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4. Kapitel

Frau von Plön starrte mit trüben Augen auf die Zahlenreihen, die sie addierte, subtrahierte und die trotzdem in ihrem Endergebnis geradezu niederschmetternd waren.

Sie war es gewöhnt, daß nur die Sollseite ihres Kontobuches Zahlen aufwies, aber jetzt schien es ihr doch so, als ginge diese einseitige Bevorzugung entschieden zu weit, wenigstens hätten die belastenden Zahlen etwas niedriger sein können.

Nervös griff sie nach einem Stapel Rechnungen und begann noch einmal zu vergleichen, aber die Rechnung stimmte haargenau. Leider.

Nervös zog sie die Schublade des kostbaren, reich mit Intarsien geschmückten Empireschreibtisches auf und kramte darin herum.

Das Scheckbuch legte sie achtlos beiseite.

Zu einem Scheckbuch gehörte ein Bankkonto und zu einem Bankkonto gehörte Geld. Geld hatte sie nicht, also war das Scheckbuch überflüssig. Das wenige, was sie besaß, bewahrte sie in einer sehr kunstvollen Kassette im Hause auf.

Diese Kassette war ein kleines Kunstwerk aus Ebenholz, deren Deckel in einem Rahmen aus Elfenbein einen Mädchenkopf mit Puderperücke umschloß.

Frau von Plön hob die Kassette heraus und öffnete sie.

Obenauf lagen ein paar Rechnungen und darunter zog sie einige Scheine hervor und begann zu zählen. Es dauerte wirklich nicht sehr lange, mit sechs Fünfzigmarkscheinen ist man schnell fertig. Mühsamer war es das Kleingeld zu zählen, aber das Ergebnis stand in keinem Verhältnis zu der aufgewandten Mühe. Vierzehn Mark und siebenundzwanzig Pfennige. Die beiden Summen waren schnell addiert.

Ein sorgenvoller Blick ging zum Kalender. Erst in vierzehn Tagen würden Sommergäste eintreffen. Und die legten natürlich auch nicht gleich ihr schönes Bargeld auf den Tisch des Hauses, sondern verlangten vorher einige Leistungen. Und das war ja schließlich ihr gutes Recht.

Frau von Plön wollte es ihnen auch gewiß nicht streitig machen, aber es erschien ihr fast unmöglich, sich zu den Leistungen aufzuschwingen, die im Pensionspreis enthalten waren. Der Kaufmann borgte nicht mehr, der Bäcker weigerte sich anzuschreiben und der Metzger bestand auch auf Barzahlung und hätte am liebsten schon jetzt die Rechnungen vom Vorjahr kassiert.

Da sah man es mal wieder – kein Mensch hatte mehr Zeit, um auf etwas zu warten. Diese dauernde Hetze – Frau von Plön fand, daß sie an diesem Tempo noch einmal zugrunde gehen würde.

Früher war das ganz anders gewesen. Da brachten die Leute noch die nötige Ruhe zum Warten auf. Irgendwann waren ja die Rechnungen immer bezahlt worden. Siegbert hatte das stets zu arrangieren gewußt. Mit Kleinigkeiten gab er sich gar nicht erst ab. Er wartete solange, bis es sich lohnte, ein Stück Land oder Wald zu verkaufen. Und dann machte er reinen Tisch, alle Rechnungen wurden bezahlt und die lohnende Sammlung begann wieder von neuem.

Auf diese noble Art wurde zwar der Grundbesitz im Laufe der Jahre immer weniger und schließlich blieb ein Landhaus ohne Land übrig, aber das spielte ja wirklich keine Rolle, denn dadurch hörte endlich auch der Ärger mit den Pächtern auf. Siegbert hatte dadurch viel Aufregungen gehabt, denn die Pächter begannen schon im April von der Mißernte zu sprechen und im August versuchten sie von der Pacht abzuhandeln, was nur abzuhandeln war.

Frau von Plön war ihrem seligen Mann aufrichtig dankbar, daß er ihr wenigstens den Ärger mit den Pächtern abgenommen hatte.

Aufseufzend schob Frau von Plön ihre Barschaft zusammen und ließ sie klimpernd und raschelnd wieder in ihrer Schatzkiste verschwinden. Nach kurzem Klopfen öffnete sich leise die Tür und wurde fast geräuschlos wieder geschlossen.

»Fertig, Mama! Wie neu sehen die alten Gartenmöbel wieder aus, beinahe modern. Wenn du sie dir einmal ansehen willst?«

»Hoffentlich sind die Farben nicht zu grell, auf modern lege ich keinen großen Wert, von uns verlangt man antik, mein Kind.«

»Im Hause sind wir ja auch ganz antik, aber auf der Terrasse und im Park finde ich die lustigen Farben ganz nett. Die Gäste mögen das sicher gern. Ich glaube, es macht einen guten Eindruck, wenn wir zeigen, daß wir auch mit der Zeit gehen.«

»Fließend Wasser in den Zimmern wäre ihnen da wahrscheinlich lieber«, meinte Frau von Plön sachlich und seufzte.

Das sanfte Madonnengesichtchen der zierlichen Claudia trübte sich. Der freudige Glanz in den großen schwarzen Augen erlosch.

»Fließend Wasser ...« sie sagte das so sehnsüchtig, als gälte es einem fernen Geliebten.

»Man könnte den Pensionspreis erhöhen ...« träumte die Mutter.

Und dann schwiegen beide und dachten über blitzende Wasserhähne und komfortable Waschbecken nach, in die sich zu jeder Tageszeit Ströme herrlich warmen Wassers ergossen.

»Es hilft nichts, wir müssen antik bleiben. Außerdem – fließend Wasser bekommt man jetzt in jedem Dorfgasthaus, aber ein Bett, das zweihundert Jahre alt ist? Das dürfte nicht jeder zu bieten haben.«

Mit dieser Feststellung war für Frau von Plön die unangenehme Auseinandersetzung mit den Errungenschaften dieses Jahrhunderts erledigt. Claudia nickte.

»Unsere Betten dürften einmalig sein.«

Es war jedoch ungewiß, ob sie das als einen besonderen Vorzug empfand.

Ihre Mutter runzelte die Brauen. Sie hatte ein sehr feines Ohr für alle Schwingungen einer Stimme.

»Übrigens, findest du es nicht sonderbar, daß Axel noch immer nicht da ist?« fragte sie, mit kühnem Schwung dem Gespräch eine Wendung gebend.

»Er wird wieder irgendwo herumschwärmen«, erwiderte Claudia unbekümmert.

»Wie gleichgültig du das sagst. Es ist wirklich kein Wunder, wenn er sich Zeit läßt. Etwas mehr Interesse könntest du wirklich aufbringen, Claudia. Mädchenhafte Zurückhaltung ist ja gut und schön – aber alles mit Maßen, mein Kind. Die Männer sind heute so schrecklich verwöhnt.«

»Findest du, Mam?«

Soviel Naivität erschien der Mama unbegreiflich.

»Claudia«, sagte sie kopfschüttelnd, »so dumm wirst du wohl nicht sein, um dir nicht selbst zu sagen, daß Axel ein sehr begehrter Mann ist. Er sieht gut aus, ist ein bekannter Schriftsteller, vermögend ... andere Mädchen wissen genau, weshalb sie ihm nachlaufen. Du solltest wirklich etwas klüger sein.«

»Ja, Mama«, sagte das Mädchen folgsam.

Diese Fügsamkeit gefiel Frau von Plön aber auch nicht.

»Deine Interesselosigkeit wird mich noch umbringen. Allmählich sollte dir unsere Misere auch auf die Nerven gehen. Ich habe noch dreihundert Mark. Kannst du mir verraten, wie ich damit den Beginn der Fremdensaison überstehen soll?«

Claudia machte ein bekümmertes Gesicht. Sie dachte angestrengt nach.

»Herr von Demin?« fragte sie schließlich hoffnungsvoll.

»Ach, der ...« meinte die Mutter wegwerfend. »Wir können uns ja nicht alles von ihm rausschleppen lassen. Außerdem ist er immer noch krank und obendrein sind seine Preise geradezu unverschämt. Für das Meißner Service hat er bestimmt das Dreifache bekommen.«

»Sagtest du nicht, daß der Kunsthändler persönlich herkommen will?«

»Er selbst nicht. Er schickt irgendeinen Vertreter. Der Mann dürfte nicht weniger geschäftstüchtig sein, als Herr von Demin.«

Unruhig ging Frau von Plön im Zimmer herum. Vor einer Vitrine verweilte sie dann.

Kunstvoll bemalte Gesichter Meißner Porzellanfiguren schienen ihr zuzulächeln.

Sie schüttelte energisch den Kopf. Nein, diese allerliebsten Dinger würde sie nicht hergeben, um keinen Preis.

Aber die Schachfiguren, dachte sie im Weitergehen und blieb vor einem kleinen Tisch stehen, dessen Tischplatte als Schachbrett dienen sollte. Sie klappte die Tischplatte hoch, ein Behältnis enthielt die zierlich aus Ebenholz und Elfenbein geschnitzten Schachfiguren.

Sie nahm einen Springer heraus und betrachtete ihn aufmerksam.

»Vor dreihundert Jahren haben deine Ahnen schon damit gespielt, mein Kind«, sagte sie versonnen und setzte in kühnem Gedankensprung hinzu: »Hoffentlich kommt dieser Vertreter bald.«

*

Frau von Plön hatte sich geirrt. Schon seit zwei Tagen war Alexander Hagedorn daheim.

Allerdings ließ er sich nirgends sehen und war spottschlechter Laune. Er hatte auch seinen Vater nur kurz begrüßt und sich bei ihm mit unbezähmbarer Arbeitslust entschuldigt. Dann hatte er sich bei der Wirtschafterin noch mit einem großen Korb Proviant versorgt und war weitergefahren.

In dem kleinen Sommerhäuschen unweit Meersburg, direkt am See gelegen, saß er nun und grübelte stundenlang. Von Arbeitseifer war nichts zu bemerken. Im Gegenteil, er fühlte sich unbarmherzig aus der besten Schöpferlaune herausgerissen.

Sein Roman, der so vielversprechend begonnen hatte, schien demselben Schicksal zu verfallen, wie viele großartige Anfänge dichterischen Schaffens – er würde auf ewig unvollendet bleiben.

Ohne Konflikte war ein Roman langweilig, aber ohne Heldin war er geradezu unmöglich.

Abends, wenn der Mond, dessen Sichel immer breiter wurde, am Himmel aufzog, dann kamen die schlimmen Stunden. Dann saß er auf der Bank vor seinem Häuschen und glaubte überall aus dem Dunkel blühender Büsche ein zärtliches Gesicht auftauchen zu sehen.

Dann glätteten sich die Wogen seines Zornes, übrig blieb nur die Frage, weshalb sie ihn so heimlich verlassen hatte. Wenn er ihr Verhalten am letzten Abend bedachte, diese hingebende Zärtlichkeit und ihre eigenartige Schwere, glaubte er, daß sie einen gewichtigen Grund gehabt haben müsse, der sie zwang, still und ohne Abschied aus seinem Leben wieder zu verschwinden.

Am dritten Tage hielt er es nicht mehr aus.

Er beschloß, sie zu suchen. So groß war ja das Bodenseegebiet nicht, als daß sie dort mit ihrem alten Auto hätte spurlos verschwinden können. Außerdem war da dieser Herr von Demin, dem sie ja vermutlich einen Brief überbringen sollte. Notfalls mußte er diesen unsympathischen alten Knaben einmal aufsuchen.

Als er sich in seinen Wagen setzte und losfuhr, dachte er mit einem Anflug von Galgenhumor: Der Roman bekommt einen kriminellen Einschlag. Immerhin – es wäre einmal etwas anderes.

Er war so gespannt auf die nächste Fortsetzung, daß er seinen Kummer darüber etwas vergaß und von einer Art Jagdfieber ergriffen wurde. Am Marktplatz in Überlingen parkte er.

Der Verkehrspolizist lachte ihm grüßend zu. Es gab wohl kaum einen Ort am Bodensee, an dem Alexander Hagedorn nicht bekannt war. Seine Landsleute waren stolz auf ihren Heimatschriftsteller, dessen Familie schon seit uralten Zeiten hier ansässig war und dessen Vater als Original galt.

Leutselig knüpfte Hagedorn ein Gespräch mit dem Hüter der Ordnung an.

Zunächst über das Wetter und dann über die Autofahrer, die genauso unabwendbar zur schöneren Jahreszeit zu gehören schienen, wie die Fliegen oder die Maikäfer im Schaltjahr.

Dann kamen die Autos dran und danach die einzelnen Typen. Da hatte er doch neulich einen DKW gesehen, uralt, von Verkehrssicherheit konnte bei dem Vehikel keine Rede mehr sein. Und dann die Fahrerin! Der Polizist spitzte die Ohren, sein Gesicht wurde dienstlich interessiert.

»Und Sie meinen, die Dame hatte keinen Führerschein, Herr Doktor?«

»Bestimmt nicht, Herr Wachtmeister. Sie hätten sehen sollen, wie sie gefahren ist, immer Zickzack, sie hat alle Verkehrsteilnehmer gefährdet«, entrüstete sich der Schriftsteller.

»War womöglich betrunken? Obwohl Damen ... aber man kann nie wissen. Sachen gibt's ...«

»Ja, die Menschheit wird immer schlechter«, nickte Hagedorn bekümmert, »aber betrunken schien sie mir nicht zu sein. Ich habe ihr ja ein paar passende Worte gesagt, als sie anhielt. Aber sie war unglaublich frech ...«

»Damit versuchend alle ...« Der Wachtmeister hatte seine Erfahrungen.

»Und als ich fragte, ob sie überhaupt einen Führerschein hat, da ...«

Hagedorn machte eine Kunstpause. Der Wachtmeister Kilian drängte: »Da?« fragte er aufs Äußerste gespannt.

»Da wurde sie rot!« spielte der andere seinen Trumpf aus.

Er hatte auch nicht die geringsten Gewissensbisse, denn war sie etwa nicht rot geworden?

»Hätten Sie sich doch nur die Kennzeichen des Wagens aufgeschrieben, Herr Doktor«, seufzte der Wachtmeister und sah schon eine ganze Unfallserie voraus und das womöglich in seinem Revier.

»Habe ich ja«, triumphierte der Schriftsteller und zog sein Notizbuch hervor.

Der Wachtmeister hatte ein noch viel dickeres Notizbuch zur Hand, das gehörte gewissermaßen zu seinem beruflichen Rüstzeug und dann notierte er.

»Also aus Hamburg ... na ja, was kann von denen da droben schon kommen?« meinte er verächtlich. In seinen Augen hörten die Menschen jenseits des Mains auf, anständige Leute zu sein.

»Verlassen Sie sich drauf, Herr Doktor, der Wagen geht mir nicht aus, wenn er vorbeikommt!« versicherte er pflichtbewußt.

»Ich hielt es für meine Pflicht, lieber Wachtmeister. Würde mich aber interessieren, ob meine Vermutung stimmt. Falls Sie etwas ermitteln, könnten Sie mich ja mal anrufen. Die Dame hat übrigens noch meinen Autoatlas ...«

»Ihren Autoatlas?« entrüstete sich der Wachtmeister. »Ist einfach damit durchgebrannt?«

»Das nicht gerade. Aber sie hatte nicht mal eine Karte und wußte nicht weiter. Da habe ich ihr den Weg gezeigt und vergaß ...«

»Die wird sich gefreut haben! Kennen wir. So ein Atlas ist nicht billig.«

Hagedorn hatte ihn zwar von einer Autofirma geschenkt bekommen, aber er widersprach nicht.

»Also Sie rufen mich an?«

»Darauf können Sie sich verlassen, Herr Doktor. Werde die Sache gleich durchgeben. Das Frauenzimmer haben wir bald.«

Hagedorn verabschiedete sich mit einem kräftigen Händedruck. Er wußte seine Sache jetzt in den besten Händen.

*

Einen mit vielfach geknoteten Bindfaden verschnürten Pappkarton in der Hand, verließ Ulrike Arnstein das alte, etwas mufflige Fachwerkhaus und schritt leichtbeschwingt über die Straße.

Sie hatte soeben ihr erstes Geschäft gemacht und glaubte, allen Grund zu haben, sich darüber zu freuen. Die prachtvollen alten Zinnkrüge hatte sie zu einem Spottpreis bekommen. Freudig erregt rechnete sie aus, wieviel sie wohl daran verdienen könne.

Sie bog um die Ecke und stutzte.

Neben ihrem Wagen standen zwei Polizisten, von denen der eine sich gerade niederbeugte, als wolle er die Bereifung prüfen. Das war im höchsten Grade beunruhigend, sie hatte sich noch nie darum gekümmert, ob ihre Pneus noch das vorschriftsmäßige Profil hatten.

Zögernd ging sie näher und schaute die beiden Beamten fragend an.

»Gehört Ihnen der Wagen, Fräulein?« erkundigte sich der eine.

Ulrike nickte und schloß die Tür auf.

Sie sah, wie die Augen der Männer mißtrauisch auf ihrem Paket ruhten. Sich zu einem Scherz zwingend fragte sie leichthin:

»Gefällt Ihnen mein Prachtstück?«

Nun hätten sie ja ruhig mal etwas freundlicher gucken können, dachte Ulrike ärgerlich, aber statt dessen verzogen sie keine Miene und der eine fragte ganz dienstlich:

»Darf ich mal die Papiere sehen?«

Er sagte »darf«, aber es war trotzdem zweifellos ein Befehl. Und so sträubte sich Ulrike auch nicht und kramte aus ihrem Handtäschchen die Wagenpapiere.

»Den Führerschein?«

Ulrike kramte wieder und brachte den Führerschein hervor. Er glänzte vor Neuheit.

Die Beamten studierten ihn sehr genau, dann reichten sie ihr die Papiere zurück.

»Darf ich fragen weshalb ...?« erkundigte sie sich eingeschüchtert.

»Es ist eine Beschwerde gegen Sie ergangen wegen Verkehrsgefährdung. Sie haben durch Zickzackfahren andere Verkehrsteilnehmer behindert. Der Herr, der Sie anzeigte, hatte Sie sogar im Verdacht, daß Sie überhaupt keinen Führerschein besäßen.«

»Aber das ist doch ganz unmöglich«, murmelte Ulrike völlig verstört.

Die Beamten, die schon etwas freundlicher geblickt hatten, machten wieder Dienstgesichter.

»Sie sollten nicht so tun, als ob Sie nichts davon wüßten, Fräulein, der Herr hat Sie ja selbst zur Rede gestellt. Sie müssen ihn doch schwer geärgert haben.«

... der Herr hat Sie ja selbst zur Rede gestellt? Es war ihr, als sei eben ein Blitz neben ihr niedergezischt, so grell übersah sie plötzlich den Zusammenhang.

Alexander Hagedorn hatte sie angezeigt! Ja, war denn so etwas überhaupt denkbar? So etwas ... Ulrike fand keine Bezeichnung, die kräftig genug gewesen wäre, um das auszudrücken, was sie in diesem Augenblick empfand.

Alexander ... so etwas konnte er tun?

Die Männer sahen ihr an, wie niedergeschmettert sie war und schienen etwas Mitleid zu verspüren.

»Lassen Sie sich das als Warnung dienen, Fräulein. Als Anfängerin müssen Sie besonders vorsichtig fahren.«

»Es war ja auch nur dieser eine Zwischenfall, nachher habe ich aufgepaßt«, versicherte sie bedrückt, »die Landschaft war so hübsch ...«

»Die Landschaft darf ein Fahrer überhaupt nicht sehen, nur die Straße«, wurde sie mit freundlichem Nachdruck belehrt, »also in Zukunft ...«

Erleichtert wollte sie ins Auto klettern, da sagte der eine schnell:

»Ach so ... da ist ja noch die Sache mit dem Autoatlas. Den können Sie uns ja gleich geben, damit wir ihn dem Eigentümer wieder zustellen können.«

»Was soll ich Ihnen geben?« fragte Ulrike erstaunt.

»Den Kartenatlas des Herrn ...«

Ulrike begriff nichts mehr. Verständnislos schaute sie die Polizisten an. Sie atmete erregt. Ihre Gedanken jagten sich. Mühsam zwang sie sich zur Ruhe.

»Ich weiß nicht, wie der Herr auf die Idee kommt, daß ich seinen Atlas haben könnte, ich habe das Ding überhaupt nicht gesehen. Da, hier ...« sie riß die Wagentür auf und kramte auf dem Rücksitz herum, einen Stoß Autokarten zum Vorschein bringend, »wenn Sie sich überzeugen wollen – ich habe selbst Karten genug, mehr als ich brauche! Aber ich werde mir jetzt überlegen, ob ich den Herrn nicht zur Anzeige bringe. Irreführung der Polizei, das gibt es doch, wie?«

Die Beamten machten ganz betroffene Gesichter. Aus der Sache sollte der Deubel klug werden.

»Na, nun beruhigen Sie sich man, Fräulein, wegen der Kleinigkeit ...« begütigte der Große. Ihm waren ernstliche Zweifel gekommen, ob der Herr Doktor Hagedorn sich nicht doch geirrt hatte. Schließlich war er ja ein Dichter und die waren manchmal ein bißchen zerstreut. Womöglich hatte er sogar die falschen Kennzeichen aufgeschrieben. Das war nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich, und deshalb konnte man doch dem Heimatdichter keine Scherereien machen. Sollte er sich lieber einen neuen Atlas kaufen ...

»Kann ich nun endlich weiterfahren?« mahnte Ulrike ungeduldig.

»Aber selbstverständlich, Fräulein. Entschuldigen Sie nur, daß wir Sie aufgehalten haben. Tut uns sehr leid, die ganze Geschichte ist wahrscheinlich nur eine Verwechslung, also nichts für ungut.« Das klang äußerst liebenswürdig.

Aus dem Polizeibeamten wurde ein Kavalier, der einer hübschen jungen Dame die Wagentür aufhielt.

Dankend nickte sie ihm zu.

»Wohin soll denn die Reise gehen?«

»Nach Überlingen.« Ulrike setzte sich zurecht.

»Ein hübsches Städtchen. Also dann gute Fahrt, Fräulein.«

*

Nachdem Ulrike das kleine Städtchen im Vorland des Bodensees verlassen hatte, überkam sie das dringende Bedürfnis, zunächst einmal ungestört nachzudenken.

Vorsichtig, um nicht wieder als verkehrsgefährdend verdächtigt zu werden, lenkte sie ›Seine Hoheit« von der Landstraße in einen Waldweg. Dort stellte sie den Motor ab und zündete sich eine Zigarette an, die das Nachdenken erleichtern sollte.

Voller Sehnsucht und inniger Liebe hatte sie in diesen Tagen immerfort an Alexander gedacht. Es hatte so weh getan zu wissen, daß er sie verachten würde, wüßte er, aus welchem Grunde sie in seine Heimat gekommen war.

Und nun hatte sie auch noch das Letzte verloren, den Glauben an Alexander Hagedorn! Ihre Liebe hatte ihm einen Altar gebaut, vor dem sie anbetend saß, und nun ...

Sie steigerte sich in einen beachtlichen Zorn und als sie nach einer geraumen Zeit glaubte, ihre Liebe mit allen Ehren begraben zu haben, setzte sie ihren Wagen wieder in Gang.

Die Brauen streng gerunzelt, die Lippen fest zusammengepreßt, die Augen voller Trauer, machte sie jedoch nicht den Eindruck, als habe sie soeben einen Sieg erfochten. Eigentlich sah sie sehr unglücklich aus.

*

Dr. Hagedorn legte den Hörer auf die Gabel und machte ein sehr zufriedenes Gesicht.

Wachtmeister Kilian hatte wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet. Aurikel war gefunden!

Das hatte ja großartig geklappt! Hagedorn begann vergnügt zu pfeifen. Sein Gekränktsein, der erste Zorn, alles war vorüber, zu deutlich sah er sie vor sich in all ihrer Not. Ihr Verhalten am letzten Abend – was war es anderes gewesen als herber Abschiedsschmerz?

Alexander Hagedorn hatte schon lange aufgehört zu pfeifen und schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. Beide Arme von sich streckend reckte er sich. Dann blickte er auf die Uhr und überlegte. Und schließlich ging er in sein Schlafzimmer und zog sich für eine Ausfahrt um. Er fuhr nach Überlingen und hielt schließlich vor einem der uralten Bürgerhäuser.

Als er an der Tür die Namensschilder las, erschien eine steile Falte zwischen seinen Augen. Von Demin, stand da auf einem Messingschild. Verdammt nochmal, wie kam sie in dieses Haus? Was hatte sie mit diesem Burschen zu schaffen?

Er erleichterte ihn nur wenig, daß sie bei einer anderen Familie angemeldet war.

Auf sein Klingeln schaute eine ältere Frau aus dem Fenster. Fräulein Arnstein sei vorhin kurz dagewesen und gerade vor zehn Minuten wieder fortgefahren. Wann sie zurückkäme, ließe sich leider nicht sagen, sie sei sehr viel unterwegs, lautete die Auskunft.

Hagedorn dankte und wandte sich verdrießlich ab. Unschlüssig blieb er einen Augenblick stehen.

Man muß es später noch einmal versuchen, beschloß er und einer Eingebung folgend, hielt er es für angebracht, inzwischen einen lange fälligen Besuch zu machen.

Er fuhr ein Stück in Richtung Meersburg zurück und steuerte dann auf ein Landhaus zu, das abseits vom Wege auf einer kleinen Anhöhe lag. Bei der sehr herzlichen Begrüßung regte sich sein Gewissen. Er hätte sich wirklich schon eher melden sollen.

»Ich habe mich gleich nach meiner Rückkehr in die Arbeit gestürzt«, log er überzeugend.

»Ich dachte es mir«, erwiderte Frau von Plön und begann schnell den Kaffeetisch zu decken.

Er sah ihr zu, wie sie mit anmutigen, gemessenen Bewegungen das alte Porzellan aus dem Schrank holte. Sie sah wieder ziemlich nervös und abgespannt aus. Ihre Situation war ja auch wirklich nicht beneidenswert. Onkel Siegbert hatte sie in einer ziemlich schwierigen Lage zurückgelassen.

Der fröhliche Maler hatte das Zeitliche in dem Augenblick verlassen, als es außer dem Haus nichts mehr zu verkaufen gab. Es war nur zu verständlich, daß Elisabeth diesen letzten Besitz mit allen Mitteln zu erhalten versuchte, aber dieser Kampf rieb sie auf.

Er nannte sie nur beim Vornamen, denn sie war kaum sieben Jahre älter als er. Wenn man die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Hagedorns und Plöns überhaupt noch als solche bezeichnen konnte – vor fast dreihundert Jahren hatten ein Freiherr von Plön einmal eine Tochter aus dem Hause Hagedorn geheiratet und seither war die Verwandtschaft nie wieder aufgefrischt worden – dann hätte Frau Elisabeth Anspruch auf die Anrede »Tante Elisabeth« gehabt. Aber als sie vor mehr als zwanzig Jahren Siegbert von Plön heiratete, war es ihr selbst sehr sonderbar vorgekommen, daß der schlaksige Pennäler ihr Neffe sein sollte.

Claudia kam mit der silbernen Kaffeekanne, der ein aromatischer Duft entströmte.

Claudias lebhaftes Geplauder lenkte ihn von seinen unbehaglichen Betrachtungen ab. Sie kam so selten mit anderen Menschen zusammen, daß sie die Gelegenheit genoß und munter drauflos schwatzte.

»Claudia, du läßt Axel ja nicht einmal Zeit zum Antworten«, mahnte die Mutter.

»Findest du, Axel? Was ich übrigens noch fragen wollte – könntest du dir gelegentlich mal mein Fahrrad angucken? Die Kette rutscht immer runter, und ...«

An der Tür hatte es geklopft. Die Putzfrau, die wegen der in den nächsten Tagen zu erwartenden Sommergäste angestellt war, meldete, daß ein Fräulein da sei und Frau von Plön zu sprechen wünsche.

»Ach richtig, ich hätte es jetzt fast vergessen ... bitte, entschuldigt mich einen Augenblick.«

Frau von Plön schritt schnell hinaus.

»Wie sieht es denn bei euch aus, Kleine? Kommt ihr einigermaßen zurecht?«

»Ach, frag nicht, Axel, es sieht mies aus. Das Haus bringt uns noch um. Wenn wir nur eine kleine Wohnung hätten, wäre es bestimmt leichter. Dann könnte ich eine Stellung annehmen, Mama vielleicht auch noch etwas tun, aber so? Ein Kampf gegen Windmühlenflügel.«

»Scheußlich. Aber es ist auch zu verstehen, daß deine Mutter das Haus nicht aufgeben will.«

»Natürlich verstehe ich das. Ich hänge ja selbst an dem alten Kasten. Es ließe sich ja auch vielleicht etwas daraus machen, wenn wir etwas Geld hätten, um wenigstens etwas neuzeitlichen Komfort einzubauen. Antik ist ja ganz schön und romantisch, aber mit einer Waschschüssel begnügt sich heute leider kein Mensch mehr.«

Die Augen in dem sanften Madonnengesichtchen starrten betrübt vor sich hin.

»Aber es müßte sich doch irgendwie machen lassen, daß deine Mutter das Haus etwas renoviert. Eine einmalige große Ausgabe – die sich aber bald rentieren würde.«

»Du hast eine Ahnung!« Claudia schüttelte den Kopf und machte ein altkluges Gesicht. »Eine einmalige große Ausgabe – Mutter hat nicht einmal Geld für die kleinen Ausgaben. Im Augenblick verschachert sie gerade das Schachspiel, das Wallenstein einem Urahnen schenkte, an einen Hamburger Kunsthändler.«

»Verdammt!« Hagedorn machte ein finsteres Gesicht. Er sprang auf und ging erregt im Zimmer auf und ab.

»So geht das doch nicht weiter – allmählich wird das ein Totalausverkauf! Wenn deine Mutter bloß vernünftig wäre und sich helfen ließe. Sie könnte das Geld ja zurückzahlen ...«

»Axel, kannst du einmal einen Augenblick kommen?«

Frau Elisabeth zog die Tür hinter sich zu und schaute ihn bittend an. »Ich möchte das alte Schachspiel verkaufen, aber wir werden nicht handelseinig. Die Vertreterin behauptet, nicht mehr als achthundert Mark zahlen zu können, ich möchte es aber unter tausend nicht hergeben. Du bist doch Experte ...«

»Elisabeth, muß das denn sein?« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Es muß sein«, beharrte Frau von Plön und ohne seine Antwort abzuwarten, schritt sie ihm voran.

Im Nebenzimmer stand eine junge Dame. Den Eintretenden den Rücken zukehrend, schaute sie zum Fenster hinaus. Als sie die Tür schließen hörte, drehte sie sich um.

»Ulrike!« Fassungslos starrte Hagedorn das Mädchen an.

Ihr Gesicht spiegelte das Entsetzen wider, das sie packte, als sie ihn so völlig unvorbereitet sah.

»Wahrhaftig, ich hätte auch nicht gedacht, Sie auf diese Art wiederzusehen. Vor allem hatte ich keine Ahnung von Ihren Geschäften.«

Eine dunkle Röte flutete über ihr Gesicht. Mehr noch als die Worte drückte sein Tonfall seine Verachtung aus. Bevor sie jedoch antworten konnte, wandte er sich der Hausherrin zu.

»Liebe Elisabeth, in dieses alte Schachspiel bin ich schon lange verliebt, ich habe nur nicht gewagt, dich zu bitten, es mir zu verkaufen. Aber nun habe ich wohl einen Anspruch auf das Vorkaufsrecht, nicht wahr! Ich denke, zwölfhundert ist es wert.«

»Ich weiß nicht, Axel ...« Frau von Plön war sichtlich verlegen, sie spürte, daß hier ein Kampf im Dunkeln ausgefochten wurde.

»Da gibt es doch nichts zu überlegen, Elisabeth ...« drängte der Mann.

»Der Preis ist ja auch zu hoch«, murmelte Elisabeth schwach.

»Als Liebhaberpreis keineswegs, gnädige Frau«, meinte Ulrike. »Ich konnte Ihnen nicht soviel bieten, denn schließlich will mein Auftraggeber ja auch noch daran verdienen und ich selbstverständlich auch.« Sie sah den Mann in herausforderndem Trotz an, »Sie sollten das Angebot akzeptieren.«

»Es tut mir sehr leid, Fräulein Arnstein. Nun haben Sie sich umsonst bemüht.«

»Dafür klappt es ein anderes Mal wieder«, tat Ulrike forsch. Sich mit liebenswürdigem Lächeln vor der Hausfrau leicht verneigend und Hagedorn flüchtig zunickend, schritt sie mit hoch erhobenem Kopf hinaus.

*

Völlig in sich zusammengesunken kauerte Ulrike auf ihrem Bett. Sie befand sich in einem Zustand völliger Verzweiflung. Unmöglich, einen zusammenhängenden, klaren Gedanken zu fassen.

In grellen Schlagzeilen, wie die Worte einer Lichtreklame, so sah sie die Ereignisse dieses Tages vor sich wieder auftauchen. Jedes für sich betrachtet, war nicht so schlimm.

Eine polizeiliche Kontrolle? Damit mußte jeder Kraftfahrer rechnen – auch einmal mit einer Anzeige. Ein mißglücktes Geschäft? Das passierte jedem Geschäftsmann beinahe täglich.

Das alles hätte sie nicht sehr erschüttert, erst der Zusammenhang gab den Geschehnissen das erdrückende Gewicht.

Ehe sie zu Frau von Plön fuhr, hatte es ihr noch einen schwachen Trost gewährt, ihre Liebe an einen Unwürdigen verschwendet zu haben, obwohl sie in ihrem Urteil nicht ganz sicher war. Seine Bücher und – auch er selbst, so, wie er sich ihr gegenüber in jenen Tagen gezeigt hatte – sprachen zu stark dagegen. Aber man mußte ja nicht unbedingt auf diese Stimmen hören, und sich das Vergessen unnötig schwer machen.

Jetzt aber war die Situation eine ganz andere. Jetzt würde er sie als eine Unwürdige bezeichnen. Er, der seine Heimat, ihre Kultur und die Kunst über alles liebte, wie sehr würde er jetzt ein Mädchen verachten, das mit seinen Heiligtümern Schacher trieb.

Was hatte es nun für einen Sinn gehabt, daß sie fluchtartig die Jugendherberge verließ, um aus seinem Gesichtskreis zu verschwinden?

Sie war wie erstarrt vor Schmerz. Keine Träne brachte ihr Erleichterung. Die Begegnung mit ihm unter diesen Umständen hatte wie ein Schock gewirkt. Nur ganz allmählich begannen ihre Gedanken wieder Richtung zu bekommen. Der erste Impuls war, die Flucht zu ergreifen. Sie überdachte diese Möglichkeit sehr genau. Aber nirgends zeigte sich ein Weg dazu. Sie hatte das Gefühl, in einem Käfig zu sein. Sie war die Gefangene ihres Vertrages mit dem Kunsthändler Henningsen und des elenden Geldes, das ihre Lieben daheim so dringend brauchten.

Sie konnte nicht einmal ihren Standort wechseln, denn sie war auf Herrn von Demin angewiesen. Er war ein Kunstkenner ersten Ranges, bei dem sie sich in Zweifelsfällen Rat holen konnte, außerdem besaß er alle jene Verbindungen, die sie brauchte, um erfolgreich zu sein.

Er hatte ja, bevor er krank wurde, jahrelang für Henningsen gearbeitet. Also aushalten, entschied sie und erhob sich schwerfällig. Ihr Blick kehrte in die Wirklichkeit zurück und entdeckte die Briefe, die auf dem Tisch lagen.

Ohne großes Interesse griff sie danach.

Ein Brief von der Mutter, einer aus Amerika, dann noch ein großer brauner Umschlag. Den öffnete sie zuerst.

Eine Anzahl von Briefen war der Inhalt, die sie, einen nach dem anderen, zu öffnen begann. Es waren Offerten, die auf ihr Inserat in einer Zeitung eingegangen waren. Sie alle enthielten Angebote.

Unwillkürlich wurde sie davon gefesselt und begann zu sichten.

Ein Gemälde – das kam nicht in Frage – Gemälde durfte sie nicht kaufen. Und der alte Küchenschrank hatte mit Kunst kaum was zu tun. Der Bauernschrank war interessant, ebenso die Barockkommode und selbstverständlich die beiden Silberleuchter.

Ulrike hatte in den wenigen Tagen schon gelernt, allein aus Schrift und Stil der Schreiber zu erkennen, ob sein Angebot der Beachtung wert war. Häufig wurde auch alter Hausrat zum Verkauf angeboten.

Sie zog eine Landkarte hervor und suchte nach den in den Briefen angegebenen Ortschaften. Dann holte sie ein paar andere Offerten hervor und begann ihre Fahrt für den nächsten Tag zu planen.

Ein Klopfen an der Tür schreckte sie auf.

In der Annahme, es sei ihre Wirtin, rief sie, ohne sich umzuwenden, »Herein«.

Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Dann blieb es still. Ulrike drehte sich um.

»Sie?« Entgeistert schaute sie den Eingetretenen an.

»Ja, ich. Mir ist, als hätten wir noch ein paar Worte miteinander zu reden.«

Sie erhob sich langsam.

»Ich wüßte nicht weshalb.«

Ihre Haltung strömte eisige Abwehr aus. Aber ihr Herz klopfte ungestüm. Noch immer liebte sie diesen Mann, Ulrike empfand es in diesem Augenblick, als er so streng und ernst vor ihr stand, die hellen Augen so durchdringend auf ihr ruhten, mit erschreckender Klarheit.

»So leicht möchte ich es dir doch nicht machen, Ulrike«, hörte sie ihn sagen, »du hast dich nicht gerade nett benommen.«

»Und finden Sie es etwa nett, mir die Polizei nachzuhetzen?« brauste sie auf.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Notwehr, mein Kind. Ich hatte das dringende Bedürfnis, dich zu sprechen.«

»Hatte ich Ihnen nicht deutlich genug gezeigt, daß ich Sie nicht mehr sehen will?«

»Und warum, Ulrike? Warum?« fragte er drängend.

Sie hätte es ihm sagen können, aber blinder Trotz hinderte sie, in diesem Augenblick zu sprechen. Und – hätte es denn einen Zweck gehabt? Von ihm zu ihr führte kein Weg, denn sie mußte ja das tun, was er so sehr verabscheute. Ihre Haltung versteifte sich. Nur jetzt nicht weich werden, dachte sie inbrünstig.

»Warum? Du lieber Himmel, einmal mußte ja die Sache ein Ende haben, nicht wahr? Schließlich bin ich nicht auf einer Vergnügungsfahrt, ich muß Geld verdienen, Herr Dr. Hagedorn!«

»Was in meinen Kräften steht soll geschehen, daß du nicht zuviel verdienst, mein Kind, darauf kannst du dich verlassen.«

Sie wich den hellen Augen, die in heftigem Zorn aufloderten, aus.

»Sie werden mich nicht hindern ...« rief sie zornig.

»Das wollen wir doch sehen!« rief er erbost.

Unwillkürlich machte sie eine Bewegung, als müsse sie die Briefe, die auf dem Tisch lagen, schützen.

Er legte seine Hand schwer auf die Papiere und warf einen prüfenden Blick darauf.

»Das ist eine Unverschämtheit ...« empörte sich Ulrike.

»Aber warum denn gleich so harte Worte?« kam es seelenruhig zurück. Seine Augen überflogen flüchtig die Briefe, ohne daß er sie richtig las. Er richtete sich wieder auf.

»Offenbar ganz ordentlich organisiert, wie? Und der gute Herr von Demin unterstützt dich wohl tatkräftig? Na, wir werden sehen ...«

»Raus! Bitte, gehen Sie, gehen Sie schnell!« Ulrike vermochte sich kaum noch zu beherrschen. Zu schnell war Hieb auf Hieb gewechselt worden, zu mächtig brannte in ihr ein verzweifelter Schmerz.

»Aber Ulrike – warum denn so unfreundlich? Auch gute Feinde können einander höflich begegnen.«

Seine Ironie war kaum zu ertragen. Zitternd stützte sie sich auf die Tischkante.

»So gehen Sie doch endlich!« rief sie heiser, voller Angst vor den Tränen, die sie kaum noch zurückhalten konnte.

Er war nicht minder erregt als sie. Liebe und Haß stritten in ihm miteinander.

»Ich gehe ja schon, aber erst ...«

Ehe sie begriff, was er beabsichtigte, hatte er sie in seine Arme gezogen und küßte sie. Kurz und fest, ihre Lippen schmerzten.

Ebenso plötzlich ließ er sie wieder los. Sie taumelte leicht. Aber er sah es nicht mehr. Er war mit schnellem Schritt hinausgestürmt.

Mit einem Satz war Ulrike an der Tür und drehte den Schlüssel um. Dann warf sie sich auf ihr Bett und weinte hemmungslos.

*

Ulrike erwachte mit schmerzendem Kopf und dem Gefühl, nur wenige Minuten geschlafen zu haben, so bleiern und schwer waren ihre Glieder. Mit trüben Augen starrte sie an die niedrige, rissige Decke und versuchte, sich an die Vorgänge des vergangenen Abends zu erinnern.

Von dem erregtem Wortwechsel war nur seine Drohung in ihrem Gedächtnis haften geblieben, die Drohung, daß er sie an ihrer Arbeit nach Kräften hindern wolle.

Aber das alles erschien ihr nicht einmal sehr wichtig, wichtig war nur eines gewesen, sein Kuß!

Dieser Kuß – eine Demütigung und – grenzenlose Seligkeit. Sie schämte sich vor sich selbst und konnte doch nicht leugnen, daß es sie über jedes Maß beglückt hatte, noch einmal, und war es auch noch so kurz, in seinen Armen gelegen zu haben, seinen Kuß zu spüren.

Mit jähem Ruck schleuderte sie die Steppdecke zur Seite und sprang aus dem Bett.

Nicht mehr daran denken! befahl sie sich selbst und begann sich zu waschen. Der Spiegel zeigte ihr ein blasses Gesicht mit dunkel umränderten Augen. Sie schnitt sich eine Grimasse und steckte den Kopf in die Waschschüssel, als könne das kalte Naß das Brennen hinter der Stirn löschen.

Während des Ankleidens fiel ihr Blick auf den Tisch. Dort lagen die Briefe von der Mutter und Hans noch immer ungeöffnet.

Ohne die Knöpfe der Bluse zu schließen, setzte sie sich und schlitzte die Briefe auf.

Die Mutter schrieb lieb wie immer und erzählte von daheim. Große Neuigkeiten gab es ja nie.

Was Hans schrieb, war wesentlich aufregender.

Noch einmal las sie sorgfältig Wort für Wort:

Liebe Ulrike!

 

Wenn Du diesen Brief erhältst, bin ich schon in Paris, wo ich mit dem Chef der Firma an einer Verhandlung teilnehmen soll. Die Sache kam ziemlich plötzlich, denn ich muß im letzten Augenblick für einen anderen Herrn, der erkrankt ist, einspringen.

Da ich im Augenblick vor schwerwiegenden Entscheidungen stehe, habe ich meinen Chef gebeten, daß ich im Anschluß an die Pariser Verhandlungen meinen Urlaub nehmen kann. Wurde genehmigt. Du kannst also damit rechnen, daß ich in den nächsten Tagen daheim aufkreuze. Habe viel mit Dir zu besprechen. Für heute nur soviel:

Man hat mir angeboten, den Vertrieb unserer Waren in Deutschland zu übernehmen. Die Sache müßte völlig neu aufgebaut werden und reizt mich sehr. Die finanziellen Aussichten sind glänzend. Andererseits habe ich aber auch hier eine sehr gute Position und weitere Aufstiegsmöglichkeiten. Wir müssen also überlegen, ob wir künftig in Deutschland oder in Amerika leben wollen. Ich fühle mich überall wohl und werde mich deshalb gern nach Deinen Wünschen richten.

Und dann wäre es wohl an der Zeit, über unsere Hochzeit zu sprechen. Suche schon immer Deine Papiere zusammen, altes Mädchen, ich finde, wir haben nun lange genug gewartet. Du wirst mich doch heiraten, wie?

 

Also bis bald, Ulrike.

 

Küsse auf Papier halte ich für zwecklos, ich gebe sie Dir lieber direkt.

 

Dein Hans

Dieser Brief war typisch für ihn. Frisch, sachlich und ohne Sentimentalität. Wahrscheinlich war er auch deshalb drüben so erfolgreich gewesen.

Sie sah ihn deutlich vor sich – groß, breit, das dunkle Haar etwas widerspenstig, wache graue Augen, aus denen Zuverlässigkeit und Tatkraft leuchteten und eine unbändige Lebensfreude. Schwierigkeiten schien es für ihn nicht zu geben, und wenn, dann überwand er sie mit lachendem Gesicht.

Für ihn war alles selbstverständlich, die Arbeit, der Erfolg und auch die Liebe. Probleme kannte er nicht. Er war von einer beneidenswerten Naivität.

Sie schüttelte den Kopf. Wie er sich das alles nur dachte?

Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit.

Der Krieg hatte ihn und seine Mutter in das selbe Dörfchen verschlagen, in dem auch sie lebte. Sie waren Kinder, als sie sich kennen lernten, wenn er auch vier Jahre älter war als sie. Die Not der Zeit ließ sie diesen Altersunterschied nie empfinden. Zusammen hatten sie dem Bauern bei der Kartoffelernte geholfen, hatten Rüben verzogen und alle möglichen Arbeiten verrichtet, um ihren Müttern, die ebenfalls kräftig zupackten, die Nahrungssorgen zu erleichtern.

Schon damals erwies sich Hans äußerst findig im Aufspüren neuer Möglichkeiten. »Wenn der Hans nicht wäre«, sagten die Mütter oft, die sich miteinander angefreundet hatten.

Und als er das Abitur gemacht hatte und das große Ereignis mit einem festlichen Ball gekrönt werden sollte, lud er kurzerhand seine kleine Freundin dazu ein.

»Aber ich kann doch noch gar nicht tanzen«, hatte die Sechzehnjährige abgewehrt.

»Nun sei so gut, dann lernst du es eben«, hatte er unerschütterlich gesagt.

»Das geht doch nicht so schnell, Hans. Bitte, lade ein anderes Mädchen ein ...«

»Quatsch. Was soll ich mit den Gänsen? Bei dir weiß ich, was ich habe. Und nun mach keine Geschichten, Rieke ...«

Er nannte sie mit Vorliebe Rieke. Und als sie noch immer jammerte, daß sie ja doch nicht tanzen könne, sagte er siegessicher:

»Wetten, daß du kannst?«

Dann hatte er das Radio angestellt und solange gesucht, bis er tatsächlich am Sonntagmorgen einen Sender fand, der Tanzmusik brachte. Ehe sie es bedacht, schwenkte er sie auch schon herum, kommandierte sehr energisch und nicht besonders höflich den Takt – und merkwürdig, es ging!

Ja – das war Hans.

Dann studierte er acht Semester Volkswirtschaft und als er sich stolz Diplom-Volkswirt nannte, erklärte er, nun sei es an der Zeit, sich ein bißchen in der Welt umzusehen. Amerika lockte ihn.

Sie hatten auch während seiner Studienjahre gute Freundschaft miteinander gehalten, aber mehr war es nie gewesen.

Als er kam, um sich vor der großen Reise zu verabschieden, machten sie noch einen langen Spaziergang durch die Felder, die gerade schüchtern zu grünen begannen.

In seiner lebhaften Art hatte er von seinen Zielen und Wünschen gesprochen. Sehr sachlich und gut durchdacht entwickelte er seine Pläne, und ebenso sachlich meinte er dann:

»Weißt du, Rieke, wenn ich es geschafft habe, sollten wir eigentlich heiraten, was meinst du dazu?«

Dieser Heiratsantrag war verblüffend.

Sie hatte eine ganze Menge gesagt und einzuwenden gehabt und vor allem wollte es ihr nicht in den Sinn, daß das Wörtchen Liebe bei diesem Heiratsantrag nicht einmal gefallen war.

Schüchtern wies sie ihn darauf hin. Und er – er lachte!

»Aber Mädchen, denkst du denn, ich würde dich heiraten, wenn ich dich nicht gern hätte?« hatte er lachend gerufen und ehe sie wußte, wie ihr geschah, hatte er sie kräftig abgeküßt.

Nun – Ulrike hatte inzwischen gelernt, Unterschiede zu machen. Sie wußte seit kurzem, daß zwischen freundschaftlicher Zuneigung und Liebe ein himmelweiter Unterschied klaffte, und daß auch Küsse sehr verschieden sein konnten.

Allein die Erinnerung an den letzten Kuß, den sie empfangen hatte, ließ es ihr unmöglich erscheinen, Hans Herwig zu heiraten, so sehr auch der wägende Verstand dazu riet.

Ulrike faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag.

Erst jetzt dachte sie daran, daß dieser Brief ihr ja von der Mutter nachgeschickt worden sei, Hans wußte ja noch gar nicht, daß sie nicht mehr daheim war.

Sie versuchte das Datum auf dem Poststempel zu erkennen und dann begann sie nachzurechnen.

Du lieber Himmel – es war ja stündlich damit zu rechnen, daß Hans womöglich hierher kam, denn daß er kommen würde, unterlag für sie keinem Zweifel. Hans war kein Mann, der sich lange besann und abwartete. Armer Hans, dachte sie betrübt, du wirst enttäuscht sein. Aber im gleichen Augenblick beruhigte sie sich selbst – Hans war ein Mensch, der seiner ganzen Veranlagung nach nicht lange unglücklich sein konnte. Sie erinnerte sich, wie er sich als Junge mit unerfüllten Wünschen abzufinden wußte. Im ersten Augenblick bockte er gewaltig, dann wurde er still und verzog sich in irgendeinen Winkel, und wenn er wieder zum Vorschein kam, konnte er lachend sagen: »Pech gehabt, aber wer weiß, wozu es gut ist?«

Wahrscheinlich würde er ähnliches sagen, wenn er seinen Heiratsplan scheitern sah.

Alle Briefe sorgfältig verschließend – Zimmerwirtinnen sind manchmal neugierig – wandte Ulrike ihre Gedanken näherliegenden Dingen zu – ihrem Geschäft.


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