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2. Kapitel

Ulrike war ein tapferes und sehr unternehmungslustiges Mädchen, aber als sie nach stürmischem Abschied am anderen Morgen die große Fahrt gen Süden begann, zog sie es vor, die Weltstadt Hamburg in großem Bogen zu umfahren. Dem lebhaften Verkehr dort fühlte sie sich doch noch nicht ganz gewachsen.

Als sie in die Einfahrt zur Autobahn einbog, machte ihr Herz ein paar erschrockene Sprünge, aber als sie dann plötzlich auf der Autobahn dahinfuhr, erfaßte sie ein riesiger Stolz. Sie fühlte sich plötzlich als perfekte Fahrerin und genoß dieses erhebende Gefühl gründlich. Allerdings war sie auch eine sehr langsame Fahrerin. Sie hatte es sich zum Grundsatz gemacht, weder sich noch ihren betagten Wagen zu überanstrengen und sich für ein Tempo von höchstens 70 km entschieden. Das hatte jedoch unleugbar einen großen Nachteil.

Es war nicht sehr angenehm, wenn man dauernd überholt wurde und die schnittigen Personenwagen sowie die schwerfälligen Laster ständig mit scharfem Zischen an ihr vorüberflitzten.

Immerfort hatte sie dieses scheußliche Dröhnen und Sausen in den Ohren und zuckte oft schreckhaft zusammen.

Also das hatte sie sich doch entschieden netter vorgestellt. Man hält sich brav rechts und fährt sein ruhiges Tempo und ließ die anderen machen, was sie wollen, hatte sie gedacht.

Es war ja nun auch genau so – aber es war und blieb peinlich, daß alle anderen so unerhört schnell waren. Nicht ein bißchen gemütlich war es mehr. Sie hätte nie gedacht, daß soviel Autos hinter ihr herkommen würden. Da – jetzt wieder solch ein dicker Laster mit schwerbeladenem Anhänger.

Ulrike atmete auf, als das Ungeheuer vorbei war. »Idiot«, sagte sie laut und fühlte sich etwas erleichtert.

Sie hatte sich schon eine ganze Anzahl derartiger Erleichterungen auf der kurzen Fahrtstrecke verschafft und fand, daß es einem vernünftigen Autofahrer – und sie zweifelte nicht daran, daß sie vernünftig war – wirklich schwer gemacht wurde, ein höflicher Mensch zu bleiben. Außerdem hörte ja niemand, was sie in ihren vier Autowänden sagte, und warum sollte man sich auch nicht, wenn auch einseitig, mit den Vorüberfahrenden ein wenig unterhalten.

Munter schimpfend und räsonierend erkämpfte sie einen Kilometer nach dem anderen.

Sehnsüchtig spähte sie nach einer Ausfahrt, und atmete erleichtert auf, als sie sich wieder auf einer ruhigeren Straße befand.

Neben der Fahrbahn stoppte sie den Wagen. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich nach dem erregenden Erlebnis Autobahn etwas auszuruhen. Behaglich zurückgelehnt und eine Zigarette rauchend, kam ihr die Welt wieder schöner und friedlicher vor.

Dann zog sie die Landkarte hervor und begann ihre Reiseroute zu ändern. Es war ihr klar, daß sie als Anfängerin nun besser auf ruhigen Nebenstraßen bleiben würde, auch wenn sie dadurch mehr Zeit brauchte, um ihr Ziel zu erreichen.

Sie tröstete sich damit, daß sie auf diese Art viel mehr von der Landschaft und den Städten, die sie durchfahren mußte, sehen würde.

Am Nachmittag erreichte sie das Weserbergland mit seinen sanften Höhenzügen. Ein zarter grüner Schleier breitete sich über die Wälder, warm schien die Sonne vom klarblauen Himmel.

Eine stille Fröhlichkeit erfaßte sie.

Auf einer engen, sich vielfach windenden Straße fuhr sie dahin, mehr auf die schöne Landschaft, als auf die Fahrbahn achtend. An besonders schönen Stellen verlangsamte sie ihr geruhsames Tempo noch mehr und schließlich hielt sie an einem Waldrand.

Es war ja so schön hier, da konnte man nicht einfach vorüberfahren. Und ein paar grüne Zweige wollte sie für die Autovase pflücken und das Wasser dafür aus der Weser schöpfen.

Aber – kaum hatte sie den Wagen gestoppt, als plötzlich neben ihr Bremsen knirschten.

»Zum Teufel nochmal, wollen Sie sich denn durchaus umbringen und andere Leute mit?« rief eine zornige Männerstimme.

Erschrocken starrte sie den Mann an, der jetzt gleichfalls ausgestiegen war und sie ärgerlich musterte.

»Aber ich denke ja gar nicht daran, mich oder andere Leute umzubringen«, empörte sie sich mit der Miene eines Menschen, der sich zu Unrecht angegriffen sieht.

Der Fremde betrachtete sie einen Augenblick schweigend, dann schüttete er den Kopf und erkundigte sich übertrieben freundlich:

»Kennen Sie eigentlich den Paragraphen eins der Straßenverkehrsordnung?«

»Selbstverständlich!«

»Dann sollten Sie sich eigentlich auch etwas danach richten ...«

»Aber erlauben Sie ...« verwahrte sich Ully.

»Ich hoffe, Sie wollen nicht behaupten, daß Sie sich an dieses oberste Gebot aller Kraftfahrer gehalten haben. Sie trotteln im Zuckeltrapp durch die Gegend, mal langsam, mal schnell, fahren immer hübsch in der Mitte, damit Sie auch ja niemand überholen kann, und die es riskierten, setzten dabei Kopf und Kragen aufs Spiel. Über eine halbe Stunde versuchte ich an Ihnen vorbeizukommen ... Der Rückspiegel ist bei Ihnen wohl nur ein Toilettengegenstand, wie?«

»Das ist ... das ist ...« stotterte Ulrike wütend und verlegen zugleich. Leider überwog die Verlegenheit, es war ihr klar, daß der Fremde sicher im Recht war, und deshalb konnte sie ihrem Zorn auch nicht freien Lauf lassen, wie sie es so gern getan hätte.

Er schien zu bemerken, was in ihr vorging. Seine Augen blickten weniger streng, ein amüsiertes Lächeln konnte er nur schlecht verbergen. Ulrike sah es nicht, sie blickte an ihm vorbei und erging sich in heftigen Vorwürfen gegen sich selbst und diesen unverschämten Fremden, der sie ja etwas höflicher auf ihren Fehler hätte aufmerksam machen können.

Und da sagte er auch schon:

»Entschuldigen Sie meine Schroffheit, ich hatte mich wirklich schauderhaft über Sie geärgert. Ich weiß nicht, wie oft ich zum Überholen angesetzt habe, habe Sie auch durch lautes Hupen aufmerksam gemacht, aber Sie sahen und hörten nichts. Dicht auffahren konnte ich auch nicht, weil Sie Ihr Tempo ständig änderten, also ...«

»Ich muß um Entschuldigung bitten«, raffte sie sich auf und sah ihn offen an, »ich habe tatsächlich zuviel auf die Landschaft geachtet. Es tut mir leid, Sie aufgehalten zu haben.«

»Es ist nicht so schlimm, ich habe es nicht so eilig. Aber es geht auch um Ihre Sicherheit dabei.«

»Ich muß mich erst daran gewöhnen.« Sie schwieg erschrocken. Wozu sollte sie sagen, daß sie gerade erst die Fahrprüfung abgelegt hatte. Aber er hatte schon verstanden.

»Aha – Sie sind noch Anfängerin, wie? Vermutlich die erste größere Fahrt?«

Sie sah ein, daß es keinen Zweck hatte zu leugnen.

»Darf ich fragen, wieweit Sie fahren?« erkundigte sich der junge Mann höflich.

»Zum Bodensee«, erwiderte Ully gehorsam.

»Allmächtiger!« rief er verblüfft und trat einen Schritt zurück. Erst musterte er sie ganz kurz und dann, sehr lange und sehr ausdrucksvoll, ihr Auto.

»Ja ... hm ...« meinte er dann und versuchte ernst auszusehen, »wollen Sie mit dem Fahrzeug zum ...«

»Jawohl, mit dem Fahrzeug«, nickte sie würdig und fand allmählich ihr Selbstbewußtsein wieder.

»Ja, da bin ich wirklich gespannt ...« er strich ein paarmal mit der Hand über sein Kinn und ging kopfschüttelnd um den braven DKW herum. »Er war ja mal sehr leistungsfähig ...«

»Er ist es noch!« erklärte sie mit Nachdruck und warf einen feindlichen Blick auf den modernen, rahmfarbenen Wagen mit dem schwarzen Klappverdeck, neben dem der ihre wirklich recht merkwürdig aussah.

»Nicht jeder Wagen kann neu sein«, bemerkte er, ihren Blick richtig deutend, »aber eine gewisse Jugendlichkeit sollte er schon noch haben, finden Sie nicht auch? Mit der Eisenbahn wären Sie wahrscheinlich schnellet am Ziel und: kämen auch bestimmt an ...«

»Ich werde auch so hinkommen ...« bemerkte sie trotzig.

»Möglich wäre es ...« grinste der junge Mann.

»Und wenn nicht, dann sollte es doch Ihre Sorge nicht sein!« Ulrike spürte, wie sie allmählich in Siedehitze kam. Was ging diesen Mann ihr Auto an?

Ein unsympathischer Kerl, der alles besser wissen wollte, dachte sie erbost. Dabei sah er nicht einmal unsympathisch aus, im Gegenteil, unerhört gut sah er aus. Groß, breitschultrig. Ein gut geschnittenes, charaktervolles Gesicht mit sehr klar blickenden, hellen Augen. Der Himmel mochte wissen, wie er es um diese Jahreszeit fertig brachte, so braun auszusehen, flog es ihr blitzschnell durch den Kopf.

»Ja – es geht mich ja eigentlich nichts an, wann und wie Sie zum Bodensee kommen, aber es ist gewissermaßen ein Gebot der Nächstenliebe, dem Mitmenschen stets das Beste zu wünschen, nicht wahr? Und ich wünsche wirklich, daß Sie eine recht gute Fahrt haben werden. Wie weit wollen Sie denn heute noch kommen?« schloß er unvermittelt.

»Bis Hameln«, erwiderte sie prompt und ärgerte sich sogleich, ihm diese Auskunft gegeben zu haben.

»Kennen Sie Hameln?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Eine schöne alte Stadt. Es lohnt sich, dort ein wenig Umschau zu halten. Wundervolle Renaissancebauten und schöne alte Fachwerkhäuser.«

Aufmerksam lauschte sie ihm, der sehr fesselnd zu erzählen wußte. Die Geschichte der Stadt entrollte er in wenigen Zügen, dann die Sage vom Rattenfänger ...

»... haben Sie schon ein Hotel?« fragte er, unvermittelt abbrechend. Und wieder antwortete sie, ohne auch nur nachzudenken:

»Nein. Ich gehe in die Jugendherberge.«

Und wieder ärgerte sie sich, ihm Auskunft gegeben zu haben. Deshalb fügte sie schnell hinzu:

»Ich muß nun weiterfahren, sonst wird es dunkel, bevor ich nach Hameln komme. Gute Fahrt.«

Ihm mit knapper Höflichkeit zunickend, setzte sie sich wieder ans Steuer und ließ den Motor an.

Verdutzt schaute er ihr zu, diese eilige Verabschiedung kam ihm überraschend. Aber dann lachte er und winkte ihr mit beiden Händen zu: »Auf Wiedersehen!« rief er ihr nach.

Das ist nicht zu befürchten, dachte Ulrike zufrieden. Und als er laut hupend wenig später an ihr vorbeibrauste, meinte sie, daß nunmehr jede Gefahr, ihn wiedersehen zu müssen, gebannt sei. Außerdem hätte er sich nun auch nicht mehr über ihre Fahrweise beklagen müssen, sie fuhr ganz vorschriftsmäßig rechts und gestattete sich auch nicht die geringsten Seitensprünge.

»Hoheit«, sagte sie zärtlich zu ihrem Wagen – die Brüder hatten ihn so getauft, und obwohl das eine ausgemachte Bosheit war, hatte sie es dabei gelassen – »Hoheit, alle wollen uns beide auslachen, aber wir werden ihnen zeigen, was wir können, nicht wahr?«

*

Dr. Alexander Hagedorn mußte sich eingestehen, daß er nicht so flott und zügig fuhr wie sonst.

Es war jedoch keineswegs die hübsche Landschaft, die ihn ablenkte, sondern ein uraltes Auto und – wenn er ganz ehrlich sein wollte, eine reizende junge Dame.

Er sah sie vor sich, wie sie ihn zornsprühend mit dunklen Augen anfunkelte, und wie diese Augen plötzlich in einem sanften Grün schimmerten, als er ihr von der alten Rattenfängerstadt erzählte. In mattem Braun umgab leicht gewelltes Haar ein sehr ausdrucksvolles Gesicht, und er glaubte, selten eine so biegsame, gertenschlanke Figur gesehen zu haben.

Ein hübscher Karl, faßte er sein Urteil zusammen und dachte weiter, daß es ihn doch sehr interessiere, ob sie mit der alten Kiste wirklich die weite Strecke bewältigen würde.

Alexander Hagedorn war Schriftsteller und hatte schon einige beachtliche Erfolge gehabt. Seine Romane, die von feinem Humor durchsonnt waren und liebenswürdig und verständnisvoll zugleich die Menschen mit ihren Vorzügen und Schwächen schilderten, hatten schnell eine große Lesergemeinde gefunden.

Zur Zeit war er gewissermaßen arbeitslos. Sein letztes Manuskript war im Druck. Er hatte die schöpferische Pause zu einem Besuch bei Freunden in Dänemark benutzt, und war jetzt auf der Heimfahrt nach Meersburg.

Nach einem neuen Romanstoff suchend, wollte es ihm jetzt wie ein Wink des Himmels erscheinen, daß diese bezaubernde junge Dame, deren Bekanntschaft er auf so eigenartige Weise gemacht hatte, ausgerechnet dasselbe Reiseziel hatte wie er, oder doch beinahe dasselbe. Wenn er es recht bedachte, war das kleine Intermezzo auf der Landstraße geeignet, Anfang eines Romans zu sein.

Seine Phantasie begann sich zu regen. Er versuchte das Wesen des fremden Mädchens zu erfassen und sie in einen bestimmten Lebenskreis einzuordnen. Die Jugendherberge und das klapprige Auto sprachen dafür, daß sie arm war, aber ihr Auftreten war das einer jungen Dame aus guter Familie.

Also Hameln, dachte er vergnügt und fühlte sich sonderbar erleichtert. Der Gedanke, nach vielen Jahren wieder einmal in einer Jugendherberge zu übernachten, ergötzte ihn. Und schließlich dachte er amüsiert, daß er sich über die Fortsetzung seines Romans zunächst keine Gedanken machen müsse. Das nächste Kapitel würde in der Jugendherberge spielen und was weiter geschah, bliebe abzuwarten. – –

In der Jugendherberge machte der Herbergsvater zwar anfangs einige Schwierigkeiten, als der elegante Mann, den man ja nicht gut als Jugendlichen bezeichnen konnte, um Aufnahme bat, aber dem Schriftsteller, der zu Studienzwecken hier übernachten und das Leben und Treiben in der Herberge kennen lernen wollte, konnte man das Asylrecht ja nicht gut verwehren, zumal er auch noch ein nettes Sümmchen für das Jugendherbergswerk stiftete.

*

»Also bis Hameln haben Sie es tatsächlich geschafft. Gratuliere.«

Ulrike Arnstein fuhr auf und starrte verdutzt in das lachende Männergesicht. Kraftlos entfiel ihrer Hand der Löffel. Es gab ein leises Klirren und dann einige Suppenspritzer.

»Sie sollten nicht so schreckhaft sein. Autofahrer brauchen stählerne Nerven.«

»Und Sie sollten Menschen, die ihre Ruhe haben wollen, nicht immer stören«, gab sie patzig zurück.

Ulrike hatte ihre Sicherheit wiedergefunden, machte ein hochmütiges Gesicht und hatte vor Zorn wieder ganz dunkle Augen.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, tat er zerknirscht und setzte sich, als müsse es so sein, auf den freien Stuhl neben ihr und fuhr mit einer Stimme, die verständnisvoll klingen sollte, in der aber doch heimlich ein Lachen schwang, fort:

»Finden Sie nicht, daß eine Jugendherberge für Menschen, die ruhebedürftig sind, nicht der geeignete Ort ist? Junge Menschen sind meist sehr geräuschvoll, hören Sie nur ...«

»Mich stören keine Geräusche, sondern nur ein gewisser Menschentyp.«

»Aha, ich verstehe. Manche Leute können einem wirklich auf die Nerven fallen. Aber was man hier so sieht – die Jungen und Mädel scheinen doch alle sehr nett zu sein.«

»Die Jungen und Mädel – ja«, sagte sie und warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Dann fischte sie den Löffel aus der Suppe, wischte ihn mit einem Tempotaschentuch ab und begann zu essen, ohne weiter von dem Mann Notiz zu nehmen.

»Gesegnete Mahlzeit«, sagte er betont freundlich und begann gleichfalls zu löffeln.

Sie murmelte etwas Undeutliches. Vielleicht war es ein Segenswunsch, es konnte aber auch das Gegenteil sein. Auf jeden Fall hielt er einen höflichen Dank für angebracht und glaubte, nunmehr ein munteres Tischgespräch eröffnen zu dürfen.

»Haben Sie sich schon ein wenig in der Stadt umgesehen?«

Sie antwortete mit einem Kopfschütteln.

»Nun, es ist ja bis acht Uhr hell, nach dem Essen können Sie noch einen Rundgang machen, es lohnt sich wirklich. Als ich die Stadt sah, lockte sie mich so unwiderstehlich, ein wenig zu verweilen, daß ich beschloß, hierzubleiben. Ich konnte einfach nicht vorbeifahren.«

»Und die Jugendherberge lockte Sie auch unwiderstehlich, nicht wahr?« warf sie erbost ein.

Er lachte.

»Ja – die ganz besonders. Sie ahnen nicht, wie reizvoll sie für mich ist.«

»Ich verstehe, ältere Menschen ergehen sich gern in Jugenderinnerungen.«

Sie begleitete diesen Hieb mit einem harmlosen Lächeln, wich aber schnell seinem Blick aus, der ihr deutlicher als seine Worte verriet, was er an einer Jugendherberge so reizvoll fand.

Wieder lachte er leise.

»Ihr Verständnis rührt mich, man findet das so selten bei jungen Menschen. Ich bin überzeugt, daß Sie die Einzige hier sind, die mein Alter respektiert und mich versteht. Für wie alt halten Sie mich eigentlich?« fragte er unvermittelt.

Ulrike errötete. Sie spürte, daß sie mit diesem Mann nicht fertig wurde.

»Keine Ahnung«, erwiderte sie und erhob sich brüsk, sich mit einem Neigen des Kopfes verabschiedend.

Aber sie hatte seine Hartnäckigkeit unterschätzt.

Er stand gleichfalls auf und verließ mit ihr den Speisesaal.

In der Halle blieb er stehen. Unwillkürlich verhielt auch sie den Schritt.

»Wollen wir nicht die Kampfhandlungen einstellen?« fragte er wieder mit jener Plötzlichkeit, die sie immer aus der Fassung brachte.

»Ich weiß gar nicht, was Sie wollen«, sagte sie unsicher.

»Das ist ja auch gar nicht nötig, das weiß man oft selbst nicht genau. Aber im Augenblick würde es mich freuen, wenn ich mich etwas friedlicher mit Ihnen unterhalten könnte, dürfte ... ganz wie Sie wollen.

Ich habe nämlich hier Quartier gemacht, weil ich Sie so gern noch einmal sehen wollte. Ich dachte es mir so schön, Ihnen die Stadt zu zeigen, mit Ihnen einen Bummel durch alle die alten, romantischen Straßen und Winkel zu machen. Deshalb blieb ich hier.«

Seine Ehrlichkeit war entwaffnend, und ebenso bezwangen sie seine Augen, die jetzt ernst und fragend auf ihr ruhten.

Es war nicht möglich, seine Offenheit mit Spott oder Hochmut zu beantworten.

Aber ebenso wenig erschien es ihr möglich, mit einem wildfremden Mann, der ein so offensichtliches Interesse für sie zeigte, herumzulaufen. Straßenbekanntschaft – schoß es ihr durch den Kopf. War er etwa was anderes?

»Wanderkameraden, man geht ein Stückchen miteinander und dann ...«

Sie lauschte seinen Worten nach. Ihr Gesicht entspannte sich. Ein freies Lächeln leuchtete auf, dann sagte sie sehr sicher und unbefangen: »Ich glaube, unter Ihrer Führung werde ich mehr sehen und lernen, als wenn ich allein ginge.«

»Etwas Schöneres konnten Sie nicht sagen«, gab er voller Wärme zurück und legte seine Hand leicht auf ihren Arm. Da wurde sie wieder unsicher, aber sie zeigte es nicht.

Er hat etwas Faszinierendes, man muß sich vor ihm hüten, dachte sie, aber morgen, morgen ist es ja vorbei.

Einträchtig schritten sie nebeneinander, dahin. Und wie vorhin auf der Landstraße, lauschte sie ihm auch jetzt voller Interesse. Sie bereute es nicht, sich seiner Führung anvertraut zu haben. Heimlich bewunderte sie sein umfangreiches Wissen.

Unwillkürlich wurde auch sie gesprächiger. Beim Betrachten des Museums, des Hochzeitshauses und all der wundervollen Renaissancebauten begannen sie lebhaft Vergleiche mit anderen Bauten und Kunstrichtungen anzustellen.

Sie ahnte nicht, wie sehr ihn auch ihr Verständnis überraschte und erfreute.

»Sie studieren Kunstgeschichte?« fragte er plötzlich.

»Nein. Ich mußte nach zwei Semestern aufgeben. Aber Sie ...«

»Ja. Kunstgeschichte, Literatur«, nickte er und setzte lächelnd hinzu, »ich muß es gespürt haben, daß uns die gleichen Interessen verbinden.«

»Diese Behauptung erscheint mir etwas gewagt. Wenn ich mich recht erinnere, unterhielten wir uns über die Kunst des Autofahrens.«

»Und dann hörten Sie sehr nett zu, als ich Ihnen die Schönheiten Hamelns pries.«

Da mußte auch sie lachen.

Langsam senkte sich die Dämmerung über die alte Stadt. Noch zauberhafter wurden die winkeligen Straßen. Schmal, in blassem Silber zeichnete sich die Sichel des Mondes vom Himmel ab.

»Als Ausklang eines schönen Tages ein Gläschen Wein, wäre das nicht schön?« fragte er behutsam.

»Ja«, erwiderte sie ohne Zögern und wunderte sich sogleich über sich selbst.

Wie war es nur möglich, daß sie jetzt auch noch die Einladung eines Fremden annahm?

Irgend etwas hinderte sie, darüber nachzudenken. Was bedeutete es schon, ein Gläschen Wein zu trinken mit einem Mann, den sie zwar noch vor wenigen Stunden nicht gekannt hatte, von dem sie aber doch schon sehr viel wußte. Sein Beruf sagte mehr über ihn aus als irgendein Name.

Still beobachtete sie ihn, während er sorgfältig die Weinkarte studierte. Ein leises Bedauern überkam sie, als sie bedachte, daß sich morgen ihre Wege wieder trennen würden. Und als ihre Gedanken zurückglitten zum Beginn dieses Tages, erschrak sie – sie hatte das Gefühl, als sei sie schon lange Zeit von daheim fort.

Seine Stimme riß sie aus ihrer Versunkenheit, Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß der Ober den Wein schon gebracht hatte.

Ihr sein Glas entgegenhaltend, sagte er mit großer Herzlichkeit: »Auf eine glückselige, frohe Fahrt ...«

Hell klangen die Gläser aneinander.

»Darf ich nicht Ihren Namen wissen?« fragte der Mann dann artig.

»Nein«, antwortete sie schroff.

»Warum nicht? Ich könnte ihn in der Herberge erfahren, aber es ist hübscher, wenn Sie selbst ihn mir sagen.«

»Ich ... ich ... nennen Sie mich Ulrike«, sagte sie scheu und blickte ihn fragend an.

»Ulrike ... ich glaube, dieser Name paßt zu Ihnen, er ist so hübsch altmodisch und dennoch ...« er fuhr sich leicht mit der Hand über die schön gewölbte Stirn.

»Ich heiße Alexander Hagedorn ...« stellte er sich dann mit einer leichten Verbeugung vor.

»Sie sind der Schriftsteller ...?« unterbrach sie ihn hastig.

»Ja. Sie haben schon etwas von mir gelesen?« fragte er erfreut.

»Ich glaube, alles, was bisher erschienen ist«, gestand sie.

»Demnach haben Ihnen meine Bücher gefallen?«

»Wer würde sie nicht gern lesen?« erwiderte sie schlicht und ahnte nicht, wie sehr er sich freute, daß sie sich nicht in hochtönenden Phrasen erging.

Sie saß ganz still und schaute versonnen vor sich hin. In ihr war ein großes Staunen.

Sie hatte sich den Mann, der mit so überlegenem, feinsinnigem Humor und so packend zu erzählen verstand, viel älter vorgestellt. Hagedorn konnte aber höchstens Mitte Dreißig sein.

»Wie glücklich müssen Sie sein. Ihre Bücher machen so froh, geben soviel Heiterkeit und Frieden«, sagte sie nach längerem Schweigen.

»Bisher war ich glücklich. Ob ich es bleibe? Ich glaube, das werde ich erst wissen, wenn mein nächstes Buch fertig ist. Ich hoffe, daß Sie es auch ein frohes Buch nennen werden, Ulrike«, erwiderte er nachdenklich.

Und als sie ihn verständnislos anschaute glitt ein Lächeln über sein Gesicht, das sie sich nicht zu deuten wußte.

»Lassen Sie uns anstoßen – auf das frohe Buch«, sagte er verhalten. Seine Augen ließen sie nicht los, während sie einander zutranken.

Ulrike fühlte sich von einer seltsamen Schwerelosigkeit erfaßt.

Das macht der Wein, dachte sie, nur der Wein.

Wenig später warf er einen erschrockenen Blick auf die Uhr.

»Ulrike, jetzt müssen wir einen Dauerlauf machen; sonst kommen wir nicht mehr in die Jugendherberge.«

»Ach, du lieber Himmel!«

Sie sprang auf und zog schnell ihre Kostümjacke an, während er zahlte, und dann liefen sie wirklich Hand in Hand, wie zwei Kinder, durch die still gewordenen Straßen.

*

Wie ein paar gute Kameraden saßen sie am nächsten Morgen zusammen an dem langen Tisch im Speisesaal.

Hagedorn schnitt eine Grimasse, als er den Kaffee probierte.

»Man lebt hier sehr gesund«, lachte er.

»Das macht ja die Ruhe so reizvoll«, neckte sie.

»Spottdrossel. Aber, wenn mich der Kaffee auch nicht reizt, schaden wird er bestimmt nicht. Er schmeckt so sanft, sicher ist er sehr beruhigend.«

»Für Autofahrer ein ganz besonderer Vorzug. Sie regen sich dann nicht so schnell über ihre Mitmenschen auf.«

»Wenn Sie damit auf gestern anspielen wollen – ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um mich über Sie aufzuregen«, setzte er sich zur Wehr, »bis wohin fahren Sie heute?«

»Bis Würzburg.«

Sie biß sich auf die Lippen. Wieder war sie auf seine schnelle Frage, die so gänzlich unerwartet kam, hereingefallen. Er hätte Diplomat oder Kriminalist werden sollen, dachte sie ärgerlich.

»So, Würzburg. Nun, vielleicht sehe ich Sie dort noch einmal«, sagte er nicht sonderlich interessiert. Fast fühlte sie sich gekränkt.

»Das ist sehr unwahrscheinlich«, erwiderte sie etwas kühl, »Sie werden viel früher dasein als ich.«

»Ach ja, Ihr Bomber. Ich hatte ihn ganz vergessen. Ulrike, Sie haben wirklich Courage. Am liebsten ließe ich Sie gar nicht mit dem alten Vehikel fahren.«

»Der Wagen ist tadellos, auch wenn er nicht mehr sehr schön aussieht«, verteidigte sie ihr Fahrzeug. »Aber nun wird es Zeit, an die Abreise zu denken.«

Nachdem sie alle Formalitäten erledigt hatten, verließen sie gemeinsam die Herberge. Ulrike hatte in einer Nebenstraße geparkt.

Hagedorn begleitete sie bis zu ihrem Wagen.

Ehrlich besorgt schaute er zu, wie sie einstieg und dann die Tür mit einem Lederriemen verankerte.

Beinahe trotzig blickte sie ihn dabei an.

»Verdammte Kiste«, brummte er, »ich sehe Sie damit noch nicht am Bodensee. Sie sollten mit diesem Wagen ...«

»Jetzt aber schleunigst abfahren, nicht wahr? Wenn ich überall so bummele, schaffe ich es wirklich nicht. Auf Wiedersehen, Herr Hagedorn, und herzlichen Dank für die Führung.«

Sie ließ den Motor an und streckte ihm die Hand entgegen.

»Auf Wiedersehen, Ulrike. Und sollte ich Sie unterwegs nicht mehr treffen, ich wohne in Meersburg. Rufen Sie mich bitte an, ja.«

Er drückte ihre Hand so fest, daß es ihr wehe tat.

Noch einmal winkte sie ihm zu, dann fuhr sie davon.

*

Immer schöner wurde das Land.

Ulrike saß ganz verzaubert am Steuer und glaubte, dem Frühling direkt in die Arme zu fahren. Wie karg war es droben im Norden noch gewesen, die Schneeglöckchen hatten erst schüchtern zu blühen begonnen, und hier, im Süden, begann der Lenz schon all seinen Blütenreichtum zu entfalten.

Sie hatte Mühe, ihre Aufmerksamkeit auf das Fahren zu konzentrieren und hatte fast völlig vergessen, daß sie ja nicht zu ihrem Vergnügen, sondern in festem Auftrag diese Reise unternommen hatte.

Hinzu kam, daß eine merkwürdige Spannung sie beherrschte. Immer, wenn sie im Rückspiegel einen hellen Wagen hinter sich auftauchen sah, glaubte sie, es müsse Alexander Hagedorn sein.

Das war natürlich Unsinn.

Plötzlich gab es einen heftigen Ruck. Ein paar kräftige, unregelmäßige Stöße – der Wagen stand.

Ulrike war vor Schreck ganz blaß geworden.

Ganz langsam nur lösten sich ihre verkrampften Hände vom Steuerrad, und nur allmählich konnte sie nachdenken, was nun eigentlich geschehen war.

Irgend etwas stimmte nicht, das war klar. Aber was?

Der Benzintank war frisch gefüllt, was also?

Sie versuchte, den Motor wieder in Gang zu setzen. Er ächzte und stöhnte, aber das war auch alles. Und dieser Motor war doch das Beste am ganzen Wagen. Weil sie immer hörte, daß er erstaunlich unverwüstlich sei, hatte sie dieses alte Vehikel doch gekauft.

Sie fühlte sich plötzlich, sehr hilflos und blickte traurig den Wagen nach, die so sicher und schnell an ihr vorbeiflitzten.

Was tat ein Kraftfahrer in solch einer Situation? überlegte sie niedergeschlagen und dann entschloß sie sich, durch Winken eines der vorüberkommenden Autos anzuhalten.

Einige kümmerten sich nicht darum, aber ein älterer Herr stoppte seine Fahrt.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte er freundlich.

»Ich weiß nicht, ich glaube, ich habe eine Panne. Der Wagen blieb plötzlich stehen«, bekannte Ulrike recht hilflos.

»Vielleicht haben Sie kein Benzin mehr?«

»Doch, der Tank ist voll.«

Der Herr stieg aus und betrachtete sinnend den Wagen.

Dann setzte er sich ans Steuer und versuchte den Motor anzulassen.

Der stöhnte und brummte unwillig wie zuvor.

Zündkerzen und Keilriemen wurden untersucht, dann meinte der Herr sachlich:

»Sie werden ihn abschleppen lassen müssen. Ein ziemlich altes Modell, hoffentlich läßt sich noch etwas machen.«

»Das ist ja furchtbar.« Ulrike sah alle ihre Pläne ins Wasser fallen. Am liebsten hätte sie geheult.

»Vielleicht ist es nicht so schlimm. Dieser alte DKW hat ja einen unverwüstlichen Motor«, versuchte er zu trösten.

»Nicht wahr«, sagte sie eifrig und hoffnungsvoll, »der Motor ist gut. Deshalb habe ich ihn ja auch gekauft. Sicher ist es nur eine Kleinigkeit.«

Ein mitleidiger Blick streifte sie.

»Sicher«, bekräftigte der Herr. »Ich werde in der nächsten Ortschaft telefonieren, daß man Ihnen den Abschleppdienst schickt. Sie müssen nur etwas Geduld haben.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar ...«

»Eine Kleinigkeit«, wehrte der Herr ab, und machte sich startbereit. »Hoffentlich geht alles in Ordnung. Und weiterhin – gute Fahrt.«

Freundlich grüßend fuhr er davon.

Erleichtert blickte Ulrike ihm nach. Bald würde Hilfe kommen und sicher war es nur eine winzige Kleinigkeit. Der Motor war ja sooo gut. Aber freilich, Geld würde es kosten, allein das Abschleppen würde nicht billig sein, dachte sie sorgenvoll.

Und dann mußte sie wirklich sehr geduldig sein. Mehr als zwei Stunden dauerte es, bis sie erlöst wurde.

Am Schleppseil hängend, sah ›Seine Hoheit« recht kümmerlich aus. Ulrike mußte sich eingestehen, daß er ganz den Eindruck machte, als sollte er zum Schrottplatz gebracht werden.

Sie setzte sich auch nicht sehr gern in den Wagen, um das Steuer zu übernehmen. Ihren Einzug in Würzburg hatte sie sich etwas erfreulicher vorgestellt.

Weder rechts noch links Ausschau haltend, rollte sie durch die Stadt. Sie sah nicht, daß an einer Kreuzung ein heller Wagen auf das Lichtsignal wartete und daß dessen Fahrer ein sehr verblüfftes Gesicht machte.

Aus ihrem dumpfen Sinnen wurde sie erst aufgerüttelt, als die Reparaturwerkstatt erreicht war.

Sie fühlte sich wie gerädert, als sie ausstieg.

»Ulrike, was haben Sie angestellt?«

Schier entsetzt wandte sie sich um, als sie diese Stimme hörte. Mußte ausgerechnet jetzt Hagedorn auftauchen?

»Nichts. Eine kleine Panne«, sagte sie obenhin, als sei das wirklich eine ganz alltägliche Sache, abgeschleppt zu werden.

»Sagte ich es nicht? Dem Ding ist nicht mehr zu trauen ...«

»Das könnte Ihnen auch passieren.«

»Gewiß. Aber nach der Wahrscheinlichkeitsberechnung ...«

»Ach, hören Sie doch auf mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen, Autos sind unberechenbar«, unterbrach sie ihn nervös und drehte sich um.

Ein paar Monteure waren herbeigeeilt und machten sich an dem invaliden Wagen zu schaffen.

Gespannt verfolgte sie jeden Griff, jedes Wort.

Sie sah sehr blaß und abgespannt aus. Es war, als warte sie auf ihr Todesurteil, und wirklich hing ja von dem Urteil, das die Männer im blauen Anzug fällen würden, ungeheuer viel ab. Das Schicksal einer kleinen Familie.

Hagedorn warf einen besorgten Blick auf die Reglose. Ihm schien, als messe sie dieser Panne zuviel Bedeutung bei.

Er trat zu den Monteuren und sprach leise mit ihnen.

Ulrike verstand nichts von dem, was die Männer miteinander sprachen, da deren Köpfe von der aufgeklappten Motorhaube verdeckt wurden. Langsam trat sie näher.

»... zwei Tage höchstens«, hörte sie einen Monteur sagen.

»Was ist?«

»Halb so schlimm«, Hagedorn wandte sich ihr zu, »Sie haben Glück. Die Sache läßt sich in Ordnung bringen. Allerdings dauert es zwei Tage, da die Ersatzteile nicht am Lager sind, man muß sie erst schicken lassen.«

»Zwei Tage?« Ulrike war maßlos enttäuscht. Aber dann fühlte sie sich doch merklich erleichtert. Man durfte nicht undankbar sein. Eben hatte sie ja noch befürchtet, daß es nichts mehr zu reparieren geben würde. Plötzlich überzog ein spitzbübisches Lächeln ihr Gesicht.

»Sagte ich nicht, daß mein Wagen unverwüstlich ist?«

Hagedorn lachte schallend auf, auch die Monteure grinsten.

»Sie sind unverwüstlich, Ulrike, das ist es.«

»Das außerdem«, meinte sie heiter.

»Und nun schlage ich vor, daß wir auf diesen Schreck, erst einmal eine Tasse Kaffee trinken.«

»Gibt es hier auch eine Jugendherberge?« neckte sie.

»Selbstverständlich. Aber um diese Zeit gibt es dort leider keinen Kaffee ...«

Vergnügt setzte sie sich neben ihn, und stellte fest, daß sein Wagen wundervoll gefedert war. Man saß darin, wie in einem bequemen Sessel. Aber sie hätte das um keinen Preis offen zugegeben.

»Schadenfreude ist doch die reinste«, meinte er, während er gedankenvoll in seiner Tasse rührte.

»Wieso?«

»Weil es nichts gibt, was mich im Augenblick mehr freuen konnte, als Ihre Panne. So habe ich doch das Vergnügen, mit Ihnen noch zwei Tage durch das schöne Frankenland zu fahren.«

»Sie sagen das so sicher, als hätte ich schon zugestimmt. Aber das ist durchaus nicht der Fall, wenn ich mich recht erinnere.«

»Aber Sie werden es tun, nicht wahr? Was wollen Sie hier sonst anfangen?«

»Haben Sie wirklich nichts Wichtigeres vor, Herr Hagedorn? Ich dachte, Sie müßten manchmal auch arbeiten?«

»Zuweilen schon. Aber manchmal arbeitet die Zeit für mich. Im Augenblick bestimmt«, gab er schmunzelnd zurück und dachte, daß ihm heute wieder ein neues Kapitel seines Romans zugefallen war, und die nächsten Tage würden auch mancherlei bringen, um Seite auf Seite zu füllen.

»Zwar dunkel ist mir Eurer Rede Sinn«, zitierte sie lachend, »aber wenn Sie es sagen, wird es schon stimmen. Ich habe noch nie in die Werkstatt eines Dichters geguckt.«

»Manchmal ist man mitten drin, ohne es zu wissen«, meinte er bedeutungsvoll.

»Wie geheimnisvoll ...!« spöttelte sie gutmütig. »Aber nun möchte ich doch erst einmal losziehen, um mir ein Dach für diese Nacht zu sichern.«

Er nickte zustimmend.

»Ja. Es würde mir sehr leid tun, müßte ich morgen auf meinen Juhe–Kaffee verzichten.«

»Sie wollen auch wieder ...« Mit großen Augen sah sie ihn an.

»Natürlich. Sie wissen doch, ältere Menschen lieben es, Jugenderinnerungen aufzufrischen.«

»Bei Ihrem guten Gedächtnis wäre das doch gar nicht nötig. Sie scheinen nichts zu vergessen.«

Hagedorn grinste und deutete eine Verbeugung an.

»Das ist in diesem Fall auch nicht gut möglich. Ich wurde erst gestern darauf aufmerksam gemacht, daß ich der älteren Generation, die von Erinnerungen zehrt, angehöre. Ich habe das noch nicht ganz überwunden.«

»Wie tragisch«, meinte Ulrike mit komischem Bedauern.

»Ja. Besonders, da es mir von einer jungen Dame gesagt wurde.«

Das klang so ernst, daß sie ihn unsicher ansah. Sollte sie ihn wirklich gekränkt haben?

»Das war doch Unsinn, Sie sind doch nicht alt«, sagte sie schnell.

In seinen Augen leuchtete es auf.

»Wissen Sie, daß Sie sehr reizend sind, Ulrike? Natürlich habe ich Ihre Worte nicht ernst genommen, aber es ist sehr lieb, daß Sie so schnell bereit sind, gutzumachen.«

Errötend wich sie seinen Augen aus.

»Wir müssen gehen«, versuchte sie abzulenken. – –

Heute nahmen sie das Abendessen nicht in der Herberge ein. Hagedorn hatte vorgeschlagen, zunächst einen Stadtbummel zu machen und dann in einer der gemütlichen Weinstuben zu essen.

Ulrike hatte mit Schrecken an ihren schmalen Geldbeutel gedacht, brachte es jedoch, nicht fertig zu widersprechen. –

Diese Tage hatten etwas Schwebendes. Es war, als durchtanze sie das Leben plötzlich im Walzertakt. Es war unmöglich an Sorgen zu denken, der Alltag schien irgendwo versunken zu sein.

Gegenwärtig war ein Mann, den sie kaum kannte und der ihr doch sonderbar vertraut war und das Wunder einer Landschaft, von der sie oft geträumt, die sie aber nie zuvor gesehen hatte.

Sie standen auf der Mainbrücke und schauten hinunter auf den geruhsam dahinziehenden Fluß, und hinüber zur Residenz. Im Westen versank hinter den Weinbergen die Sonne im goldenen Meer des abendlichen Himmels. Nepomuk, der Brückenheilige, schien dem jungen Mädchen aus dem Norden freundlich zuzunicken.

Als die Dunkelheit hereinbrach, gingen sie in ein Spital, wie die Würzburger Weinstuben heißen.

Ulrike bestellte sich ein einfaches Essen, das sie auch selbst bezahlte. Hagedorn fügte sich taktvoll und ließ sich auch nur ein bescheidenes Gericht kommen. Aber zum Frankenwein lud er seine Begleiterin ein.

»Jeder Wein schmeckt dort am besten, wo er gewachsen ist«, erklärte er, als er den Bocksbeuteler eingoß.

»Und wo kein Wein wächst?« wollte Ulrike wissen.

»O je, die Menschen sind arm dran. Sie wissen nichts vom Wein, gell?« Mit großen Augen hörte Ulrike zu, als er ihr vom Leben und Treiben der Menschen in den süddeutschen Weinbaugebieten erzählte. Von den Besenwirtschaften, wo man den jungen Wein trank, der so schnell ins Blut ging, vom Kaiserstühler und Württemberger, vom Frankenwein und dem roten Meersburger, von Winzern und Kellermeistern plauderte er, flocht manche Anekdote ein und ließ so eine ganz neue Welt vor ihr erstehen. Nun glaubte sie auch zu wissen, weshalb seine Bücher so heiter und beschwingt waren, woher sein Wissen um die Geheimnisse des Daseins und die Herzen der Menschen kam.

»Weingeister – dem Trinker ein Feind, wem sie freundlich geneigt sein sollen, der muß sie zu würdigen verstehen«, schloß er versonnen lächelnd. Und als tränke er einem unsichtbarem Freunde zu, erhob er sein Glas und tat einen tiefen Zug.

*

Alexander Hagedorn hatte nicht mehr gefragt, ob Ulrike die Zeit des Wartens mit ihm verbringen wollte. Es schien ihm völlig selbstverständlich zu sein.

Ulrike wagte nicht den geringsten Einspruch, als er am nächsten Morgen das Tagesprogramm entrollte.

Ihr Herz klopfte schneller vor Freude, als sie hörte, daß er über die Romantische Straße bis Rothenburg ob der Tauber fahren wollte. Fröhlich wie ein Kind saß sie neben ihm im Wagen und blickte mit großen Augen umher.

»Wie schön, daß ich heute nicht fahren muß«, sagte sie vergnügt.

»Vor allem gesünder«, meinte er trocken.

»Wieso?«

»Weil Sie es wahrscheinlich nicht fertig brächten, an all den Herrlichkeiten vorüberzufahren ohne hinzugucken und wahrscheinlich im Straßengraben landen würden.«

»Sie sind schrecklich. Aber es ist wahr – man kann einfach nicht ungerührt vorbeiflitzen. Es würde mir sehr schwer fallen«, gab sie offen zu.

»Deshalb ist es gut, daß Sie nun Gelegenheit haben, Ihren Schönheitssinn etwas abzuhärten«, meinte er lachend und legte, als sie protestierend auffuhr, seine Hand leicht auf die ihre.

In Creglingen und Rothenburg ob der Tauber, vor den Altären Tilman Riemenschneiders aber wurde sie ganz still. Voll tiefster Andacht waren ihre Augen auf die Wunderwerke menschlicher Frömmigkeit und künstlerischer Schöpferfreude gerichtet.

»Das ist schön«, sagte sie nur und dankte ihm mit einem Blick. Sie ahnte nicht, wie nahe sie seinem Herzen rückte. In ihm war eine große, tiefe Freude. Noch nie war ihm ein Mädchen begegnet, das ihr glich.

Alles an ihr war Bewegung und Farbe, heitere Lebensbejahung und sinniger Ernst. Es reizte ihn, alle Rätsel dieser Mädchenseele zu ergründen.

Glaubte er eben noch, sie mit einer gotischen Madonna vergleichen zu können, sah er sie im nächsten Augenblick schon im weiten Reifrock mit gepuderter Perücke, und kurz darauf war sie mit allen Fasern das moderne junge Mädchen dieser Zeit. – –

Auf der Rückfahrt hielten sie in einem verträumten Dörfchen kurze Rast. Die alte Kirche hatte es Ulrike so angetan, daß sie ihn bat, zu halten. Langsam schlenderten sie durch das Dorf. Alle die kleinen Gärten prangten im schönsten Frühlingsschmuck.

Bewundernd blickten sie über den Zaun des Pfarrgartens. Er war der schönste von allen.

Um die Hausecke kam gerade der Pfarrer. Als er die Fremden sah, neigte er freundlich den Kopf.

»Grüß Gott.«

Hagedorn und Ulrike grüßten zurück.

»Wir bewundern Ihren Garten, Hochwürden. Er ist ein richtiges Frühlingslied«, sagte Hagedorn.

»Ja, das ist er. Ich bin selbst überrascht, wie prächtig heuer alles blüht.«

Er war näher gekommen und warf dem Paar einen prüfenden Blick zu. »Vielleicht mag sich das Fräulein ein paar Blumen pflücken?« fragte er liebenswürdig.

»Oh«, das war alles, was Ulrike hervorbrachte. Sie machte Augen wie ein beschenktes Kind.

Der Pfarrer und Hagedorn lächelten einander verstohlen zu.

Einladend öffnete der Pfarrer die Tür.

Mit freundlicher Geste lud der alte Herr das Mädchen ein, sich einen Strauß zu pflücken.

Die lustig bunten Aurikeln lockten sie. Sie paßten auch so gut in die kleine Autovase.

Lächelnd schauten ihr die Herren zu.

»Aurikeln ... Ulrike?« lachte Hagedorn.

»Ein drolliges Wortspiel«, meinte der Pfarrer heiter, »aber wollen Sie sich nicht einen richtigen großen Strauß pflücken?«

»Wir sind reisende Leute, Hochwürden, es wäre schade um die Blumen. Das kleine Sträußchen hier genügt. Es ist doch ganz reizend, nicht wahr?«

Prüfend hielt sie es ein wenig hoch.

»Ganz reizend«, bestätigte Hagedorn mit leuchtenden Augen und der alte Herr schmunzelte und nickte zustimmend.

Dann bedankten sie sich und verabschiedeten sich von Hochwürden.

»Es ist wie ein Traum ... wenn ich an mein Leben daheim denke ...« versonnen schritt Ulrike neben Hagedorn über die Dorfstraße.

»Es ist kein Traum – es ist waches, wirkliches Leben, Ulrike«, erwiderte Hagedorn weich.

Sie fuhr sich, als müsse sie sich besinnen, mit der Hand über die Stirn.

»Ach – ich weiß es nicht. Ich finde mich gar nicht mehr zurecht. Mir ist, als segelte ich auf einer Wolke – einer dicken, weichen Wolke. Nirgends ist Widerstand, nirgends Härte ... alles geht wie von selbst ... das gibt es doch gar nicht wirklich!« rief sie plötzlich heftig.

»Doch, das gibt es, Ulrike«, nickte er ernst, »zu einer ganz bestimmten Zeit, aus einem ganz gewissen Grunde gibt es das.«

»Und was wäre der Grund?« Fragend schaute sie ihn an.

Unter seinem Blick wurde sie glühend rot. Es war, als habe sie sich verbrannt, so schnell wandte sie ihre Augen ab.

»Fragen Sie Ihr Herz – vielleicht gibt es Antwort«, sagte er verhalten.

Ach – ihr Herz klopfte ganz unvernünftig, das konnte wohl die Antwort nicht sein, dachte sie erregt und begann schneller zu gehen. Eine Schar Gänse stellte sich ihnen in den Weg.

»Kluge Gänse – sie wollen Ihnen beweisen, daß man vor sich selbst nicht davonlaufen kann.« Hagedorn lachte leise.

»Gräßliche Gänse ...« Ulrike schüttelte ihre Befangenheit ab, »sehen Sie doch, sie schnappen nach meinen Blumen.«

In lachender Abwehr hielt sie den Strauß hoch, eingekreist von der schnatternden, flügelschlagenden Schar.

»Pscht ... wollt ihr wohl ...« Hagedorn verscheuchte die Aufdringlichen, die empört randalierend auseinanderstoben.

Ulrike schaute ihnen lachend und dankbar nach – dieses krakeelende weiße Federvieh war doch gerade im rechten Augenblick gekommen, und hatte jäh ein Gespräch beendet, das sie beunruhigte.

Vor der geöffneten Wagentür stehenbleibend, schaute Hagedorn sie mit listigem Augenzwinkern an, es schien, als habe er ihre Gedanken erraten.

Schnell griff sie nach der kleinen Vase.

»Wo bekommen wir Wasser her? Es wäre schade, wenn sie verwelkten ...« sagte sie ablenkend.

Er hob lauschend den Kopf.

»Mir scheint, hier rauscht es irgendwo ...« und ein paar Schritte vorgehend, wo die Straße in scharfem Knick abbog, rief er: »natürlich rauscht es. Hier ist mehr Wasser, als Sie brauchen.«

Sie folgte ihm und schöpfte aus dem Bächlein, das kristallklar dahinplätscherte, Wasser.

Während sie die Vase im Wagen wieder befestigte, sagte er heiter: »Jetzt weiß ich, wie ich Sie nennen werde – Aurikel – es klingt so nett und paßt zu Ihnen.«

»Unsinn. Ich möchte nur wissen, auf welchen Unfug Sie noch kommen werden«, wehrte sie etwas ruppig ab. Insgeheim freute sie sich jedoch über den hübschen Einfall. Es klang wirklich sehr nett und mochte es auch nicht zu ihr passen – so paßte es immerhin in die Stimmung dieser Tage. – –

Am Abend, als sie im Bett lag, versuchte sie sich Rechenschaft abzulegen. Sie hatte das Gefühl, es tun zu müssen, wollte sie nicht in der dicken Wolke, die ihr Denken einnebelte, untergehen.

Es läßt sich nicht leugnen, dachte sie beklommen, ich bin rettungslos verliebt. Ich glaube, ich liebe ihn sogar richtig. Er ist wundervoll ... er ist ...

Sie richtete sich vorsichtig im Bett auf, um nicht in seligen Träumen einzuschlafen und besser nachdenken zu können.

Was mit mir los ist, weiß ich, überlegte sie weiter, aber was ist mit ihm?

Ja, das war eine Frage, die sich einfach nicht lösen ließ. Zwar schien es ziemlich sicher zu sein, daß auch er – nun ja, ein wenig verliebt war, aber ...

Es war das große Aber, das alle Mädchen beschäftigt, wenn sie spüren, daß ein Mann sich für sie interessiert und sie selbst keineswegs abgeneigt sind, selbst auch ...

Ja, wenn man das nur immer vorher genau wüßte – sucht er nur ein Spiel, oder ist es ihm ernst?

Ulrike dachte lange und angestrengt nach.

Sie neigte bestimmt nicht zu Minderwertigkeitskomplexen, aber es erschien ihr doch reichlich unsicher, daß der nicht unbedeutende Schriftsteller sich ihr in ernsthafter, ehrbarer Absicht näherte.

Es war durchaus nicht so, daß sie ihm etwas Unehrenhaftes zutraute – aber einem kleinen Flirt war er sicher nicht abgeneigt. Dazu erschien er ihr manchmal zu heiter und unbekümmert. Wer weiß, wie oft er auf seinen Reisen schon ein Mädchen bezaubert hatte, ganz sicher war sie nicht die erste. Und wahrscheinlich bin ich auch nicht die letzte, dachte sie und das tat ein bißchen weh und machte sie traurig. Es ist doch sehr schade, und vielleicht liebt er dich wirklich, Ulrike, sagte eine leise Stimme. Es war ihr Herz, das so gern glauben wollte.

Mach keine Dummheiten, mahnte der Verstand, Künstler lieben den Wechsel, wovon sollte er sonst zum Beispiel schreiben. Immer von derselben Frau? Unmöglich!

Es gab eine sehr aufregende Debatte zwischen Herz und Verstand, aber so heftig das Herzchen auch klopfen mochte, es blieb in diesem Streit unterlegen. Mit all seiner heißen Liebe vermochte es den eiskalten Verstand nicht aufzutauen.

Und trotz der Tränen, die jetzt so leicht und reichlich flössen, sah sie sein Bild vor sich und ... schlief selig ein.


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