubertät erstreckt sich die sogenannte Latenzzeit, in der – normalerweise – die Sexualität keine Fortschritte macht, die sexuellen Strebungen im Gegenteil an Stärke nachlassen und vieles aufgegeben und vergessen wird, was das Kind schon geübt oder gewußt hatte. In dieser Lebensperiode, nachdem die Frühblüte des Geschlechtslebens abgewelkt ist, bilden sich jene Einstellungen des Ichs heraus, die, wie Scham, Ekel, Moralität, dazu bestimmt sind, dem späteren Pubertätssturm standzuhalten und dem neu erwachenden sexuellen Begehren die Bahnen zu weisen. Dieser sogenannte zweizeitige Ansatz des Sexuallebens hat sehr viel mit der Entstehung der nervösen Erkrankungen zu 302 tun. Er scheint sich nur beim Menschen zu finden, vielleicht ist er eine der Bedingungen des menschlichen Vorrechts, neurotisch zu werden. Die Vorzeit des Geschlechtslebens ist vor der Psychoanalyse ebenso übersehen worden wie auf anderem Gebiete der Hintergrund des bewußten Seelenlebens. Sie werden mit Recht vermuten, daß beide auch innig zusammengehören.

Von den Inhalten, Äußerungen und Leistungen dieser Frühzeit der Sexualität wäre sehr viel zu berichten, worauf die Erwartung nicht vorbereitet ist. Zum Beispiel: Sie werden gewiß erstaunt sein zu hören, daß sich das Knäblein so häufig davor ängstigt, vom Vater aufgefressen zu werden. (Wundern Sie sich nicht auch, daß ich diese Angst unter die Äußerungen des Sexuallebens versetze?) Aber ich darf Sie an die mythologische Erzählung erinnern, die Sie vielleicht aus Ihren Schuljahren noch nicht vergessen haben, daß auch der Gott Kronos seine Kinder verschlingt. Wie sonderbar muß Ihnen dieser Mythus erschienen sein, als Sie zuerst von ihm hörten! Aber ich glaube, wir haben uns alle damals nichts dabei gedacht. Heute können wir auch mancher Märchen gedenken, in denen ein fressendes Tier, wie der Wolf, auftritt, und werden in diesem eine Verkleidung des Vaters erkennen. Ich ergreife diese Gelegenheit, um Ihnen zu versichern, daß Mythologie und Märchenwelt überhaupt erst durch die Kenntnis des kindlichen Sexuallebens verständlich werden. Es ist das so ein Nebengewinn der analytischen Studien.

Nicht minder groß wird Ihre Überraschung sein zu hören, daß das männliche Kind unter der Angst leidet, vom Vater seines Geschlechtsgliedes beraubt zu werden, so daß diese Kastrationsangst den stärksten Einfluß auf seine Charakterentwicklung und die Entscheidung seiner geschlechtlichen Richtung nimmt. Auch hier wird Ihnen die Mythologie Mut machen, der Psychoanalyse zu glauben. Derselbe Kronos, der seine Kinder verschlingt, hatte auch seinen Vater Uranos entmannt und ist dann zur Vergeltung von seinem durch die List der Mutter geretteten Sohn Zeus entmannt worden. Wenn Sie zur Annahme geneigt haben, daß alles, was die Psychoanalyse von der frühzeitigen Sexualität der Kinder erzählt, aus der wüsten Phantasie der Analytiker stammt, so geben Sie doch wenigstens zu, daß diese Phantasie dieselben Produktionen geschaffen hat wie die Phantasietätigkeit der primitiven Menschheit, von der Mythen und Märchen der Niederschlag sind. Die andere, 303 freundlichere und wahrscheinlich auch zutreffendere Auffassung wäre, daß im Seelenleben des Kindes noch heute dieselben archaischen Momente nachweisbar sind, die einst in den Urzeiten der menschlichen Kultur allgemein geherrscht haben. Das Kind würde in seiner seelischen Entwicklung die Stammesgeschichte in abkürzender Weise wiederholen, wie es die Embryologie längst für die körperliche Entwicklung erkannt hat.

Ein weiterer Charakter der frühkindlichen Sexualität ist, daß das eigentlich weibliche Geschlechtsglied in ihr noch keine Rolle spielt – es ist für das Kind noch nicht entdeckt. Aller Akzent fällt auf das männliche Glied, alles Interesse richtet sich darauf, ob dies vorhanden ist oder nicht. Vom Geschlechtsleben des kleinen Mädchens wissen wir weniger als von dem des Knaben. Wir brauchen uns dieser Differenz nicht zu schämen; ist doch auch das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes ein dark continent für die Psychologie. Aber wir haben erkannt, daß das Mädchen den Mangel eines dem männlichen gleichwertigen Geschlechtsgliedes schwer empfindet, sich darum für minderwertig hält und daß dieser »Penisneid« einer ganzen Reihe charakteristisch weiblicher Reaktionen den Ursprung gibt.

Dem Kind eigen ist es auch, daß die beiden exkrementellen Bedürfnisse mit sexuellem Interesse besetzt sind. Die Erziehung setzt später eine scharfe Scheidung durch, die Praxis der Witze hebt sie wieder auf. Das mag uns unappetitlich scheinen, aber es braucht bekanntlich beim Kind eine geraume Zeit, bis sich der Ekel einstellt. Das haben auch die nicht geleugnet, die sonst für die seraphische Reinheit der Kinderseele eintreten.

Keine andere Tatsache hat aber mehr Anspruch auf unsere Beachtung, als daß das Kind seine sexuellen Wünsche regelmäßig auf die ihm verwandtschaftlich nächsten Personen richtet, also in erster Linie auf Vater und Mutter, in weiterer Folge auf seine Geschwister. Für den Knaben ist die Mutter das erste Liebesobjekt, für das Mädchen der Vater, soweit nicht eine bisexuelle Anlage auch gleichzeitig die gegenteilige Einstellung begünstigt. Der andere Elternteil wird als störender Rivale empfunden und nicht selten mit starker Feindseligkeit bedacht. Verstehen Sie mich recht, ich will nicht sagen, daß das Kind sich nur jene Art von Zärtlichkeit vom bevorzugten Elternteil wünscht, in der wir Erwachsene so gern das Wesen der Eltern-Kind-Beziehung sehen. Nein, die Analyse läßt keinen Zweifel darüber, daß die Wünsche des Kindes über diese Zärtlichkeit hinaus alles anstreben, was wir als sinnliche 304 Befriedigung begreifen, soweit eben das Vorstellungsvermögen des Kindes reicht. Es ist leicht zu verstehen, daß das Kind den wirklichen Sachverhalt der Vereinigung der Geschlechter niemals errät, es setzt dafür andere aus seinen Erfahrungen und Empfindungen abgeleitete Vorstellungen ein. Gewöhnlich gipfeln seine Wünsche in der Absicht, ein Kind zu gebären oder – in unbestimmbarer Weise – zu zeugen. Von dem Wunsche, ein Kind zu gebären, schließt sich in seiner Unwissenheit auch der Knabe nicht aus. Diesen ganzen seelischen Aufbau heißen wir nach der bekannten griechischen Sage den Ödipuskomplex. Er soll normalerweise mit dem Ende der sexuellen Frühzeit verlassen, gründlich abgebaut und umgewandelt werden, und die Ergebnisse dieser Verwandlung sind zu großen Leistungen im späteren Seelenleben bestimmt. Aber es geschieht in der Regel nicht gründlich genug, und die Pubertät ruft dann eine Wiederbelebung des Komplexes hervor, die schwere Folgen haben kann.

Ich wundere mich, daß Sie noch schweigen. Das kann kaum Zustimmung bedeuten. – Wenn die Analyse behauptet, die erste Objektwahl des Kindes sei eine inzestuöse, um den technischen Namen zu gebrauchen, so hat sie gewiß wieder die heiligsten Gefühle der Menschheit gekränkt und darf auf das entsprechende Ausmaß von Unglauben, Widerspruch und Anklage gefaßt sein. Die sind ihr auch reichlich zuteil geworden. Nichts anderes hat ihr in der Gunst der Zeitgenossen mehr geschadet als die Aufstellung des Ödipuskomplexes als einer allgemein menschlichen, schicksalgebundenen Formation. Der griechische Mythus muß allerdings dasselbe gemeint haben, aber die Überzahl der heutigen Menschen, gelehrter wie ungelehrter, zieht es vor zu glauben, daß die Natur einen angeborenen Abscheu als Schutz gegen die Inzestmöglichkeit eingesetzt hat.

Zunächst soll uns die Geschichte zu Hilfe kommen. Als G. Julius Cäsar Ägypten betrat, fand er die jugendliche Königin Kleopatra, die ihm bald so bedeutungsvoll werden sollte, vermählt mit ihrem noch jüngeren Bruder Ptolemäus. Das war in der ägyptischen Dynastie nichts Besonderes; die ursprünglich griechischen Ptolemäer hatten nur den Brauch fortgesetzt, den seit einigen Jahrtausenden ihre Vorgänger, die alten Pharaonen, geübt hatten. Aber das ist ja nur Geschwisterinzest, der noch in der Jetztzeit milder beurteilt wird. Wenden wir uns darum an unsere Kronzeugin für die Verhältnisse der Urzeit, die Mythologie. Sie hat uns zu berichten, daß die Mythen aller Völker, nicht nur der Griechen, überreich sind an Liebesbeziehungen zwischen Vater und Tochter 305 und selbst Mutter und Sohn. Die Kosmologie wie die Genealogie der königlichen Geschlechter ist auf dem Inzest begründet. In welcher Absicht, meinen Sie, sind diese Dichtungen geschaffen worden? Um Götter und Könige als Verbrecher zu brandmarken, den Abscheu des Menschengeschlechts auf sie zu lenken? Eher doch, weil die Inzestwünsche uraltes menschliches Erbgut sind und niemals völlig überwunden wurden, so daß man ihre Erfüllung den Göttern und ihren Abkömmlingen noch gönnte, als die Mehrheit der gewöhnlichen Menschenkinder bereits darauf verzichten mußte. Im vollsten Einklang mit diesen Lehren der Geschichte und der Mythologie finden wir den Inzestwunsch in der Kindheit des einzelnen noch heute vorhanden und wirksam.

»Ich könnte es Ihnen übelnehmen, daß Sie mir all das über die kindliche Sexualität vorenthalten wollten. Es scheint mir gerade wegen seiner Beziehungen zur menschlichen Urgeschichte sehr interessant.«

Ich fürchtete, es würde uns zu weit von unserer Absicht abführen. Aber vielleicht wird es doch seinen Vorteil haben.

»Nun sagen Sie mir aber, welche Sicherheit haben Sie für Ihre analytischen Resultate über das Sexualleben der Kinder zu geben? Ruht Ihre Überzeugung allein auf den Übereinstimmungen mit Mythologie und Historie?«

Oh, keineswegs. Sie ruht auf unmittelbarer Beobachtung. Es ging so zu: Wir hatten zunächst den Inhalt der sexuellen Kindheit aus den Analysen Erwachsener, also zwanzig bis vierzig Jahre später, erschlossen. Später haben wir die Analysen an den Kindern selbst unternommen, und es war kein geringer Triumph, als sich an ihnen alles so bestätigen ließ, wie wir es trotz der Überlagerungen und Entstellungen der Zwischenzeit erraten hatten.

»Wie, Sie haben kleine Kinder in Analyse genommen, Kinder im Alter vor sechs Jahren? Geht das überhaupt, und ist es nicht für diese Kinder recht bedenklich?«

Es geht sehr gut. Es ist kaum zu glauben, was in einem solchen Kind von vier bis fünf Jahren schon alles vorgeht. Die Kinder sind geistig sehr regsam in diesem Alter, die sexuelle Frühzeit ist für sie auch eine intellektuelle Blüteperiode. Ich habe den Eindruck, daß sie mit dem Eintritt in die Latenzzeit auch geistig gehemmt, dümmer, werden. Viele Kinder verlieren auch von da an ihren körperlichen Reiz. Und was den Schaden der Frühanalyse betrifft, so kann ich Ihnen berichten, daß das erste Kind, an dem dies Experiment vor nahezu zwanzig Jahren gewagt wurde, seither ein gesunder und leistungsfähiger junger Mann 306 geworden ist, der seine Pubertät trotz schwerer psychischer Traumen klaglos durchgemacht hat. Den anderen »Opfern« der Frühanalyse wird es hoffentlich nicht schlechter ergehen. An diese Kinderanalysen knüpfen sich mancherlei Interessen; es ist möglich, daß sie in der Zukunft zu noch größerer Bedeutung kommen werden. Ihr Wert für die Theorie steht ja außer Frage. Sie geben unzweideutige Auskünfte über Fragen, die in den Analysen Erwachsener unentschieden bleiben, und schützen den Analytiker so vor Irrtümern, die für ihn folgenschwer wären. Man überrascht eben die Momente, welche die Neurose gestalten, bei ihrer Arbeit und kann sie nicht verkennen. Im Interesse des Kindes muß allerdings die analytische Beeinflussung mit erzieherischen Maßnahmen verquickt werden. Diese Technik harrt noch ihrer Ausgestaltung. Ein praktisches Interesse wird aber durch die Beobachtung geweckt, daß eine sehr große Anzahl unserer Kinder in ihrer Entwicklung eine deutlich neurotische Phase durchmachen. Seitdem wir schärfer zu sehen verstehen, sind wir versucht zu sagen, die Kinderneurose sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel, als ob sie sich auf dem Weg von der infantilen Anlage bis zur gesellschaftlichen Kultur kaum vermeiden ließe. In den meisten Fällen wird diese neurotische Anwandlung der Kinderjahre spontan überwunden; ob sie nicht doch regelmäßig ihre Spuren auch beim durchschnittlich Gesunden hinterläßt? Hingegen vermissen wir bei keinem der späteren Neurotiker die Anknüpfung an die kindliche Erkrankung, die ihrerzeit nicht sehr auffällig gewesen zu sein braucht. In ganz analoger Weise, glaube ich, behaupten heute die Internisten, daß jeder Mensch einmal in seiner Kindheit eine Erkrankung an Tuberkulose durchgemacht hat. Für die Neurosen kommt allerdings der Gesichtspunkt der Impfung nicht in Betracht, nur der der Prädisposition.

Ich will zu Ihrer Frage nach den Sicherheiten zurückkehren. Wir haben uns also ganz allgemein durch die direkte analytische Beobachtung der Kinder überzeugt, daß wir die Mitteilungen der Erwachsenen über ihre Kinderzeit richtig gedeutet hatten. In einer Reihe von Fällen ist uns aber noch eine andere Art der Bestätigung möglich geworden. Wir hatten aus dem Material der Analyse gewisse äußere Vorgänge, eindrucksvolle Ereignisse der Kinderjahre rekonstruiert, von denen die bewußte Erinnerung der Kranken nichts bewahrt hatte, und glückliche Zufälle, Erkundigungen bei Eltern und Pflegepersonen haben uns dann den unwiderleglichen Beweis erbracht, daß diese erschlossenen Begebenheiten sich wirklich so zugetragen hatten. Das gelang natürlich nicht 307 sehr oft, aber wo es eintraf, machte es einen überwältigenden Eindruck. Sie müssen wissen, die richtige Rekonstruktion solcher vergessenen Kindererlebnisse hat immer einen großen therapeutischen Effekt, ob sie nun eine objektive Bestätigung zulassen oder nicht. Ihre Bedeutung verdanken diese Begebenheiten natürlich dem Umstand, daß sie so früh vorgefallen sind, zu einer Zeit, da sie auf das schwächliche Ich noch traumatisch wirken konnten.

»Um was für Ereignisse kann es sich da handeln, die man durch die Analyse aufzufinden hat?«

Um Verschiedenartiges. In erster Linie um Eindrücke, die imstande waren, das keimende Sexualleben des Kindes dauernd zu beeinflussen, wie Beobachtungen geschlechtlicher Vorgänge zwischen Erwachsenen oder eigene sexuelle Erfahrungen mit einem Erwachsenen oder einem anderen Kind – gar nicht so seltene Vorfälle –, des weiteren um Mitanhören von Gesprächen, die das Kind damals oder erst nachträglich verstand, aus denen es Aufschluß über geheimnisvolle oder unheimliche Dinge zu entnehmen glaubte, ferner Äußerungen und Handlungen des Kindes selbst, die eine bedeutsame zärtliche oder feindselige Einstellung desselben gegen andere Personen beweisen. Eine besondere Wichtigkeit hat es in der Analyse, die vergessene eigene Sexualbetätigung des Kindes erinnern zu lassen und dazu die Einmengung der Erwachsenen, welche derselben ein Ende setzte.

»Das ist jetzt für mich der Anlaß, eine Frage vorzubringen, die ich längst stellen wollte. Worin besteht also die ›Sexualbetätigung‹ des Kindes während dieser Frühzeit, die man, wie Sie sagen, vor der Zeit der Analyse übersehen hatte?«

Das Regelmäßige und Wesentliche an dieser Sexualbetätigung hatte man merkwürdigerweise doch nicht übersehen; d. h. es ist gar nicht merkwürdig, es war eben nicht zu übersehen. Die sexuellen Regungen des Kindes finden ihren hauptsächlichsten Ausdruck in der Selbstbefriedigung durch Reizung der eigenen Genitalien, in Wirklichkeit des männlichen Anteils derselben. Die außerordentliche Verbreitung dieser kindlichen »Unart« war den Erwachsenen immer bekannt, diese selbst wurde als schwere Sünde betrachtet und strenge verfolgt. Wie man diese Beobachtung von den unsittlichen Neigungen der Kinder – denn die Kinder tun dies, wie sie selbst sagen, weil es ihnen Vergnügen macht – mit der Theorie von ihrer angeborenen Reinheit und 308 Unsinnlichkeit vereinigen konnte, danach fragen Sie mich nicht. Dieses Rätsel lassen Sie sich von der Gegenseite aufklären. Für uns stellt sich ein wichtigeres Problem her. Wie soll man sich gegen die Sexualbetätigung der frühen Kindheit verhalten? Man kennt die Verantwortlichkeit, die man durch ihre Unterdrückung auf sich nimmt, und getraut sich doch nicht, sie uneingeschränkt gewähren zu lassen. Bei Völkern niedriger Kultur und in den unteren Schichten der Kulturvölker scheint die Sexualität der Kinder freigegeben zu sein. Damit ist wahrscheinlich ein starker Schutz gegen die spätere Erkrankung an individuellen Neurosen erzielt worden, aber nicht auch gleichzeitig eine außerordentliche Einbuße an der Eignung zu kulturellen Leistungen? Manches spricht dafür, daß wir hier vor einer neuen Scylla und Charybdis stehen.

Ob aber die Interessen, die durch das Studium des Sexuallebens bei den Neurotikern angeregt werden, eine für die Erweckung der Lüsternheit günstige Atmosphäre schaffen, getraue ich mich doch Ihrem eigenen Urteil zu überlassen.


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