Ilse Frapan
Zu Wasser und zu Lande
Ilse Frapan

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Hand in Hand auferstehen.

Eine Hamburger Geschichte.

Der Eintritt der alten Frau in den vorderen Wagen der Dampfstraßenbahn verursachte einen kleinen Aufenthalt. Das Erklimmen der zwei oder drei eisernen Tritte wäre ihr wohl überhaupt nicht gelungen, hätten nicht vier Arme die gebrechliche, formlose Gestalt unterstützt und behutsam vorwärts geschoben. Der Lokomotivführer blickte durch das kleine Stirnfenster von außen in den Wagen, weil das Zeichen zum Weiterfahren noch immer nicht gegeben ward. Aber jetzt hatten sie Platz gemacht, die alte Frau saß zwischen zwei der Mitangekommenen, nun nahm auch der vierte, ein Mann, gegenüber seinen Sitz ein, da läutete der Schaffner zur Weiterfahrt. Pustend und Funken auswerfend setzte sich die schwerfällige Maschine wieder in Gang, während sie graue Dampfknäuel wie Wolken vor sich herrollte.

»Sitzt Mutter nu gut so?« Der Mann, ein breitschulteriger, halsloser Mensch mit schüchternem 170 Gesichtsausdruck und runden blauen Brillengläsern beugte sich zu der Alten hinüber. Die Mitfahrenden sahen alle mit ihm hin und lächelten mit, wie das faltige Gesicht unter dem haubenartigen schwarzen Hut hervor dem Sohn zulächelte, der seine Frage wiederholte. Die Greisin hielt die Hand ans Ohr, das sie von dem Hut etwas freimachte, und rief: »Wat seggst Du?«

»Ob Großmutter gut sitzt!« schrie ihr die Nachbarin links, ein junges Mädchen in bescheidener grauer Kleidung zu. Die Alte fuhr zusammen, runzelte die Stirn ein bißchen, zog die Arme unter dem dicken grau und schwarz gewürfelten Umschlagetuch fester an den Körper und murmelte: »Ganz good.«

Die Nachbarin rechts, eine starke, erhitzt aussehende Fünfzigerin, schob ihr das Tuch noch ein wenig höher im Nacken hinauf. »Daß Mutter sich man nich verkühlt.« Und dann zu einer der Fremden, die antheilvoll zusah: »Da is immer so 'n Zug in den alten Wagen.«

»Es is ja Sommertag,« brummte ein Mann aus irgend einer Ecke. Die starke Frau richtete sich kampfbereit auf.

»Ja, für unsereinen woll, aber Mutter, wissen Sie, die kann das nich mehr so ab, Mutter is alt.«

171 »Dreiundachtzig is Großmutter,« sagte das junge Mädchen in triumphirendem Ton.

Die antheilvolle Fremde und noch ein paar Mitfahrende riefen »O!« und »Ah!«

»Da is sie noch gut für, nich?«

»Sehr gut!«

»Wat seggst Du?« fragte die Alte ihren Sohn.

»Ich sag' man eben, Du büst da noch gut für; für Deine Jahre!« rief ihr die Schwiegertochter zu.

Ein Kopfwiegen antwortete ihr; dann sagte eine helle, zufriedene Stimme, die gar nicht vom Alter verändert schien: »So lang as mi Gott dat Leben schenken deiht, so lang beholl ik dat ook.«

»Mutter hat das ja gut, was sollt Mutter nich gern leben!« rief aufmunternd die Schwiegertochter und fächelte sich mit dem Zipfel ihrer schwarzen Kaschmirmantille Luft zu.

»In dem Stift is das schön, nich, Großmutter?« fragte die Enkelin laut mit einem Rundblick auf die Zuhörer, als ob sie zu einem Kinde rede.

Die Alte riß die Augen auf, die noch klar und blau waren. »Ganz good, ganz good, und binah ümmer kochend Water.«

»Und alle acht Tage 'n Pfund Butter – na, und ihr eigen Bett hat sie da ja auch mit 172 hingekriegt, und denn 'n Mark Brodgeld – das ißt sie ja nich mal auf.« Die vier unterhielten den ganzen Wagen. Als die korpulente Frau die vielen Blicke auf sich gerichtet sah, röthete sich ihr volles Gesicht noch mehr, und die kleinen Augen trübten sich, wie in plötzlicher Beschämung.

»Ich hab' geweint, wie Mutter da erst hin sollte, – nee, wie ich Ihnen sage, – es war mir auch zu schrecklich! Ja, is es denn nich wahr, Bertha?«

Der Mann räusperte seine eingerostete Stimme und sagte mit milder Vorstellung: »Es is von wegen unser Geschäft.«

Die Frau ermannte sich schnell: »Sehn Sie, wir haben nämlich 'ne Wäscherei – es is bei uns immer unruhig. Das geht wie 'ne Schleuse. Und da Mutter nu immer zwischen! Und denn die Feuchtigkeit und den Dunst von das Plätten! ›Nee, das kann Mutter nich mehr gut machen,‹ sag' ich zu meinen Mann, ›wir müssen sehn, daß wir ihr in das Stift reinkriegen‹.«

»Sie wollt auch immer noch helfen,« fiel lachend die Enkelin ein.

Nun lachte auch die Schwiegertochter. »Ja, das war noch das gelungenste! Mutter is noch ganz nach die alte Mode, und von Crême, wissen 173 Sie, wußt sie nix von ab. Wenn wir die Gardinen in den gelben Amidam durchholen (stärken) wollten, denn wurde sie orrentlich ärgerlich und wollt' das nich leiden. ›Ihr macht das gelb statts weiß,‹ sagte sie denn immer, nich, Mutter?«

»Wat seggst Du?« fragte die Greisin mit geduldiger Freundlichkeit.

»Daß Großmutter keine gelben Gardinen leiden mag!« rief die Enkelin.

Mißbilligend verzog die Alte den Mund: »Witt is schön, witt mutt dat Tüg ut de Bleek rut kamen; dat ol' Gele süht je aasig ut! Ja, hew ick nich recht? wat seggen Se?«

Sie wandte sich mit ihrer Frage an einen weißhaarigen Herrn in ihrer Nähe, der mit leutseliger Miene beipflichtete: »Ja, ja, gute Frau, auch ich kann mich mit der neuen Mode nicht befreunden, hm, hm – –« Er warf einen Blick auf seine Frau, die ihm gegenüber saß und unter ihrem lila Schleier die Stirn runzelte.

»Hat siebenhundert Mark gekostet, daß wir ihr da reingekriegt haben,« sagte gewichtig die Schwiegertochter, »aber da hat sie nu auch alles für, so lange sie lebt. Nee, die sind da ja nich für arm; da is ja 'n großen Eßsaal und 'n Arbeitssaal und 174 'n schönen Garten und 'n Kirche und allens und allens! Das müssen Sie man ja nich denken.«

»Bloß was nu jedem seine eigene Stube is, das is man klein,« berichtete der Mann hüstelnd, »sie sagen da auch bloß Zellen zu, wie so Bienenzellen, wissen Sie woll.«

Seine Frau lachte gezwungen. »Achhott, Adolf, mach' doch bloß nich so 'n Schnack, was braucht Mutter nu woll viel Platz, wenn sie man warrn und trocken sitzt.«

»Und denn – einsam is es da nich, mehr so gesellig,« fiel der Mann ein.

»Da sind ja über hundert Personen,« sagte das junge Mädchen umherblickend, »die machen Leben genug.« Und dann der Alten ins Ohr: »Frau Allerding, nich, Großmutter?«

Die Greisin war noch schnell im Erfassen einer neuen Gedankenreihe.

»Ja,« lächelte sie, »Allerdingsch! dat seggst Du woll, Bertha. Wohr is dat, se snackt 'n beten to veel, aber se meent dat good.«

»Sie lauert nu all gewiß auf Mutter!« rief die Schwiegertochter ihr zu.

Die Alte nickte zufrieden. »Dat deiht se woll, se wull mi 'n beten Warmbeer ophegen (aufbewahren), hett se seggt. Nu sünd wi jawoll dar?«

175 Mit unerwarteter Lebhaftigkeit wandte sie sich gegen die Scheibe, rieb sie und spähte hinaus in das graue Zwielicht, aus dem eben die Straßenlaternen wie matte Sternchen hervorbrachen. »Dar kummt je all de Richardstraat, lat man hollen, min Adolf,« sagte sie in bestimmtem Ton.

»Ihre Mutter hat ja noch sehr gute Augen, das muß ich sagen!« bemerkte der weißhaarige Herr, »wirklich Richardstraße! Nu sehn Sie mal!«

»Na, Großmutter! Die is nich halb so kurzsichtig wie ich,« sagte die Enkelin, während die ganze Familie aufstand.

»Und laufen kann sie! auch besser als ich,« setzte sie mit leisem Kichern hinzu.

Trotz dieser Versicherung waren Sohn und Schwiegertochter wieder ängstlich um die Greisin herum, als es nun ans Aussteigen ging; Schritt vor Schritt ward ihr vorgeschrieben, und als sie in der Wagenthür noch einmal ein: »Na adjüs ook« zurücknickte, faßten sie auf beiden Seiten ihren Arm, um sie vor dem Stolpern zu behüten. Der weißköpfige Herr blickte ihnen durchs Fenster nach, wie die kleine Gruppe sich auf dem Trottoir in Marsch setzte; voran die Achtzigjährige, über deren Kopf der Sohn einen Regenschirm aufspannte, während die Schwiegertochter sie festhielt und zu 176 kleineren Schritten zu nöthigen schien; hinterdrein schlenderte das junge Mädchen, etwas müde und mit vorsichtig emporgehobenem Kleidsaum.

Sie hatten nicht weit zu gehen. Ein weitläufiges klosterartiges Gebäude am Ende der Straße war ihr Ziel.

»De Döhr is noch nich to!« rief die Alte im Ton der Erleichterung, »ick harr all Angst, dat ick Tiemann rutkloppen mußt, und de is denn noch gnaddrig (verdrießlich).«

»De Klock is ja erst neegen,« beruhigte der Sohn. Und richtig, gerade auf neun stand der große goldene Zeiger der Uhr in der Vorhalle, die so weit und großartig war, wie ein Kirchenschiff. Tiemann, der Pförtner, der rechts sein Zimmer hatte, zog das Schiebfenster auf und dienerte freundlich den Ankommenden entgegen mit dem langbärtigen, ehrwürdigen Patriarchenkopf.

»'n Abend, Frau Bydekarken, immer op de Been? Frau Allerding hett mi all tweemal fröggt, wat Se noch nich in sünd. Ich segg, nee, so 'n junge Lüd as Fro Bydekarken, vun de könt Se nich verlangen, dat se vor Klock twolf to Hus kamt.«

Hier, wo das Geräusch des Fahrens und der 177 Lokomotive sie nicht verwirrte, hörte die Alte ganz gut.

»Achhott, dat is nu blos dat eene Mal west, Tiemann, und he kann und kann dat nich vergeeten!« Sie that gekränkt, aber die Schelmerei spielte um alle Fältchen ihres eingefallenen Mundes.

»Ich freu' mich immer, wie schön und hell, daß das hier is!« Die Wäscherin ließ ihre kleinen, matten Augen zur gewölbten Decke und die breiten Treppen hinaufspazieren, die rechts und links in den oberen Stock führten.

Der Pförtner nahm eine Amtsmiene an: »Das' nu man schade, Besuch is nu nich mehr, – na, das wissen Sie je auch all, – nach Lichtanstecken –«

Die korpulente Frau nickte: »Ich weiß woll. Ja, denn muß Mutter die Treppen allein rauf gehn – denn sag ihr man adieu, Adolf, und Bertha, mein Deern, sag ihr man auch adieu – mir is das gar nicht recht, daß ich da nu nich mit rauf kann.« Sie klopfte die Alte auf den Rücken und hielt lange ihre Hand fest, bis die Großmutter sie langsam fortzog. »Kamt good to Hus,« sagte sie munter, »ick bün gliek baben. Achhott täuw mal! Kinners! nu hew ick Mantje 'n Tüt' mit Wustschell' (Wursthaut) mitbrocht, und nu 178 hew ick se in de Tasch behollen! Kieck Bertha, nu giw Du se em man! Vergeet ook nich. Min erste Hund, den ick hatt hew, wör' ook op Mantje döfft (getauft), de kreeg all de Wustschell von min Hochtied, dar harr he dree Dag an to eeten.«

»Je, denn möt wi woll gahn,« sagte mit einem leisen Seufzer der Mann, der den abgezogenen Hut die ganze Weile in den Händen drehte.

»Mag Mutter denn ook hier blieben?« fragte ein bißchen ängstlich die Schwiegertochter, indem sie ihr den Regenschirm reichte.

»Ach, Großmutter is ja schon dreiviertel Jahr hier!« warf das junge Mädchen in ungeduldigem Ton ein; »ich muß noch so 'n Packen Bücher vorschreiben, wirklich.« Sie machte Miene, ihre Mutter am Kleide fortzuziehen.

»Na, denn gun' Nacht – meine Tochter is nämlich Lehrerin, ja!« Die Frau machte diese Bemerkung gegen den Pförtner, mit feierlichem Zurückwerfen des Kopfes. Dann kam noch einmal ein andauerndes Händeschütteln zwischen den dreien, während das junge Mädchen wie auf dem Sprunge an der Thür stand und leise mit ihrem Regenschirm auf die Fliesen klopfte.

Inzwischen wurden die großen Thürflügel im Hintergrunde der Halle auf- und zugeschlagen, 179 Lichterschein und ein warmer Garküchen- und Kaffeegeruch drang heraus; Glatzköpfe und Köpfe mit vollem Haarschmuck, alle aber alten Männern angehörend, guckten heraus und verschwanden bald wieder.

Und plötzlich kam es mit eiligen Schritten eine der breiten großmächtigen Steintreppen heruntergelaufen und eine muntere, etwas krähende Stimme rief: »Frau Bydekarken, sind Sie das?« Und: »dat is de Allerdingsch,« sagte die Alte erfreut.

Die schwarzäugige lebhafte Person mit der kurzärmeligen Jacke, aus der ihre nackten gelblichen Ellbogen luftgewöhnt hervorragten, während der breitfaltige Rock sich dick um die stattlichen Hüften legte, nahm die Greisin sorgsam wie ein kleines Kind an die Hand: »Das is meine Mutter hier, nich Mutter Bydekarken? Ha, ha, to'n Dotlachen! Wi beiden Antiken, nich?« Und dann, den Mann auf die Schulter klopfend, der unwillkürlich zurückwich: »Kommen Sie man bald mal wieder, hören Sie woll? Sie kriegt das sonst mit die Sehnsucht, und das is nich gut für 'n Menschen.«

»Endlich!« stöhnte die Enkelin, als sie alle vor die Thür traten; aber plötzlich besann sie sich, eilte an dem Pförtner, der ihr nachrief, leicht 180 vorüber, die Treppe halb hinauf und überfiel die alte Frau, um sie auf die Backe zu küssen, die so welk und weich war wie ein erfrorener Apfel.

»Ueber all das lange Getüder (Gerede) hatt' ich Großmutter gar nicht gute Nacht gesagt!« berichtete sie athemlos vom Laufen, als sie mit den Eltern auf die nasse Straße hinaustrat.

Frau Allerding zog ihre Schutzbefohlene durch den Eßsaal, auf dessen lehnenlosen Holzbänken noch einzelne Insassinnen des Stifts herumhockten, zusammengesunkene, altersverkrümmte Gestalten, und so klein in diesem großen, hohen Raum, daß er ganz leer erschien mit seinen trüb brennenden Schirmlampen, die wie die Lichter einer Kirche hoch an der Decke schwebten. An einem der kleinen Wandschränke, die alle Seiten des Saals in regelmäßige, gelblackirte Rechtecke zerlegten, bewegte sich eine sonderbare Figur, indem sie den rechten Arm so heftig drehte, daß die Zipfel ihres großen gelbbraunen Shawltuches auf und ab flatterten, während sie den Kopf mit dem zerdrückten schwarzen Sammethut bald auf die eine, bald auf die andre Seite legte, um besser zu sehen. Dabei murmelte sie vor sich hin, blickte die Eintretenden aus unruhigen, rothgeränderten Augen flüchtig an und wandte dann wieder gleichgültig den Kopf.

181 »Lat ehr! lat ehr!« flüsterte Frau Bydekarken ängstlich, denn Frau Allerding machte Anstalt auf die wunderliche Gestalt zuzugehen; »ach, wenn ick man erst glücklich vorbi wär'! Wart hett se sick wedder utfliert (herausgeputzt) hüt abend!« Und hastig drängte sie vorwärts in die nach erhitzten Röhren und Spülwasserdunst riechende Abwaschküche, wo noch zwei Frauen mit dem Säubern von Geschirr beschäftigt vor den ringsum laufenden Zinkbassins standen.

Aber Frau Allerding kicherte noch rückwärts blickend: »To'n Dotlachen, de Ollsch! morgen fröh vertellt se nu wedder, se is in 'n fine Gesellschaft west, bi Herrn Pastor Soundso oder bi Herrn Senator Soundso, dat kummt ehr dar gor nich op an.« Und dann, mit beleidigtem Ton: »Aber daß sie Ihnen nich mal den Mund bieten thut (grüßen), wenn Sie einkommen (heimkommen), nee, Mutter Bydekarken, all was in orrentlichen Dingen besteht! so pütcherig (verrückt) is sie nich –«

»Ach, kamen Se doch man!« drängte die Greisin, »dat is all een dohnt (einerlei).«

Die Flügelthür des Arbeitssaals stand geöffnet, auch er schien leer mit seinen langen Tischen und Bänken und den getafelten Wänden, die trotz der Lampen dunkel und fern blieben. An einer 182 Tischecke, verloren und einsam, wie ein gestrandetes Wrack, kauerte eine Alte in stumpfem Hinbrüten, mit vorgeschobenem Kinn und halbgeschlossenen Augen; an einer andern Ecke strickte eine starre, rothgesichtige Frau an einem langen Strickstrumpf mit der Geschäftigkeit einer klappernden Maschine, die Blicke auf das Gewebe in ihren großen Händen gerichtet, ohne Theilnahme für irgend etwas andres als diese eintönige kunstlose Arbeit. Recht weit von ihr entfernt spielten zwei andre, die sich gegenübersaßen, Sechsundsechzig; eine Kleine mit schiefem Halse und scharfem, klugem Gesicht erboste sich, so oft die Große, Eckige mit ihren harten knochigen Fingern einen Stich an sich nehmen wollte: »Aber, ich bitte Sie, Fräulein Trina Meier, das ist ja mein Atout gewesen, was soll denn das heißen? Decken Sie doch, bitte, noch 'mal auf! Ach, so – so war es? Nein, dann behalten Sie nur, dann ist es recht so, – ich meinte nämlich –« Und so immer von neuem, während die Große mit halboffenem Munde gehorsam die Karten hin und her schob. Dicht neben der Thür, die in die Küche führte, hatten drei Frauen drei niedere Holzstühle zusammengeschoben; sie plauderten lebhaft und neckten einander, indem sie sich zu einem großen Korb voll Kartoffeln oder abwechselnd zu einem 183 Wassernapf bückten – sie schälten den Bedarf für morgen. Diese drei blickten auf, als Schritte ertönten; dann, sobald sie Frau Bydekarken und Frau Allerding erkannten, gab es ein freundliches Nicken und Zurufen: »Slecht Wetter buten (draußen), nich? Uemmer natt! ümmer natt! Ick wör hüt nich utgahn, und wenn Du mi rut jagst harrst! Aber Madam Bydekarken, de hett junge Knaken! De kriegt den Weg twischen de Been to faten, und denn geiht dat: ›Sühst mi woll!‹«

Die Strickerin gähnte laut und steckte sich dabei eine Stricknadel vor den Mund. Dann hielt sie ihre Arbeit empor: »Kiek hier: ick sett nu all de Hack, dat ganse Been von hüt morgen an, wat seggen Se darto?«

»Madam Allerding, anner Woch hewt Se dat Kantüffelschellen, vergeeten Se dat man nich!«

»Je, je, se makt all so 'n Gesicht, als wull se sick drücken! Aber nee Du, dor ward nix ut. Arbeit macht das Leben süß, Madam Allerding!«

»Und gor nix dohn is ook nich bitter, is nich wohr, Fräulein Lau?« erwiderte prompt und laut lachend die Angeredete, indem sie knickste.

Die Kartenspielerin mit dem schiefen Halse drehte sich mühsam um: »Wir sind hier nicht, 184 um zu arbeiten, wir sind hier, um auszuruhen!« bemerkte sie spitzig in geziertem Hochdeutsch.

»Dat giwt sogar Lüd', de möt sick vun't Slapen utruhn,« sagte ihre Gegnerin anzüglich.

»Mein Gott, wir können doch nicht alle mit Zitronen handeln und von Haus zu Haus gehen, wie Sie, Fräulein Trina Meier,« – ein Achselzucken und mitleidiges Lächeln begleitete die Antwort – »Sie können mich dauern, daß Sie es auf Ihre alten Tage noch so sauer haben müssen«. Sie warf die Karten hin und humpelte hinaus, ohne darauf acht zu geben, daß ihr die Angegriffene fast weinend nachschrie: »Ick hew dat je nich nödig! ick doh dat je to'n Vergnögen! Nee, so 'n Schändlichkeit. Sie is nu bloß so aasig mit mir, weil ick foftein Pennig gewonnen hab'; un wat kann ick dor nu vör, dat ick ümmer all' de Marrrjaschen und de Trümp' in de Hand krieg?«

»Wat 'n Hög (Spaß),« flüsterte Frau Allerding entzückt, »ümmer sitt' se tosam und ümmer hackt (zanken) se sick! To'n Dotlachen sünd die beiden!«

Aber die Alte ließ die Unterlippe hängen und schüttelte den Kopf: »Mag ick nich lieden, Larm und Striet is mi towedder.«

Mit einem langen, tiefen Seufzer sank sie in 185 ihren Lehnstuhl, als Frau Allerding die Zelle für sie aufgeschlossen hatte.

»So Mutter, nu is Mutter wedder to Hus,« sagte die Gefährtin in beruhigendem Ton, indem sie ihr beim Ablegen des Hutes behülflich war und sich dann mit verschränkten bloßen Armen auf dem Bettrande niederkauerte.

Die Alte erhob ein wenig den Kopf, als wolle sie etwas sagen; ihre Blicke hafteten an dem hellen Lichtstreifen, der von dem beleuchteten Korridor herein durch die Zwischenräume zwischen Wand und Decke die dunklen Zellen mit Dämmerlicht erfüllte.

»Nu bring' ich das Warmbier, ich hab' das man so lange in 'n Bett gesetzt, daß das nich kalt wird,« sagte Frau Allerding munter; »ich bin auch erst zwei Stunden wieder hier, – gliek kam ick wedder.« Aeußerst beweglich für ihre sechzig Jahre glitt sie von der Bettkante herunter und zur Thür hinaus, um sogleich mit einer dickbäuchigen rothbraunen Steinkruke und zwei Gläsern wieder zu erscheinen.

»Das 'n Spaß! prost, Mutter Bydekarken; wenn ick des Abends so in min Zell' sitt, mit min Warmbeer vor mi, und all min Saken in de Reeg (Ordnung), und allens sauber und blank, denn 186 fäuhl' ick mi so recht glücklich! Achhott ja!« Sie drückte das Glas an ihre schwarze Tuchjacke und seufzte behaglich. »Nich, Madam Bydekarken? seggen Se dat nich ook?« Die klaren blauen Augen der Greisin schweiften über den Rand des Glases nach der Fragerin. Schweigend schlürfte sie den warmen Trank; dann, das Glas zurückgebend, sagte sie in geheimnißvollem Ton: »Ick much hier nich dot sin.«

»Wat? wat seggt Mutter?« Lachbereit zuckte schon Frau Allerdings spitzer Mund. Becke Bydekarken sah sie verwundert an: »Dor is nix to lachen. Ick hör na Wedel hento. Weeten Se, wo Wedel is? noch achter Blanknes'. Dor liggt min Mann ook,« sagte die Alte.

Frau Allerding schlug die Hände zusammen. »Madam Bydekarken leevt noch länger as ick! wat de vor Grappen (fixe Ideen) in' Kopp hett! Haha! to'n Dotlachen! Sterben möt wi all! aber wer denkt denn woll an so wat! Ja, in de Kirch, dat will 'k nich seggen, dar ward een dor je mit de Nees' opstött, un in de Neihstünn' (Nähstunde) dor singt wi ook mitünner: ›Wenn ich einmal soll scheiden‹, aber vor gewöhnlich, bi'n Warmbeer, dor hett een doch wat Beteres to denken! Kumm, 187 Mutter, lang to, späuhl (spüle) di de Grappen hendal, ick will di noch 'n Glas inschenken.«

»Ick bin all old, ick kann alle Dag ropen warrn,« sagte die Greisin, nachdem sie getrunken, »min Kinner wölt dar ook nix vun weeten, aber ick –«

»Madam Bydekarken,« rief Frau Allerding, ihre Hände ergreifend, »Se sünd ja noch de Rüstigste vun alle, – kommen Sie her, ich will Ihnen mal verzählen, was heute in den Brief gestanden hat von Burmah; Herr Oetjens hat uns das all haarklein vorgelesen, en gansen famosten Brief. Denn wissen Sie, da is je nu de Braut angekommen von den einen Missionär, und wie hat sie sich gefreut, wie sie da angekommen is! Gleich wie sie aus 'n Schiff war, haben sie ihr hergekriegt und in so 'n Dings gesetzt, ich weiß nich mehr, wie das man noch heißt, wie so 'n Kasten is das, un denn mit Gold und Rosa angemalen, und denn wird da oben 'n Decke übergeschmissen un die Schwarzen je nu angefaßt und mit ihr losgegangen über Stock und Block, – denn wissen Sie, in Indien, da is das furchtbar unegal, da is das nich wie hier, das müssen Sie man ja nich denken, bald is da 'n Berg, und bald is da 'n Thal, und Reis ernten sie da dreimal, un denn giebt es da 188 'n Masse Ziegen, wissen Sie, o wie muß es da einmal schön sein!«

Frau Allerding rollte ihre schwarzen Augen im höchsten Enthusiasmus. »Und denn, Mutter, denn haben sie da auch Löwen und Tiger, o Gott, o Gott, und denn miteins Nachts brechen die in das Dorf ein und fressen ihnen die ganzen Ziegen auf!«

Frau Bydekarken ließ einen tiefen Laut der Mißbilligung und des Unglaubens vernehmen.

»Wie ich Ihnen sag',« fuhr Frau Allerding begeistert fort, »na, und wie sie da nu mit die Braut hinkommen, nach 'n Missionshaus, stehn all die Schwarzen in eine Reihe vor die Thür und allens bekränzt und schreien Hurrah, was sie man können! O Gott, was hat sie sich gefreut! Und das sag' ich selbst, da kann man sich auch zu freuen, nich? Na und nachher sind all die Schwarzen reingekommen und bitten sich 'n klein Geschenk aus für den Bekränzen und den Hurrahschreien, na, und das haben sie denn natürlich auch gekriegt! Ja, alles was recht is, nich, Madam Bydekarken, alles was recht is!«

»Dat is wiet vun hier, nich?« sagte die Alte in schüchterner Verwunderung. »So wiet kann ick gornich denken.«

189 Frau Allerding warf sich in die Brust: »Ja, Madam Bydekarken, das glaub' ich woll, aber ich näh' je nu all achtunddreißig Jahr für die Mission, unse is die nordwestdeutsche, un kriegen thun wir da nix für, Gott, es is je auch man alle vierzehn Tage en Paar Nachmittagstunden, und mir macht das nu Vergnügen! Wir Menschen sünd ja alle Brüder, Madam Bydekarken.«

»De oll' Swatten mag ick nich lieden,« sagte kopfschüttelnd die Alte.

»Ach, Madam Bydekarken, sagen Sie das nich, ich find' sie nu zu reizend! Herr Oetjens zeigt uns denn ümmer die Bilder, – sehn Sie, ich näh' je nu die langen Jahren die Jacken und Hemder vor ihr, und da sind sie denn nachher in abgenommen! Und immer von den buntsten Kattun, den wir kriegen können, das mögen sie gern. Ganz lose un weit, was die Jacken für die Frauen sind, bloß oben mit ein einzigen Knopf zu, un denn nix unter, so gehn sie da ja! Ach nee, das sagen Sie man nich, daß die nich nüdlich sind.« Sanft stieß sie die alte Frau in die Seite: »Na, hew ick Se nu nich schön wat vertellt? Will Mutter nu slapen?«

Frau Bydekarken blickte sie an wie aus dem Traum. »Ick mutt dor mal mit den Pastor öber 190 spreken,« murmelte sie. Frau Allerding hüpfte erstaunt empor.

»Oeber de Swatten, Mutter?«

»Ick kann hier doch nich op ewig blieben, dat kann ick nich,« fuhr die Greisin mit sich selbst redend fort.

»Herrjes, wo wölt Se denn nu noch hen, Madam Bydekarken? Is dat hier nich schön? Sitten Se hier nich good und drög?«

»Ja – jawoll,« brummte die Greisin. »Kieken Se, Alledingsch, dat is bloß wegen Leben un Starven. Wenn ick dot bin, denn kann ick hier nich blieben.«

Frau Allerding lachte verwundert auf.

»Herrjes, Madam Bydekarken, dat versteiht sick,« – sie begann zu stottern, »denn bliwt Se nich hier in 'n Stift, denn kamt Se – –«

»Min Mann un min öllste Jung, de liggt in Wedel, dor will ick ook hen.«

»Ach, Madam Bydekarken, laten Se sich nich utlachen. Wo lang sünd Se all in Hamborg, und Ehr Kinner sünd hier, und dat mutt ick Ihnen man gradut seggen: nie in' Leben bün ick in Wedel west, aber in Hamborg dor giebt das ganse nette Kirchhöfe, da können Sie unbesorgt für sein.«

»Denn harr ick keen Ruh in de Eer (Erde), 191 denn wurr ick gahn (umgehn),« sagte Becke Bydekarken mit Entschiedenheit.

»Gott vergew all wat Sünd' is!« schrie Frau Allerding und griff nach dem Rock der Alten, »Du warrst doch nich? Madam Bydekarken, ick bitt' Se um allens in de Welt, dar much Een je de Gräsen bi ankamen.« Sie deckte sich ihre weiße Schürze über den Kopf und blieb einen Augenblick unbeweglich.

»Min gode Mann hett all lang 'nog op mi lurt,« murmelte die alte Frau, »de Pastor mutt mi dat opschrieben, dat ick bi min Mann to liggen kam.« Frau Allerding zeigte ihren Kopf wieder, die Augen starrten noch erschreckt.

»Wo lang is he all dot?« fragte sie mit Ueberwindung.

»Anner Mand (Monat) sünd dat nu foftig Joahr! Mit achttein bün ick verheirath, mit neegentein kreeg ick min ersten Jung. Min Mann wör veeruntwintig, een forschen Keerl, aber good von Hatten. Ick hew em kennt bet op't Swatt ünnern Nagel. Min Swesters hewt mi oft wat utlacht. Lacht ji man, hew ick seggt, ick bin ook sehr mit em tofreeden. Mit fiefundortig Joahr stunn' ick dor als Wittfro mit fief Kinner, dor wär min Mann op eenmal dot.«

192 Frau Allerding stieß einen mitfühlenden Seufzer aus: »Wat is em denn so ankamen?«

»Dat kann keen Minsch seggen! Ick kunn mi gornich togeben (beruhigen), all sünd se kamen und hewt seggt: Becke, so un so, un wi hewt düt hört und dat hört, – ick hew se alltosam rutjagt un min Dör toslaten un min blödige Thranen alleen weent.«

»Is he denn nich to Hus storben?«

»Ach nee, ach nee! Kieken Se, in Wedel dor is en Platz mit Böm vor alle Husdöhren und gräune Bänk' ünner de Böm. Un in de Mitt vun den Platz, dor steiht de oll Kaiser Goliath (d. i. der Roland) mit sin Säbel un sin groote Kron op'n Kopp, – – dor hewt se em funnen.«

»Dot?« rief Frau Allerding aufgeregt.

Mit einem Wehlaut schüttelte die Alte den Kopf: »Dat hett noch en Stunn' durt. Een hett seggt, he harr sapen (getrunken), de anner hett seggt, dat Minsch harr em vergeben (vergiftet), de drütt –«

»Wat vorn Minsch?« unterbrach ängstlich die Zuhörerin, »de Kaiser Goliath?«

Becke Bydekarken seufzte. »Dat Minsch, in de ehr Schoot sin Kopp legen hett, as se em funnen hewt. Achter de Möhl' in 'n lüttje Kath' däh se 193 wahnen, – se näumten ehr bloß ›Mettje fuul um den Soom‹, se harr all de Mannslüd an de Hand, bloß min Krischan nich, de is ehr ümmer ut'n Weg gahn. Und nu mutt dat Unglück sin, dat keen annere to Hand is, as em de Dod an't Hart reckt (reicht), un so is 't kamen, dat se seggt hewt« – – Sie hatte die Stimme erhoben, daß sie schrill und kläglich von den engen Zellenwänden zurückklang. Nun war es, als erschrecke sie selbst davor. »Lat ehr reden,« sagte sie, als beruhige sie jemand andres, »uns' Herr Pastor hett' drapen (getroffen), as ick an dat Sark stünn. ›Herr Pastor,‹ säd ick, ›'t sünd all Lögen, wat se utposaunt.‹ Dar kreeg he mi bi de Hann' to faten und säd: ›Gott segne und stärke Ihr Vertrauen. Ihr werdet Hand in Hand dermaleinst auferstehn‹.«

Ein plötzliches Klopfen an der Thür unterbrach die letzten laut und feierlich gesprochenen Worte: »Borgerstied! (Bürgerszeit) de Klock is tein,« sagt eine der Wärterinnen, die draußen auf dem Gange die Runde hatte. Zugleich merkten sie an der abnehmenden Helligkeit, daß die Lampen draußen herabgedreht wurden.

Frau Allerding war bei dem Anruf erschrocken emporgefahren. »Dat is lat (spät) worrn bi uns' Vertelln. Se weeten wat, ick weet wat, dat macht, 194 dat de Tied vergeiht. Töben Se, Mutter, ick will Se' bi't Uttrecken helpen, – man gliek und gau (schnell) in de Nachjack rin, das 'n parchente, de sitt warm. Na, wat ick noch seggen wull, hewt Se dat Minsch denn nich utfragt, wo und wann? dat harr ick nu doch ganz gewiß dahn.«

Die alte Frau schüttelte den Kopf: »Nee, dat wull ick min seligen Mann nich andohn. Ick wull ook nich in Wedel blieben, dat gung mi to dull na. So bün ick mit min Kinner na Hamborg gahn, und wi sünd ook immer dörchkamen. Ick hew vor Geld wuschen; nu hett min jüngste Söhn und min Swiegerdochter dat Geschäft öbernahmen. Se hewt schön to dohn. Twee sünd na Amerika gahn, hewt nu ook all Enkelkinner. Min beiden Döchters sünd dot. Ick harr mi 'n pormal wedder verheira'n können, jewoll, en is dor kamen, en Maler, de wull mi dörchut un dörchut hebben. Ick segg: ›Mi is dat bloß wegen den Geruch vun dat Tappentien (Terpentin), sünst will ick em nehmen.‹ Dor meen' he, dat wör 'n Utred.« Sie lachte schelmisch aus ihren Kopfkissen heraus. »He harr woll recht, dat wör ook so – ick kunn min Krischan nich vergeeten.«

Der Schritt der Wärterin ließ sich wieder vor der Thür vernehmen. Frau Allerding sagte 195 Gutenacht. »Laten Sie sick wat Gods drömen, Se lopen noch manches Joahr mit, Mutter.« Sie klopfte auf das Deckbett.

»Ick weet nich, ick kann alle Dag afropen warrn,« war die unveränderliche klare, ruhige Antwort.

Am andern Tage, als der Oekonom des Stifts durch alle Räume ging, begegnete ihm vor ihrer Zellenthür Becke Bydekarken, und sie öffnete ihm sogleich mit dem Schlüssel, den sie noch in der Hand hielt.

»Wölt Se mal bi mi inkieken, Herr Hinsch? Setten sick dal; kann ick Ihnen mit wat opwahrn? Viellicht 'n Glas Win gefällig? Min Kinner versorgt mi ümmer so dull (arg), de een' bringt mi dat, un de anner' dat, un ick bruk dat je gornich, ick hew hier je öberleidig (überreichlich) to eeten.«

Herr Hinsch hob seine beiden Rockflügel in die Höhe und ließ sich bedächtig und gewichtig in dem Lehnstuhl vor der Kommode, die die Stelle des Tisches vertrat, nieder.

»Wenn Sie man zufrieden sind,« sagte er mit seiner tiefen wohlwollenden Stimme, die wie aus einem hohlen Fasse hervorzukommen schien, »das is ja unser Wünschen und Trachten, daß Sie man zufrieden sind. Davon is ja die ganze Anstalt ins 196 Leben gerufen worden, daß Sie hier eine Heimath finden, wo Sie nichts zu sorgen haben und Ihr schönes Essen und Trinken, so lange Sie noch da sind.« Er schluckte von dem Wein, den Frau Bydekarken ihm auf die Kommode gestellt hatte und sah lächelnd zu, wie sie ein paar übergespritzte Tropfen mit dem Wischtuch wegdrückte. »Dat gievt gliek 'n Krink (Ring),« sagte sie entschuldigend, während sie wieder auf der Bettkante niederhockte.

»Und an die Beleuchtung Ihrer Zelle haben Sie sich auch gewöhnt? Ich finde es übrigens ziemlich hell hier,« sagte er, sich umblickend, »wie kommt denn das?« Die fensterlose, auf dem Korridor liegende Zelle war gleichwohl dämmerig. »Dat is Madam Allerding vun dicht an, de dat grote Finster hett, – de het ehr Gardin' 'trüchsteken (zurückgesteckt) un gievt mi wat vun ehr Licht aff,« erklärte die Alte. Der Oekonom nickte beifällig. »Na, nu sehn Sie mal, und Sie konnten sich garnich zufrieden geben! Im Anfang sind Sie auch recht unzufrieden gewesen! Ja! ja!« und er drohte scherzend mit dem linken Zeigefinger, mit der Rechten erhob er das Weinglas. »Na prost, Mutter Bydekarken, die zufriedenen Leute, die dem Menschen das Leben nicht unnütz sauer machen, sollen leben.«

197 »Veel is dat je noch nich, aber dat is doch wat,« sagte die Alte halbeingeschüchtert nach dem hellen Streifchen über der niedrigeren Zwischenwand blickend, wo noch ein Stück Fenster sichtbar war, »nu, in 'n Sommer, hew ick 'n lütt lütt Spierken (Spur) vun de Morgensünn, Klock sief, wenn ick opstah.«

»Das is ja sehr schön,« – Herr Hinsch wiederholte das sehr, während er den letzten Schluck im Glase zu seinem sorgsam ausrasirten Munde erhob – »sehn Sie, wenn ich so was höre, wenn ich sehe, daß unsere Sorgen und Mühen um unsre herrliche Stiftung anerkannt werden, das is mir lieber, als wenn mir einer 'n Doppelschilling schenkt.« Er stand auf, nachdem er das Glas auf die Kommode zurückgeschoben. »Hat mir ganz gut geschmeckt, Madam Bydekarken, was is denn das für 'ne Sorte« – er beugte sich nieder, um die Etikette zu lesen, – aber austrinken! austrinken! nicht umkommen lassen! die Flasche is ja noch über halb voll.« Damit wollte er hinausgehen.

»Ick harr noch 'n lüttje Bitt', Herr Hinsch,« sagte zaghaft die Alte. Der Oekonom lächelte. »Aha! Ohne das kommt man nirgends weg!« sagte er mit mildem Kopfschütteln, »und was wäre denn das woll, meine gute Madam?«

198 »Ick wull fragen, wat ick dat nich in min Testament schrieben kunn, dat ick bi min Mann in Wedel to liggen kam,« sagte die kleine Greisin und drückte ängstlich die Hände zusammen.

Herr Hinsch lächelte wohlwollend. »'s ist doch gelungen, worauf die Leute alles kommen, um einen aufzuhalten.« Er legte seine große fleischige Hand auf die Schulter der Alten, die unter dem Gewicht noch mehr in sich zusammensank. »Erstens, meine gute Frau, haben Sie überhaupt kein Testament mehr zu machen, indem Sie sozusagen Ihr Testament schon gemacht haben durch den Eintritt in unsre Altersversorgungsanstalt, verstehen Sie, – womit Sie jeden Anspruch an Privateigenthum ein für allemal aufgegeben haben – Sie wissen und erinnern sich zum Beispiel,« mit einem Blick nach dem Bett und der Kommode, »daß Ihre Habseligkeiten für den Fall Ihres Absterbens Eigenthum der Anstalt verbleiben und für Rechnung der Anstalt verkauft werden.«

»Ick weet, ick weet,« murmelte Becke Bydekarken ungeduldig, »dat is mi denn ook ganz recht so.«

»Ob Ihnen das nu recht oder unrecht is, meine gute Frau,« fuhr Herr Hinsch salbungsvoll fort, »es ist so, und das Wort Testament hat 199 somit in Ihrem Munde gar keine Bedeutung.« Er klopfte sie sanft auf die Schulter. »Sie haben das nich gewußt, Sie haben sich da was in 'n Kopf gesetzt oder setzen lassen, was Sie selber nicht recht verstehn! Was wollen Sie denn in Wedel? Sich beerdigen lassen? Mutter Bydekarken, Sie kucken ja noch so munter in die Welt mit Ihren hellen Augen!« – er strahlte vor würdevoller Freundlichkeit – »lassen Sie doch die Todesgedanken! Sie können es hier doch woll ab! – Auf wessen Konto sollte denn der weite Transport übrigens gebucht werden? Haben Sie sich das mal überlegt? Meine beste Frau, wir sind froh, wenn wir man die Lebenden immer so über Wasser halten können, als sich das gehört.«

Die Greisin war von so vielen großen Worten, vor einem so starken Uebergewicht von Gründen immer mehr in sich zusammengeschrumpft und in den Hintergrund der dämmerigen Zelle zurückgekrochen. Herr Hinsch, jetzt mit dem Hut auf dem Kopf, stand wie ein Riese vor ihr. Dennoch getraute sie sich zu sagen: »Wenn ick nu mal mit Herr Pastor« – sie brach ab, um den gewichtigen Mann nicht zu erbosen, aber Herr Hinsch erboste sich nicht. Er zuckte nur die Achseln: »Thun Sie das, er wird Ihnen dasselbe sagen. Es is 'ne 200 alte Geschichte, wenn die Leute keine Sorgen haben, denn machen sie sich welche.« Er legte die Hand an den Hut, grüßte steif und schritt den Korridor hinunter, indem er hie und da ein leutseliges oder scherzendes Wort in eine offenstehende Thür hineinrief. Am Ende der Zellenreihe aber ereilte ihn das Verhängniß. Die wunderliche Alte mir dem Sammethut und dem Shawl zog ihn mit aufgeregtem Gestikuliren zu sich herein, ihre hohe winselnde Stimme schallte über den ganzen Korridor.

Becke Bydekarken war in tiefem Brüten in ihrem Lehnstuhl sitzen geblieben. Die Glocke im Speisesaal weckte sie nicht. Da klopfte es an ihre Thür, und Frau Allerding streckte ihr lustiges neugieriges Gesicht herein. »Madam Bydekarken, wi kriegt Botter! Wölt Se denn keen hebben? Sie sieht sehr gut aus; Tiemann sagt, das' die erste Grasbutter dies Jahr.« – »Na, ick kam all,« erwiderte die alte Frau. »Ick mutt man min Slötel (Schlüssel)« – sie fühlte in die Tasche ihres faltigen braunwollenen Kleides – »dat ewige Tosluten (Zuschließen) is mi all towedder.«

Der Eßsaal war heute lebhaft; bei der wöchentlichen Buttervertheilung ging es immer munter zu. Man besah und probirte, lobte oder tadelte laut, – einige setzten sich sofort an den Tisch, um eine 201 improvisirte Mahlzeit zu halten, dem frischen Vorrath zulieb. Die Alte, die immer zum Ausgehen gekleidet, im Speisezimmer erschien, saß schon ganz vertieft und ohne sich um die andern zu bekümmern, mitten an einer der langen Tafeln und strich sich die goldgelbe klare Butter fingerhoch auf dünne Weißbrodscheibchen, die sie mit großer Schnelligkeit nacheinander in den Mund schob.

»Nu kieken Se mal Fräulein Zader an«, flüsterte Frau Allerding, roth vor Vergnügen, »öbermorgen is se wedder blank, denn mutt se dat Brod drög eeten! To'n Dotlachen.«

»Sch, sch!« machte Frau Bydekarken. »Se hett mi all wedder so veel vertellt, achhott wat hett se mi all vertellt«, sagte Frau Allerding mit verdrehten Augen, »ünner ehr Bett, seggt se, is 'n Muuslock (Mausloch), und dort is hüt Nacht 'n lüttje verdrögte Kinnerhand rutkamen und het ehr towinkt.«

»Ich glaub' ihr all lang nix mehr«, flüsterte Frau Allerding zu der Besprochenen hinüberblinzelnd, die mit ihrem langen geradegehaltenen Oberkörper einsam kauend an dem leeren Tische saß. »Sie hat mir auch erzählt, sie sollt eigentlich in den Krankensaal, aber das fiel ihr man lange nich ein, denn der Doktor hätt' in seiner Stube 'n ganze 202 Masse abgeschnittne Todtenköpfe auf die Fensterbank liegen, und Ordnung müßte sein, Todtenköpfe auf die Fensterbank, das wär bei ihr zu Haus keine Mode!«

»Se kiekt mi all an!« rief halblaut die Alte voll Entsetzen, »se steiht all op, se kummt all op mi los, – ach Allerdingsch, nehmt Se min Botter for mi, ick gah in min Stuw', ick kann dat verrückte Postür nich ankieken.«

»Wenn Sie Herrn Pastor Firgau sprechen wollen, Mutter Bydekarken, da kommt er grade von den Kranken her«, sagte Herr Hinsch; an der Flüchtenden verwundert vorbeistreifend. Ehe sie recht Zeit hatte, sich zu besinnen, ob sie wolle oder nicht, befand sie sich dem jungen Prediger gegenüber, der sie freundlich begrüßte und ihre kalte, bis auf die Knochen herabgearbeitete Hand zwischen seinen warmen, weichen, glatten Handflächen behielt.

»Nun, wie geht es Ihnen denn, meine gute Frau«, sagte er, sich theilnehmend zu ihr beugend, »wollten Sie nicht mit mir sprechen? ich glaube, unser Oekonom hat mir so etwas gesagt« Becke Bydekarken stand da mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen, als ob sie eine Schuld bekennen solle.

»Wollen wir in den Arbeitssaal gehen, oder 203 soll ich bei Ihnen eintreten? Sie sind nicht mehr jung, in Ihrem Alter wird das Stehen sauer!« Er zeigte auf den Lehnstuhl in der Zelle, »nein, nicht für mich, ich sitze ohnehin den ganzen Tag. Aber sagen Sie mir, was Ihnen das Herz bedrückt.«

»Dat is wegen min Gräfniß (Begräbniß)«, sagte die Alte kleinlaut und zögernd, »min wertheste Mann is in Wedel beerdigt, Herr Pastor, und nu wull ick – –«

»Ich weiß, ich weiß, Herr Hinsch hat mir schon davon gesprochen«, sagte der Prediger, indem seine Lippen unwillkürlich ein wenig zuckten über die Redeweise der Frau, »aber nun muß ich Sie doch als Christin und als Mensch fragen: wozu? wozu? Sehn Sie, ich muß, während ich hier vor Ihnen stehe,« – er lehnte sich an die Kommode, – »muß ich an meine eigene Großmutter denken, und wie ich sie getröstet habe, als ihr Sohn, mein Onkel, plötzlich in Amerika gestorben war. ›Zweifelst Du,‹ habe ich zu ihr gesagt, ›zweifelst Du an der Allgegenwart Gottes? Die Erde ist überall des Herrn. Warum willst Du Dir das Herz damit schwer machen, daß Du nicht bei ihm warst, als er starb? Gott war bei ihm, ist Dir das nicht genug? Wer in das Geheimniß der 204 Gotteskindschaft eingedrungen ist, der kann sich niemals allein fühlen, und der weiß auch, daß seine Lieben in starken Armen wohl geborgen sind.‹« Ein warmes begeistertes Licht strahlte aus seinen dunkeln Augen, aber aus den lauschenden Zügen der Matrone drang kein antwortender Strahl herüber. Er trat auf sie zu: »Glauben Sie wirklich, daß Sie auf dem Wedeler Kirchhof Gott näher sind, als auf dem Hamburger?« sagte er mit einem mitleidigen Seufzer.

Becke Bydekarken schluckte, als könne sie die Worte nicht finden. Endlich aber sagte sie bekümmert: »Ach, Herr Pastor, Gott is woll in de ganse wiede Welt, aber min Krischan, de is doch bloß in Wedel.«

Er trat zurück. »Sancta Simplicitas,« murmelte Pastor Firgau mit leisem Lächeln.

»Wat seggen Se, Herr Pastor?« Becke legte die Hand ans Ohr. Der Geistliche räusperte sich: »Sie denken an Ihren Mann, liebe Frau, – aber sehen Sie, wenn Sie nun erst nach Ihrem Tode dorthin, also nach Wedel, gebracht werden, was wollen Sie dann von ihm?« Er hatte in leichterem Ton gesprochen.

Frau Bydekarken sah ihn ernsthaft an: »Denn will ick Hand in Hand mit em operstahn«.

Der Pastor stutzte, eine leise Röthe stieg ihm 205 ins Gesicht, er mußte die Augen abwenden, es war ihm eine Art von Beschämung, in diese unerschütterlichen Züge zu sehen.

»Das ist nun nicht so ganz buchstäblich zu nehmen,« sagte er und war doch fast unzufrieden mit sich, daß er es sagte, denn er fürchtete sich, zu zerstören, wo er nichts anderes aufzubauen hatte, »Gott wird Sie finden und – und mit Ihren Lieben zusammenführen, gleichviel wo sie ruhen, – wenn es anders sein erhabener Wille ist.«

»Ach,« sagte die Alte, »bedenken Se doch man bloß, all de Hunnert und Dusend von Minschen, wo kann he dat in' Kopp behollen, welke tosamhört und welke nich!«

»Sie machen sich eine armselige Vorstellung von dem allmächtigen Herrn des Himmels und der Erden!« rief der junge Geistliche unwillig, und er klammerte sich an diesen Unwillen und stärkte sich an ihm und bewies der verstört dasitzenden Greisin, daß die einzige Ursache ihrer Unruhe und ihres Verlangens das mangelnde Vertrauen in Gottes Güte und Allmacht sei. »Lebe ich, so lebe ich dem Herrn, sterbe ich, so sterbe ich dem Herrn!« rief er eindringlich und ermahnte sie, ihre Seele ganz auf Gott zu wenden. Wohl dürfe sie hoffen, durch seine Gnade ihrem Ehemann dort zu begegnen, aber 206 das Jenseits, wo man nicht freiet, noch gefreiet wird, dürfe sie sich durchaus nicht wie die Erde vorstellen! Alles reiner, edler, höher und vollkommener, frei von irdischer Liebe und irdischem Haß – und er entwarf zum Schluß eine Schilderung, an der die Offenbarung Johannis und die neuesten Entdeckungen der Astronomie, Goethe und Flammarion, Dante und Schiaparelli ungefähr zu gleichen Werthen betheiligt waren. Plötzlich unterbrach er sich. Seine Zuhörerin hatte den Kopf auf die Brust gesenkt und ließ einen leise brummenden Ton vernehmen, wie jemand, der unwillig sich gegen ein Geräusch auflehnt, das ihn nicht schlafen läßt. Er berührte sie am Arm. Mit verwirrten schläfrigen Augen fuhr die Alte empor. »Da bemühn Sie nun den Pastor, und wenn er mit Ihnen spricht, so schlafen Sie ein!« sagte er mit gelindem Vorwurf. »Na, na, lassen Sie nur, es ist ja auch so heiß heute.«

»Denn dank' ick Herr Pastor ook veelmal,« sagte Becke Bydekarken und hielt erschrocken die Hand vor den Mund, weil ihr das Gähnen schon wieder kommen wollte. Der Prediger verlor kein weiteres Wort; er verließ die Zelle, ärgerlich über die verschwendete Mühe. »Ich bin hier nicht ganz an meinem Platz,« sagte er halblaut vor sich hin, 207 als er den Speisesaal durchschritt und nach rechts und links nickte. Ein stumpfer, verständnißloser Ausdruck schien ihm auf all den abgezehrten, faltigen, verfallenen Greisengesichtern zu liegen. »Es ist doch schließlich sehr undankbar, – wenn ich immer hier bleiben müßte!« – –

Fräulein Zaders Phantasien begannen das ganze Stift zu beunruhigen. Eine Zeitlang ging sie täglich an den Hafen, um ihren Neffen in Empfang zu nehmen, der von Australien kommen sollte. Aber er kam nicht, und nun erfuhr Fräulein Zader, was sie schon längst befürchtet hatte. »An Bord ist er gestorben, verstehen sie, denn unten auf dem Hof habe ich schon die Kiste stehen sehen, Sie wissen woll, die mit dem abgeschnittenen Kopf. Nämlich, daß es keinen Irrthum giebt, schneiden sie ihnen die Köpfe ab. Nun sollten sie ihn mir schicken, aber die Kiste ist natürlich wieder mal verkehrt abgegeben worden. Ja, ja, so geht's in der Welt!« Sie lachte mit schrecklicher Ironie, an der nur Frau Allerding ihr Vergnügen hatte, die andern grauten sich davor. »Was Herr Hinsch dazu sagt? O, der ist natürlich mit im – aber man darf nur nicht alles sagen. Ich habe genug gesehen! Denken Sie sich, im Comptoir bei Herrn Hinsch hat einer gestanden, der hat meinem Neffen seine Hosen 208 angehabt, verstehen Sie? Es sind lauter Intriguen. Man ist nirgends sicher vor langen Fingern. Schieben Sie Nachts Ihre Bettstelle vor die Thür? Meine ist schwer wie 'n Klotz, aber ich thu es jeden Abend! Uebrigens hilft es nichts, weil sie ebensogut durchs Schlüsselloch können. Ja, ja, die spielen einem auf der Nase, ich habe es erlebt, ich!« Und inmitten des entsetzten Kreises von Zuhörerinnen schlug sie sich auf die eingefallene Brust, daß es schallte. Fräulein Lau führte infolgedessen die Katastrophe herbei. Sie veranlaßte den Arzt mit vielem mühsamen Rucken des schiefen Halses, wodurch sie ihre Empörung ausdrückte, Fräulein Zader zu beobachten und endgültig aus ihrem Kreise zu entfernen.

»Ich habe mich doch nicht in ein Irrenhaus eingekauft,« sagte sie spitzig, »wie kann Herr Hinsch uns wohl so was anmuthen sein! Da muß man einem ja noch 'n Thaler zugeben, daß man mit einer Unklugen an einem Tisch essen soll!« So schickte denn der Arzt zwei Wärterinnen in Fräulein Zaders Zelle, und es gab einen heillosen Aufruhr, dort in der Dunkelheit; ein furchtbares, ganz ungerechtfertigtes Angst- und Hülfegeschrei, daß überall die Thüren aufgerissen wurden, und den alten Männern unten im Parterre vor Schrecken der Suppenlöffel aus der zitternden Hand fiel. Die 209 Frauen, die schon im Speisesaal gesessen, liefen von ihren Tellern weg und standen neugierig oder entsetzt auf den Korridoren, um plötzlich mit ängstlichem Kreischen auseinanderzustieben. Denn die armselige Kranke war den sie schonend haltenden Händen entwischt und huschte mit emporgeworfenen Armen, den schwarzen Hut im Nacken hängend, mit stieren verzweifelten Augen in die nächstbeste offene Zelle hinein und verschloß die Thür hinter sich mit deutlich hörbarem Schlüsseldruck. Fräulein Lau machte Anstalt, in Ohnmacht zu fallen, als sie erkannte, daß es gerade ihre Thür war, hinter der sich die Unglückliche verschanzt hatte. Der Arzt rettete sich eilig, mit boshaftem Lächeln Geduld empfehlend. »Sie dürfen durchaus keine Gewalt anwenden, Fräulein Lau, Fräulein Zader ist sonst im Stande und schlägt Ihnen all Ihre Nippsachen kurz und klein,« rief er im Abgehen; »übrigens ist sie völlig harmlos und gar kein Grund vorhanden, sie aus Ihrer angenehmen Gesellschaft zu entfernen.« –

»Habe ich dafür meine achthundert Mark hergegeben?« schrie Fräulein Lau mit grenzenloser Empörung, aber es half ihr nichts, niemand kehrte sich an sie. So oft der Schlosser auf ihren Befehl an die Thür trat, um das Schloß zu sprengen, 210 erhob die freiwillige Gefangene drinnen ihr Klagegeschrei von neuem, daß den alten Frauen das Herz im Leibe weich wurde, und daß sie dem Manne das Werkzeug aus der Hand zogen. Die meisten der Insassinnen verbrachten den Tag mit Zuwarten auf dem Vorplatz; mit jeder verstreichenden Stunde wurde Fräulein Lau ängstlicher und kleinlauter. Sie fragte alle Nachbarinnen, wo sie denn bleiben solle über Nacht und bekam nicht eine einzige vernünftige Antwort. Frau Allerding, die schon seit dem frühen Morgen fortgewesen und zu Herrn Oetjens Kinder- und Puppenschuhe für die Mission in Indien hingetragen hatte, fand das sonst so scharfe übermüthige Persönchen gänzlich geknickt in einer Ecke des Vorplatzes, wo sie in stillen Thränen auf ihre verbarrikadirte Thür starrte, hinter der sich's die Gegnerin gewiß recht behaglich gemacht, denn regelmäßige Schnarchtöne wie von einer schnurrenden Katze drangen heraus. Frau Allerding war es endlich, die der Vertriebenen eine Freistatt in ihrem Bette anbot.

»Sie sind ja man 'n Handvoll, Fräulein Lau, und wenn ich da 'n Stuhl vorstellen thu, denn geht das ganz gut. Ja, besehn Sie sich das man gern, is all rein und orrentlich, da können Sie sich 211 mit Appetit reinlegen! Wollen Sie hinten oder vorn?« –

Madam Bydekarkens Thür war schon verschlossen. »Gu'n Nacht, Mutter,« rief Frau Allerding am Schlüsselloch, »nu hab ich meine vierundzwanzig Paar Puppenschuh abgeliefert, – schlafen Sie man wohl!«

»Kommen Sie, oder kommen Sie nicht?« winselte die kleine Verwachsene, die halb ausgekleidet an dem fremden Bett stand, »ohne Nachtzeug kann ich nicht schlafen, o Gott, was für einen Schreckenstag hab' ich durchgemacht!« Und während sie vor Frau Allerdings lauter und lachlustiger Gegenwart dichter an die Wand kroch, betete sie inbrünstig, daß Gott ihr die Zelle wiedergeben möchte, in der sie so bequem und sorgenlos geschlafen, und daß sie ihre Schäfer und Schäferinnen, ihre Blumenvasen und Porzellanmöpse unversehrt wiederfinde. Sie wollte dann auch in Zukunft mit allem zufrieden sein.

Ihr gerechter Wunsch schien in Erfüllung zu gehen. Als sie früh am andern Morgen über ihre Schlafkameradin wegstieg und in Strümpfen auf den Gang hinaus schlüpfte, sah sie eine der vielen schmalen Thüren in der Reihe halb offen stehen und zählte mit hochklopfendem Herzen heraus, daß es 212 die ihre sein müsse. Vorsichtig schlich sie an den Wänden hin, bis sie hineinsehen konnte. Die Zelle war leer, das Bett in schönster Ordnung, soweit in dem Dämmerlicht zu erkennen. Schlaftrunken und voll Sehnsucht nach einem gründlichen Morgenschlummer bestieg das Fräulein die karrirten Kissen, fühlte mit Entzücken, wie tief und weich sie in die Federn versank und schlief ein, ohne auch nur noch einen Blick nach rechts oder links zu thun.

Frau Allerding, die frühste Frühaufsteherin des ganzen Stifts, wunderte sich, eine Stunde später, als das erste östliche Roth in ihr großes hohes Fenster fiel, von dem sie der alten Bydekarken zuliebe die grünen Vorhänge zurückgesteckt hatte, wohin die kleine Lau gekommen sein mochte. Sie suchte unterm Bett zuerst, – ihre Kleider lagen auf einem Stuhl, sie aber war fort. Noch war alles still in dem großen weiten Hause; nur der Brodmann war schon dagewesen und hatte vor jeder Zellenthür in die ausgehängten Körbchen oder Beutel die frischen Rundstücke gesteckt. Auf den breiten Stufen der steinernen Treppe klapperte der Milchmann mit seinen Eimern herauf, um die Milch- und Rahmkännchen der Insassen zu füllen. In der Thür des Speisesaals blieb Frau Allerding wie erstarrt stehen, brach aber gleich darauf in ein 213 Gelächter aus, daß sie sich die Seiten halten mußte. Fräulein Zader in Hut und Longshawl saß dort einsam inmitten der langen Tafel, Brod und Käse vor sich und ganz vertieft in ihre nahrhafte Beschäftigung.

»De is doch nich pütcherig! de is kläuker as manche annere,« sagte Frau Allerding bewundernd vor sich hin. »Gu'n Morgen, Fräulein Zader, auch all aufgestanden?« fügte sie händereibend hinzu.

Mit offenem Munde und blinzelnden Augen betrachteten die zwei Frauen einander, dann, wie beruhigt, winkte die Zader eifrig mit der magern langfingerigen Hand: »Soll ich Ihnen was sagen? Sie is weg! flöten! hui!« Sie spitzte den Mund und verzog das Gesicht. »Sagen Sie nichts – Sie verstehn – es ist von wegen – man darf nicht alles sagen, was man weiß! das ist meine erste Lebensregel.« Sie deutete auf die Bank neben sich.

Frau Allerding lachte sie vergnügt an. »To'n Dotlachen is uns' Fräulein Zader! Jawoll, jawoll, ick weet Bescheed, mi bruken Se gornix zu vertellen.«

Fräulein Zader bestrich methodisch eine große Schnitte Feinbrod mit Butter und legte drei 214 Wurstscheiben darauf. »Zum Hungertyphus soll ich verurtheilt werden? Ha! wenn es euch gelänge! So weit sind wir noch nicht, meine Herrschaften, und wenn Sie zehnmal meinem Neffen seine Hosen anhaben.« Sie schüttelte ihre Faust gegen die leeren Wände, Frau Allerding fand das alles sehr komisch und erzählte ihrerseits von den Puppenschuhen, die an einem dieser Tage nach Indien abdampfen sollten. »Strümpfe können wir sie ja nich stricken, die tragen sie da nich, da is es leider Gottes zu heiß zu! Na, Fräulein Zader, denn lassen Sie sich man nich an 'n Wagen fahren, denn will ich mal nach meine alte Mutter sehen, wir drei sind ja immer die ersten, nich? Sehn Sie, da kommt all Dampf aus das Rohr, bald giebt das heiß Kaffeewasser.«

Sie klopfte an Frau Bydekarkens Zelle, aber keine Antwort kam. Sie faßte endlich nach dem Drücker, da sie sich plötzlich entsann, die alte Frau gestern den ganzen Tag nicht gesehen zu haben. »Ihr wird doch nix angekommen sein?« Die Thür war unverschlossen; der erste Morgenstrahl, über den sich die Greisin immer so gefreut, fiel über das Kopfkissen und beleuchtete ein kleines, bleiches, scharfes Antlitz mit spitz hervortretender Nase. Mit zwei Schritten war Frau Allerding neben dem 215 Bette und rüttelte die Schläferin wach: »Wat hebbt Se hier to dohn? Wo is min oll' Mutter Bydekarken?«

Mit erschrockenen, sich drehenden Augen erkannte Fräulein Lau ihren Irrthum.

»Wo ist denn die Alte geblieben?« wiederholte auch sie, wiederholten an diesem Tage alle Insassen des Stiftes nacheinander, ohne eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen. Als sie in keinem der Räume des großen Hauses gefunden worden, suchten sie im Garten, die Wärterinnen und die alten Frauen.

Die invaliden Seeleute, die dort im Schatten der breiten Linden und Kastanien ihren Kalkstummel rauchten, drehten jede Bank um, guckten in jedes Kellerloch, als ob die Verschwundene plötzlich zur Größe eines Vogels zusammengeschrumpft oder in ein Erdspältchen geschlupft wäre, wie der Däumling im Märchen. Endlich schlug sich Frau Allerding vor die Stirn. Die Alte war gewiß von ihren Kindern abgeholt worden, in dem Trubel des vergangenen Tags hatte niemand darauf geachtet. Sie war dann über Nacht bei den Ihrigen geblieben; Frau Bydekarken hatte immer Angst, die Zeit zu verpassen, und von Tiemann, wenn er ihretwegen aufschließen mußte, gescholten oder 216 geneckt zu werden. Tiemann, die gute Seele! Aber alte Leute sind wunderlich! Frau Allerding sagte das so überlegen, als ob sie es als erste herausgefunden. Der Tag verging, Becke Bydekarken kam nicht zurück. Vielleicht war sie bei den Kindern erkrankt? Bei ihrem hohen Alter konnte ihr leicht etwas zustoßen. Frau Allerding hatte gar keine Ruhe bei ihrer Arbeit. Sie legte all die kleinen zugeschnittenen Sohlen für die Schuhe »der ersten Kinder«, wie sie sie nannte, auf ein Häufchen, das grüne Florettband darauf, mit dem sie eingefaßt wurden, steckte ihre Nadel mit dem langen, grünen Faden in das alte Bleikissen (Nähkissen mit Blei beschwert), an dem sie seit achtunddreißig Jahren genäht, und ging zu Herrn Hinsch, um sich das Adreßbuch zu holen. Der Oekonom half ihr bereitwillig suchen. Aber die Wäscherei von Bydekarken stand nicht darin; Frau Allerding entsann sich, daß die Leute umgezogen waren, sich ein eigenes kleines Haus in Winterhude gekauft hatten.

»Morgen früh, wenn sie denn nich ein (daheim) is, geh' ich mal so nach Winterhude, en Minsch is ja doch keen Knoopnadel,« sagte Frau Allerding.

Herr Hinsch meinte, man müsse sonst wohl eine Anzeige über die Vermißte in die Hamburger 217 Nachrichten bringen, wollte aber gern damit warten, der Angehörigen wegen. Gleich nach dem Mittagessen machte sich Frau Allerding auf den Weg. Fräulein Zader begleitete sie durch den Garten bis zur Pforte: »Hab' ich's Ihnen nicht gleich gesagt? Sie ist weg! Hui! Mit dem Brodmann, wissen Sie! O, sie hatte längst 'n Auge auf ihn geworfen. Was ich Ihnen sage, ich kann es beschwören und bezeugen: er is vorausgegangen und sie hinternach.«

»Fräulein Zader, ich hab' das immer nich glauben wollen, aber nu glaub' ich das!« rief Frau Allerding, ihr starr in das geheimnißvolle Gesicht sehend, »Sie sind wahrhaftig tippelmonsch (übergeschnappt)!« Sie schlug die Pforte zu und sah sich gar nicht mehr nach ihr um.

In Winterhude suchte und fragte sie viel, ohne Auskunft zu finden, – da kam ihr plötzlich auf einem schmalen Graswege zwischen Dornhecken ein Mann in einem grauen Leinenrock entgegen, der auf der Achsel einen schweren Wäschekorb mit beiden Händen festhielt. Als Frau Allerding ihn anrief, erkannte sie sogleich die blauen Brillengläser und den schüchternen Gesichtsausdruck.

»Go'n Dag, Herr Bydekarken! Na, Mutter 218 is woll bei Ihnen, nich?« fragte sie zuversichtlich, voll Eifer.

»Mutter? nee!« erwiderte der Mann und setzte den Korb, als ob er ihm plötzlich zu schwer werde, auf das Gras; blaß, verstört, sprachlos.

»Achhott, denn is se dot!« schrie Frau Allerding unbedacht, und ihr lustiges altes Gesicht trübte sich, daß es nicht mehr dasselbe war.

Sie faßte nach einem Henkel des Korbes, der Mann griff mit zitternder Hand nach dem zweiten, und so trugen sie die Last einige Hundert Schritt weit bis zu seiner Bleicherei – Bydekarken sprach kein Wort, Frau Allerding weinte und schüttelte den Kopf: »Dat is nich good und kann nich good warrn, weet Gott, wat dar achter steeken deiht.«

Die Frau kam von der Bleiche gelaufen, die große Gießkanne in der Hand. »Is dar wat los? Mutter is doch nich – –« Sie drückte Frau Allerdings Arm so stark, daß diese zusammenzuckte.

Frau Allerding erzählte, was sie wußte; zwei Waschfrauen, die an einem der fließenden Gräben gespült hatten, stellten sich mit offenem Munde und ängstlichen Blicken im Thüreingang auf, um auch zu hören.

Als nach einer Stunde die kleine Lehrerin, 219 müde und bestaubt, mit ihren Büchern unterm Arm hereinkam, fand sie noch alle in rathloser Trauer. Ihre Mutter hatte einen Weinkrampf gehabt und saß da mit einem nassen Umschlag über den geschwollenen Augen. Der Vater tröstete sie, drückte ihr die Hände, und versuchte von Zeit zu Zeit, ob der Umschlag noch kühl sei. Er sagte nichts, war aber blaß wie die Wand, dabei unruhig, denn er wollte mit Frau Allerding gehen, wagte aber nicht, seine Frau allein zu lassen. Zuletzt machten sich alle auf, um im Stift nachzufragen, – und dann vielleicht im Kurhaus oder auf den Polizeiwachen.

»Großmutter hat gewiß Sehnsucht gehabt nach Papa und hat sich verlaufen,« meinte Bertha, und das leuchtete allen ein. Aber es waren ja schon anderthalb Tage vergangen, seit sie sich entfernt hatte. Und mehr als einige Mark hatte sie keinesfalls bei sich gehabt. – Die Wäscherin wollte dem Oekonom Vorwürfe machen, daß er die gebrechliche Greisin habe fortgehen lassen.

Dieser lachte verwundert: die Leute in dem schönen Versorgungsstift waren ja freie Menschen, keine Strafgefangenen und keine unmündigen Kinder.

Trotzdem war es auch ihm unbehaglich, daß 220 sein Aufruf in den »Nachrichten« keinen Erfolg hatte. Er studirte den Polizeibericht täglich mit hochgezogenen Brauen und faltiger Stirn. Er fuhr auf, wenn unerwartet geklopft wurde, und lief neugierig und unruhig an die Thür. Immer nur Leute, die fragen, die sich erkundigen wollten nach Becke Bydekarken. Die stille unbekannte Greisin schien auf einmal eine Person von Wichtigkeit geworden zu sein. Am fünften Tage war es, als Herr Hinsch ein kleines Zeitungsblatt, die nordwestdeutschen Nachrichten, in die Hand bekam und stutzend eine kurze Notiz ein paarmal las. Er rief sogleich nach seiner Frau, und als die ausgegangen, lief er hinüber zu dem Prediger, der unwillig von seiner Arbeit aufstand.

»Nu sehn Sie mal, Herr Pastor,« sagte Hinsch auf das Blatt schlagend, »was hier steht: ›Räthselhafter Fund,‹ das is sie, Herr Pastor, das is sie! Is es nich unglaublich, auf was für Einfälle die Leute kommen, wenn sie nix zu thun haben?«

Der Prediger las: »Wedel, 24. Juli. Heute morgen sahen Landleute auf ihrem Gange zur Arbeit eine unbekannte Frauensperson regungslos auf dem Kirchhof liegen. Der Tod war bereits eingetreten. Die Verstorbene, welche keinerlei Spuren von Gewaltthat an sich trägt, ist von hohem Alter 221 und war bekleidet mit einem grau und schwarz karrirten Wollentuch, schwarzem Hut, braunem Wollenkleide. Hemd und Taschentuch sind gezeichnet B. B.; an der Hand der Leiche, die den arbeitenden Ständen angehört, stak ein Trauring mit denselben Buchstaben. Wer über diesen Fund irgendwelche Auskunft zu ertheilen vermag, ist gebeten, sich zu melden – –«

Der Prediger erhob die Augen, und beide Männer sahen sich fest und nachdenklich an; dann wurden ihre Blicke allmählich unsicher, und einer wendete den Kopf zum Fenster, der andere zur Thür.

»Es stimmt allerdings,« sagte der Geistliche mit bewegter Stimme, »so unglaublich es scheint. Und ich hielt es für eine altersschwache Schrulle. Hätte ich das gewußt.« Mit resignirter Gebärde glättete er das kleine Zeitungsblatt auf dem Schreibtisch. –

»Und wenn Sie es gewußt hätten, Herr Pastor?« sagte Hinsch achselzuckend, »nee, das muß man sich nich einreden! Wir haben gewiß gethan, was in unsern Kräften stand.«

»Ich werde – wenn es sich wirklich so verhält – am Sonntag darüber reden,« sagte Pastor Firgau, halblaut und vor sich niedersehend, »Sie 222 können das im Stift sagen, sobald die Sache allgemein bekannt wird.«

»Jawohl, Herr Pastor. Uebrigens,« – er griff nach der Zeitung – »der Name steht da nich bei; brauchen wir das denn eigentlich an die große Glocke zu hängen?«

»Zweifeln Sie daran, Herr Hinsch, daß es die alte Bydekarken ist?«

»Nee, das gerade nich,« sagte der Oekonom, – »ich wollt man fragen, denn muß ich nu woll los nach Wedel?«

»Wegen der Rekognoscirung meinen Sie? Ja, Herr Hinsch, das ist unerläßlich, und – hören Sie, hören Sie, erkundigen Sie sich doch soviel Sie können bei der Familie, der Sie wohl zuerst Anzeige erstatten müssen. Je mehr Details und nähere Umstände Sie ermitteln können, desto lieber ist es mir, – wegen der Predigt. Ein höchst ergreifendes Thema, ungewöhnlich ergreifend, wirklich!« Er war aufgestanden und fing an, mit auf dem Rücken gefalteten Armen hin und her zu gehen, er improvisirte schon.

Herr Hinsch schlug seine braunen Rockschöße übereinander, blies die Backen auf und erhob sich zögernd. »So was hört man woll mal von 'n Hund, von 'n Menschen hab' ich mein Lebtag nich 223 so was gehört,« bemerkte er mit mürrischem Kopfschütteln, »aber es is so, Herr Pastor, was 'n Mensch is, das is nie zufrieden! Hat ihr schön Essen und Trinken hier gehabt und gewohnt wie in so 'n Palast. Hätt' sie nich hier bleiben können, wo ihr kein Mensch was thut? Was giebt das nu für 'n Lauferei und Schererei, un all um nix und wieder nix!«

»Mir ist vor allem merkwürdig, wie sie den Weg hat finden und machen können, das sind ja fünf, sechs Stunden für einen rüstigen Fußgänger, da sollte man wahrhaftig sagen, ihr Glaube hat geholfen.«

»Na, denn muß ich jawoll los.« Herr Hinsch verabschiedete sich kläglich, zerstreut dankte der Prediger; einzelne Ausrufe, ganze Sätze fielen ihm ein, und er freute sich, als er allein war. – –

Der Sonntag kam. Beim Eintritt in die Kirche fand Pastor Firgau den hohen Raum, durch dessen gemalte Fenster die heiße Julisonne brach, bis auf den letzten Stuhl gefüllt. Die weißköpfigen Insassen des Stiftes waren vollzählig erschienen, sie hielten die vordersten Reihen besetzt; dahinter aber sah man moderne Kleider und Hüte, Herren und Damen der guten Gesellschaft, und die jungen, ehrgeizigen Augen des Predigers glänzten 224 höher bei diesem Anblick. Er sprach aus vollem bewegten Herzen. Ja, Frau Becke Bydekarken, seit drei Vierteljahren Insassin dieser Anstalt, war von ihnen geschieden; die sanfte fromme Greisin, die ihre dreiundachtzig Jahre und die Gebrechen dieser Zeitlichkeit mit so viel Freundlichkeit und Ruhe getragen, die in Frieden gelebt mit jedermann, war von Gott dem Allmächtigen in die ewige Heimath abberufen worden. Ihre Freunde trauerten um sie, ihre Kinder weinten um sie, – durften sie weinen um ein so schön vollendetes Leben? Und nun begann er, und kein Auge blieb trocken, den rührenden Todesgang der Verblichenen zu schildern. Er beschrieb sie, die schwerfällige, gebrechliche Gestalt, wie sie einsam und wankend die langen Stunden vorwärts gegangen war, im brennenden Sonnenschein, im Dunkel des Abends, durch Straßen und über Plätze, zwischen Feldern voll reifenden Korns und zwischen bestäubten Dornhecken, über sich den Himmel, in ihrem Herzen den Glauben, der Berge versetzt und Todte lebendig macht. »Hat sie gerastet unterwegs? hat sie gegessen? hat sie die dürstenden Lippen genetzt? Wir wissen es nicht. Ihre Kleider waren durchnäßt, als man sie fand, sie ist auch im Gewitterregen weiter gegangen. Weiter mit ihrer letzten Kraft!« Und nun erzählte 225 er, wie man sie gefunden. »Auf dem Wedeler Kirchhof, gleich neben dem alten Pförtchen, über einen Grabhügel geworfen, den sie noch mit den todten Armen zu umklammern schien, erschöpft, aber verklärt, eine himmlische Zufriedenheit im Antlitz, daß sie ihr Ziel erreicht. Ja, sie hat es erreicht. Es war ihr Wunsch, in ihrem Heimathsort neben ihrem Manne zu ruhen. Nun ist es durchgesetzt, was unausführbar schien. Gestern ward sie bestattet, wo man sie gefunden. Wahrlich, eine herrliche Offenbarung der gläubigen Gottesliebe in dem schwächsten Gefäß! Welch eine Lehre, meine Freunde, welch ein Beispiel! Bleibe denn ihr Leben und Sterben ein Schatz für ihre trauernde Familie, eine heilige Erinnerung und Ermahnung für Kind und Kindeskind, eine immerwährende Ehre und ein Gedächtniß in dem Hause, wo sie gelebt. Und nun meine Freunde,« – er erhob bittend die Stimme – »lasset uns beten, daß diese Gemüthskraft, daß diese Liebefähigkeit unserm gesammten Volke erhalten bleibe, dann wird uns Gott nicht verlassen, mögen die Zeiten fallen, wie sie wollen.«

Er war selbst übermannt von Rührung, als er geendet; so gut war es ihm noch nie gelungen.

Als er die Sakristei verließ, drängte sich eine schluchzende Gruppe an ihn heran, eine dicke, ganz 226 in Weinen aufgelöste Frau, die auf der einen Seite von Frau Allerding, auf der andern von einem jungen Mädchen unterstützt wurde. Sie wollte sprechen, aber sie konnte nicht. »Segg Du, Adolf,« flüsterte sie ihrem Manne zu, der tiefbetrübt mit gesenktem Kopfe hinter ihr ging. Er stotterte seinen Dank, »aber, Herr Pastor, es is man, sehn Sie, wir können uns garnich zugeben! Wenn wir meiner Mutter das doch man lieber zu rechter Zeit versprochen hätten, denn wär das all nicht nöthig gewesen, und denn wissen Sie, an dem einen Fuß, da hat sie so 'n schrecklichen Leichdorn gehabt –« Er sah hilflos zu dem Prediger empor, während ihm die Thränen unter den runden Brillengläsern blindmachend in die Augen drangen.

 


 


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