Ilse Frapan
Zu Wasser und zu Lande
Ilse Frapan

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Der grüne Fleck.

Hamburger Skizze.

Auf dem Schiff nannten sie ihn »den Amerikaner,« aber er sagte es dann den Leuten, sagte es der ganzen zweiten Kajüte, daß er kein echter wäre. »Bloß fünfundzwanzig Jahr drüben gewesen und 'n büschen was zusammengekratzt,« meinte er mit einem Augenzwinkern nach der schönen dicken Uhrkette hin, die ihm auf die buntkarirte Weste baumelte. »Aber so gut wie – ja! das woll! nee, von Natur bin ich 'n Hamburger. Von 'n Bäckerbreitengang, wenn Sie ihm vielleicht kennen thun. Oh, das is da ganz schön, da gehn Sie man mal hin, wenn wir nu an Land kommen. Wenn das nich wegen das Militärgeschichte gewesen wär', wär' ich da auch nich weggegangen. Will mich das nu mal all wieder besehn, wie das da noch zusteht. Darum komm' ich ja rüber. Und Sie sind in Hamburg bekannt, sagen Sie? I, haben Sie da nich 'n Krüger Timm gekannt, in 'n Ebräergang? So, nich! Ja, ich glaub' das gern, er hatt' 134 sonß 'n nette kleine Krügerei, Nummer neunundreitzig. Un was aus den seine Tochter geworden is, das wissen Sie woll auch nich? Vorigs Jahr war meine Frau rüber, einer muß je immer bei 's Geschäft bleiben. ›Ladies first!‹ wie wir Amerikaner sagen. Sie meinte aber, das käm' da all' nich gegen, das wär' hier all' furchtbar zurück. Kein Vergleich mit Chicago, sagt sie. Hott, denken kann man sich das woll, aber ich möcht' mir mal 'n büschen ausruhn. Na, wenn wir nu man erst endlich mal da wären, ich krieg' das faule Leben all so satt, dreizehn Tage sind wir nu all unterwegens, mit die »Augusta Viktoria« dauert das bloß halb so lang, aber kosten thut das denn das Doppelte, – und was man so in 'n Sitzen verdienen kann« – –

Endlich hatten sie Hamburg in Sicht. Der »Amerikaner« wußte sich vor Eifer nicht mehr zu lassen. »Nu sehn Sie mal da, den Thurm da, das is Michelis, und das da vorne, das is jewoll das Seemannshaus! So? Das is es nich? Je, was is es denn? Ich kenn' das je hier wie 'n schiefen Schilling, is je meine Heimath. 'n büschen anders scheint das hier geworden zu sein, büschen 135 weitläufiger. Donnerwetter, die Kathrinenkirche is doch nich abgerissen? Un was sind denn das all' für Thürme? Herrjes, das is jewoll – – Hören Sie mal, Maat, is das auch gewiß, daß das da Hamburg vorstellt? Das kommt mich je all' so – – das 'je beinah' wie bei uns in New-York! All' so 'n dicken Qualm und mit all' die Quais hier? Das 'je komisch. Amerikaquai? Un da steigen wir aus? Junge! Junge! Nu haben sie hier 'n Zollkanal mit lauter rothe Kastens längs? Was' denn das for 'n Kür? Nee, sagen Sie mal, es is doch richtig?«

Es mußte wohl richtig sein, und etwas Muth gewann der Reisende wieder, als er nach vielem Halsverdrehen und Herumäugeln die Kathrinenkirche fand. »Nee, das wär' auch zu schad' gewesen. Kucken Sie mal, da is sie! Na, denn is man gut.« Die Hausknechte der kleineren Hotels, die Omnibuskutscher der größeren fuhren und schrieen an der Landungsbrücke durcheinander. »Wiezels Hotel?« fragte eine Stimme, dicht neben dem Amerikaner.

»Wo is von Wiezel? Na, haben Sie Platz? Gut.« Mit einem jovialen Ruck schmiß er dem Hausknecht seinen Plaidriemen zu. »So so! Sie sind bei Wiezel! Feines Hotel, was? Gut, warten 136 Sie man, ich hab' bloß 'n Handkoffer. Schöne Aussicht bei Wiezel, nich?« Und er erinnerte sich mit unendlicher Genugthuung, welche Ehrfurcht ihm und seinen Kameraden, wenn sie auf dem Spielbudenplatz bei »Kasper« gewesen waren, der Wiezelsche Garten eingeflößt hatte, in dem viele feine Leute saßen, an grünen Tischen Kaffee tranken und englischen Käse dazu aßen, durch Brillen und »Kucker« auf den Hafen hinuntersahen, wo die Segelschiffe in langen Straßen lagen, während ihre Kinder, fein und bunt gekleidet, mit großen Gummibällen spielten oder blutrothe Ballons aufsteigen ließen. Jetzt gehörte er selbst zu den feinen Leuten; keiner der Bewohner des Hotels würde es ihm ansehen, daß er dazumal in Holzpantoffeln am Zaun draußen gelungert und sich so sehnlich gewünscht hatte, einer von den großen Gummibällen möchte durch das Staket und den Abhang hinunterrollen, so daß er ihn mal in die Hand nehmen könnte. Jetzt – seine Kinder in Chicago hatten Bälle genug und noch viel feinere Spielsachen, aber es waren komische Kinder: sie machten sich wenig daraus, im ganzen, sie waren furchtbar vernünftig, und der Jüngere hatte neulich dem Aelteren erklärt, daß er nie mit ihm in Companie gehen würde; warum? Weil der Aeltere Gesangsunterricht haben wollte. »Das ist 137 nichts für einen Geschäftsmann.« Tom war erst elf Jahr, als er das sagte; sein Papa war noch älter gewesen, als er den Gedanken mit den Gummibällen gehabt hatte. »Es muß sein, daß sie jetzt älter auf die Welt kommen, ich war doch auch nich dumm und war 'n fixen Jung' meinerzeit, aber nach so was schlug mir keine Ader,« hatte er ganz nachdenklich seiner Frau gesagt. –

Etwas von jenem Ehrfurchtschauer war ihm wieder über den Rücken gelaufen, als der Hausknecht den Namen »Wiezel« gerufen hatte. »Je, wenn das man nich zu fein für mich is.« Jetzt stand er verwundert und kopfschüttelnd vor dem Pavillonbau, der so hölzern, verwaschen und gewöhnlich aussah, wie er schon viele Pavillons gesehen hatte. Im Garten saßen wenig Gäste, es war gegen die Mittagszeit, und die Sonne brannte auf die leeren Tische.

Unter einer Glasveranda rauchten ein paar einsame Biertrinker, und in einer Ecke, zärtlich an einander gedrückt, saßen zwei hellgraukarirte Leute, eine Person mit einem rothen Schnurrbart und die zweite mit einem grauen Schleier um den Hut, sonst ähnlich wie zwei Eier und mit denselben juchtenledernen vier Handschuhen einen juchtenledernen Feldstecher handhabend. Der Amerikaner folgte der 138 Richtung des Glases, aber sehen konnte er nichts. Erstlich glitzerte das Wasser wie ein Metallspiegel, zweitens lag ein sommerheißer grauer Flornebel darüber, und drittens schien die Fläche ihm leer zu sein; kein Mastenwald, keine Segelschiffallee, – Fabrikschornsteine, Steinkohlenqualm, rothe Mauern, alles unverständlich und verändert. »Na nu?« murmelte er unwillkürlich und sah sich nach dem Hausknecht mit dem Handkoffer um. Der hielt sich gerade die Hand vor den gähnend weit geöffneten Mund, aber nun grinste er freundlich: »Man noch 'n kleinen Augenblick! So! hier rein, bitte.«

Sein Zimmer war bequem und gut möblirt, das Essen schmeckte ihm, und der Rothwein war sogar vorzüglich. Aber er hatte nicht lange Ruhe im Hotel, er ging trotz der Julihitze auf Entdeckungsreisen aus. Hitze hin, Hitze her, in Chicago war es heißer, und man mußte noch dazu in der Bäckerei stehen, Backstubenhitze aushalten. Nein, das hätte ihn wenig gestört; was ihm aber ungemüthlich vorkam, war, daß eine solche Geschäftigkeit, solch ein Lärm und Wagengerassel rundum herrschte. Er gönnte sich eine Ruhewoche und war deshalb aus Amerika fort, weil man nur jenseits des Ozeans weiß, was Gemüthlichkeit ist, und nun 139 sagte ihm der erste Mensch, den er anredete und nach all' den Veränderungen dieses Hafenviertels fragte, kurz und schlicht: »Ick heff keen Tied« und ließ ihn stehen. Von dem Kellner hatte er auch nichts erfahren können. Der Bursch' hatte die Augen aufgerissen und gesagt, das wäre hier immer so gewesen, und als der Amerikaner ihn gefragt, wie lange er denn hier sei, da war er vor einem Monat aus Schöppenstedt gekommen. »Schöppenstedt? Na das is je woll da, wo die Hunde mit 'n Schwanz bellen?« hatte der Amerikaner harmlos gefragt, worauf der Jüngling sehr roth und pikirt seine Serviette untern Arm genommen hatte und spurlos verschwunden war.

Wie nun der Reisende so an den Vorsetzen auf- und abspazirte, überlegte, ob er Geschäftsleute, an die er empfohlen war, aufsuchen, oder, da er einen Widerwillen gegen alle Stuben jetzt in sich verspürte, mit einer der kleinen unaufhörlich schrillenden Dampfjollen von Quai zu Quai und von Dock zu Dock fahren sollte, entschloß er sich, beide Pläne fallen zu lassen und zuerst dorthin zu gehen, wo es grün war, grün und still, mit Weiden und großen Bäumen und einem wundervollen ländlichen Tanzlokal, wo man im Freien auf gelegten Dielen an schönen Sommersonntagen von morgens bis 140 abends, mit Ausnahme der Kirchzeit, großen Flügelball abhielt. Es war, das wußte er, ein hübscher heißer Weg dorthin, vorüber an vielen hohen Sandhügeln, aber das war kein gewöhnlicher Sand: weiß und klar wie Streusand war er, und darunter viele viele Muschelschalen und Schneckenhäuser, und einmal hatten sie sogar zwei Donnerkeile darin gefunden. Er hätte die sonderbaren zuckerstengelartigen Dinger nicht zu benennen gewußt, aber Henny Timm, die hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Die hatte immer so allerlei gewußt, die kleine kluge Deern. Henny Timm und Grevenhof auf Steinwärder, das war beinah' ein und dasselbe. Er hatte sie ja auch dort kennen gelernt. In der Nacht auf Pfingsten war es gewesen, – die Gesellen, mit denen er bekannt war, kriegten frei, damit sie nach irgend einer Gartenwirthschaft wandern und sich mal recht austanzen könnten. Die hatten vernünftige Brodherren, die ihnen auch mal ein Vergnügen erlaubten, er aber war in einer strengen Stelle; der griesgrämige alte Junggesell, in dessen Krämerei er Lehrling war, wußte weder von Weihnachten noch von Pfingsten, ja nicht einmal von Hitze und Kälte. Bei ihm ward im Winter nicht geheizt, im Sommer nicht gelüftet. Der Amerikaner entsann sich ganz wohl, daß um jene Pfingsten seine Hände 141 noch krumm und roth von den ausgestandenen Frostbeulen waren, und daß er am Pfingstsonntag Gewürz mahlen sollte, bevor der Laden geöffnet wurde. Aber er hatte gar zu große Lust, mit hinaus und tanzen zu gehen, und so machte er sich so schlank er konnte und kroch um zwei Uhr Nachts durchs Kellerfenster hinaus. In Weste und Hemdärmeln natürlich, seinen schon etwas ausgewachsenen Confirmationsrock hatte er säuberlich in Packpapier geschlagen und hinterdrein herausgelangt. Ebenso den Confirmationscylinder, in den er jetzt hineingewachsen war, denn an dem feierlichen Tage, vor drei Jahren, war er ihm noch bis auf die Ohren gegangen. Aber dies Vergnügen, als er nun draußen stand und im Thorweg nebenan seinen Staat anzog! So etwas giebt's doch nicht mehr, wenn man älter wird; man mag sein eigener Herr sein, Geld in der Tasche haben, wie man will, – diese frohe Angst und Erwartung genießt man nie wieder!

Von Grells Fähre hatten sie gesprochen, und so stieg er denn mit langen Schritten hinunter nach den Vorsetzen durch die stillen Straßen. Wenn ein Nachtwächter kam, verkroch er sich, wenn ein Trupp Vergnügungslustiger, Gesellen oder Mädchen lächelnd um die Ecke bog, machte er ein paar 142 Schritte auf sie zu, wagte dann aber doch nicht, sie anzureden und um die Erlaubniß zu bitten, ob er mitgehen dürfe. An der kleinen Bretterbude am Hafen, wo der Schilling für die Ueberfahrt bezahlt wurde, standen eine ganze Menge Leute. Drinnen, hinter einer kleinen Lampe, saß der Kassirer, müde und mürrisch, manchmal klingelte die Glocke, zum Zeichen, daß die Jolle drüben abfuhr, dann nach einer Weile hörte man das Platschen der Ruder im Wasser, und die ganze Zeit, während sie da standen und auf die Fahrt warteten, ging die Brücke, auf der sie sich drängten, sammt Grell's Häuschen langsam aber stetig auf und nieder, auf und nieder, wie die großen flachen Wellen der Elbe an die Pfähle stießen.

Und dann kam er endlich auch an die Reihe und saß in der Jolle mit zwölf oder zwanzig anderen, und da waren übermüthige Brüder darunter, die wollten schaukeln und den Mädchen Angst machen. Aber eine war so keck, die griff über Bord und spritzte dem Ausgelassensten eine Hand voll Wasser ins Gesicht. Und daraus entstand beinah' eine Prügelei, und seine Nachbarin kniff ihm vor Angst in den Arm und schrie: »die Jolle sinkt weg!« Aber sie sank doch nicht, sie stieß im selben Augenblick an den Steg auf Steinwärder, 143 und bei dem Aussteigen gab es wieder ein großes Halloh, aber alles im Spaß, und danach wanderten sie wie ein Mann nach dem Bal champêtre.

Nein, wie das krimmelte und wimmelte von weißen Kleidern und Hüten mit Blumen.

Sechs große Pechfackeln beleuchteten den Tanzplatz, und immer tauchten hinter den dunklen Büschen noch neue helle Figuren auf. Er stand im Wege, wurde von einem galoppirenden Paar vorwärts gejagt, beinah' übern Haufen getanzt, bis er mal ein Mädchen fand, das keinen Partner hatte. Es war so eine Kleine, Dünne, sie hatte ein rosa Kattunkleid an und einen Strohhut mit gelbem Band. Er glaubte, es wäre dieselbe, die ihn in den Arm gekniffen hatte, und darum faßte er sich ein Herz, machte einen Diener und sagte: »Woll'n Sie mal mit mir?« »Wenn wir man durchkommen!« nickte sie mit ihrem kleinen spitzen Gesicht, aber er faßte sie gleich um, und dann ging es los. Sie war glatt wie ein Aal, aber fest hielt sie ihn, wie eine Klette, und sie tanzten so lange, bis ihnen wirklich Hören und Sehen verging. Eine Kraft in ihrer Lunge hatte dieses Mädchen, sie konnte sich eine halbe Stunde lang drehen wie ein Kreisel, und dann fing sie von vorn an. So hatte er sich noch sein Lebtag nicht amüsirt. Er traktirte 144 sie auch mit Kaffee und Franzbrot, sie aß ebenso flink wie sie tanzte. Aber sie vergaß trotzdem die Zeit nicht. »Klock fief mutt ick to Hus gahn. Gahn Se mit?« sagte sie mitten im Tanzen.

Da erzählte er ihr, daß er erst recht früh fort müsse, und wie ein Wort das andere gab, fand es sich, daß sie ganz in der gleichen Lage waren. Henny Timm war auch heimlich weggegangen, weil die Waschfrau, bei der sie plättete, ihr den Ausgang untersagt hatte. Aber sie war sechzehn Jahr und konnte noch immer eine Stelle finden, so eine wie bei der alten Tiemann kriegte sie jeden Tag. »Ne, dat is nu mal 'n Keirdje, dat Se ook utkneepen sünd«, lachte Henny, und er sagte auch, es wäre das größte Keirdje der Welt, und sie müßten sich nothwendig nächsten Sonntag wieder treffen, um sich zu erzählen, wie es abgelaufen wäre. Aber erst wollten sie mal zusammen den Weg zur Fähre machen, und das thaten sie denn auch, und so etwas Schönes wie dieser Gang durch den kühlen hellen Sommermorgen war ihm im ganzen Leben nicht wieder vorgekommen. Die ganze Luft war ein Singen und Zwitschern, und Henny sagte, das wären die Lerchen. »Na, denn 145 sind Sie woll auch so eine, denn Sie zwitschern ebenso«, sagte er. Darüber wollte sich die kleine Plätterin »rein kaput lachen«, wie sie es nannte, und dann machte sie ihren dünnen Arm krumm und flüsterte einladend: »Bemerken Sie diese Oese?« Und dann hakte er erröthend ein und entschuldigte sich, daß er es nicht zuerst gethan hätte, aber »er hätte sich das nicht unterstanden«. Das gab nun wieder ein gemeinschaftliches Gelächter, und dann wagte er sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie Mettwurstarme hätte, roth und weiß marmorirt, wie die Mettwürste sein müssen. Aber sie sagte, nein, es wären keine, es wären »bloß Swebelstickens«, die alte Tiemann könnte ihr gern ein bißchen mehr zu essen geben, denn könnte sie wohl auch Mettwurstarme kriegen. Und da sagte er, er als Krämerlehrling müßte das doch wissen, daß es auch dünne Mettwürste gäbe, und dadurch kam sie darauf, nach seinem Namen zu fragen, und es war ihm gar nicht angenehm, daß er keinen feineren Namen als Jochen hatte.

Später, in Amerika hatte er ihn natürlich in John verwandelt, aber dachte wer damals an so etwas. Nein, da hieß er noch Jochen, Jochen Stubbe, und sie hatte richtig den Mund verzogen, als sie den Namen zum ersten Mal aussprach und 146 gemeint, er wäre wohl vom Lande. Aber durchaus nicht, sondern vom Bäckerbreitengang war er, und wie groß war nun die Verwunderung gewesen, als sie vom Ebräergang stammte, »von der Krügerei an der Ecke«. Sie nannte ihn nun gleich Du, und es war ihnen gar nicht recht, als das Fährboot schon bei den Vorsetzen anlegte. Und dann so schnell wie möglich Adieu gesagt und an der Ecke auseinandergerannt, sie zu ihrer alten Tiemann, er in den Krämerladen, den Kleistertopf hergekriegt und Tüten geklebt, als wenn er nicht ganz richtig wäre. Er war früh genug gekommen, Eddelbüttel war noch nicht herunter; er konnte den Confirmationsrock noch abstreifen, die alte Jacke und die Ladenschürze überwerfen und hinter den geschlossenen Sicherheitsläden sich einem ungeheueren Eifer hingeben. Er machte einen Haufen Tüten, alle mit Kleister und Liebe, er mahlte, daß es durch das Haus scholl, Kanehl und Liebe, er war so fleißig, daß Eddelbüttel, als er ungewöhnlich spät und mit rothunterlaufenen Augen zum Vorschein kam, in der Thür stehen blieb, die Arme übereinanderschlug und sich wunderte. Bis er plötzlich an zu knurren fing, so was gehöre sich nicht am Pfingsttag; weg mit dem Kleistertopf, Laden ausfegen, und denn 'n Gesangbuch her und in die 147 Kirche, marsch! Und direkt wiederkommen, denn nach der Kirchzeit wird natürlich aufgemacht, und da sind immer Kunden, die etwas vergessen haben. Und so hatte Jochen noch einmal in den Confirmationsrock müssen, mit heimlichem Grinsen, aber die Predigt hatte er sanft und selig verschlafen, die Nase in seinem Hut, den er während der ganzen Zeit vor sich gehalten hatte.

Das war das erste und schönste Mal gewesen, nachher hatten sie sich oft getroffen und sich immer so gefreut. Und gerade wollte er sich mit ihr verloben, als er das von ihr zu hören bekam. Nämlich, daß sie Lieder gesungen hätte, ganz abscheuliche Lieder, die nicht einmal eine ordentliche Mannsperson in den Mund nehmen mag, wenn sie nüchtern ist. Mit anderen Plätterinnen zusammen, vor der Thür der Wäscherei, Abends im Hof. Und die Arbeiter, die vorübergegangen, hätten stillgestanden und zugehört, und es hätte da allerlei Redensarten gegeben, daß die älteren Mädchen vor Lachen beinah gestorben wären. Jochen wollte das natürlich nicht glauben, denn Henny war so sauber auf sich und eher ein bißchen schnippisch, aber erschrocken war er doch furchtbar, und mehr davon wissen wollte er auch. Er dachte, er wollte es dem Mädchen fein andeuten, aber sie merkte gleich, worauf 148 er abzielte und wurde sofort böse. Es war alles erlogen, jedes Wort! Die Mädchen waren nur neidisch, deshalb machten sie sie schlecht. Henny schrie und weinte, und dazwischen stampfte sie mit dem Fuße. Er nahm sie vor: ob sie denn nicht Lieder gesungen hätte? Das wohl, die älteren Plätterinnen hätten sie allerlei Lieder gelehrt. Aber die Arbeiter habe sie nicht angerufen, die seien von selbst gekommen. Und alles wäre ja nur Spaß gewesen; wenn einer hereinkommen wollte, gleich habe sie ihm die Thür vor der Nase zugeschlagen. »Aber ja nicht wieder thun!« sagte Jochen. »Peh! ich bin doch kein Vierwochenkind! Wenn ich da nu mal grade Lust zu hab, denn hest Du mi ook nichs to seggen.« Sie wurde ganz »wrantig und mucksch«, und er konnte auch nicht darüber weg kommen; er kriegte es mit dem Trotz, sobald sie zusammen waren. Wollte sie immer zum Weinen bringen, wollte, daß sie niemand anguckte als ihn. Und so war es gekommen, daß sie sich bald nicht mehr mochten. Ach du lieber Gott, er hatte jetzt ein bißchen mehr gehört und gesehen von der Welt, er dachte heute ganz anders über die Geschichte. Arme kleine Deern, er war wirklich nicht schön mit ihr umgegangen. Wenn sie so vor ihm gestanden hatte mit rothgeweinten Augen, wenn es 149 um das dünne spitze Näschen so schmerzhaft gezuckt hatte, warum hatte er da nicht alles vergessen!

Sie war ja doch ganz ehrbar gewesen, wenn sie mit ihm zusammen war, er hatte gar keinen Grund gehabt, sich die dummen Klatschereien zu Herzen zu nehmen.

Aber vielleicht wäre auch noch alles anders gekommen, wenn nicht Hals über Kopf das zweite Unglück passirte, nämlich daß der alte Eddelbüttel ihm hinter die frühen Ausflüge zum Kellerfenster hinaus kam und ihn mit einem abscheulichen Halloh wegjagte. Und dienen hätte er auch bald müssen; er hatte die ganze Geschichte satt, ließ sich von seiner Mutter das Reisegeld geben und fuhr als Zwischendeckler nach Amerika. Eine Kleinigkeit, ein paar Tausend, bekam er dorthin geschickt, als die Mutter starb. Dies Erbtheil und seine zwei tüchtigen Arme, daneben der Geschäftsverstand seiner Frau hatten ihm zum Wohlstand verholfen. Aber jetzt war er müde, und darum war er zum Ausruhen nach Hamburg gekommen, und nun gab es da kein Ausruhen!

Was half es ihm zum Beispiel, daß er sich so auf Steinwärder gefreut hatte! Er fand es gar nicht, obgleich er jetzt drüben war. »Grevendamm« hieß die Anlegestelle, aber das war auch 150 der einzige Anklang an ehemals. Dasselbe Rasseln,. Prusten, Pfeifen, Sägen, Wimmeln wie am anderen Ufer, Dampfwolken, Schlote, Lastschuten, geschwärzte Gesichter, gelbes Wasser, regenbogenartig glitzernd, wo Fett hineingeflossen, alle Leute, die einem begegnen, und es begegnen einem nur Männer, in der schmutzigen lumpigen Arbeiterkleidung Es wurde ihm ganz elend zu Muthe, je weiter er ging, je länger er nach dem schönen grünen Fleck suchte, der nicht mehr da war. Es kam ihm vor, als wäre die ganze Welt ein großes Arbeitshaus geworden, seit der grüne Fleck nun auch weg war. Und wie lange wohl schon! All diese Mauern und Dächer, diese Stakete und Schuppen sahen so uralt aus, so verrußt und verschimmelt, so krumm und wackelig zum Theil, als hätten sie seit Erschaffung der Welt hier gestanden. Der Amerikaner sah immer länger, immer unbehaglicher drein. Er kam sich selber älter vor mir jedem Schritt, die Jahre wuchsen ihm auf den Rücken zu einer großen soliden Pyramide, er bückte sich, stand still, trocknete sich den Schweiß von der Stirn, blinzelte, gähnte, bereute seinen Einfall und war vollends ärgerlich, als auf einmal große Tropfen fielen und ein krachender Donner über die Elbe her schmetterte. So, in 151 seinen Gedanken, hatte er nichts bemerkt vom aufsteigenden Gewitter, aber nun fuhr auch der Wind daher, fegte am Boden und schlug, aufsteigend, den Steinkohlenrauch herunter, daß die Luft verfinstert wurde, und die langen rothen Schornsteine fingen sachte an zu schwanken, sanft und unbedeutend, so weit man das überhaupt in der ganz mit Regen angefüllten Ferne unterscheiden konnte. So schnell er konnte, machte er sich ans Umkehren; er hatte weder Schirm noch feste Kleidung und fürchtete einen Rheumatismusanfall hier, wo er ihn so wenig gebrauchen konnte. Aber bald merkte er, daß er in dem eintönigen Wirrwarr, wo sich dieselben Fabriken, Schuppen und Speicher fortwährend wiederholten, fehlgegangen war. Wenn er so weiter schritt, kam er auf eine kahle bassinartige Wasserfläche zu, an der, ganz schief, ein einzelnes Haus, ein alter schmaler wackliger Speicher hing; so ausgestorben, so menschenleer sah es dorthin aus – da konnte er doch gewiß nicht nach der Richtung fragen. Inzwischen wüthete das Unwetter immer stärker. Es war gewiß das beste, im Speicher Schutz zu suchen, wenn er nur nicht verschlossen war. Die vernagelten Luken an der hohen schmalen Front deuteten auf Unbewohntsein, aber wie der Fremde auf das wacklige Gebäude 152 zuhielt, sah er, daß seitwärts und hinten nach der Wasserseite zu Taue niederhingen und wie geschwungene Glockenstränge sausten. Auch lagen eine leere Schute und drei Jollen auf dem Bassin, oder sprangen und schaukelten vielmehr in wilden Sätzen ganz auf eigene Faust.

Nun, das war bei dem Winde natürlich; unnatürlich aber sah es aus, daß auch der alte Bau ganz lebendig wurde, daß er von einem furchtbar drängenden Windstoß sich plötzlich von der linken Seite deutlich auf die rechte hinüberlegte. Der Amerikaner faßte das sonderbare Schauspiel näher ins Auge. Es schien durchaus nicht spaßhaft, auch nicht einladend zum Weitergehen. Vor einem neuen Sturmanprall wiederholte sich das Erzittern, ein Krachen und Stöhnen des Gebälks war deutlich hörbar, und plötzlich erschien an einer der Luken hinten ein Kopf, der sich prüfend hinausbog.

Also waren Leute da drinnen? Ja, aber dann – merkten die denn nichts? Der Amerikaner zog sein Taschentuch und wedelte damit, doch schien sich der Kopf schon wieder zurückgezogen zu haben. Nun lief er so schnell ihn die Beine tragen wollten, auf das Bassin zu; das Wasser ging in wilden Wellen, überfluthete schon die Straße: es war wohl mehr noch als der 153 Wind Ursache der Stöße, die das alte Gebäude durchschütterten. Es kamen jetzt noch stärkere als zuvor, und plötzlich drang ein mehrstimmiges Hülfegeschrei bange und weh aus den oberen Luken. Der Amerikaner war ganz nahe, er schrie und winkte mit seinem Hut, der Regen troff ihm in Strömen um die Ohren, das furchtbare Krachen, das aus dem Speicher scholl, ging ihm durch Mark und Bein. Warum die da oben nicht herunterkamen? Er sah es, als er die Thür aufriß und eine große dunkle Welle sich ihm entgegenwälzte.

Von einer Treppe war nichts mehr zu sehen, zersplitterte Balken und Bretter stießen gegen die Mauern, er mußte die schwere Thür fallen lassen und weit zurückspringen, wie ein Wasserfall ergoß es sich nun durch das morsche Haus auf die Straße. Hier war nichts mehr auszurichten. Hülfe war nur von der Wasserseite möglich, wo die leere Schute so hart gegen die Speicherpfähle anfuhr, als müßten sie jeden Augenblick in Stücke gehen. Das Geschrei an der Luke oben nahm zu, zwei, drei Frauen drängten sich in der Oeffnung, winkten und riefen Worte, die in dem Regenbrausen unverständlich blieben.

Wenn John Stubbe nur Beistand gehabt hätte! Immer mußte er an die lange Reihe 154 Arbeiter mit den Kippkarren denken, an denen er vor höchstens einer Viertelstunde vorüber gekommen war. Da gab es Hände genug, aber wer sagt ihm, daß nicht hier inzwischen alles in einen Haufen zusammenstürzt! »Na, denn man jüh', denn man 'rein in die Schute, was gemacht werden kann, wird gemacht.« Er angelte nach dem Tau, das schwerfällige Boot ließ sich endlich heranziehen. Als er hineinsprang und schnell abstieß, um nicht an der Speicherwand zu kentern, brachen die Frauen oben – es mußten Arbeiterinnen sein – in einen Freudenschrei aus. Ein junges Ding, eine schmächtige Person mit blondem Haar und furchtblassem Gesicht, arbeitete sich vor, maß die Entfernung hinab mit weit aufgerissenen Augen und deutete an, daß sie hinunter springen wolle; eine zweite warf Haufen von grauleinenen Kaffeesäcken herunter, als gelte es vor allem, diese kostbaren Schätze in Sicherheit zu bringen, während der Amerikaner unten sich heiser schrie, daß sie das Tau ergreifen sollten, das von der Winde herabhing, um so herunter zu kommen. Als sein Rufen nichts nützte, fuhr er auf Tod und Leben so nah der Speichermauer, daß er das Seil erfaßte, dann auch ein zweites. »All right!« schrie er in der Freude seines Herzens, »so geiht he good!« Im Nu 155 hatte er die Seile an der Jolle befestigt. Sie waren dauerhaft, diese Seile, trugen wohl noch größere Lasten, als das Gewicht eines noch so stattlichen Bürgers von Chicago. »Je, denn helpt dat nich!« Mit jeder Hand packte er ein Tau, stellte sich auf den Bootrand und versuchte, sich in die Höhe zu ziehen. Unter ihm schäumten die Wellen, sein Hutrand war eine Traufe, und wie lange noch mochte der alte Speicher sich auf seinem wackligen, unterspülten Fundament halten. Er blickte in halber Verzweiflung nach den Frauen da oben, zum erstenmal kam ihm das Kopfschütteln an, und daß er doch wohl am besten thäte, ans Land zu springen und die Arbeiter mit dem Kippkarren zu Hülfe zu rufen. Er kam auch nicht vorwärts, es war doch zu lange her, seit er sich an einem Tau »auf und nieder gehüft« hatte. Da fühlte er, daß die Seile unter seinen Händen sich strafften, er hatte noch gerade Zeit, mit der Fußspitze nach der Jolle zu langen; die Pfähle, an die er sich unwillkürlich anklammerte, bewahrten ihn vor dem Sturz ins Wasser. »Ick kam nu! Helpen Se mi!« schrie es über ihm. Die kleine Blonde! Guck die fixe kleine Deern! Sie ging wahrhaftig mit gutem Beispiel voran. Und wie schlau sie das gemacht hatte. In einen Kaffeesack war sie gestiegen, 156 wahrscheinlich damit ihr die Beine nicht zitterten, vielleicht auch wegen des Schwindels, denn der Saum bedeckte ihr halb noch das Gesicht. Und nun griffen die Hände fest nach rechts und links, und wirklich wie ein Sack kam sie herunter gesaust, zwischen den Tauen, daß der Amerikaner mit aller Kraft gegenhalten mußte, damit ihre Schute nicht umschlug. »Hurrah«, schrie er, als er das Mädchen unten hatte, das betäubt von der jähen Fahrt und von aller ausgestandenen Angst am Boden der Schute zusammensank. Aber einen Augenblick nur, denn bei dem Hurrahgeschrei des Fremden guckte sie auf, die Augen hellten sich, und um die blassen zitternden Lippen zuckte ein probeweises mühsames Lächeln.

»Kleine Deern! kleine Deern!« sagte John Stubbe und streichelte ihre zerschundenen blutenden Hände, »wieviel sind denn noch baben?« »Noch dree Stück!« hauchte das Mädchen, während es sich langsam aus dem Sack befreite und die Entfernung bis zur Luke maß: »Da bin ich runter gekommen! oh! huh!«

Der Regen machte eine Pause, aber in dem morschen Speicher war ein fortwährendes Krachen und Aechzen; der Amerikaner blickte rathlos um. »Kopp weg! Nu kam ick!« schrie es plötzlich 157 in den Lüften, und mit rasender Eile sauste der zweite Kaffeesack auf die Schute zu. »Meiersch! Das is Meiersch!« Das Mädchen klatschte in die Hände. »Holl! holl stop!« schrie Stubbe, und mit weit offenen Armen erwartete er die gerundete Masse, die nicht eben sanft an das Fahrzeug ausschlug.

»Sachte, Madam, sachte! Das sind Ihre Knochen, mit die Sie so umgehen,« warnte der Amerikaner; dann war auch diese geborgen; ein grobknochiges, grauhaariges Gesicht hob sich aus dem Sack, blickte wirr um sich, nickte dann dem Mädchen zu und brummte: »Wat Du kannst, dat kann ick ook noch!« Dann schielte sie den Fremden an: »Go'n Dag! Ick dank Se ook veelmal.« Sie wollte ihm die Hand reichen: als sie fand, daß sie blutig und beschmutzt war, zog sie sie heimlich wieder zurück und sagte halb für sich: »Wo kamt Se denn woll so her?«

»Aus Chicago, Madam, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen,« betheuerte John Stubbe, »nu sind noch zwei baben, nich?« Von oben herunter kam ein klägliches Weinen. »Krullsch kann dat nich, dar mutt en Ladder her,« rief Meiersch lebhaft, »könt Se mi vielleicht utsetten? Oder täuben Se mal!« Sie ergriff eine Stange, die in der Schute lag, und zog eine der Jollen 158 heran; die Sache glückte. Sie stieg hinüber, langte nach den Rudern, Stubbe schnitt das Seil durch, mit dem das kleine Boot befestigt war, und dann fuhr die Frau so schnell sie konnte, abwärts über das Bassin. »Kunn ick dat woll wagen?« schrie eine angstvolle Stimme aus der Luke. Und dann, nach einigem Hin- und Herreden, kam der dritte Kaffeesack herunter, konnte aber erst geborgen werden, nachdem er bis zur Hälfte untergetaucht worden war. John Stubbe und das junge Mädchen hatten ihre Noth, bis Numero drei, weinend und jammernd zwar, aber doch wohlbehalten in der Schute saß. »Ick heff dree Kinner to Hus, dat Lüttste is veer Wochen,« sagte die Gerettete, »dat heff ick ook nich dacht, dat mi dat so gahn wurr.«

Das Mädchen richtete sich auf, legte die Hände an den Mund und rief: »Moder Krull, Moder Krull!« Die einsam Zurückgebliebene antwortete nicht.

»Madam Krull,« schrie nun auch der Amerikaner. Keine Antwort. »Is sie alt oder jung?« fragte er dann. »Ick glöw, Meiersch is öller,« sagte die schwache Frau; sie gab aber wenig Acht, bat nur, an Land gehen zu dürfen, es sei ihr so schlecht, und wenn das mit dem Speicher doch noch malörte, daß der einfiele, denn kriegte sie das 159 gerade auf 'n Kopf, denn sie säße da drektemang unter. Der Amerikaner wollte aber nicht gern die Seile losknüpfen, ehe sie auch die letzte herunter hätten, und das kleine Mädchen wurde ganz beleidigt und sagte, sie hätten so lange auf Madame Nagel gewartet, nun sollte sie auch noch ein bißchen Geduld geben: Krullsch sei eben so gut wie andere Leute. Da gab Nagelsch nach und kauerte wie ein Klumpen Unglück unter den nassen Säcken. Bald wurde auch den zwei Anderen Zeit und Weile lang. Das Mädchen fing wieder an nach »Moder Krull« zu schreien, und endlich guckte denn auch etwas oben herunter. Ein runzeliges Gesicht mit halb offenem Munde. »Wat is dar los?« Sie verstanden es ganz deutlich.

»Na, glöwst Du dar noch nich an, dat dat gefährlich is?« schrie Madam Nagel ganz empört. »Kommen Sie dal!« brüllte der Fremde.

»Sall ick mi to'n Narren machen?« rief es herunter, »dat deiht mi hier noch lang nichs.«

Nagelsch schlug in die Hände. »Laten Se ehr, setten Se mi ut, gegen Krullsch ehrn Kopp dar is nich antokamen.« Ruderschläge ließen sich hören, da waren Madam Meier und zwei Feuerwehrleute. Meiersch ruderte, ihr entschlossenes Gesicht wurde heller, als sie die Personen im Boot erkannte. 160 »Kiek an, Nagelsch, büst Du ook dar? Hest Di dat ook versöcht? Ick dach all, wi müßten Di ook mit de Ladder dal halen!« Die Strickleiter ward hinauf geworfen, angehakt; dann kletterten die Feuerwehrleute wie Matrosen hinauf bis zur Luke, aus der nun ein lebhaftes Gerede hörbar ward.

Madame Krull hatte durchaus keine Lust, in den Sack zu kriechen und die Leiter hinabgeschoben zu werden. Es bedurfte dazu eines neuen Sturmangriffs, der den Speicher vom Grund aus zittern machte. Aber dennoch war sie beleidigt über die Zumuthung, und in außerordentlich schlechter Laune wurde sie von Meiersch aus dem ledernen Sack hervorgezogen, während John Stubbe schon die Seile losband.

»He steiht je noch!« sagte sie, hartnäckig auf den Speicher deutend, von dem nun ununterbrochen Steine und Holzsplitter herunterregneten; »so'n Gefährlichkeit! Tein Johr heff ick hier all neiht, Dag for Dag, un nich eenmal is dat Hus umfollen. Dat beten Knacken, wenn Se dat meenen dohn, dar mutt man sick nichs bi denken, wi stahn All' in Gotts Hand.« Je mehr die Anderen dagegen sprachen, desto öfter und zäher wiederholte sie ihre Worte. Als sie hochathmend und steif von der kühlen Nässe ans sichere Land 161 stiegen, räsonnirte sie noch immer über »so'n Gefährlichkeit;« zum Ergötzen der zahlreich versammelten Zuschauer, die sich nun, in den letzten Minuten, hier eingefunden hatten. John Stubbe war ungemein munter, dem Regen zum Trotz. Er schüttelte den Feuerwehrleuten die Hände, bedauerte, daß sie hier zurückbleiben müßten, da ihnen nun die Aufgabe zustand, den Platz um das einstürzende Gebäude abzusperren und zu retten, was zu retten war. Von den vier Frauen aber konnte er sich gar nicht trennen, und als er ihnen endlich doch adieu gesagt hatte, – kehrte er spornstreichs wieder um, – lud sie unter vergnügtem Schmunzeln ein, morgen Nachmittag um vier bei Wiezel mit ihm Kaffee zu trinken. »Wir haben das nu zusammen durchgemacht; Madam Krull, nu sehn Sie man nich mehr so sauer aus den Augen; Madam Nagel, Ihre drei Kinder, die bringen Sie man auch mit; Madam Meier es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, und Sie, Fräulein Henny – Sie heißen doch Henny, nich? Je, gucken Sie woll, das hab ich Ihnen nu gleich an die Nase angesehen! Es wär doch zu schade, meine Damens, wenn dies nu das erste und letzte Mal sein sollte, daß ich das Vergnügen habe.« Die abgeängstigten, durchnäßten, todtmüden Frauen 162 wußten nicht, was sie dazu sagen sollten, aber das Mädchen, das alle Keckheit wiedergefunden hatte, nahm lachend an, obwohl sie nicht Henny, sondern Martha hieße, wenn er es weiter nicht übel nähme. –

Der geschniegelte Kellner machte große Augen, als am nächsten Nachmittage die Gesellschaft anrückte. Da war zuerst Madam Nagel mit ihren drei Kücken, alle mit dem sorgenvollen hungrigen Ausdruck der Wittwenkinder in den kleinen kellerblassen Gesichtern, am blassesten das vierwöchige Jüngste, das nur, einem eben angezündeten und schon zum Erlöschen bereiten Lichtchen gleich, aus dem wollenen Shawl der Mutter hervorschimmerte. Da war Madam Meier in einem sehr anständigen, nur etwas zu fußfreien schwarzen Kleid, ernsthaft und etwas derb in ihren Ausdrücken, aber tüchtig da für ihre fünfundsechzig Jahre. Da war Madam Krull mit einer schwarzen zerdrückten Tüllhaube und lila Kinnbändern, ausgesöhnt und neugierig und sehr zufrieden mit dem Kaffee, über den sie ihre Anerkennung auch gegen den Kellner und die Gäste an den Nachbartischen aussprach, nur daß sie keine Antwort bekam. Da war endlich Martha Köster in einem hellgelben Kattunkleid, ein rothes Band um den Hals und 163 auf dem barettartigen kleinen Hut; spitz und schlank, aber sehr niedlich und eine beständige Augenweide für den Amerikaner. Siebzehn Jahr alt war sie, ein Jahr jünger als seine Tochter in Chicago, die sich im vorigen Monat verheirathet hatte; ein Jahr älter als Henny Timm war, damals, als er sie kennen lernte, und ihr so ähnlich.

Feierlich kamen sie daher, steif und schüchtern setzten sie sich nieder, aber John Stubbe brachte sie in Schwung. Er ließ soviel Kaffee und Kuchen bringen, natürlich englischen Käse! bis niemand mehr einen Schluck trinken, einen Bissen essen konnte, und dann machte er es ihnen ganz gemüthlich, indem er jede um ihre Lebensgeschichte befragte. Nicht, daß es Lustiges gewesen wäre, was sie da zu erzählen hatten; es war nichts als Kummer und Elend, aber sie wurden ganz zufrieden, daß sie nur einmal davon sprechen konnten! Die Leute an den Nachbartischen standen auf und gingen zum Abendbrot, die Sonne sank langsam, und dann stand über dem hochgelegenen Garten ein grünlich blauer, mit tausend goldgelben Wölkchen besäeter Abendhimmel; unten wurden die Laternen angezündet, jagten die Wagen, klingelten die Pferdebahnen, kreischten die Dampfpfeifen der Fabriken und Schlepper, oben erzählte Frau Meier mit 164 zuckendem Munde und heißen Thränen, wie sie ihr vor zwanzig Jahren ihren Mann, vom Bau heruntergestürzt, besinnungslos, sterbend, in die Stube getragen hatten. Aber Mutter Krull war lustig geworden, erinnerte sich ihrer Kindheit, hinten in einem Dorf, zwischen Torf und Heide, wo sie so glückliche Weihnachten hatten! Vier Geschwister waren sie, und für jedes stand ein kleiner Spieltopf auf der Fensterbank, in jedem Spieltopf lag ein Sechsling und oben darauf noch ein Siropskringel! Ja! das war noch Weihnachten. Aber dafür war's auch über die fünfzig Jahre her, die schöne Zeit. Am stillsten war Madame Nagel: »Min Mann hett mi verlaten.« Sie wurde aber froh, als John Stubbe für jedes der Kinder noch ein Paket Kuchen einwickelte, und als er nun gar einen Gummiball, einen von den großen bunten, den stillen kleinen Würmern zuwarf, da fing sie an zu knixen und sich zu bedanken, daß er schnell Martha Köster zu Hülfe rufen und sie erzählen lassen mußte. Ja, was wußte die kleine grüne Deern wohl zu erzählen?

Ihre Mutter war an der Schwindsucht gestorben, vor einem Jahr; der Doktor hatte gesagt vom Tanzen; die Mutter wußte es aber besser, der heiße Plättdunst war die Ursache gewesen. 165 Und darum sollte ihre Tochter nicht Plätterin werden, und tanzen sollte sie auch nicht. Martha saß da und schmollte bei der Erzählung, ihre Füße zuckten in einer Tanzmelodie. Und ihr Vater? Das Mädchen wurde roth, schüttelte den Kopf: »Weet ick nich.« Meiersch begann dem Amerikaner zu winken, aber er hatte schon verstanden. Wo sie jetzt wäre? Ach, irgendwo in Schlafstelle, aber sie wollte da weg. Da fragte er sie, ob sie mit nach Chicago wolle, ein fixes Mädchen fände dort bald sein Auskommen, und an seiner Frau würde sie auch einen Halt haben. Martha sprang hoch auf, sie hatte ja so schrecklich Lust, etwas von der Welt zu sehen; sie hatte schon gemeint, sie sollte nun ihr Lebelang hier sitzen und Kaffeesäcke nähen! John Stubbe blickte sie ganz glückselig an: »Und denn, was ich noch sagen wollte – – hieß Ihre Mutter nicht vielleicht Henny Timm?« Martha schüttelte lächelnd den Kopf: »Meine Mutter hieß Anna Köster; was wollen Sie eigentlich mit aller Gewalt von Henny Timm?«

»Je, das is nu so'n Himpkamp.«

Dann packte auch er sein Herz aus und erzählte den Frauen, was ihn nach Europa, was nach Steinwärder geführt hatte. »Ochhott nee, das gefiel mir da nich! Und daß Grevenhoff weg 166 war – – das gefiel mir da kein büschen. Aber denn wollte es je nu das Schicksal, daß ich das Vergnügen haben und Ihre Bekanntschaft machen sollte, meine Damens. Na, und nu war das doch man gut, daß ich da grade hinkommen that, is nich wahr?« Zum erstenmal dankten sie ihm, mit erhobenen Stimmen, schlicht und herzlich.

Er lächelte nachdenklich: »Je, es is die Möglichkeit! Muß ich da rüber kommen von Chicago!«

Sie saßen nun zusammen, einträchtig wie eine Familie, die armen Frauen ganz still vor ungewohntem Behagen.

»Und nu kriegt wie ook noch Mandschien,« bemerkte Madam Krull mit heller Stimme.

»Na, kamt Se denn ook mal wedder, Herr Stubbe?« murmelte Meiersch, und langsam schob sie die rauhe Arbeiterhand über den bläulich beschienenen Tisch ihm zu. 167

 


 


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