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Ein großer, offener Wagen kam langsam über den Ring daher und hielt vor der Buchhandlung. Ein Mann, der weder Kopfbedeckung noch Mantel trug, stieg aus und ging in den Laden hinein. Um sein Automobil, das weitgereist aussah, versammelten sich Kinder und auch mehrere erwachsene Personen.
Es trug eine amerikanische Nummer und daneben noch eine englische. Es war ein starkgebauter, sicherlich teurer Wagen, aber recht achtlos gehalten. Seine Kotflügel waren an mehreren Stellen eingebeult und die dunkelgraue Lackierung vielfach zerkratzt. Man hatte die rückwärtigen Sitze entfernt, und den freigewordenen Raum nahm ein abenteuerliches Durcheinander von Reisebedarf ein. Zwei große, ganz gleiche Reisetaschen waren zu sehen, ihr schönes russischgrünes Leder fleckig, eingerissen und durch Reste von Hotelklebemarken entstellt. Aus einer Leinwandumhüllung lugte die Tastatur einer Schreibmaschine hervor. Es gab eine riesige Thermosflasche, zwei andere Flaschen in Strohgeflecht, Mütze, Hut, Mantel, Kamelhaardecke, Bücher – mit Riemen zusammengeschnürt und einzeln herumliegend –, Zeitungen, Zeitschriften, Landkarten, Broschüren. Das Ganze wirkte anheimelnd verwahrlost, so als hätte jemand lange in diesem Wagen gewohnt.
Drinnen in der Buchhandlung streifte der Reisende unschlüssig an den Regalen entlang. Er blätterte dann in einem großen Atlas von Polen, der auf einem der Tische lag, kreuzte zur andern Seite hinüber und nahm hier seine Wanderung wieder auf. Es war früher Nachmittag. Außer Józef Sußmann, der wie gewöhnlich im Hintergrunde las, war nur Elisabeth im Laden.
Nach einer Weile trat sie an den Fremden heran. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte sie. Sie sprach aus einem Taktinstinkt Polnisch, obgleich sie sicher war, nicht verstanden zu werden.
Der Mann sah auf, vielmehr er blickte hinunter zu ihr, denn er war außergewöhnlich groß, und errötete. Er errötete so, wie Elisabeth nie einen Menschen hatte erröten sehen: zwei Feuer schlugen ihm rechts und links in die Stirne hinauf, und seine Augen – bemerkenswerte Augen, grüngraublau, mit einem starken dunklen Ring um die Iris – verwölkten sich. Er brauchte ziemlich lang, um zu antworten.
»Sprechen Sie vielleicht Deutsch«, sagte er endlich, und handhabte seinerseits dabei dies Idiom auf geradezu parodistisch angelsächsische Art. Elisabeth nickte. Nun denn, erklärte der Kunde erleichtert, was er suche, sei Literatur über diese Provinz hier, ihre Bewohner, Ökonomie, Erziehungsverhältnisse, Religion, was immer es sei. Aber es gebe sicherlich nichts, fügte er gleich selbst verdrossen hinzu, natürlich gebe es nichts. Jeder Mensch, absolut jeder, verfasse ja Bücher, es existierten auf dieser Erde allmählich überhaupt nur noch Schriftsteller, aber wolle man sich über irgend etwas orientieren, so gebe es nichts. Wenigstens sei das seine Erfahrung.
Es klang humoristisch und war wahrscheinlich so gemeint. Aber dahinter grollte ein wirklicher Ärger oder mehr als ein Ärger, ein schmerzliches Unbehagen. Ganz unmittelbar und sofort empfing man den Eindruck, als stünde dieser gesunde, kräftige Mann unter dem Druck einer Sorge, eines Leids.
Er war Mitte der Dreißig, schmalhäuptig, mit langen, proportionierten Gliedern, die Hände sehr groß, aber auffallend wohlgebildet. Das braunblonde Haar wuchs ihm über einer breiten, nicht hohen Stirn widerspenstig durcheinander. Seine gerade Nase erschien vorne sonderbar abgeknickt, so als wäre sie unversehens zu lang geraten und der Schöpfer hätte das durch einen Meißelhieb korrigiert. Vielleicht hätte diese Nase das ganze Gesicht zur Groteske geprägt, hätte nicht der Mund alles gutgemacht. Es war ein herrlicher Mund, überaus klar und fein geschnitten, lebensvoll, geistreich beweglich, mit exemplarischen Zähnen, die nur freilich vom Tabaksdampf gelblich getönt waren.
Eine Atmosphäre von Sauberkeit umgab den Mann, – jene unbedingte, geheimnisvolle Sauberkeit, die von Körperpflege beinahe unabhängig ist. Es verschlug zum Beispiel nicht das geringste, daß er sich offenbar diesen Morgen hastig oder im Halbdunkel rasiert hatte. Seiner eisklaren Haut war einfach nichts anzuhaben. Er hätte nach tagelanger Fußwanderung, nach Frontwochen im Infanteriegraben bestimmt nicht anders gewirkt. Man besitzt diese Eigenschaft oder enträt ihrer auf immer; sie ist eine der köstlichsten Gaben, die einem Menschen in die Wiege gelegt werden können.
»Lassen Sie mich sehen«, sagte Elisabeth, »Literatur über das Land hier – nein, es gibt wirklich nicht viel. Dies hier ist brauchbar, ausgezeichnet sogar« – und sie zog einen Band aus der gelbgehefteten Reihe – »von einem Juristen aus der Sorbonne. Aber für Ihre Zwecke ist es wohl zu speziell.«
Der Fremde besah sich den Titel. »Kann gar nicht speziell genug sein«, murmelte er und nahm das gelbe Buch aus ihren Händen entgegen. »›Das neue Polen und die Juden‹ – wahrhaftig, darüber läßt sich Verschiedenes sagen.« Er blickte Elisabeth unwirsch an – wobei er wieder errötete. »Vorgestern war ja der erste Mai. In Warschau hielten die Arbeiter ihre Umzüge ab. Die jüdischen Arbeiter auch. Auf einmal fielen da Schüsse. Faschistische Jugend! Neben mir stand eine jüdische Frau mit ihrem Kind auf dem Arm. Einer der Schüsse traf das Kind, es war sofort tot. Nun, ich nehme an, Ihnen wird das egal sein.«
»Ist denn das wahr?« fragte Elisabeth mit vollständig weißen Lippen.
»Glauben Sie, ich fahre im Lande herum und lüge fremden jungen Damen was vor?« sagte der Besucher außerordentlich laut und grob. »Wie kommen Sie überhaupt hierher, als Engländerin«, fuhr er ohne Übergang fort, denn eben erst wurde ihm bewußt, daß sie sich seit längerem schon in seiner Sprache unterhielten.
»Ich? Ich bin hier geboren. Mein Gott, ist das wirklich passiert in Warschau? In der Zeitung stand nichts.«
»Natürlich nicht. Entschuldigen Sie nur meinen Ton. Man stößt auf ein bißchen viel Achselzucken heutzutage. Das macht einen Menschen nervös. Also sonst haben Sie nichts, was ich brauchen kann?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es ist alles in der Landessprache geschrieben – ukrainisch. Das wird Ihnen nicht dienen.«
»Allerdings nicht. Ich weiß kaum, was der Name bedeutet. Der eine sagt mir, in der Gegend hier wohnen Ukrainer, der andere sagt, es seien Ruthenen. Dann ist auch noch von Huzulen die Rede. Es ist verflucht kompliziert.«
»Gar nicht«, sagte Elisabeth, und mußte lachen. »Ruthenen – das ist einfach der alte österreichische Name für Ukrainer. Und was die Huzulen betrifft –«
Aber in diesem Augenblick ging die Straßentür, eine Dame erschien und verlangte den neuveröffentlichten Roman von Kaden-Bandrowski.
»Ich nehme da Ihre Zeit in Anspruch«, sagte der Mann, als die Kundin gegangen war, und machte Anstalt, ebenfalls aufzubrechen.
»Die ist gar nicht so kostbar. Wollen wir uns nicht setzen? Sie kommen aus England, nicht wahr? Ich dachte nicht, daß sich dort irgendein Mensch für unsere Weltgegend interessiert.«
»Das haben Sie richtig gedacht. Und es gilt für alles, was östlich von Wien oder Dresden liegt. Wahrscheinlich werden Sie wieder glauben, ich lüge Sie an – aber es sind noch keine sechs Wochen her, da hat ein englischer Minister im Gespräch mit mir die Tschechoslowakei mit Jugoslawien verwechselt. Ein Staatssekretär im Kabinett Seiner Britannischen Majestät. Das werden die alles noch lernen müssen, bitter genau lernen, wenn erst das Ganze in Feuer steht«, fügte er hinzu, und wieder verdunkelte jenes schmerzliche Unbehagen, die Sorge, das Leid, sein kräftiges Gesicht. »Übrigens, ich sollte mich vorstellen«, murmelte er und nannte seinen Namen, aber so rasch und undeutlich, daß Elisabeth ihn nicht völlig auffing. Es war etwas wie Harriman oder Harrison.
»Ich würde gern diese Gegend etwas kennenlernen«, sagte der Mann, »ein paar Tage herumfahren. Aber es hat wenig Zweck, wenn ich mich mit den Leuten nicht verständigen kann. Meinen Sie, es wäre jemand aufzutreiben, der mich begleitet, ein intelligenter Mensch –«
»Der sollte zu finden sein«, sagte Elisabeth und blickte ihn aufmerksam an.
Er entschloß sich. »Ich möchte gewissen Gerüchten auf die Spur kommen. Eine intensive Propaganda soll hier im Gange sein. Ein Bevölkerungsteil wird gegen den anderen gehetzt, damit innen gleich alles zusammenbricht, wenn der Leviathan heranrückt.«
Der Leviathan – das Wort schlug in ihr an wie ein Glockenruf aus der Meerestiefe. Wann nur hatte sie das gehört? Lang war es her. Sie lächelte unbestimmt.
Der Mann mißverstand das.
»Natürlich, da lächeln Sie. Ich kann mir immer nicht vorstellen, daß irgendein menschliches Wesen anders urteilt als ich. Für Sie bedeutet das alles nichts. Sie sehen ja auch so gottverdammt nordisch aus, verzeihen Sie nur.«
»Ich bewundere Ihren Instinkt«, sagte Elisabeth. »Ich bin eine Jüdin.«
»Was Sie nicht sagen«, gab er bissig zurück. »Ich weiß, daß es Leute gibt, die jeden Amerikaner für einen leichtgläubigen Idioten halten. Aber Sie übertreiben.«
»Das tu' ich auch«, sagte Elisabeth. »Und zwar um die Hälfte. Übrigens, hier kommt meine Mutter.«
Recha hatte die Buchhandlung durch die innere Tür betreten. Sie blieb stehen, als sie ihre Tochter im Gespräch erblickte.
Elisabeth stand auf, mit ihr der Fremde.
»Liebstes«, rief sie, »darf ich dich mit Mr. Harrison bekannt machen –«
Der Fremde öffnete seinen Mund, um den Namen zu korrigieren, unterließ es dann aber.
»– der mich soeben zur nordischen Faschistin ernannt hat.«
Der große Mann verneigte sich, ganz unamerikanisch zeremoniell, vor der zarten, weißhaarigen Dame. Recha reichte ihm sogleich die Hand zur Verwunderung ihrer Tochter.
»Sie werden die Wahrheit rasch herausfinden«, sagte sie. »Dafür sorgt Bessie schon selbst.«
Und sie ließ die beiden allein.
»Ich will mich nach jemand umsehen«, sagte Elisabeth, »der mit Ihnen fährt. Pjotr wäre natürlich der Beste.«
»Wer ist Pjotr?«
»Ein Ukrainer, der bei uns im Hause lebt. Ein sehr kluger Mensch. Wieviel Zeit haben Sie denn?«
»Das ist es eben. Nicht viel. Am zwölften wird in London der König gekrönt.«
»Und da müssen Sie unbedingt dabeisein?«
»Ja«, sagte der andere verdrießlich, »da muß ich nach Amerika sprechen, von morgens bis nachts.«
»Sie müssen den ganzen Tag nach Amerika sprechen, weil der König gekrönt wird?« wiederholte Elisabeth langsam. Einen Augenblick kam ihr der Verdacht, daß sie es mit einem Gestörten zu tun habe.
»Ja, glauben Sie, die Leute in Springfield, Illinois, oder in Springfield, Missouri, wären zufrieden, wenn ihnen nicht genau der goldene Wagen mit den acht grauen Pferden beschrieben wird, mit dem der König zur Kirche fährt? Und Ornat und Szepter und Reichsapfel und die Krönchen sämtlicher Peers, die sie im gleichen Augenblick alle miteinander aufsetzen? Das wollen die Leute wissen. Und dabei sperrt der Leviathan schon seinen Rachen auf, um sämtliche Könige und Kronen hinunterzuwürgen –«
»Der Leviathan«, wiederholte Elisabeth.
Alles war wieder da – die Laubhütte unten im Garten, offen gegen den Fluß hin; ihre Mutter, noch jung; Chana im Sabbatkleid, vor sich das blausamtene Buch mit den Goldspangen. Da zuerst hatte sie vom Leviathan gehört, dem nach Blut brüllenden Tier, das von den Gerechten erlegt wird und dessen zolldicke Haut sie für sich ausspannen als Zeltwand. »Der Leviathan, Bessie«, hörte sie Chana sagen, »das ist ein Ungetüm – damit sind böse Menschen gemeint«.
Sie lauschte der tiefen, vergangenen Stimme nach.
Dem Mann gegenüber schossen wieder die zwei Feuer rechts und links in die Stirne hinauf, während er die Träumende ansah.
John Herkimer gehörte jener Gruppe von amerikanischen Weltkorrespondenten an, die mit der verantwortlichen Redlichkeit ihrer Berichte, ihrer abgewogenen Rede über die Meere hin sich das Zutrauen einer Menschenmyriade gewonnen haben. Ihr Werk ist schwer und will nüchtern getan sein. Der verschrumpfende Erdball ist ihr Arbeitszimmer, ein Flug von Europa nach Asien und über ihr Geburtsland zurück nicht abenteuerlicher für sie als ein Gang vom Schreibtisch hinüber zum Bücherbrett mit den Nachschlagewerken.
Sie sind wenige, und sie kennen einander genau. Sie wissen gemeinsam so viel, was öffentlich auszusprechen ihnen versagt ist, daß der traditionelle Kampf um die ausschließliche Nachricht für sie seinen Sinn verloren hat. Alle haben sie aus den Quellen geschöpft und wissen, wie trübe sie sind. Sie haben den neuen Cäsaren gegenübergesessen in der aufgeblasenen Öde ihrer Audienzhallen und haben Schwatz und Schwall der Gewalt mit Kälte bewertet. Kein Aufwand betäubt sie, kein Theaterauftritt klirrender und blitzender Funktionäre, kein kommandierter Massenakt von fünfzigtausend im Chor brüllenden Sklaven.
Denn hier waltet ein Gesetz, ein geheimnisvoller Segen: nie hat sich einer von ihnen vom Abgrund verlocken lassen. Alle haben sie den Leviathan schon in seiner frühen Vermummung erkannt. Den Regierungen der zu seinem Opfer bestimmten Völker, all diesen zaudernden, kraftlos erbötigen, heimlich sympathisierenden Politikern, haben sie scharf auf die Finger gesehen. Sie sind in jedem Moment an die Grenze dessen gegangen, was ihnen zu sagen erlaubt war. In ihren Zufallshotelzimmern, übernächtig vor ihrer Schreibmaschine, dem Mikrofon, sind sie die Geschichtsschreiber und bescheidenen Propheten dieser blutigen Wende und die geistige Ehre ihrer amerikanischen Heimat.
Aber aufreibend ist es, die Wahrheit zu wissen und nur mit einem Bruchteil der Wahrheit warnen zu dürfen. In vielen Ländern gab es eine Zensur. Wo es keine gab, da starrten Stacheldrähte der Konvention, die keine Schere durchschnitt. Und das war nicht alles. Die Nachrichtenkonzerne, deren Angestellte sie waren, wußten genau oder glaubten zu wissen, welches Maß von Voraussicht die Millionen ihrer Kunden vertrügen. Es war ein bescheidenes Maß.
Widerstandsfähige Nerven sind da verlangt und ein gut Teil fatalistischen Gleichmuts.
Herkimer hatte sie nicht. Der Zwang, zu umhüllen und abzumildern, lastete ihm um das Hirn wie ein Eisenring. Er tat das Seine, ihn abzuwerfen.
Als über den Pyrenäen die Generalsrevolte begann, die Cäsaren ihre Hauptprobe abhielten am spanischen Volk, reiste er hin. Aber seine Berichte erschienen nur in vorsichtiger Auswahl. Man schüttelte in den New-Yorker Büros den Kopf über ihn; man war dort ganz einverstanden mit der Nichteinmischungspolitik der europäischen Staatskanzleien.
Vor Madrid, bei Leganes, erhielt er einen Schuß in die Schulter. Er schämte sich beinahe der gar nicht gutartigen Wunde, weil er sie als Nachrichtensammler empfangen hatte statt mit dem Gewehr in der Hand. Sie heilte langsam, und er nahm einen Urlaub nach drüben. Aber statt sich zu pflegen, durchreiste er drei Monate lang die Staaten der Union und redete öffentlich über den spanischen Krieg – Einleitungsakt der Tragödie.
Er stand vor den Leuten am Pult, so groß, daß die in den vordersten Reihen steil aufschauen mußten zu ihm; seinen Schulterverband sorgsam unter der weiten Jacke versteckt; unliebenswürdig vor leidenschaftlichem Ernst.
Er sprach vor gefüllten Sälen, natürlich. Herkimer – »Herk«, wie sie ihn nannten – war ein populärer Begriff. Aber sie saßen verdutzt. Sie waren gewohnt, ihm zu glauben. Schwerfällig machten sie sich bereit, die Schrift an der Wand zu entziffern, die da seine Hand mit starken, blutroten Strichen nachzog.
Von seinem Konzern wurde ihm bedeutet, daß er sich öffentlich schade, seine Beliebtheit aufs Spiel setze. Er antwortete, hochgereizt, er dränge sich niemandem auf, man brauche ja nur den gewährten Urlaub in endgültige Entlassung umzuwandeln. Allein das wollte man nicht. Zu gut wußte man, was er wert war, seine Zuverlässigkeit und Arbeitskraft, seine Gabe für konzise und klare Prägung. Ziemlich unerwartet trug man ihm ganz im Gegenteil eine Erhöhung seiner Bezüge an.
Ehe er auf seinen Londoner Posten zurückkehrte, verbrachte er eine Woche, eine einzige, auf der Farm im mittleren Ohio, die sein Vater für ihn verwaltete.
Es war eine stattliche Farm, zwölfhundert Acres umfassend und prächtig im Stand. Vom langhingestreckten, einstöckigen Haus auf dem Hügel ging das Auge über friedvoll ruhendes Acker- und Weideland und über zwei blinkende Seen nach einem Kranz dunklen Föhrenwalds, der diese sich selbst genügende Welt breschenlos abschrankte. Es gab Weizen, Mais, Hafer auf diesem Gut, Gemüse, Vieh und Geflügel für weit mehr als die fünfzehn Familien, die hier siedelten. Sie lebten nicht nur selbst vom Ertrag, sie hatten ihren wohlbemessenen Anteil am Erlös des Verkauften. Es war eine menschenwürdige Existenz.
Der alte Herkimer sorgte dafür, daß sie deren Urheber nicht vergaßen. Nie kam es vor, daß er eine Anordnung in seinem eigenen Namen traf. Und das war nicht angenommene Geste. Er selber lebte völlig, ging auf in dem Sohn, der ihm diesen arkadischen Abend bereitet hatte – nach einem schweren, gequälten Dasein.
Es hatte verheißungsvoll angefangen. Er war in einer Kleinstadt in Illinois geboren, als Sohn einer irischen Mutter und eines Vaters aus altangesehenem, ursprünglich pfälzischem Stamm. Er hatte eine juristische Ausbildung glänzend durchlaufen und zählte in jungen Jahren zu den gesuchten Anwälten von Chicago, das damals, Mitte der Neunzig, schon eine Millionenstadt und Schnittpunkt der großen Verkehrswege war.
Streikunruhen brachen unter den Eisenbahnarbeitern aus, Präsident Cleveland ließ Bundestruppen gegen sie anrücken, mehrere Gewerkschaftsführer wurden inkriminiert. George Herkimer gehörte zu den Verteidigern. Die Angeklagten wurden zu langen Strafen verurteilt; die Bahngesellschaft und ihre Hintermänner hatten gesiegt. Und sie vergaßen keinen, der sich ihnen entgegengestellt hatte. Der Rechtsanwalt Herkimer sah sich selbst aufrührerischer Tendenzen verdächtigt, er figurierte in den Zeitungen als »Anarchist«, seine Praxis wurde zerbrochen, sein Verbleiben unmöglich gemacht.
Niemals begriff er ganz, wie er unter die malmenden Räder der Machtmaschine geraten war. Sein Glaube an Rechtsgang und Recht war unheilbar verwundet. Er machte keinen Versuch, seine Existenz als Jurist wiederaufzubauen. Mit seiner jungen Frau, einem grazilen, zärtlichen Geschöpf aus französischem Blut, zog er in den Staaten umher – zuerst nach dem Süden, aus dem sie stammte, dann an die pazifische Küste, hinüber ins aufblühende Denver, nach St. Louis. Er versuchte sich als Baumwollemakler, als Clerk einer Schiffsagentur, als Grundstücksvermittler, im Zeitschriftenhandel. Aber seine Haut war zu dünn für die meisten dieser Berufe.
Schließlich – schon nach der Jahrhundertwende – landete er in der Stadt Columbus im Staate Ohio. Mehrere Versicherungsgesellschaften hatten hier ihren Sitz; eine von ihnen stellte ihn als Buchhalter ein. Er schien endlich zum Frieden gekommen. Ein Vorschimmer von Glück zeigte sich. Seine Frau erwartete ein Kind. Sie war nicht ganz jung mehr, mitgenommen von acht Wanderjahren. Sie starb an der Geburt.
Der zerstörte Mann und sein Söhnchen verblieben in der winzigen Wohnung, aus deren Fenstern man über zwei zusammenströmende Flüsse sah. Eine farbige Kinderfrau sorgte für den Knaben, solange er klein war. Später lief er tagtäglich nach Schulschluß quer durch die Stadt zum Gebäude der Versicherungsfirma und wartete an der Treppe, bis der Vater herauskam. Dann wanderten sie Hand in Hand miteinander nach Hause.
In vielen Nächten lag der Buchhalter Herkimer wach, von Zukunftsbildern bedrängt. Dieser Sohn, den er liebte, sollte einmal – nein, er mußte sich durchsetzen auf jener Bahn, aus der er selbst so unbegreiflich geschleudert worden. Er rechnete sorgenvoll. Studienjahre sind lang und sind teuer.
Aber sein Sohn war noch nicht sechzehn, da erschien er eines Tags im Büro, erhitzt und glückselig. Er beugte sich zum Ohre des Vaters hinunter und flüsterte, es sei nun erreicht, er sei angestellt – mit zwölf Dollar Wochengehalt, beim Ohio State Journal als »Junge für alles«.
Was dann gefolgt war, erzählte der Vater unermüdlich. John Herkimer nie. Mit achtzehn Jahren gehörte er dem Stab seines Blattes als »Associate Editor« an, mit zwanzig folgte er einem Antrag hinüber nach Pitsburgh – zusammen mit dem Vater natürlich, dem er die Fron über Prämien-Kolumnen nicht länger erlaubte. Ein neues, verlockendes Angebot, das aus Chicago kam, wies er ab, weil er den Alternden nicht an den Ort seiner Lebensniederlage zurückführen mochte. Und dieser sentimentale Verzicht erwies sich als klüger als jede Berechnung. Denn man holte ihn nach New York. Sein Name war etabliert. Schon unterschieden die Menschen im weiten Land, was er schrieb und sprach. Dann begann in Europa die Sintflut zu steigen. Nun sprach und schrieb er von dort.
Wohlstand war da. Er erwarb das Gut in Ohio, nicht weit von der Stadt, wo sein Vater für ihn gefront hatte. Da regierte der nun als sein Statthalter über das waldumschlossene Acker- und Wiesenreich und erlebte alltäglich seine große Stunde, wenn die Stimme des Sohnes zu ihm übers Meer kam.
Es war durchaus keine »schöne« Stimme, der er da lauschte zugleich mit den vielen Millionen. Sie war eher rauh, widerspenstig wie das Haar über seiner Stirn, eine Raucherstimme, die knarzte und mitunter hustend brach; aber eine Mannsstimme, die Vertrauen eingab.
Der Alte hatte ein feines Ohr für ihre Nuancen. Seit John nach London zurückgekehrt war, klang sie täglich beladener, immer schwerer von Ungesagtem und Vorbehalt.
Dann, eines Abends im März, kündigte die Stimme eine Unterbrechung an. Ihr Besitzer war im Begriff zu verreisen, hinüber nach dem Kontinent in jenen Osten Europas, »über den wir so wenig Bescheid wissen und der bald wichtiger sein wird, als viele jetzt ahnen«.
Der alte Herkimer in dem Haus auf dem Hügel drehte seinen Apparat nicht mehr an. Was Johns Stellvertreter zu sagen hatte, interessierte ihn nicht.
Fünf Wochen war das nun her.
Er hatte sich in seinen schlechtgehaltenen Wagen gesetzt und war zum Hafen von Harwich gerollt, um nach Holland überzusetzen. Ein paar Stunden brachte er in Amsterdam zu; hier hatte er ein privates Geschäft.
In der Nacht durchfuhr er das Ruhrgebiet und sah diese Schmiede der Weltzerstörung aus fünfhundert Essen zum Himmel leuchten. In Berlin sprach er niemand. Er hielt einen zwölfstündigen Schlaf, um anderntags ohne Aufenthalt bis zu Deutschlands nördlichster Grenze vorzustoßen.
Hier begann seine Aufgabe. Im unfreundlichen Frühjahr reiste er durch die baltischen Länder, diese drei künstlich geschnittenen Staaten, die einem halbherzigen Friedensschluß ein prekäres Dasein verdankten.
Ihre Hauptstraßen waren elend genug. Aber er wich noch ab von der Route, streifte gewissenhaft kreuz und quer und gelangte so schließlich hinauf bis zu der Stadt Reval, die die roten Ziegelkappen ihrer alten Türme in den eisigen Wassern der finnischen Meerbucht spiegelt. An ihr entlang fuhr er ostwärts – bis dorthin, wo es nicht weiterging.
Er trug in der Tasche einen vortrefflichen Paß, gestempelt mit vielen soliden, langfristigen Visen. Nur ein Visum fehlte. Dies Visum war nicht zu erlangen gewesen.
An der Stelle, wo es nicht weiterging, jenseits von Narva, beim Grenzwächterhaus, hielt er lange. Er schaute hinüber in das unbetretbare Reich, das sich von dieser Schranke ungeheuer ausstreckte über ganz Asien. Am Helm der drüben patrouillierenden Soldaten unterschied er den roten Stern. So lange hielt er in seinem Wagen, daß die estnischen Grenzwächter aus ihrer Holzhütte hervorkamen und ihn mißtrauisch betrachteten.
Er nahm sich auf der Rückreise Zeit. Als er Ende April das Gebiet von Polen betrat, führte er in seinen Notizen und mehr noch in seinem Gedächtnis Informationen mit sich, gründlicher wahrscheinlich und vielseitiger, als sie der Referent für baltische Angelegenheiten im Londoner Auswärtigen Amte besaß.
Er hatte mit Staatspräsidenten gesprochen, mit Bürgermeistern der Städte, Priestern von vier Bekenntnissen. Mit Industriellen, die alle klagten: Eigentümern von Gerbereien in Litauen, von Asphaltgruben in Estland, mit Reedern, Holzgroßhändlern, Papierfabrikanten. Und mit den teutonischen Baronen auf ihren Gütern, die in verzückter Ungeduld nach Deutschland hinüberstarrten, dorthin, wo endlich der Eroberergeist jener Ordensritter wiedererwacht schien, deren Ururenkel sie waren.
Er hatte es gründlich genommen. Er besaß auch einen Begriff davon, was im Volk die Leute dachten und fürchteten: Dorfschulzen, Dorflehrer, Dorfwirte, Kleinbauern und Holzfäller, die Fischer an der Rigaer Bucht und am Peipussee.
Verständigung mit ihnen war nicht einfach gewesen. Sie gebrauchten seltsame Idiome, Überreste verschollener Sprachen aus dem Innern von Asien. Alle paar Meilen war es ein anderes Idiom. Aber immer hatte sich schließlich jener »intelligente Mensch« gefunden, der ihn auf seiner Streife begleiten konnte, irgendein Karlis, Jonas, Stasys oder Peteris, der als Dolmetsch vermittelte.
Und hier nun, bei den Ukrainern, war es ein Pjotr.
Denn Elisabeth hatte rasch Wort gehalten. Gleich am Nachmittag präsentierte sich ihr einarmiger Freund im Hotel »Weißer Adler«, in Herkimers Zimmer, wo der Reisebedarf aus seinem Auto wüst umhergestreut lag. Die beiden Männer beugten sich miteinander über eine Landkarte, um für den morgigen Tag ihre Route festzusetzen.
Die Sprache, die sie sozusagen gemeinsam hatten, war Deutsch. Auf Herkimers Seite des parodistisch angelsächsische Deutsch, im Fluge zusammengehört und zusammengelesen. Bei Pjotr das slawisierte Armee-Patois aus österreichischen Tagen, das seither noch beträchtlich weiter verrostet war. Sie irrten sich erst auch häufig, mißverstanden einander und lachten darüber. Das stellte gleich von Beginn eine Vertraulichkeit her.
Früh am Morgen brachen sie auf. Die Fahrt in Herkimers Wagen ging erst eine Strecke nach Süden ins Wald- und Hügelgelände; dann bogen sie scharf zurück, über den Dnjestr und geradeaus nach Podolien hinein. Offenes, fruchtbares, baumloses Land. Dies war das weite, bequeme Tor, durch das einst in mittelalterlicher Zeit die »Goldene Horde« der Tataren brennend und raubend eingebrochen war.
Ein Einbruch stand wieder bevor. Aber diesmal drohten die Tataren von Westen. Die Sturmzeichen zu erkennen war leicht. Ihre Vortruppen waren schon da.
Allenthalben mehrten sich die Landankäufe der fremden Siedler. Aus neugestrichenen Zäunen blickten Kinder dem Wagen nach, die weder ukrainisch noch polnisch aussahen. Sie fanden die Mauern beklebt mit Ankündigungen eines Vortrages über »Die ukrainische Sendung«. Je weiter sie kamen, desto frischer waren diese Plakate. Der deutsche Agitator war genau ihren Weg gezogen. Es war ein Freitagnachmittag; in Dörfern und Städtchen schlichen jüdische Männer schwarzgewandet zum Tempel. Bei sinkender Dämmerung gelangten die Reisenden an den Fluß Sereth und fanden nach einigem Umherirren eine Unterkunft für die Nacht.
In der Gaststube ging der Wirt umher und zündete Licht an – hängende Öllampen, die blakten und rochen. Um einen Tisch in der Ecke unterhielten sich fünf Männer in städtischer Kleidung. Was sie sprachen, war Deutsch. Beim Eintritt der Fremden senkten sie ihre Stimmen, und nach einer schicklichen Weile brachen sie auf.
Über dem Tisch, an dem sie gesessen hatten, hing das farbige Bild eines kühn blickenden Mannes in Generalsuniform. Pjotr las die Unterschrift vor: »Skoropadski, Held der Ukraine.«
Pjotr wußte nicht, wer Held Skoropadski war. Aber Herkimer kannte den Namen dieses Statthalters, den die Deutschen hier eingesetzt hatten im letzten Krieg. Er nahm den Öldruck vom Nagel. »Kunstdruckerei Egon Fritsche, Mockau bei Leipzig« stand auf der Rückseite zu lesen, in gotischen Lettern.
Der Wirt erschien mit den bestellten Speisen. Er warf einen unsicheren Blick auf Herkimer, der das Bildnis noch in der Hand hielt, schien etwas sagen zu wollen, seufzte dann auf und verschwand.
Gleich danach kam einer der Deutschen zurück. Er bückte sich unter den Ecktisch, als habe er etwas verloren, kroch dort unten umher, mit gespitzten Ohren vermutlich, und ging wieder, zögernd.
»Solche Leute mit Stehkragen«, sagte Pjotr und blickte ihm nach, »hat es früher hier nicht gegeben.«
Herkimer nickte. »Solche Leute mit Stehkragen sitzen jetzt in allen fünf Weltecken. Sie sitzen bei den Eisbären und bei den Affen, bei den Krokodilen und bei den Känguruhs. Es sind gründliche Brüder.«
Sie hatten ihre Mahlzeit verzehrt. Draußen schlug Regen gegen die Scheiben.
Pjotr stand auf. »Ich geh' nur und schließe den Wagen.«
»Dem tut kein Regen etwas. Aber hinten im Wagen liegt eine Flasche, die könnten wir brauchen.«
Er nahm zwei Gläser vom Wandbrett, als Pjotr zurück war, und goß liebevoll ein. Es war ein wunderbar milder, sehr alter Cognac, Ecke Piccadilly und Duke Street zu ziemlich sündhaftem Preis gekauft.
»Rauchen Sie nicht?« fragte Herkimer.
»Wenn es erlaubt ist.«
Pjotr holte sein Pfeifchen hervor, hielt es geschickt mit dem Kinn auf der Tischplatte fest und stopfte es aus dem Beutel, den der andre ihm hinhielt. Sein Gesicht strahlte auf beim ersten Zug, den er tat.
»Da hab' ich mein Leben lang immer geglaubt«, sagte er, »ich rauche Tabak.«
Auf einem Stuhl lag eine Zeitung, ein kleines Lokalblatt aus der Umgegend, ukrainisch gedruckt. Herkimer nahm es zur Hand. Die rückwärtige Seite zeigte sich angefüllt mit vulgären Karikaturen jüdischer Typen.
»Ja«, sagte Pjotr langsam, »wo das einmal anfängt, da ist das Unheil nicht weit. Wir in der Familie können auch davon singen.«
Herkimer blickte aufmerksam in sein Bauerngesicht.
»In Ihrer Familie, wieso?«
»Ach, nicht in meiner. Da war das Unglück von anderer Art. Die Familie der Frau Gräfin, meine ich.«
Herkimer begriff nicht genau, von wem da die Rede war. Er wartete ab.
»Ins Dorf einreiten wie die eisernen Teufel«, fuhr Pjotr fort, »ein Kind überfallen, unschuldige Menschen an den Bäumen aufhängen. Der Geist steht einem stille davor. Und der kleine Sohn ist davongelaufen und nie wiedergekommen. Das war das Brüderchen der Frau Gräfin.«
Es lag durchaus nicht in Pjotrs Weise zu schwatzen. Über die Menschen, die seine Welt ausmachten, kam eigentlich niemals ein Wort aus seinem Mund. Aber dies hier war anders. Vor dem großen, bedrückten und sicheren Mann hier am Tisch kam er von selbst ins Erzählen. Bessie selber mußte viel von ihm halten, sonst hätte sie ihm nicht Pjotr mitgegeben auf diese Fahrt, die so gar keine Spazierfahrt war.
Er spürte ganz einfach Vertrauen. Jenes selbe Vertrauen, das Herkimer den Millionen von Menschen eingab, wenn seine Stimme über den Ozean kam. Es trieb Pjotr an zu reden. Ganz gewiß, es konnte nur gut sein, wenn dieser Engländer oder Amerikaner alles erfuhr: welch einzigem, wundervollem Herrn Pjotr einmal gedient hatte, wie unsagbar schwer das Leben der Frau Gräfin verlaufen war, und wenn er auch von Herrn Gelbfisch vernahm und von der verstorbenen Frau Tante. Nur Elisabeth selber kam wenig vor in Pjotrs Erzählung. Und Herkimer fragte ihn nicht.
Im Reden begann von Pjotrs Armeedeutsch der Rost abzublättern. Herkimer verstand nun beinahe jedes Wort. Schweigsam rauchte er vor sich hin, nahm dann und wann einen dankbaren Schluck von dem 1872er Meudon und hörte dem ukrainischen Bauernsohn zu, aufmerksam wie nie einem Cäsaren.
Als er am andern Abend die weiße Villa betrat, wußte er über sehr vieles Bescheid, was sich in vergangenen Jahren hier zugetragen hatte. Daher kam es wahrscheinlich, daß weder Herr Gelbfisch noch Recha seine Gegenwart als die eines ganz Fremden empfanden.
Behagen herrschte gleich schon bei Tische. Pjotr servierte, sehr korrekt, in weißer Jacke und weißem Handschuh. Es gab ein vortreffliches, leichtes Mahl, von ihm zubereitet, unter Assistenz der ukrainischen Frau, die seit neuerm ins Haus kam. Heute war übrigens auch Bessie erschienen, viel früher als sonst, und hatte in der Küche ehrgeizig nach dem Rechten gesehen.
Den Kaffee nahm man drüben im Wohnzimmer ein. Herkimer stand neben Heinrich, wie ein Turm aufragend über den zartgebauten, kleinen Mann. Herkimer empfand das als Pein – Bessie bemerkte es. Sie bemerkte auch, daß er nicht wagte, sich niederzubeugen, sich »herabzulassen« zu ihm. Und wie erleichtert er Platz nahm, als ihre Mutter das Zeichen gab. Es kam ihr vor, als spräche Herkimer schonend respektvoll zu den beiden, wie zu vornehmen Kranken etwa. Und als klänge eine Art Schuldgefühl mit in dem Ton.
Sie saß und beobachtete diesen fast Unbekannten, dem sie da vorgestern ohne Besinnen ihren Freund und lieben Vertrauten mitgegeben hatte auf seine problematische Fahrt. Sie nahm wenig teil am Gespräch, gegen ihre lebhafte Gewohnheit, und rauchte viele Zigaretten dabei.
Man fühlte sich wohl. Bessie hörte die Mutter lachen. Auch Heinrich erschien so unbelastet und heiter wie lange nicht. Und das lag nicht etwa daran, daß dieser Herkimer besonders amüsant oder überraschend erzählt hätte. Er erzählte beinahe gar nicht. Er hatte eine merkwürdig produktive Art zuzuhören, den andern reden zu machen. Möglicherweise, dachte Elisabeth, hing diese Gabe zusammen mit seinem Beruf – von dem sie einstweilen nur vage Begriffe besaß.
Es war von Reisen die Rede, von Herkimers Geburtsland; der Panamakanal wurde erwähnt. Es zeigte sich, daß auch Gelbfisch ihn einmal durchfahren hatte, auf seiner Weltreise – fünfzehn Jahre war es nun her. Für Herkimer war das Anlaß genug, den Faden in Heinrichs Hände zu spielen. Nichts verriet, daß diese Route um den Planeten, die für jenen das Abenteuer seines Lebens gewesen war, ihm selbst von Berufsfahrten westwärts und ostwärts bis zum Alltäglichen vertraut war. Von den amerikanischen Häfen, den exotischen Stätten in Asien und Afrika schien er eben genug zu wissen, um ihm das Stichwort zu bringen – mit dem Effekt, daß Heinrich sich immer intensiver erinnerte, immer farbiger erzählte, sich freudig belebte.
Pjotr kam ins Zimmer herein und bot aus einer buntgemalten Karaffe Likör an, einen kristallhellen, sehr feurigen Pflaumenschnaps, Bauernprodukt aus der Gegend.
»Unser Herr Gast«, murmelte er, als er vor Elisabeth stand, »ist ja gleichfalls ein Raucher.«
»Lieber Gott«, rief sie und wies auf den Aschenbecher, den Pjotr eben auswechselte, »und ich halte bei meiner zwanzigsten –«
Beträchtlich erlöst setzte Herkimer seine Pfeife in Brand. Der Rauch zog blau hinaus durchs offene Fenster. Draußen war eine schöne und helle Nacht. So oft das Gespräch einen Augenblick ruhte, hörte man die Grillen und das sachte Rauschen vom Fluß.
Alle waren erstaunt, wie spät es schon war, als Herkimer aufbrach. Elisabeth ging voran, ihn hinauszubegleiten.
Unter der Tür wandte er sich um und verbeugte sich nochmals. Als er sich aufrichtete, berührte sein Scheitel beinahe den oberen Pfosten. Er bemerkte dicht neben seinem Gesicht die kleine Metallhülse, die noch immer hier angebracht war.
Er fragte: »Was ist das?«
»Eine Mesuse«, antwortete ihm von draußen Elisabeth, »das gibt es in jedem jüdischen Haus.«
»Und was ist drin?«
»Ein Zettel mit den Zehn Geboten«, kam wieder ihre Stimme. »Jeder, der eintritt, soll es berühren und soll dann seine Hand küssen.«
Herkimer stand noch einen Augenblick still.
»Das ist schön«, sagte er.
Er bückte sich ein wenig und ging.
»Hast du gehört, Heinrich«, flüsterte Recha, als die Tür sich geschlossen hatte, »er hat gesagt: ›Das ist schön‹.«
»Nun ja – er ist ein empfindender Mensch.«
»Ganz so hat es Pattay gesagt, als er's zum ersten Male hier sah. Und Bessie hat dasselbe geantwortet wie damals ich – ich weiß noch die Worte.«
Heinrich nahm ihre Hand.
»Es handelt sich ja um dieselbe Sache«, sagte er, wie tröstend, »da ist es natürlich.«
Recha nickte. Aber ihre Augen suchten Pattays lächelndes Bild mit dem Goldmedaillon davor und der Uhr.
Draußen war Herkimer in seinen Wagen gestiegen. Elisabeth stand neben ihm, den Arm auf dem Rahmen gestützt, einen Fuß auf dem Trittbrett.
»Beachtenswert hübsche Augen haben Sie eigentlich«, sagte er. Es klang, als ringe er sich ein Zugeständnis ab. »Schimmern in allen Farben des Spektrums.«
»Das macht nur der Mond«, sagte sie. »Am Tag sind sie scheußlich. Übrigens – wie waren Sie mit Pjotr zufrieden auf Ihrer Expedition?«
»Gut, daß Sie mich fragen. Auf welche Art kann ich mich bedanken bei ihm?«
»Bedanken?«
»Nun«, sagte Herkimer, »Geld kann man ihm nicht gut schenken, solch einem Mann.«
Bessies Herz tat einen Sprung. Und einen Sprung, einen gewaltigen, tat in ihrer Einschätzung auch Herkimer in diesem Moment.
Sie sagte: »Darüber machen Sie sich keine Sorge. Wollen Sie denn schon fort – weil Sie an Abschiedsgeschenke denken?«
»Man hat angerufen aus London. Ich soll frühzeitig am Kanal sein. Alle Boote sind überfüllt für die Krönung.«
»Und die kann ohne Sie ja nicht stattfinden!«
»Unmöglich. Müßte abgesagt werden. Ja – einen Tag habe ich noch. Den möchte ich dazu benutzen, mir die nächste Grenze hier anzusehen.«
»Das ist die nach der Tschechoslowakei, in den Bergen dort hinten.«
Er schüttelte ungeduldig den Kopf.
»Nicht die. Die wird ja dann wertlos geworden sein.«
Erstaunt sah sie ihn an:
»Wertlos geworden? Wann wertlos geworden? Ich verstehe Sie nicht.«
»Damit sind Sie in feinster Gesellschaft. Die Minister in Paris und in London verstehen es auch nicht. Nein, die rumänische Grenze. Wie weit mag das sein?«
»Vielleicht vier Stunden. Die direkte Straße führt hin.«
»Und wie heißt der Grenzort?«
»Zaleszczyki.«
»Wie?«
»Zaleszczyki«, wiederholte sie silbenweise. »Ich glaube, es ist eine Art Kurort. Sehr hübsch soll es sein.«
»Ich pfeife darauf, ob es hübsch ist.«
»Möchten Sie wieder, daß Pjotr mitfährt?«
»Das ist diesmal nicht nötig.«
Elisabeth faßte einen Entschluß. Sie würde ihn schwerlich gefaßt haben, hätte nicht Herkimer zuvor den Sprung mit jenen drei Worten getan.
»Komisch eigentlich«, sagte sie, »daß ich selber noch nie dort unten war –«
Sie zögerte einen Moment.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit Ihnen käme?«
»Nicht viel«, sagte Herkimer.
Es war hier nicht mehr derselbe Dnjestr, an dem Elisabeth geboren und aufgewachsen war. Ganz still zog der weise gewordene Strom zwischen grünen Ufern, schimmernd im Maimittagslicht.
In dem Gasthausgarten am Wasser blühten Aprikosen und Kirschen. Aber so südlich warm es schon war, Sommergäste ließen sich noch nicht sehen. Sie waren im Garten beinahe allein.
Zu ihrer Linken, keine dreihundert Schritte entfernt, überspannte eine Eisenbahnbrücke den Fluß. Die Hügel auf der anderen Seite, die ziemlich steil zum Wasser abfielen, waren Rumänien.
Eine Bedienerin kam und fragte nach ihren Wünschen. Sie trug das heitere Kostüm der Gegend: überm blauen, gestickten Leinenhemd das offene Jäckchen und zum rundgeschnittenen Rock den farbigen Fransenschurz. Sie war ein ganz junges Ding, hübsch, wenn auch ein bißchen plump von Figur, dunkelhaarig, mit lachenden Augen.
»Sie meint, wir sollen Wein trinken zu unserm Fisch«, übersetzte Elisabeth. »Er wächst hier am Ort und sei ganz vorzüglich.«
»Polnischen Wein?«
Herkimer zog mit einer skeptischen Grimasse seine geknickte Nase hoch. Das Mädchen lachte und plädierte voll Eifer.
»Sie sagt, die Trauben kommen aus Kalifornien. Es sind Weinberge der Regierung. Ihr Vater ist Aufseher dort.«
»Ja, dann kann man nichts machen.«
Die Kleine lief fort. Schurz und Rock wirbelten um ihre hohen geschnürten Stiefel. Sie verschwand drüben im Haus. Auch die paar Gäste, die noch im Garten gesessen hatten, verließen ihn jetzt. Man hörte, ganz schwach, von der Bahnstation her ein Signalglöckchen.
»Friedlich ist's hier«, sagte Bessie.
»Ja, friedlich«, wiederholte Herkimer und schaute nach der leeren Eisenbahnbrücke. »Das scheint hier weit und breit die einzige Brücke zu sein, auf der man [hinüberkann]. Und die ist ja dann lange gesprengt.«
Sie blickte ihn an.
»So etwas sagen Sie nun schon zum zweitenmal. Dann hat die tschechische Grenze keine Bedeutung mehr. Dann ist die Brücke gesprengt. Die Zukunft ist doch kein Rechenexempel.«
Er gab keine Antwort.
»Schließlich, da existiert dieser Pakt mit den Deutschen. Es wird einem nicht wohl dabei, allerdings. Aber ein Friedens- und Freundschaftspakt auf zehn lange Jahre – irgend etwas muß es doch heißen!«
Herkimer lächelte schwermütig.
»›Meinst du‹«, sagte er leise, zitierend, »›daß er einen Bund mit dir machen wird – daß du ihn immer zum Knecht habest –‹«
»Was ist das?«
»Nun, Sie haben doch so wissend gelächelt, als von dem Leviathan die Rede war.«
»›Meinst du, daß er einen Bund mit dir machen wird‹«, wiederholte Herkimer langsam, als suche er nach den weiteren Worten. Sein Blick ging geradeaus übers Wasser, auf die grünen rumänischen Hügel hin.
»›Meinst du, er werde dir viel Flehens machen oder dir heucheln. Sein Herz ist so hart wie ein Stein und so fest wie ein unterer Mühlstein. Die Schuppen seines Panzers sind eng gefügt, und wenn er daherbricht, so ist keine Gnade da. Siehe, auf seinem Hals wohnt die Stärke, und vor ihm her hüpft die Angst – –‹«
»Wahrhaftig, ein akkurates Bild von dem Vieh«, unterbrach er sich; denn über den Gartenkies kam die Bedienerin mit dem vollen Tablett.
Der bestellte Fisch erwies sich als ganz vorzüglich. Es war eine Schleie aus dem Fluß, zart im Fleisch und mit würzigen Kräutern gekocht.
Das Mädchen schenkte den Wein ein und blieb erwartungsvoll stehen. Herkimer kostete.
»Den werden wir wegschütten müssen, wenn ihr Vater gerade nicht hersieht«, sagte er und machte ein entzücktes Gesicht.
Bessie übersetzte es ungenau. Die Kleine lächelte stolz.
»Fragen Sie sie doch einmal, ob es leicht ist, hier hinüberzuschwimmen.«
Das Mädchen gab Auskunft. Es sei nicht nur leicht – man brauche überhaupt nicht zu schwimmen. Man wate hinüber. Nahe beim Ufer sei das Wasser noch tief, ihr gehe es da bis zur Nase. Aber gegen die Mitte hin werde es auf einmal ganz seicht. Außer natürlich im Februar und im Juni.
Warum da nicht, ließ Herkimer fragen.
Sie lachte, belustigt, daß jemand nicht wissen sollte, was ihr selbst so geläufig war.
»Weil im Februar weiter oben das Eis bricht und im Juni der Karpatenschnee schmilzt. Dann ist es voll.«
»Im Februar bricht das Eis«, wiederholte Herkimer, als sie gegangen war, »und im Juni schmilzt der Schnee. Da kann man nur hoffen, daß das Eisenvieh nicht diese Monate wählt.«
»Sie können an nichts anderes denken«, sagte Elisabeth.
»Da die nicht dran denken, die es noch aufhalten könnten. Sie bemerken vielleicht«, fuhr er fort und sah Bessie nicht an, »daß ich nach einem Schlupfloch suche für Sie, für den Tag, da es anstampft.«
Bessie bekam plötzlich Herzklopfen. Sie hätte wohl eigentlich sagen müssen, seine Fürsorge komme ihr überraschend, gehe ein wenig zu weit nach so kurzem Bekanntsein. Aber sie sagte es nicht.
Auf der Rückfahrt hatten sie die Nachmittagssonne im Gesicht. Herkimer brachte aus einer Wandtasche eine dunkle Brille zum Vorschein und reichte sie ihr.
»Angeschwindelt haben Sie mich«, sagte er dabei. »Ihre Augen sind auch bei Tage ganz hübsch. Die brauchen kein Mondlicht.«
Sie passierten ein Ortsschild mit dem Namen Niezwiskå.
»Hier«, sagte Herkimer, »sind wir vorgestern über den Dnjestr gesetzt, Pjotr und ich. Das war auch ein guter Tag.«
Die Straße war gut gewesen. Nun wurde sie schlecht. Sie fuhren langsamer.
»Das mit dem Leviathan«, fragte Bessie aus ihren Gedanken heraus, »war das aus der Apokalypse?«
»Apokalypse!« Er lachte. »Aber Elisabeth, daß Ihnen so etwas passiert! Da haben Sie einen ganzen Laden mit Büchern, einen wahren literarischen Völkerbund. Monsieur Proust und Mister Joyce; Hamsun, Huxley, Hemingway; Rolland und Romains. Und sicher haben Sie alle gelesen. Nur das Schönste haben Sie nicht gelesen.«
»Nämlich?«
»Nämlich ein jüdisches Drama, verfaßt vom jüdischen Shakespeare. Es heißt: Das Buch Hiob. Dort steht das über den Leviathan – und noch ganz andere Dinge. Zum Beispiel zwanzig Worte über das Menschengeschick – denen kann in alle Ewigkeit kein Joyce und kein Proust was hinzufügen.«
Er fuhr immer langsamer, hielt beinahe an.
»Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe. Geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.«
»Doch«, flüsterte sie, »das habe ich einmal gelesen.«
Denn es war die Inschrift von Pattays Grab. Die Kirche in Wien war vor Elisabeths Augen; die Tafel, von der sie's abgeschrieben hatte für Pjotr; und das Steinbild des Vaters.
Ihre Fahrt ging zu Ende. Sie langten vor der weißen Villa an, als es zu dämmern begann.
»Elisabeth«, sagte Herkimer, »ich möchte, daß Sie immer wissen, wo ich zu finden bin.« Er nahm einen Zettel aus seiner Tasche. »In London kenne ich allerhand Leute, die nützlich sein können. Bitte – beim geringsten Anlaß, beim allerersten, telegrafieren Sie mir!«
»Dann«, sagte sie mit schwacher Ironie, »werden ja Telegramme nicht mehr befördert.«
Aber er lachte durchaus nicht. Er sagte: »Können Sie mir Pjotr mitgeben in mein Hotel? In der Maschine da hustet irgend etwas.«
»Natürlich«, sagte Elisabeth. Und sie reichte ihm ihre Hand.
Pjotr war sogleich zur Stelle. Herkimer zögerte wegzufahren. Einige Minuten verstrichen. Aber sie kam nicht mehr heraus.
»In der Garage wäre besseres Licht«, sagte Pjotr, als sie am Ringplatz vor dem »Weißen Adler« anhielten, »und sie haben alle Werkzeuge da.«
»Lassen Sie den Wagen nur stehen. Der ist ganz in Ordnung.«
Verwundert zog Pjotr hinter Herkimer her die Hoteltreppe hinauf. Oben im Zimmer herrschte beinahe Ordnung. Eine der grünen Taschen war schon gepackt.
»Ich glaube, hier ist noch was drin«, sagte Herkimer und schüttelte die strohumflochtene Flasche. Drinnen gluckste es schwach.
Er goß einen Reisebecher halb voll und reichte ihn Pjotr.
»Sie halten mich wahrscheinlich für einen Säufer«, sagte er mit der Flasche am Mund.
Pjotr lächelte milde. »Ein Säufer ist einer, der ohne Grund trinkt.«
»Ausgezeichnet, Pjotr. Sehr gut. Wenn einmal diese Bestien am Galgen hängen, dann gibt's bei mir keinen Kognak mehr. Setzen Sie sich doch hin!«
Pjotr nahm Platz, sein Becherchen in der Hand. Herkimer wanderte im Zimmer umher.
»Hören Sie zu. Hier im Lande geht's nicht mehr lang gut. Diese Stehkragenleute – Polen wird voll sein von ihnen. Nur ihre Stehkragen haben sie dann nicht an. Pjotr, wenn Ihre Damen fortmüssen von hier – Sie gehen doch mit?«
»Wenn ein alter Mensch draußen zu brauchen ist.«
»Alter Mensch – Unsinn. Mir gehört da eine Farm in Amerika. Mein Vater wohnt dort. Es sieht eigentlich nicht anders aus als bei euch. Dort ist immer ein Platz für Sie. Ich wäre froh, wenn Sie kämen. Denken Sie dran, Pjotr – auf Ihre Damen!«
»Auf die Damen«, sagte Pjotr befangen und trank.
»Ich möchte Ihnen etwas zum Andenken schenken.« Herkimer machte vor seinen Handtaschen halt. »Aber es müßte was sein, woran ich selber auch hänge. Und woran hängt schon der Mensch!«
Er brachte ein ledernes Behältnis zum Vorschein.
»An denen vielleicht noch am meisten.«
Nebeneinander hingen da vier kurze Pfeifen von verschiedener Form. Es waren anheimelnde Exemplare ihrer Gattung, aus wundervoll längsgemaserter Rosenwurzel und schimmernd poliert.
»Die hier ist ganz schön kühl, und es ist auch die leichteste«, sagte er und nahm eine Dunhill aus ihrem Loch. »Aber natürlich – ich habe hundertmal aus ihr geraucht. Das mögen Sie wahrscheinlich nicht?«
»O doch«, sagte Pjotr.
Im November starb Fräulein Skarga.
Elisabeth erfuhr es durch Zufall, aus dem Gespräch zweier Mitschülerinnen. Es war Lungenentzündung gewesen, ein nur viertägiges Kranksein.
Es fiel ihr aufs Herz, daß sie die einsame Freundin in Wochen nicht mehr gesehen hatte. So achtlos betrug man sich, so ohne Gedanken, sogar dort, wo man liebte. Dies war nun dahin.
Über Ort und Stunde der Beisetzung wußten die Damen nichts. Sie verließ das Geschäft und zog Erkundigung ein: es blieb ihr eben noch Zeit, um sich umzukleiden.
Ein wolkenfinsterer Nachmittag und ein armes Begräbnis. Es war die Salvator-Kirche beim Türkentor, in der Bessie getauft worden war, und der alte Friedhof daneben, wo sie nach ihrer Erstkommunion mit Pjotr auf der Steinbank gerastet hatte.
Eigentlich wurde hier seit langem niemand mehr beerdigt; man sah keinen frischeren Hügel zwischen den eingesunkenen. Aber offenbar hatte die aristokratische Jungfer gerade hier liegen gewollt, und sie mußte vorgesorgt haben. Vielleicht hatte sie selbst sogar den Platz für ihre Ruhe gewählt: diese stillste Ecke im verwilderten Totengärtchen, zwischen der Apsismauer und einem unbegangenen Feldweg, der hinten vorbeizog.
Zwei Herren von der Schulkommission hatten sich eingefunden; eine Nichte des Fräuleins, die aus Sambor herübergekommen war und sauer blickte über die Zumutung; ein Major in verschollener Uniform, Kriegskamerad ihres Vaters; und ein ukrainisches Weiblein, das ihr zuletzt den Haushalt besorgt und in dessen Obhut sie auch gestorben war.
Als der Sarg herangetragen wurde, begann es zu regnen. Es war ein abscheulicher Regen, eisig, schräg peitschend. Der Sturm riß von Bäumen und Büschen die Blätter ab. Zur allgemeinen Verlegenheit kniete das ukrainische Weiblein dicht neben der Grube nieder, bekreuzigte sich unaufhörlich und betete laut. Zwei Wochen später wurde Elisabeth ein umfangreiches Paket ins Haus geliefert: schwergebundene Bücher ungleichen Formats, stockfleckig alle und wurmzerfressen. Es war Fräulein Skargas gehüteter Schatz, früheste Ausgaben der Werke ihres berühmten Vorfahren, des Jesuitenmönchs, Staatsmanns, Königserziehers und Redners. Einer der Bände, der stattlichste, trug eine Widmung in des Fräuleins genauer und männlicher Hand.
»Ihr polnischen Menschen«, war da Peter Skarga zitiert, »der Feind wird einbrechen in Euer Land und wird Eure Uneinigkeit nutzen. Eure Herzen waren entzweit, wird er sprechen, nun geht Ihr zugrunde. All Eure Rechte werden begraben sein und ein Spott. Als Landstreicher werdet Ihr irren über die Erde, auf der Ihr einst frei waret, bettelarm und verachtet, umhergestoßen von Euern Zwingherren, gut genug eben, um Holz zu spalten und um Wasser zu schleppen unter dem Joch.«
Darunter hatte das Fräulein geschrieben:
»Für meine Elżunia, die dieses auswendig gelernt hat für mich, als sie noch klein und schon viel zu mutig war. Helena Skarga.«
Die Worte »viel zu mutig« waren unterstrichen, sorgsam, mit Benutzung des Lineals.
Schauerlich kam diese Warnung aus lang zerfallenem Mund, weitergegeben durch einen, der sich auch schon mit Erde zu füllen begann.
Und es war schon die dritte.
»Was fangt ihr an, wenn ich tot bin. Wartet nicht lange! Hier wird's wieder schlimm.« Das war Chana, mit ihrem letzten Atem.
»Sie bemerken vielleicht, daß ich nach einem Schlupfloch suche für Sie.« Das war der lebendige Herkimer.
Von ihm kam des öfteren Nachricht. Zweimal zeigte er einen Wechsel seiner Adresse an. »Gut«, schrieb er etwa dabei, »daß der Februar um ist. Man kann wieder hinüberwaten.« Oder: »Debatte im Parlament über das Tier. Mattherzig, trostlos. Vor ihm her hüpft die Angst – wahrhaftig; das tut sie!« Jedes Wort zwischen uns ist mir wichtig geblieben, besagten die Anspielungen.
Aber er erhielt keine Antwort. Sie fand nicht den Ton. Herkimer war ihr zugleich so nahe – und sie kannte ihn kaum. Was sie niederschrieb, klang ihr entweder steif oder übervertraulich. Schließlich gab sie es auf.
Es fehlte auch sonst nicht an Wetterzeichen in diesem dumpfigen Jahr. Sie zuckten über den Erdhorizont, von Spanien bis China. Und wie wütig drinnen in seinem Pferch das Eisentier um sich stieß und Leben zertrat, das ließ sich sogar aus den polnischen Zeitungen lernen, so paktfromm sie flüsterten. Als Elisabeth eines Morgens beim Frühstück von solcher Lektüre aufschaute, sah sie die Mutter sich gegenüber, einen offenen Brief in der Hand, mit ganz verlorenem Ausdruck.
»Du würdest nicht wissen, Bessie, von wem der kommt. Ich weiß es kaum selbst mehr.«
Das Schreiben stammte von Arnold Grünbaum, dem kunstbegabten Sohn jener Berliner Familie, in der sie mit Chana Zuflucht gefunden hatte vor undenklicher Zeit. Dieser junge Mensch hatte sie damals geliebt.
Recha vergegenwärtigte sich, daß der junge Mensch jetzt ein Sechziger sein mußte. Und geflüchtet war er nun selber. Er hatte, schrieb er, mehr Glück gehabt als Benno, sein Bruder.
Benno – das war der gewitzte und ehrgeizige Geschäftsmann gewesen, der zu Pelzauktionen nach London fuhr, sich als einer der ersten ein Auto hielt und es nicht erwarten konnte, nach dem legitimierenden Westen zu ziehen. Nun war er ein verlorener Mann. Sein Pelzgeschäft hatten sie ihm unter höhnischen Kniffen gestohlen, und als er tolldreisterweise die Gerichte bemühte, war er in einem Lager verschwunden. Arnold mit seiner Familie war nach Frankreich entkommen und in Nancy gestrandet. Hier spielte er in einem Kaffeehaus, dem eigentlich ein anderer Name zukam, am Abend zu zotigen Liedern Klavier – vor der bezechten Mannschaft des zehnten Armeekorps, wie er mit sonderbarer Genauigkeit schrieb. Sie lebten im Elend.
Arnolds Hilferuf, falsch adressiert, war lang gereist; ein Wunder, daß er Recha erreicht hatte.
»Können wir Geld schicken nach Frankreich«, fragte sie. »Alle diese Bestimmungen jetzt –«.
»Da kennt Heinrich die Wege. Die unglücklichen Menschen!«
»Bessie, du ahnst nicht, wie sie's getroffen haben muß. Sie waren so völlig zu Haus. Sie lebten so sicher.«
Und wir? hätte Elisabeth fragen müssen.
Aber sie hatte das Herz nicht.
Zum erstenmal, seit sie denken konnte, sah sie ihre Mutter zufrieden in ihrer Existenz, in der gemeinsamen, freundlichen Tätigkeit. Von ihrer krankhaften Scheu, der gehetzten Abseitigkeit, war kaum etwas übrig. Aus diesem Frieden, der beinahe Glück war, sollte sie Recha hinausreißen ins Ungewisse – und vielleicht ohne Not.
Elisabeth hatte die Stimmen ihrer Warner im Ohr. Aber deren Befürchtungen wurden von der Welt nicht geteilt. Aus Deutschland schallte eine Rhetorik des guten Willens heraus, nichts als Friedensklänge, Verständigungshymnen. Nie fiel gegen Polen ein rauhes Wort, Minister reisten an aus Berlin und jagten mit ihren polnischen Kollegen im Wald von Białowiża den Auerochs. Und ebenfalls von Berlin, noch warm vom Empfang dort, kam auch der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten und wurde enthusiastisch geehrt, weil er im Elendsjahr nach dem letzten Krieg Polens Kinder gespeist und gerettet hatte. Nein, nach neuem Krieg, nach plötzlichem Überfall sah das alles nicht aus.
Freilich, zwei Tage nach diesem Präsidentenbesuch brach drüben das Ungetüm zum ersten Male aus seinem Pferch. Ein kleines Land verschwand in seinem Rachen, und es floß weiter kein Blut. Nur jüdisches floß.
In den Staatskanzleien Europas regte sich nichts. Nicht einmal Protest kam. War nicht dieses Österreich »ein deutsches Bruderland« und also legitimer Fraß für das Tier? Nun würde es stille liegen und verdauen.
In der Villa kam eine offene Karte an, die in Salzburg zur Post geliefert war. »Er wird keinen Bund mit dir machen«, stand auf ihr zu lesen. Sie trug keine Unterschrift.
Aber die Gegenwart, das Wort bleibt wahr, ist eine mächtige Göttin. So freundlich ist die Gewohnheit der täglichen Pflicht, der erfolgreichen Mühe. Elisabeths »Völkerbund« florierte erstaunlich. Sie hätte sich gestehen dürfen, daß ihr im Winkel dieser polnischen Provinz eine bescheidene Sendung erwachsen war. Und das galt noch besonders, seit unter den Eisentatzen nun auch Österreich erstickte.
Von dort hatten deutsche Denker, Dichter, Erzähler mit ihrem Werk noch zur Welt sprechen können. Jetzt sahen sich auch diese letzten nach einer besseren Zuflucht um. Diese Zuflucht war Holland.
Aus Amsterdam gelangte die gehetzte Literatur auf Elisabeths Regale am Ringplatz. Sie setzte ihren Ehrgeiz darein, daß nichts davon fehlte.
Aber die Bücher verkauften sich schwer. Dieselbe Welt, die sich die Augen zuhielt vor der deutschen Gefahr – sie begann sich die Ohren zuzuhalten vor der deutschen Sprache, auch dort, wo diese Sprache ein Instrument des Grams und der Auflehnung war.
Der Versand der Bücher aus Holland nach Polen war keineswegs einfach. Er geschah unter Umgehung des Pferchs; immer neue Umwege mußten ersonnen werden. Zahlungen zu bewerkstelligen war ein Problem.
Das machte Briefaustausch nötig, besonders mit einer dieser Verlagsfirmen – der, die am meisten wagte und galt. Angenehme Äußerungen kamen von dort, frei und humoristisch im Ton. Der Mann, der sie zeichnete, hieß Auerbach.
Es wäre nützlich und anregend, dachte Elisabeth, da einmal persönlich Kontakt zu suchen. Auch war sie lange nicht draußen gewesen und verspürte beträchtliche Lust, einmal wieder die Nase in andre Luft zu stecken. Und die Reise war kurz. Man bestieg in Warschau das Flugzeug und war nicht genötigt, unterwegs seinen Fuß auf deutschen Boden zu setzen.
Unleugbar übrigens befand man sich, einmal in Amsterdam, ganz in der Nähe der Britischen Inseln. Aber Bessie untersuchte durchaus nicht genau, wie weit diese geographische Tatsache bei ihrer Reiselust mitsprach.
Das Haus, ein hundertjähriger feiner Ziegelbau, blickte mit seiner hohen und schmalen Front nach der Gracht. Ulmen spiegelten ihr gezahntes Blattwerk im lautlosen Wasser.
Droben das Zimmer im dritten Stock, zu dem man Elisabeth wies, schallte vor Tätigkeit. Die Arbeitenden waren beengt von Bücherstapeln und versandbereiten Paketen. Jemand diktierte. Zwei Schreibmaschinen klapperten durch die offenen Fenster in die Stille hinaus.
Herr Auerbach kam aus seinem Privatkontor und streckte ihr die Hände entgegen. Dieses Kontor war ein Kämmerchen; ein Schreibtisch hätte nicht Platz gefunden. Statt dessen sah man neben dem Fenster ein altmodisches Stehpult, wirr mit Papieren bedeckt. Zwischen den Regalen und Büchertürmen blieb gerade Raum für zwei Stühle.
Sie saßen kaum, so strömte schon das Gespräch ohne Hindernis. Sie hatten nicht nötig, erst gemeinsamen Boden zu suchen. Wer bei Herrn Auerbach eintrat, war ein Verbündeter.
Er wirkte unmittelbar angenehm, durchaus nicht enttäuschend nach seinen Briefen. Seine sehr dunklen Augen im mittelmeerbraunen Gesicht unter einem wahren Helm von nachtschwarzem Haar leuchteten klug. Und er lachte gern, mit Genuß. Es war ein freies und tapferes Lachen, ein Lachen »trotzdem«.
Ja, in diesen zwei Stuben hatte die verjagte Literatur im Unwetter ihr Obdach gefunden, wie Lear auf der Heide. Man hatte dem Eigner des Hauses, einem eingesessenen Verleger, dankbar zu sein für den Unterstand. Dankbar auch für jeden einzelnen Gulden seines scharf kalkulierten Leihkapitals. Ein bemerkenswerter Charakter, dieser alte van Lennep, mit seinem geschäftlich gezügelten Enthusiasmus – die Besucherin mußte ihn unbedingt kennenlernen.
Vierzig Publikationen waren im vergangenen Jahr allein aus den zwei Stuben hervorgegangen. Es gab noch immer ein Echo. Um das ummauerte Deutschland, das stumm und ertaubt lag, wohnten verstreut noch Menschen, die Deutsch lasen: in Holland, der Schweiz, der tschechoslowakischen Republik, den skandinavischen Ländern und neuerdings ja – er lachte fröhlich – etwas mehr auch in Polen.
Freilich, die Auflagen waren gering, und viele Autoren begriffen das nicht. Sehr berühmte waren darunter, gewöhnt an ein begieriges Publikum und an gesicherte Einnahmen. Da war oft Geduld nötig – »die Geduld einer Krankenschwester« formulierte Herr Auerbach, und sein Lachen klang jetzt eher betrübt. Er durfte zum Beispiel diesen Enttäuschten nicht antworten, daß er seinen Laden längst hätte zusperren müssen, hätte nicht mitunter die Übersetzung eines international bekannt gewordenen Werks Geld in die trockene Kasse geleitet.
»Hiervon erhoff' ich mir viel«, sagte er und nahm von einem Stapel, der gegen die Mauer lehnte, einen Band in glanzblauem Umschlag mit leuchtender, roter Schrift, »und nicht bloß aus geschäftlichen Gründen – Aber mein Gott, was haben Sie denn? Fehlt Ihnen etwas –«
»Nichts«, sagte sie schwach, »sicher diese Reise im Flugzeug –«
»Wollen Sie Kognak?«
Sie schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. Was für eine grundalberne Reaktion! Sie spürte, daß ihr Gesicht ohne Blut war und ihre Augen voll Tränen. Die Titelbuchstaben auf glanzblauem Grund verzerrten sich rot in die Länge:
Levitathan
John Herkimer
Auerbach blickte an ihr vorbei, auf die Giebel jenseits der Gracht.
»Es ist der Vormarsch des Monstrums – die letzten vier Jahre, und vier Jahre voraus. In der Prophetie so klar wie im Rückblick. Kein Fragezeichen im ganzen Buch. Wem's da nicht den Rücken hinunterläuft! Nur der Titel, ich weiß nicht –«
»Ein guter Titel«, flüsterte sie.
Er zuckte die Achseln.
»In Amerika hat es sich riesig verkauft. Da sind sie bibelfester als hier und verstehen das Wort. Aber er hat auf dem Titel bestanden.«
»Hat er?« fragte sie leise.
»Wissen möchte ich«, fuhr Herr Auerbach sinnend fort, »wo der Mann die Kenntnisse her hat. Von London kann er nie lang fort. Aber er kennt sein Europa. Jeden Strick in dem Fangnetz, das die ausgespannt haben, in Frankreich, dem Baltikum, Portugal –«
»Polen«.
»Polen«, bestätigte er. Er lachte unvermittelt, wie es seine Gewohnheit war, und langte von seinem Stehpult ein paar Blätter herunter.
»Das ist die Liste der Exemplare, die gratis versandt werden sollen. Vierhundert Stück! Ich habe schüchtern gefragt, wer dafür bezahlen soll. Er natürlich, hat er gesagt. Den sollt' ich meinen Autoren mal vorführen. Nun, wahrscheinlich kann er sich's leisten.«
Sie nickte. Sie sah jetzt nicht Herkimer vor sich, sondern das teure Automobil, zerbeult und zerkratzt.
»›Rippenstöße austeilen‹ nennt er das. Jeder, der irgendwo Einfluß hat in Europa, müsse einen bekommen. Nun sind es also vierhundert Rippenstöße. Wir haben drei Stunden zusammen gearbeitet an dieser Liste.«
»Ach, er war hier«, sagte Bessie.
»Ist noch. Sie kennen ihn wohl«, sagte Auerbach und tat, als gehe ihm diese Möglichkeit eben erst auf.
Und dann machte sich alles ganz leicht.
Herkimer hatte am folgenden Tag in London zurückzusein. Aber heute am Abend war er zu Gast bei den Auerbachs, draußen in Laren.
»Kommen Sie doch mit mir hinaus! Um sieben von Station Weesperpoort?« Er umfaßte ihr helles Gesicht mit dem Blick. »Meine Frau wird sich freuen.«
Das hatte einen zögernden Klang. Aber Bessie war nicht in der Verfassung, auf Nuancen zu achten.
Drunten ging sie im Ulmenschatten am Wasser entlang, unterm Arm das Buch, das ihr Auerbach mitgegeben. Sie gelangte zur Utrechtsche Straat.
Am Rembrandtplein vor den Restaurants waren bunte Markisen einladend weit über die Terrassen herausgestellt. Sie verspürte plötzlichen Hunger, ließ sich ein Gericht Krabben geben und ein Glas Sherry dazu und rührte dann beinahe nichts an.
Der weite Platz mit den Zelten, mit der reichen, großblättrigen Pflanzung inmitten wirkte unbestimmt fremdländisch. Junge Leute blitzten auf ihren Rädern um das Rund, auffallend viel hübsche Mädchen darunter. Sie sah alles durch einen farbigen Nebel
Wie töricht von ihr, wie provinziell, sich nicht zu erkundigen, wo Herkimer wohnte! Nun hatte sie bis zum Abend zu warten und sah ihn dann nicht allein.
Sie stand schon am Telefonapparat, zu einem Anruf bei Auerbach. Aber sie legte den Hörer zurück.
Wußte sie denn überhaupt, wie er sich stellen würde bei ihrem Wiedersehen? In vierzehn Monaten ging in Herkimers Leben vieles vor. In vierzehn Monaten hatte sie keinen seiner Briefe beantwortet. Seit dreien war er selber verstummt. Er hätte jederlei Recht, befremdet und entfremdet zu sein.
Sie schlug sein Buch auf im Leinwandschatten und versuchte zu lesen. Sie trank drei Tassen von einem höllenstarken Kaffee, obgleich ihr Herzschlag nach Beschleunigung durchaus nicht verlangte.
Sie machte sich wieder auf. Der Julinachmittag strahlte, temperiert von der Meerbrise. Bessie durchquerte den Kern der schönen, gelassen geschäftigen Stadt, stand eine Weile vor dem Palais der Königin, an dessen zurückhaltender Fassade die vielen Fenster sorgsam verhängt waren und kehrte in weitem Halbkreis an einem Wasser entlang, in der Richtung nach ihrem Ausgang zurück.
Vernünftig wär' es gewesen, im Hotel jetzt ein wenig auszuruhen. Sie legte gar keinen Wert darauf, sich am Abend hohläugig zu präsentieren. Aber von Schlaf würde doch keine Rede sein. Und noch immer vier Stunden.
Sie entsann sich der berühmten Gemäldesammlung der Stadt und fand ihren Weg.
Das war ein fragwürdiger Notbehelf. Sie verlor sich in den Sälen und Gängen voller Porträts, Stilleben, Meerbilder, Schützengruppen, Regentenstücke. Bessie liebte Museen nicht besonders. Solch ein Repräsentationsbild war für einen Ratssaal gemalt, so ein Seestück für das Empfangszimmer bei einem Admiral, dieses intime Frauenporträt für einen patrizischen Gatten. Hier hing das nebeneinander wie im Leichenschauhaus.
Natürlich, es lag an ihr. Sie »verstand« nichts von Malerei. Nie hatte sie das Bewußtsein gehabt, den Kern, das Geheimnis in dieser Kunst so zu spüren wie etwa den seligen Zusammenklang in einem Gedicht oder die spröde Magie einer Prosa.
Diese endlosen Bilderfluchten verschüchterten sie. Welch bedrängender Überfluß; welch meisterhafte und geisterhafte Routine. Da war einer mit Namen Wouwermans. Er kehrte fünfzigmal wieder. Nichts als Reitszenen, Reitergefechte, Jagden zu Pferd. Der Mann mußte von einer krankhaften Passion für Schimmel besessen gewesen sein. Überall paradierte im Mittelpunkt ein mächtiger Schimmel sein leuchtendes Hinterteil. Sie flüchtete vor diesem Wouwermans, machte in einem Seitenkabinett halt vorm Fenster und blickte erschöpft in den Lichthof.
Als sie sich umdrehte, sah sie sich einem Bild gegenüber, das unterhalb ihrer Augenhöhe da hing. Den Namen des Malers hatte Elisabeth niemals gehört, was übrigens nicht viel besagte. Aber es war das erste Bild, das sie in all der Überfülle wirklich sah. Sie rückte sich aus der Fensternische den Schemel heran.
Es war die typische holländische Flachlandschaft, gemalt in einem eigentümlichen Ton zwischen Herbstbraun und Silber. Irgendwo seitlich die Windmühle. Vorn ein gerader Kanal, den Widerschein der spätesten Tagesröte auf seinem moorigen Wasser. Und diesem vergehenden Rot antwortete ein andres, ein stärkeres, warmes, aus den Fenstern eines Hauses im Hintergrund, dessen niedriger Umriß verschwamm.
Nirgends eine Bewegung; keine Menschenfigur. Aber dies Lampenrot wartete auf einen Mann, der jetzt gleich in den Feldweg einbiegen würde, um nach Hause zu kehren. Alles war schon darin: die gute Müdigkeit nach anständigem Tagwerk, Dampf der Abendsuppe, stockendes Gespräch um den Tisch und die vorausgespürte traumlose Nachtrast. Mehr wird keinem gegeben, sagte das Bild, mehr kann dem Menschen nicht werden als sein Friede nach einem redlichen Tag.
Kein Wunder, daß solch klaglose Botschaft einen heute ergriff. Wer konnte noch ein unbedrohtes Stück Erde betrachten, ein Licht, das in einen ruhigen Abend hinausschien, ohne daß sich ihm das Herz zusammenzog vor dunkler Ahnung und Gram.
Eine Schelle wurde durch die Säle geläutet. Die Wächter zeigten die Sperrstunde an. Es war noch immer erst fünf.
Frau Auerbach kam ihnen entgegen. Dahinter stand Herkimer.
Überrascht war er nicht, das erkannte sie gleich, er hatte gewußt, daß sie kommen würde. Er nahm ihre Hand in die seinen. Von Befremdet- oder Entfremdetsein war da nicht eine Spur.
Ihre Hand ruhte in der warmen, trockenen Höhle dieser zwei riesigen, länger vielleicht, als sich schickte. Frau Auerbach betrachtete die beiden erstaunt.
Man ging sogleich zu Tisch. Allein, es wurde kein so behagliches Mahl wie jenes erste mit Herkimer, daheim in der Villa am Dnjestr. Und es lag an der Hausfrau. Kühle Mißbilligung ging von ihr aus.
Sie war eine ansehnliche Person, verlockend gewachsen, weißhäutig, mit einer Fülle von silbrigblondem Haar, das sie etwas zu künstlich frisiert trug. Ihr klares Gesicht mit den dunkelstahlgrauen Augen wäre schön zu nennen gewesen, hätte nicht ein unfreier, kleinlicher Zug gestört. Er rührte von einem auffällig kurzen Abstand zwischen Nase und oberem Lippenrand her. Bessie tat sich Gewalt an, nicht nach der Stelle hinzustarren. Sie hegte ein Vorurteil gegen solche Gesichter. Alwin Zweifuß und ihre Klassengenossin Jadwiga hatten so ausgesehen.
Auerbach selbst schien nicht der gleiche zu sein in Gegenwart seiner Frau. Bedrückt saß er am Tische. Sein gutes Lachen »trotzdem« war selten zu hören.
Kein Scharfsinn war nötig, um der Ehe dieser beiden auf den Grund zu sehen. Man griff die Wahrheit mit Händen. Aus jeder zweiten Bemerkung der Frau züngelte sie hervor.
Sie teilte das Exil unter einem Zwang, der ihr nicht von außen auferlegt war. Sie hätte bleiben können dort drüben, dem Beispiel der Unzähligen folgen, die solch bedenkliche Ehebande abwarfen wie ein schmutzig gewordenes Hemd. Als ein Musterbild dessen, was dort reinrassige Schönheit hieß, hätte sie bei offiziellen Empfängen geglänzt, womöglich einen der oberen Henker geheiratet.
Diese Laufbahn blieb ihr verschlossen. Sie kam nicht los von dem dunklen, anziehenden Mann. Sie folgte ihm in sinnlicher Knechtschaft.
Aber sie trug es ihm nach. Sie zerrte an ihrer Kette. Alles, wofür er stand, war ihr tödlich zuwider. Sie haßte diese Bücher, in denen der deutsche Herrschaftsgedanke mit Spott und Mißachtung abgetan war. Sie haßte noch mehr deren Urheber, die überlebhaften Literaten, die Auerbach zu ihr ins Haus brachte.
Und dann haßte sie Frauen. Ihr Anspruch auf diesen Mann, dem sie den Glanz ihres Daseins zum Opfer brachte, war ausschließend und herrisch.
Zwar von den brünetten, beschatteten Jüdinnen, die seinem Kreis angehörten, drohte keine Rivalität; dies war nicht der Schlag, dem Auerbach zuneigte. Anders das helle, schlanke Geschöpf, das da heute an ihrem Tische saß und mit solch hochmütiger Höflichkeit schwieg. Frau Auerbach hatte sogleich gewittert, daß zwischen dem Mädchen und diesem Amerikaner eine alte Vertrautheit bestand, und wahrscheinlich mehr. Dennoch blieb der Typus gefährlich. Sie legte ein Eisfeld zwischen sich und den Gast.
Übrigens irrte sie sich: was sie für Hochmut nahm, war vielleicht mehr Beklommenheit. Elisabeth sah ein böses Ende voraus. Herkimer, sagte sie sich, war schwerlich der Mann, diese nadelscharf hervorzuckenden Spitzen einen Abend lang hinzunehmen. Einmal schlug er zurück. Und Auerbach war dann genötigt, Partei zu ergreifen, seine Frau zu decken. Sie litt im voraus für ihn.
Allein es sah aus, als hätte sie Herkimers Nerven weit unterschätzt. Er legte ein unerwartetes Talent an den Tag, Anspielungen nicht zu verstehen, Bosheit zu ignorieren. Leviathan schien aus seinen Gedanken verbannt. Er redete wie ein Tourist von den Tulpenfeldern bei Haarlem; von den malerischen Fischern der Insel Marken; vom Café Royal im Haag, wo man den Gast mit einem Menü von zehn Gängen dem Tod durch Überfütterung aussetze; sogar von Rembrandt und Hals.
Offenbar genoß er die Situation. Er zuckte spießgesellenhaft mit dem Augenwinkel, wenn er zu Bessie hinübersah.
Schon dachte sie, der Abend werde ohne Unfall vorbeigehn. Man saß bei den starken holländischen Schnäpsen. Eine Viertelstunde noch, eine halbe zum höchsten, und Aufbruch war möglich. Da sagte Frau Auerbach:
»Ich kann Ihren Namen nicht unterbringen. Herkimer? Ich zerbreche mir wirklich den Kopf. Ist es ein skandinavischer Name?«
»Leider ein deutscher.«
Er hatte es nicht gewollt. Man sah ihm an, wie er sich gleichsam innerlich auf den Mund schlug. Schuldbewußt trank er ein ganzes Glas von dem »Bittertje« aus. Aber das machte die Sache nicht besser.
»Pfälzisch«, erläuterte er. »Aus der Pfalz sind meine Leute gekommen. Ist aber lange her, Gott sei Dank.«
Zweite Entgleisung. Neues Glas Bitter. Die Hausfrau öffnete schon ihren Mund im Vorgenuß ihrer Antwort. Da griff Herr Auerbach ein.
»In Ihrem Unabhängigkeitskrieg«, sagte er rasch und laut, »gab es einen General, der so hieß.«
»Möglich«, erwiderte Herkimer, »in jeder Familie gibt es einen verdammten General.«
»So einen nicht. Es existiert eine Biographie über ihn. Ein ausgezeichneter, tapferer Mann. Muß kein übles Gefühl sein, aus solchem Blut herzukommen!«
Aber es war zu spät. Herkimers gute Laune war aufgebraucht. Er sagte verdrossen:
»Von dem Blut kann nicht mehr viel dasein. Bei uns wird fleißig gemischt. Meine Mutter war eine Französin, meine Großmutter Irin. Dann gab's da noch spanisches Blut, allerhand slawisches und« – er trank einen Bittern – »jüdisches hoffentlich auch, ich wünsch' es von Herzen!«
Zu vertuschen gab es da nichts. Elisabeth sah in Auerbachs dunklem Gesicht Schrecken und Pein. Sie stand auf, reichte der Feindin die Hand und nahm Abschied.
Frau Auerbach, um ihre Szene betrogen, zuckte aus dem Handschlag zurück.
Der Hausherr begleitete seine Gäste bis auf die Straße.
»Geht noch ein Autobus nach der Stadt?« fragte Bessie.
»Noch viele«, sagte Herr Auerbach. »Sie sind nicht so lange geblieben!«
Ein Seufzer entfuhr ihm. Er korrigierte das, indem er tat, als atme er gierig die Kühle ein. Einen Augenblick stand man schweigend beisammen im hellen Abend.
»Gut, Sie zu kennen, Auerbach«, sagte Herkimer. »Danke für alles.«
»Danke«, sagte auch Bessie. »Aber von unsern Verlagssachen haben wir gar nicht gesprochen.«
»Habe ich listig vermieden«, sagte Herr Auerbach. »Auf diese Weise seh' ich Sie morgen noch einmal in meinem Büro.«
Aber es kam nicht fröhlich heraus. Er ging in sein Häuschen zurück.
»Geschlagener Mann«, sagte Elisabeth. »Warum schleppt er das weiter!«
»Warum«, knurrte Herkimer. »Männer bleiben doch immer nur aus Mitleid verheiratet.«
Sie erwiderte nichts. Sie spürte, was vorging in ihm. Es lag nicht in seiner Natur, sich lange Zwang anzutun, und es bekam ihm schlecht. Nun brauchte er Zeit, sich zurechtzurücken.
Die menschenleere Straße lief geradeaus, zwischen Wiesen und kleinen Wäldern. An zurückliegenden Häuschen, ähnlich dem, das sie eben verlassen, schimmerten im Mond die holländisch blankgeriebenen Scheiben. Es tat wohl, so zu wandern. Der Autobus, der nach der Stadt fuhr, holte sie ein und verlangsamte sein Tempo. Aber keiner von beiden hob die Hand.
Elisabeth war es traumhaft zumute. Dieses Einandertreffen, Sichwiederfinden erschien ihr als eine unglaubwürdige Fügung, beinahe als Wunder, obgleich ihr die Logik sagte, daß an den Umständen nichts Erstaunliches war. Einerlei, das Leben meinte es gut mit ihr!
Sie lächelte im Gehen vor sich hin, weil sie nun schon zum drittenmal den Tritt wechseln mußte. Als hätte sie's ausgesprochen, wandte er ihr das Gesicht zu.
»Absurd, wie lang meine Beine sind! Der letzte, der hätte Schritt halten können, war der verstorbene Lincoln.«
Seine Stimme klang wieder wie sonst. Frau Auerbachs Nachwirkung schien endgültig vorüber.
»Wie geht es denn Ihrer Mutter?«
Bessie gab Auskunft.
»Und Pjotr?«
»Pjotr – In diesem Augenblick sitzt er vor seiner Garage und raucht aus Ihrer Pfeife vorm Schlafengehn.«
»Freut mich, daß er sie mag.«
»Es ist schon eher ein Kult.«
Zur Rechten über einer offenen Einfahrt leuchtete blau ein gebogenes Transparent: Café-Restaurant Soerabaja. In dem Wirtsgarten, der ein Teil des umgebenden Wäldchens war, hingen über den leeren Tischen phantasievoll geformte Laternen, zur Rechtfertigung des exotischen Namens. Ein alter Kellner war damit beschäftigt, auf die Stühle zu klettern, um die Lichter zu löschen.
»Der wird sich so spät nicht freuen über uns«, sagte Elisabeth. Sie waren wie von selbst, ohne Verabredung, eingebogen.
»Wieder Kaffee«, fragte sie, als der Kellner bei ihnen stand, »oder was soll man nehmen?«
»Für mich kalte Milch«, sagte Herkimer. Der Alte ging, mit hängenden Schultern.
»Milch!« wiederholte Elisabeth. »Alles hätt' ich erwartet –«
»Pjotr sagt doch: ›Ein Säufer ist jemand, der ohne Grund trinkt.‹ Augenblicklich habe ich gar keinen Grund, nicht den allergeringsten.«
Das war nach seiner Art eine Huldigung, eine Erklärung beinahe. Sie saß wohlig befangen. Der Kellner kam wieder.
»Tut mir leid, daß Sie wach bleiben müssen«, sagte Herkimer und begleitete sein hier doppelt unverständliches Deutsch mit einem schamhaften Handdruck. Man sah den Mann im Schein der nächsten Laterne das Empfangene prüfen; aufgerichtet verschwand er im Haus und ward nicht mehr gesehen.
Flüsternde Stille. Vom unfernen Meer strich ein Salzhauch herüber. Der volle Mond schien durch das kaum bewegte Blätterdach und malte ungleiche Flecken auf den Waldgrund, auf dem sie saßen.
»Das sind sonderbare Laternen«, sagte Elisabeth.
»Sollen javanische sein. Sind aus Sachsen, natürlich. Solches Zeug kommt immer aus Sachsen.«
»Waren Sie einmal in Java?«
Er nickte. »Schöne Erzählungen haben sie auf diesen Inseln dort«, sagte er und sah schräg vor sich nieder auf einen Mondfleck am Boden. »Da lieben zwei Leute einander, sie heiraten, und bald kommt ein Kind. Aber sie sind zu arm, sie können kein Kind aufziehen. Der Mann geht nachts hinunter zum Fluß und ertränkt es. Im nächsten Jahr ist es wieder dasselbe, und auch im dritten. Immer ist es ein Knabe, und immer noch sind sie zu arm. Endlich kommt doch das Glück, und sie können ein Kind haben. Sie lieben es sehr. Eines Abends geht der Mann mit seinem Knaben am Fluß spazieren. Sieh doch, sagt er zu ihm, wie schön der Mond auf das Wasser scheint. Vater, sagt da das Kind, gerade so schön hat der Mond auf das Wasser geschienen, als du mich dreimal ertränkt hast.«
Sie konnte nicht widerstehen. Sie faßte mit der Hand nach der seinen. Es war ihre linke Hand, die, an der der Finger verkrümmt war.
»Woher haben Sie das?« fragte Herkimer.
»Von einem Steinwurf, als Kind.«
»Steinwurf. Ach so.«
Es klang, als wisse er alles von ihr. Als kennt er Fräulein Skarga, die Ghettobank, Justine, Jadwiga und Wanda – alle alten Geschichten.
»Gut, daß Sie das haben, Elisabeth.«
»Den Finger? Er ist doch abscheulich.«
»Gut ist es«, wiederholte er. »Was allzu vollkommen ist, das macht einen scheu. Man kann es nicht lieben.«
Sie lauschte dem nach. Die Worte entschleierten langsam ihren Sinn. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und sah die Gewißheit. Sie neigte sich ihm entgegen, an seine Brust, seinen Mund. Seine Arme umfaßten sie ganz. Und sie wußte, daß sie sich nie mehr loslösen würde aus seiner Umarmung.
Zwei Monate darauf erwuchs der exilierten Frau Auerbach neuer Grund zur Begeisterung für ihr Volk und dessen Gebieter.
Unterm eifrigen Kopfnicken der westeuropäischen Staatsmänner sprang er der tschechoslowakischen Republik an die Gurgel und riß ihr die wehrhaften Glieder ab. Die Straße nach Osten lag für ihn frei. Ein Erzittern ging durch die Länder.
In Warschau die »Obersten« fürchteten nichts. Denn ihnen war gnädig erlaubt worden, sich aus dem zuckenden Torso ein Stück Beute herauszuschneiden. Blumen, Glocken, Musik. Man saß mit dem Räuber bei Tische. Da konnte jeder nun sehen, wie gröblich der verstorbene Marschall seinen eigenen Pakt unterschätzt hatte.
Allerdings – vielen im Lande mißfiel die Beutegemeinschaft. Nicht den Juden allein, deren Brüder in Deutschland eben jetzt wieder dem Zehntausend nach in Prügelhöllen gesperrt und um ihr letztes gebracht wurden. Den besten unter den Polen selbst widerstand der Handel nicht minder. Er vertrug sich so schlecht mit der Überlieferung einer Nation, deren ganze Geschichte stolz ertragenes Leiden gewesen war.
Erleichterung fühlte man dennoch. Unbehaglich räumte man ein, daß das trübe Geschäft eine Art Gewähr für die Zukunft bedeute. Denn seit wann teilt einer sein Raubgut mit einem, den er morgen selbst zu überfallen gedenkt?
Ob auch Herkimer dieser Meinung war, ging aus seinen Briefen nicht hervor. Sie drückten sich über Fragen der Politik neuerdings vorsichtig aus. Denn der Postverkehr zwischen den Ländern verdiente nicht länger Vertrauen. Wiederholt waren Briefe geöffnet worden; Elisabeth sah die Spuren davon.
Es waren ausführliche Briefe jetzt, nicht mehr Karten und Zettel – strömend zärtlich und warm. Die beiden waren sich einig über die gemeinsame Zukunft. Herkimer wußte und hieß es gut, daß sie sich von ihrer Mutter nie trennen würde. Er sah ein, daß auch so noch für Rechas Natur der Schnitt einer Verpflanzung schmerzhaft sein müsse. Zweimaliges Wandern wenigstens konnten sie ihr ersparen. Denn es gab Anzeichen dafür, daß seinem eigenen Bleiben auf dem Londoner Posten ein Ziel gesetzt war. Man verlangte ihn drüben.
Einmal blieben seine Briefe länger aus als gewöhnlich. Und dann kam ein Kabel vom Boot.
Genau während dieser Tage, im Frühjahr 1939, erhielt die exilierte Frau Auerbach wiederum Grund zur Erhebung. Der deutsche Gewaltherr stieß dem blutenden Rumpf der von allen verlassenen Republik sein Schlächtermesser ins Herz. Dann zog er ein, im Triumph, und schlief auf der Prager Burg im Bett der böhmischen Könige.
Jetzt begannen sogar die Helfer von gestern an ihrer Weisheit zu zweifeln. Die Stimmen der Warner, mißachtet bisher und nach Kräften erstickt, dröhnten ihnen im Ohr.
Einer von ihnen, Herkimer, ging drüben an Land. Es handelte sich noch nicht um seine Übersiedlung; er begann eine Redefahrt durch die Staaten der Union, wie vor zwei Jahren. Aber diesmal unternahm er sie mit der Billigung seines Konzerns und gefördert durch ihn. Die Zeiger waren weit vorgerückt an der Uhr.
Sein Name hatte noch zugenommen. Sein Buch befand sich in aller Händen. Es lasen es die, deren halbeingestandene Ängste er aussprach und klar umriß; und auch die lasen es, die aus heimlicher oder offener Sympathie mit dem Unheil ihn im voraus verwarfen.
Seine Rundtour war auf vier Monate angelegt. Das Wetter wurde schon sommerlich; aber unvermindert strömten die Massen zu ihm in die heißen Säle.
Es war harte Mühsal. Zwischen den Flügen, Bahn- und Autobusfahrten, den Redeabenden selbst, den nie abreißenden Menschenbegegnungen sprach er in jeder Woche viermal über das Wellennetz seines Konzerns zu dem langsam aufwachenden Land.
Er behielt keine Stunde für sich. Seine Briefe konnten nur kurz sein. In jedem riet er zu rascher Entscheidung. Daß Polen als nächstes Opfer ausersehen sei, stand für ihn fest. Er drängte. Er nahm keine Rücksicht mehr auf unberufene Leser.
Aber beim ersten Versuch, ihre Mutter zu einem Entschluß hinzuführen, stieß Elisabeth auf ein wahres Entsetzen. Recha weinte und schloß sich ein. Ihr Zustand erinnerte an jene schlimmsten, vergangenen Tage, da man für ihren Verstand hatte fürchten müssen.
Elisabeth besprach sich mit Heinrich. Aber dorther kam keine Hilfe. Der kleine Mann war von fatalistischer Gleichgültigkeit wie gelähmt – ein Mensch, dem an Zukunft und Leben nicht das geringste mehr lag. Er sah nur, daß Recha litt und daß man ihr Leiden ersparen müsse.
Es blieb nichts übrig, als abzuwarten. Im Hochsommer kehrte Herkimer nach Europa zurück. Dann würden sie handeln.
Als dieser Zeitpunkt nahe bevorstand, empfing sie seinen ersten in Ruhe geschriebenen Brief. Er kam von der Farm.
Sie spürte, wie sehr er erlöst war, daß die Zeit der Trennung zu Ende ging. Nun schien ihm kein Warnruf mehr nötig.
Er nahm Elisabeth bei der Hand und führte sie durch sein Wiesen-, Acker- und Waldreich. Zum erstenmal erhielt sie einen Begriff davon, welch eine stattliche Heimat sie da erwartete. Er ging mit ihr durch das Haus auf dem Hügel, beschrieb die Räume, die sie für Recha einrichten würden, und das Zimmer für Pjotr, von dem man unmittelbar ins Freie hinaustrat, mit einer Bank davor, um abends zu rauchen, genau wie daheim. Was ihn selber betraf – er würde ja seine Zeit teilen müssen zwischen der Farm und Washington, seinem Arbeitsort. Aber die Reise war kurz. Bessie würde schon reichlich genug bekommen von seiner Gegenwart.
Der ganze Brief atmete eine sehnsüchtige Vorausnahme künftigen Glücks.
Am Schluß waren einige Zeilen von der Hand seines Vaters angefügt. George Herkimer schrieb:
»Ihr Bildchen werde ich meinem Sohn wegnehmen, ehe er fährt. Er sieht Sie ja bald, aber ich muß noch warten. Und fragen Sie doch Ihre Mutter, auf die ich mich freue, ob ich Polnisch lernen soll. (Es gibt zwei polnische Familien auf dem Gut.) Wir müssen doch eine Sprache haben, um über Euch beide zu klagen. Inzwischen, Elisabeth, seien Sie gesegnet von mir und bedankt.«
Herkimer reiste Ende August. Am Tag seiner Ankunft kam aus London ein Telegramm. Aber der Text war verstümmelt. Drei verständliche Worte schlugen unheimlich heraus: »American Legation Bucharest.«
Sie telegrafierte zurück; vergeblich. Sie kaufte alle erlangbaren Zeitungen. Sie klangen eher beruhigend. Es figurierte da eine Nachricht, die englische Regierung habe über gewisse schwebende Fragen direkte Verhandlung zwischen Berlin und Warschau angeregt, Berlin habe zugestimmt.
In der letzten Augustnacht, spät, läutete in der weißen Villa das Telefon. Elisabeth lief hinüber ins Wohnzimmer, stieß schlafbetäubt gegen die Möbel, preßte im Dunkel den Hörer ans Ohr.
Es rauschte da drinnen und pfiff. Stimmen überschnitten einander, polnische, deutsche, dann englische Stimmen. Sie wartete lang. Sie schlug auf die Gabel. Keinerlei Antwort. Neues Stimmengesause. Auf einmal wurde der Apparat still. Alles riß ab. Schweigen wie aus dem Grab.
Das Monstrum aus Stahl und Wahn brach über die flache Grenze. Es zertrat das dünne Verteidigungsnetz, Stacheldrähte und Blockposten, so wie ein fünftausendpfündiges Flußpferd Schilf und Rohr am Ufer zerknickt.
Und dahinter war nichts mehr. Die »Obersten« hatten es klüglich verschmäht, das offenliegende Land in größerer Tiefe zu sichern: vielleicht hätte ihr Paktfreund das übel vermerkt. Nun rollte sein Angriffsheer über die staubigen Straßen dieses verhängnisvoll trockenen Herbstes mit der Präzision eines Uhrwerks.
Die »Obersten« hatten vielleicht auch nicht deutlich gewußt, welch neuartiges Kriegsinstrument er sich unterm segnenden Auge westlicher Staatsweisheit da zusammengeschmiedet und -genietet hatte. Mit Infanterie gab er sich längst nicht mehr ab. Da marschierte kein Mann mehr zu Fuß. Da gab es kein Pferd. Es gab nur die Maschine. Motorisierte Sturmregimenter, den schweren und den leichteren Tank, schwere Panzerwagen und leichte, das motorisierte Feldgeschütz und die motorisierte Haubitze. Und zu Häupten der wandernden Festung den Schwarm von Bombern und fliegenden Fechtern, der die Bläue verfinsterte.
Polen war denn also das Opfer. Aber Polen stand nicht allein. Die Regierenden in England und Frankreich, gezwungen vom Volksgefühl, hatten den Buchstaben ihrer Verträge erfüllt und befanden sich gleichfalls im Krieg. Nun wartete alle Welt auf die Hilfsaktion dieser Starken.
Nichts kam. Nichts konnte wahrscheinlich kommen. Denn die Staatsdenker in London und in Paris hatten kaum besser vorgesorgt als die »Obersten«. Die Welt war verblüfft.
Sie war auch verblüfft über Polen. Ein paar Monate wenigstens hätte es standhalten müssen! Aber nach zwölf Tagen bereits machten die amerikanischen Korrespondenten es klar, daß von seinen zerschmetterten Korps nur abgesprengte Reste noch kämpften, bloße Dessertbissen für das schon verdauende Raubtier.
Wie war so etwas möglich! War denn nicht der polnische Soldat als todesmutig berühmt? Das war er, mit Recht. Nur daß er – und die Korrespondenten machten es klar – eine altmodische Flinte in Händen hielt und daß bloß ein paar elende Kanonen da waren, um ihn zu decken.
Aber gab es nicht die Kavallerie, glänzend beritten und hochtrainiert, eine Augenweide für jedes patriotische Herz? Ja, es war eine unvergleichliche Kavallerie, so großherzig tapfer im Angriff wie einst gegen den Deutschen Orden und gegen die Türken. Nur daß die bewimpelten Lanzen dieser Chevauxlegers und Ulanen an den Panzerwagen und Tanks wie Knabenspielzeug zersplitterten. Nach solch einer mittelalterlichen Attacke gegen ein Stahlgebirg blieb nichts übrig als tausend verstümmelt sterbende Ritter und tausend Pferde, die mit zerrissenen Bäuchen ihre Beine zum Himmel streckten.
Die Menschen im polnischen Land vergaßen ihren künstlich genährten Hader – zu spät. Es gab nicht mehr Litauer, Weißrussen, Juden, Ukrainer. Ineinanderverflochten warfen sich die Arbeiter, Bauern, geistig Geschulten und Händler dem Unheil entgegen. Sie widerstanden, mit ihren bloßen Händen beinahe, auf der Westerplatte, bei Hel, in Modlin, um Lemberg. Die Hauptstadt selbst, unterm Bombenschlag aus der Luft und den rings massierten Geschützen, verweigerte ihre Kapitulation vier höllische Wochen lang. Wo ein Armeeteil erlag, da verschmähten es die Offiziere, sich gefangenzugeben. Die hochnäsigen Dandys von gestern schlossen sich zu Bataillonen zusammen, um doch noch zu sterben. Das war das Privileg, das sie jetzt noch beanspruchten.
Alle hatten erkannt im unerbittlichen Licht dieses wolkenlosen September, was da heranrückte. Nicht einfach ein fremder Eroberer, wie zehnmal zuvor in Polens Leidensgeschichte, sondern ein Grauen, das überhaupt noch keinen Namen besaß. Grauen, Hirnseuche und Haß – kalter, tauber, leeräugiger Haß, Lebenshaß, Glückshaß. Das in der Stahlretorte wiedererzeugte, reißende Menschenvieh aus gesetzloser Urzeit.
Denn mit der Eroberungsmaschine zugleich zog ein anderes Heer ein, dessen Aufgabe nicht Landgewinn war, sondern Schrecken, Marterung, Erniedrigung und Vertilgung. Alles was da Schutzstaffel hieß, Schwarze Garde, Verfügungsgarde, Schutzpolizei und wofür es einen gemeinsamen Namen gab, den sie selber sehr schätzten: die Mordkommandos. Kompakte Motorregimenter, schwarz oder grün uniformiert, Stahlpeitsche und Maschinenrevolver im Gürtel und an der Mütze das stolz gezeigte Emblem: Totenkopf und Totengebein.
Sie waren des Häuptlings rarstes Produkt, seine Auslese aus deutscher Jugend. Gutgenährte, muskelkräftige Burschen, in den heimischen Torturkellern und Tötungsbaracken an Sozialisten und Juden geschult. Sorgfältig, wissenschaftlich entmenscht – zu hochwichtigem Zweck.
Denn auch Folter und Mord an unterworfenen Völkern war nur Vorbereitung für diese Elite.
Dem Häuptling graute vor seinem eigenen Volk.
Es war ein schnellgläubiges, unmündig schwankendes Volk. Er hatte es erst in den Wahnwitz geschwatzt, dann in Knechtschaft geschreckt und gestreckt. Aber das Gespenst der deutschen Vergangenheit schlurfte durch seine Nächte. Er wußte, was einmal kam. Ein Volk, dessen freie Unsterbliche im Geistersaal an der oberen Tafel sitzen, wird nicht vollkommen eins mit einem giftigen Gauner. Einmal riß es die Augen auf vor dem Abgrund verworfenen Elends, vor den es geführt war – und wollte zurück. Das war dann die Stunde. Für sie benötigte er nicht Regimenter, sondern Brigaden, Armeekorps seiner motorisierten Hyänen.
Von ihnen ummauert, zog er jetzt ein, im Feiglingstriumph, die Nüstern gebläht vom Brand- und Leichengestank. Dann kniete er auf dem Wawel in Krakau am Grab des Marschall-Befreiers.
Hier ruhen Polens Helden, Dichter und Könige, die Besten von denen, die für seine Freiheit gelebt und geblutet haben. Er wußte genau, was er tat. Es war erwogene Schändung. Er sah sich ja selbst: einen bluttropfenden, schmierigen Strolch im Heiligtum der Nation. Polens Gegenwart zu zertreten war nicht genug. Seine finstere Posse am Grab sollte alle Geschichte, allen leidvollen Stolz austilgen aus polnischen Herzen.
Elisabeth ging mit Pjotr zur Stadt. Eigentlich hatte sie früher aufbrechen wollen. Aber ihre Mutter allein zu lassen, wagte sie nicht. Und Heinrich, den sie gebeten hatte zu kommen, war erst gegen Mittag erschienen.
»Jetzt ist es zu spät für die Pässe«, sagte sie, lehnte sich gegen das Brückengeländer und blickte auf das gelbgrau durchschießende Wasser.
»Wir bekommen ja doch keine, Bessie. Auf diesem Amt ist bloß noch ein einziger Schreiber, und der weiß nicht Bescheid. Aus Verzweiflung schreit er die Leute an.«
»Vielleicht geht es ohne Pässe. An der Grenze unten ist eine Stelle, da kann man über den Fluß.«
»Ja, Bessie, das ginge schon. Aber wie kommt man zur Grenze. Es gibt kein Benzin mehr am Ort, nicht einen Tropfen. Als hätten's die Leute getrunken. Pferde sind bei der Armee.«
»Und mit der Eisenbahn?«
Er zuckte nur seine Achseln.
In der Tat war das Städtchen am Dnjestr seit mehreren Tagen isoliert. Alle Verbindungen, auch die über den Draht, hatten aufgehört, es ging keine Post, es gab keine Zeitung. Nur Flüchtlinge brachten von der Kampflinie, die ziemlich entfernt lag, Trauerbotschaften und böse Gerüchte.
Sie waren weiter gegangen, gelangten zum Brückenkopf.
»Sei du nur ruhig«, sagte da Pjotr. »Er bringt schon Benzin mit.«
Sie sah ihn aufgestört an.
»Was meinst du denn?« fragte sie tonlos.
Sie wußte sehr gut, was er meinte. Sie hatte den ganzen Weg über an nichts andres gedacht.
»Er wird dich schon nicht im Stich lassen, Bessie. Der nicht.«
»Du glaubst, sie lassen Berichterstatter dabeisein?«
Er nickte. »Der Schlosser Kvitka ist gestern gekommen und hat es erzählt. Wahrscheinlich sind diese Deutschen stolz auf das, was sie anrichten, und wollen, daß es die ganze Welt erfährt. Den Kvitka haben sie gefangengenommen, bei Krakau, mit vielen anderen. Wie sie schon dastanden zum Abtransport, ist ein Amerikaner gekommen und hat sie ausfragen wollen. Ein sehr kluger Mensch, hat unsere Sprache gesprochen. Aber das haben die Deutschen nicht erlaubt. Der Kvitka ist schließlich davongelaufen. Er ist ganz gesund. Nur die Zähne haben sie ihm eingeschlagen, zum Spaß.«
Er lachte gutmütig, als gehörte ein nahender Weltuntergang ins Gebiet seiner täglichen Erfahrung.
Die Kreuzgasse krümmte sich menschenleer. An den Kaufläden, die fast sämtlich Juden gehörten, waren die schweren Fenstertüren geschlossen. Es sah hier aus wie sonst nur am Sabbat.
Auf dem schmalen Trottoir kam ihnen eine schwarzgekleidete Dame entgegen. Sie trug ein schwarzes Taschentuch in der Hand. Erst im letzten Moment erkannte Elisabeth das hübsche Gesicht, das vom Weinen verschwollen war.
Wanda blieb stehen, schluchzte auf und fiel Elisabeth an die Brust.
»Stanislaw«, brachte sie hervor.
Elisabeth fühlte den weichen, zu schweren Körper gegen sich lehnen in einem peinvollen Gemisch aus mitleidigem Schreck und Verlegenheit. Von dem schwarzen Taschentuch stieg ein starkes Parfüm auf, mit dem Wanda in all ihrem Elend nicht versäumt hatte es zu besprengen.
»Weißt du noch«, kam es hervor, »hier an der Stelle hat er dich eingeladen damals.«
Denn man stand vor der Posamenteriewarenhandlung Berges, deren Auslagefenster verhängt war.
»Ja, Wanda«, sagte Elisabeth und drehte unwillkürlich ihre linke Hand von Wandas Rücken hinweg. »Aber ist es denn wirklich gewiß?«
Es nickte an ihrer Schulter. »Sein Wachtmeister Josz hat die Nachricht gebracht, gestern abend.«
Elisabeth küßte die einstige Feindin sanft auf die Wangen, aufs Haar.
Pjotr stand einige Schritte zurück auf dem Fahrdamm, in der Haltung eines Soldaten bei einem militärischen Begräbnis. Sein rechter Arm und der leere Ärmel hingen steif an seinen Seiten hinunter.
Das Warenhaus Gelbfisch und Sohn war dem Kundenverkehr geöffnet. Aber niemand ging durch die Drehtür. Drinnen sah man die Verkäufer reglos wie Wachspuppen bei ihren [Waren] stehen.
In der Buchhandlung lehnte wie immer Józef Sußmann im Hintergrunde und las. Er nahm seine dicken Gläser ab und kam ihnen entgegen.
»Kein Mensch war hier diesen ganzen Morgen«, meldete er.
»Was erwarten Sie auch? Daß jetzt jemand hereinkommt und den neuesten Wodehouse verlangt? Józef – Sie sollten fortgehen von hier!«
Der junge Mann betrachtete sie stumm aus seinen geröteten Augen.
»Sie haben doch Verwandte in der Nähe von Buczacz. Da solltet ihr hin, Sie und Ihr Vater. Auf dem Dorf ist man sicherer.«
Józef umfaßte mit einem zärtlichen Blick seine Regale mit den Bänden in Blockschrift.
»Es steht geschrieben«, sagte er sanft, »der Mensch bleibe bei seiner Arbeit und bei seinem Werk bis an den Abend.«
Pjotr sprach selten ungefragt; aber jetzt tat er den Mund auf:
»Herr Sußmann, es steht auch geschrieben: Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe.«
Józef blieb nicht Zeit für die Antwort. Zimmerdecke, Wände, Regale schwankten in einer plötzlichen Vibration. Ein ratterndes Dröhnen wuchs an. Und dann wurden sie sichtbar durchs hohe Fenster – zwei Flugzeuge: starr gebreitete Schwingen, eiserne Bäuche. Sie strichen so flach dahin, daß es aussah, als müßten sie das Rathausdach streifen. Aber schon kreisten sie lustig im Blau, drüben über dem Dnjestr.
Hinter ihnen war auf dem Ringplatz ein Gestöber von Zetteln niedergegangen. Man sah die spärlichen Passanten sich danach bücken.
Pjotr holte einen herein.
»Ukrainer!« hieß es da in kyrillischem Druck, »Euer Tag ist gekommen. Schüttelt das Joch ab! Weg mit den verrotteten Polen, verjagt sie, erschlagt sie! Euch gehört dieses Land. Wir Deutschen kommen als Freunde zu Euch. Es lebe die freie Ukraine!«
Bessie und Pjotr zuckten empor, noch eh sie zu Ende waren.
Von da drüben kam ein nie vernommenes Geräusch, schneidend, zerreißend, wie das Aneinanderschleifen von zwei gewaltigen Eisen. Dann, schwer schollernd, ein Schlag. Ein andrer. Stille für drei Sekunden. Und, zum harmlosen Abschluß, ein schwaches Puckern und Tuckern.
Die Flugzeuge waren einen Moment nicht sichtbar gewesen. Jetzt stiegen sie senkrecht empor, wiegten sich spielend und verschwammen im Himmel.
»Pjotr – das war drüben bei uns!«
Sie rannten bereits. In all ihrer Angst nahm Elisabeth wahr, wie gleichmäßig Pjotrs Atem ging. Sein leerer Ärmel schlug hin und her. Auf der Brücke zog er im Laufen die Jacke aus. Da sahen sie Rauchschwaden und die offene Flamme. Es war die Zuckerfabrik. ›Gott sei Dank, es ist die Fabrik‹, dachten sie gleichzeitig und schämten sich nicht.
Sie bogen links ein. Qualm quoll über die Straße. Die Fabrik lag zertrümmert. Am Seitentrakt war die Frontwand rein niedergeschlagen, und man blickte in die Zweifußschen Zimmer.
Sie hatten keine tausend Schritt mehr zur Villa. Pjotr erfaßte im Hinrennen Elisabeths Hand.
Das weiße Dach wurde sichtbar, ganz unzerstört. Aber nirgends eine Bewegung, kein Laut. Seltsam, daß Recha und Heinrich nicht hinausgelaufen waren, um zu sehen, zu retten.
Da war das bewachsene Gitter. Pjotr stieß Elisabeth plötzlich zurück und war selbst schon im Garten. Er stemmte seinen Fuß gegen das Gittertor, so daß sie nicht eintreten konnte, und beugte sich vorwärts.
»Ihn mußt du nicht ansehen«, sagte er, richtete sich auf und ließ sie passieren.
Sie lagen ganz nahe beim Ausgang. Über Heinrichs Antlitz hatte Pjotr seine Jacke gebreitet. Aber Recha ruhte unverstümmelt auf dem Rasen, keinen Schreck im zarten Gesicht, das weiße Haar wie immer geordnet. Die Schüsse aus dem Maschinengewehr des scherzenden Fliegers waren ihr in die Brust gedrungen.
Als sie kamen, kamen sie als Befreier, so wie ihre Flugzettel es verkündigt hatten. Und sie vermochten sich ihrem Befreiungswerk um so ungeteilter zu widmen, als ja die Streitmacht des Staates zusammengebrochen dahinten lag und hier im Süden kein organisierter Widerstand mehr zu befürchten war.
Da trotz aller Ermunterung die Ukrainer es gänzlich versäumt hatten, die verrotteten polnischen Unterdrücker zu erschlagen, fiel diese Aufgabe naturgemäß ihnen selber zu. Sie vollzogen sie an Hand sorgfältig geführter Listen; ihre Emissäre im Stehkragen hatten da gewissenhafte Arbeit geleistet.
Es wurden also die Ämter besetzt und die Beamten zusammengefangen, fernerhin alles, was der akademischen Schicht zugehörte: die polnischen Ärzte, Advokaten, Ingenieure, höheren Lehrer. Für sie war ein militärisches Standgericht eingesetzt. Es tagte im Erdgeschoß der Woiwodschaft am Ringplatz, neben deren Tor das herabgerissene und besudelte Wappenschild mit dem polnischen Adler lehnte.
Das Verfahren vor diesem Gerichtshof war zeitsparend einfach. Ein Auditor verlas die vorbereitete Anklageschrift, die nur wenige Sätze und häufig einen irrigen Namen enthielt. Nach empfangenem Spruch bestiegen die Verurteilten ein Lastautomobil. Sie hatten gewöhnlich zu warten, bis die Todesfuhre vollzählig war. Dann wurde man unter Motorradbedeckung zum Richtplatz gekarrt, nach der »Lehmkuhle«, etwas außerhalb der Stadt, hinter der Ulanenkaserne.
Hier waren den ganzen Tag die Vollstreckungskommandos beschäftigt. Sie bestanden aus Angehörigen der regulären Armee, und zweifelhaft schien, ob sie ihre monotone Tätigkeit uneingeschränkt genossen. Tatsache jedenfalls war, daß die Mannschaften des öftern ausgewechselt werden mußten. Aber so hatte man's eingeteilt: Soldaten vollzogen die legal ergangenen Urteile, während den eigens trainierten Hyänen die spontane und gröbere Arbeit anvertraut blieb.
Was der Prozedur in der Lehmkuhle ihren besonderen Charakter verlieh, war ihre Lautlosigkeit. Es wurden automatische Büchsen benutzt, die mit einer schalldämpfenden Vorrichtung ausgestattet waren. Die Verurteilten standen mit dem Gesicht nach der Lehmwand, sie sahen es also nicht, wenn der kommandierende Offizier seine Hand hob, und der Tod rückte vollkommen stumm von einem zum andern.
Die ukrainische Bevölkerung war durch Maueranschläge eingeladen, dieser Erledigung ihrer Unterdrücker als Publikum beizuwohnen. Befremdenderweise folgte sie der Aufforderung nur in bescheidener Zahl. Auch fanden diese Tagelöhner und Kleinsiedler wenig Vergnügen daran, wenn in ihren Hütten unter Hyäneneskorte polnische Damen erschienen, um mit bloßen Händen die Senkgruben auszuheben und anderes schmutziges Hauswerk zu tun. Eher war eine unzulässige Reaktion von Beschämung und Mitleid an ihnen wahrzunehmen. Ja, die vereinzelten Akte gewaltsamen Widerstands, die während der ersten Tage noch vorkamen, gingen geradezu von Ukrainern aus. Selbstverständlich wurden solch Unbelehrbare nicht einfach durch Kolbenhiebe oder Revolverschüsse vertilgt; sie genossen vielmehr das Privileg einer Verurteilung durch das Gericht. Diese Bevorzugung schuldete man den Angehörigen einer befreiten Nation.
Aber der Ausfall für die Hyänen war unerheblich. Sie fanden Ersatz an dem polnischen Durchschnitt und vor allem, wie sich verstand, an den Juden. Die erschlug man dem Schock nach oder übte in besonderen Fällen jene gereiften Praktiken, für die man in den Erziehungsheimen des Vaterlandes geschult war.
Notar Krasna zum Beispiel wurde genötigt, zwei Stunden lang unbekleidet, im Laufschritt den Rathausblock zu umkreisen, ehe ein glänzend gezielter Schuß seinem erschöpften Leben ein Ende setzte. Doktor Silbermann lag mit zertretenem Gesicht inmitten seiner neuartigen Heilapparate. Der junge Alwin Zweifuß, der bei Zerstörung der Zuckerfabrik dem Familientode entgangen war, hing aus einem Fenster jenes Hauses Ecke Sobieskigasse und Kornhof, wo man sonst jüdische Mieter aus Grundsatz nicht aufnahm. Da seine Anwaltskanzlei sich im ersten Stockwerk befand, streiften seine gestiefelten Füße die Köpfe der unten Passierenden.
Der dritte Tag nach dem Einmarsch war ein Freitag – Freitag, der 15. September 1939. Um Sonnenuntergang schlichen die Juden nach ihren Gotteshäusern und Betschulen; selten war ein Aufruf zum Herrn so geboten gewesen. Ihre Hauptsynagoge lag nicht wie die katholische und die griechische Kirche am Ringplatz, sie hielt sich verborgen irgendwo in der Enge. Aber die Befreier fanden sie doch.
Der Sabbatdienst hatte eben begonnen, unter Gesang wurde die Thorarolle umhergetragen, und die verzweifelten Frommen küßten unter Tränen die rotsamtene Hülle. Da flog das Tor auf, und flotte Burschen trappten herein, den Mittelgang hinunter auf die sieben Bögen des Hintergrunds zu und auf die Bundeslade unter der rotleuchtenden Lampe.
Sie kannten sich aus hier. Sie hatten ihre Improvisation in so vielen Synagogen Deutschlands und Polens wiederholt. Sie erfüllten das dämmerige Bethaus mit Gelächter und Flüchen und mit dem Fleischgeruch ihrer prall genährten Jugend.
Sie begannen damit, vor der erstarrten Gemeinde mit der Gesetzesrolle Fußball zu spielen, bis deren samtenes Kleid in Fetzen hing und das bleiche Pergament wie Leichengebein hervorschien. Dann machten sie sich an den Vorbeter – es war nicht Vorbeter Sußmann –, der amtlich gekleidet zwischen zwei schwarzröckigen Rabbis stand. Sie rissen ihm sein Käppchen vom Kopf, den gestreiften Gebetsmantel von den Schultern, ebenso das fußlange, weiße Gewand und stießen den mageren Alten im Hemde unter Püffen zum Ausgang.
Einige von der Gemeinde schlüpften mit ihm hinaus. Hinter den übrigen schloß sich das Tor. Ein Maschinengewehr wurde draußen postiert. Die Gläubigen blieben eingekerkert im Gotteshaus, auf wie lange, wußte kein Mensch – »zur weiteren Verfügung«, wie das im Jargon der Befreier hieß.
Den Vorbeter trieben sie vor sich her durch die dunkelnden Gassen. Sie mußten etwas Vorzügliches mit ihm im Sinne haben, denn sie fanden des Gebells und Gejachters kein Ende. Hinterm Türkentor wurde haltgemacht, vor der Salvator-Kirche, durch deren schmale Fenster noch Licht schien.
Sie pufften den Juden hinein und hinunter bis vor den Chor. Ein paar von ihnen wandten sich ohne viel Suchen zur Sakristei; auch in katholischen Andachtsstätten wußten sie trefflich Bescheid. Sie kehrten zurück mit Gewändern, die sie wahllos aus den Schränken gerissen, einem Meßkleid im leuchtenden Rot der Osterfeier, einer Stola in pfingstlichem Grün.
Sie putzten den Alten heraus und ließen ihn tanzen. Sie hießen ihn das rote Kleid unzüchtig hochheben dabei, und wenn er nicht grotesk genug sprang, zischten ihm ihre Stahlruten zwischen die Beine. Die Wölbung schallte von ihrem Gelächter. Die paar Andächtigen waren geflohen.
Dann kam dem Führer sein krönender Einfall. Er stieß den Juden die Stufe hinauf vor den Hochaltar, gab ihm ein Gewehr in die Hand und befahl ihm, das holzgeschnitzte Erlöserbild durch einen Kolbenschlag zu zerschmettern.
Er zauderte. Er torkelte betäubt, befand sich schon eigentlich nicht mehr bei wachem Leben. Aber das Grausige, das sie ihm zumuteten, zuckte noch hinein in sein verwölktes Bewußtsein. Er ließ das Gewehr sinken, es entfiel seinen Händen, schepperte auf den Fliesen.
»Du schlägst ihm den Dornenkopf ein«, brüllte der Anführer, »oder ich zerhaue dir deinen!«
Hinter dem Altar hervor kam der Geistliche der Kirche. Es war Prälat Korzon, ein Achtziger jetzt, unirdisch hager und weiß. Er trug vollen Ornat. Es war jener schwarze Ornat, den der katholische Priester nur an einem Tage des Jahres anlegt, an dem Freitag von Golgatha.
Korzon stand einen Augenblick still. Er überschaute die juchzende Rotte und den Juden vor dem Altar, dem der grüne und rote Weiheprunk schief am schlotternden Leibe hing. Er trat auf ihn zu, schloß ihn in seine Arme und drückte ihn an sein Herz.
Die Befreier standen verdutzt. Dann kam von dem Führer ein Wutschrei. Er riß seinen Revolver vom Gurt und zielte auf die verschlungen dastehenden beiden. Es war ein untadeliger Schuß. Sie starben von einer Kugel.
Pjotr kam gegen Mittag aus der Stadt zurück. Sie hatten hier draußen nichts mehr zu essen gehabt, und er hatte Elisabeth zum erstenmal alleinlassen müssen.
Er legte seine Pakete im Vorraum nieder und ging zu ihr in das Wohnzimmer. Sie saß an derselben Stelle wie vor zwei Stunden. Obgleich die Fenster offenstanden, war die Luft blau vom Zigarettenrauch.
»Setz dich zu mir, Pjotr.«
Er ließ sich nicht nötigen. Die Stirn war ihm naß, und er stützte seine Hand fest auf sein Knie, um ihr Zittern zu verbergen.
»Darf ich vielleicht rauchen?«
Sie antwortete mit einem Laut, der etwas wie Lachen war. Sie sah, daß er mit seiner Pfeife nicht zurechtkam, stand auf und reichte ihm Feuer. Nach ein paar Zügen wurde er ruhiger.
»Die treiben es wohl furchtbar da drüben?« fragte sie.
»Sie treiben es gründlich«, antwortete Pjotr. Und das war alles. Wozu sollte es gut sein, ihr zu berichten, was er jenseits der Brücke in Erfahrung gebracht! Die Vorgänge zum Beispiel, die sich am gestrigen Abend in Synagoge und Kirche abgespielt hatten.
Er sagte: »Bessie, es hat keinen Zweck, noch länger zu warten. Wir schaffen es auch zu Fuß.«
»Du meinst, sie werden uns durchlassen?« Es klang sonderbar uninteressiert.
»Eine Dame und einen Krüppel – warum nicht. Natürlich gehen wir bei Nacht und schlafen am Tage. Über die Grenze kommen wir schon.
»Vielleicht«, sagte sie, »vielleicht. Aber wofür eigentlich die Plage. Weshalb soll ich fort?«
»Weil du zu ihm willst«, sagte Pjotr.
»Warum ist er bloß nicht gekommen!«
»Er hat nicht gekonnt. Diese Deutschen wollen zwar zeigen, wie großartig sie kämpfen, aber was sie später noch anrichten, das zeigen sie nicht.«
»Du glaubst, er hat es versucht?«
»Der hat alles versucht, da sei du nur sicher. Vielleicht haben sie ihn gefangengenommen.«
»Oder ermordet.«
Pjotr schüttelte den Kopf. »Amerikaner ermorden die nicht. Die morden bloß, wo sie's ungestraft können. Bessie, du mußt tun, was du verstanden hast aus seinem Telegramm.«
»Ich mag nicht davonlaufen.«
»Was willst du noch hier. Die Gräber bewachen?«
Eine Woche war es jetzt her, seitdem sie in mühsam aufgetriebenen Särgen Recha und Heinrich zur Ruhe gelegt hatten. Elisabeth hatte sich verändert in den wenigen Tagen. Ihr Mund hatte seine weiche Fülle eingebüßt, und die goldenen und bläulichen Lichter auf dem Grund ihrer Augen schienen nicht mehr. Trotz der Septembersonne fror sie in ihrem dunklen Wollkleid, das zu weit geworden war.
»Ordentliche Menschen sind diese Deutschen«, sagte Pjotr. »Und sie wollen auch, daß man sieht, wie ordentlich sie sind. Ein paar kleine Läden haben sie allerdings ausgeraubt. Aber sonst geht alles weiter im Städtchen. Gelbfisch und Sohn haben offen.«
Der Name dessen, der da in seinem ungestrichenen Sarg mit weggeschossenem Gesicht unterm Boden lag, rührte sie schauerlich an.
»Ja«, fuhr Pjotr fort, »es herrscht flotter Betrieb. Die Herren Deutschen kaufen ein bei uns. Sie bezahlen sogar. Sie haben irgendwelche Bankzettel gedruckt, mit denen bezahlen sie. Da muß doch jedermann sehn, wie ordentlich sie sind.«
»Sind die jüdischen Verkäufer auch noch da?« fragte sie angstvoll.
»O ja, die sind da. Vielleicht nicht ganz freiwillig. Aber da sind sie noch.«
»Die muß man doch fortschaffen! Vielleicht ist auch Józef wiedergekommen? Närrisch genug ist er dazu.«
»Nein« sagte Pjotr, »die Buchhandlung war geschlossen.«
Die Buchhandlung. Dort hatte sie in unvordenklicher Zeit mit Recha Geistesware verkauft – in dem luftigen Raum mit den breiten Fenstern, den lederbespannten Tischen, der Büste des Dichters auf dem größeren, runden.
»Pjotr, es geht doch nicht, daß ich gar nichts tue, während den Menschen dort vielleicht was Fürchterliches passiert. Ich kann doch nicht hier sitzen und mich verstecken.«
Er widersprach. Aber er widersprach ohne Nachdruck. Denn dies war Pattays Stimme, die er vernahm. Es war, als befehle ihn Pattay zu einer Patrouille – und er sollte sich weigern.
»Bessie, Sinn hat es nicht«, sagte er immerhin, »und gefährlich ist's auch.«
»Du hast eben selber gesagt: was sollen sie einer Frau antun, und dir! Jedenfalls, ich halt' es nicht aus.«
Pjotr stand auf. Er klopfte seine Pfeife leer und legte sie auf den Tabaksbeutel auf einen Teller neben der Aschenschale.
Sie waren schon an der Tür, da machte er halt.
»Die Aschenschale will ich doch lieber heraustragen«, sagte er.
Als er wieder zu Bessie trat, hatte sie die Augen voll Tränen. Pjotr wunderte sich. Sie hatte in dieser Woche des verzweifelten Leids wenig geweint.
Beim Warenhaus Gelbfisch ging es zu, wie er's geschildert hatte. Soldaten trugen mit lachenden Gesichtern große Pakete aus der Drehtür.
Aber die Buchhandlung war nicht mehr geschlossen. Ein Lieferwagen hielt davor, und drinnen sah man Leute am Werk.
Sie traten ein. Bücher lagen umhergestreut. Der Tisch mit der kleinen Büste Słowackis war zur Seite gerückt, und an seiner Stelle stand eine Schubkarre. Zwei Schwarzuniformierte waren damit beschäftigt die Bände in Blockschrift von den Borden zu reißen und auf die Karre zu schleudern.
Ihr Vorgesetzter hielt sich beim Tische.
Er war ein großer, gutgewachsener Mensch mit einem ungewöhnlich häßlichen Gesicht. Seine Mütze mit dem Totenkopfzeichen hatte er neben die Büste gelegt, und man sah seinen spitz zulaufenden Schädel, der mit rechteckig geschnittenem, kurzem Blondhaar bestanden war.
Soeben führte er einen Fußtritt nach hinten, nach dem Regal mit ukrainischer Literatur.
»Der Sowjetdreck kann auch mit«, gab er zu wissen.
»Was treiben Sie hier?« sagte Elisabeth.
Er musterte sie.
»Kann ich Ihnen erzählen, mein Kind. Wird alles in die Synagoge geschafft, damit der Stall besser brennt. Und wenn so ein paar Schweine mitangesengt werden, dann haben sie eben Pech gehabt.«
Er betrachtete aus frechen Augen gründlich dies lichthaarige, lichtäugige Mädchen.
»Darf ich übrigens fragen, was Sie das eigentlich angeht? Gehört Ihnen vielleicht dieser Laden!«
»Das tut er«, sagte Elisabeth.
»Sie werden mir nicht einreden wollen, daß eine deutsche Dame solchen jüdischen Schandmist verkauft.«
Die Karre war voll geworden. Einer der Uniformierten schob sie zur Tür hinaus.
Ein paar Sekunden vergingen. ›Ich bin verrückt‹, dachte Elisabeth. ›Ich bin verrückt, wenn ich das jetzt sage.‹ Und dann sagte sie es: »Ich bin keine deutsche Dame. Ich bin eine Jüdin.«
Der Anführer grinste. Er kam um den Tisch herum.
»Mein Engel, das machst du wem anderen weis. Solches Haar hat keine jüdische Sau, und so ein Paar Brüste auch nicht.«
Er packte voll zu, mit beiden Händen zugleich.
»Du läßt sie los«, sagte Pjotr.
Der Mann zuckte herum. Als er den einarmigen Krüppel sah, lachte er auf und fuhr nach der Stahlpeitsche: »Du bist wohl meschugge!«
Aber das Wort im Judenjargon war das letzte, das zu sprechen ihm beschieden war.
Pjotr hatte die Büste umfaßt, schwang sie hoch und schlug ihm den Schädel ein. Man hörte die Knochen brechen.
Der Mann beim Regal schoß sofort. Aber er fehlte. Pjotr hatte sich unter den Tisch geduckt und tastete nach dem Revolver im Gurt des Gefällten.
Elisabeth stand noch am selben Platz. ›Es ist alles nicht wahr‹, dachte sie, ›solche Dinge geschehen nicht.‹ Es war nicht Furcht, was sie spürte. Wenn solche Dinge geschahen, war das Leben ohnehin aus.
»Was geht hier vor«, sagte eine befehlende Stimme auf deutsch.
Vom Eingang her kamen zwei Offiziere der regulären Armee, der zur Rechten ein älterer mit den Abzeichen höheren Rangs.
Er betrachtete sachlich den erschlagenen Mann und die danebenliegende, besudelte Bronze.
»Nun?« fragte er noch einmal, scharf.
Der Schwarzuniformierte nahm Haltung an:
»Herr Major, melde gehorsamst, der Mensch hat Herrn Hauptsturmführer Schaller getötet. Ich war eben dabei, ihn zu erledigen.«
»Schaller«, wiederholte der Offizier und sah mit zugekniffenem Auge seinen Begleiter an. Aber den schien der Name an nichts zu erinnern. »Ist der Täter ein Pole?«
»Er ist ein Ukrainer«, sagte Elisabeth.
Der Major warf einen Blick auf sie und sah gleich wieder weg.
»Dann haben Sie nichts zu erledigen! Sie wissen genau, daß gegen Ukrainer jedes eigenmächtige Vorgehen untersagt ist. Machen Sie Ihre Aussage vorm Standgericht. Abtreten!«
Der Boden schlug Wellen unter Elisabeth. Sie fiel in einen der Sessel.
»Pjotr, mein Lieber«, sagte sie nur.
Pjotr stand aufrecht hinter dem Tisch, auf dem noch die Mütze des Getöteten lag.
»Was hätte ich machen sollen, Bessie«, sagte er, als hätte er sich zu entschuldigen.
»Örtzen«, trug der Major dem Jüngeren auf, »rufen Sie zwei unserer Leute herein.« Örtzen salutierte und ging.
»Pjotr, mein Lieber«, sagte Elisabeth noch einmal und streckte ihre Hand nach ihm aus.
Die Soldaten erschienen.
»Den Mann zur Woiwodschaft!« befahl der Major. Sie führten Pjotr hinaus.
»Ich komme, Pjotr«, rief Elisabeth, »gleich bin ich bei dir.«
Aber ihr war, als würde sie nie mehr aufstehen können aus diesem Sessel, nie mehr sich auf ihren Füßen halten.
»Wie ist das zugegangen, mein Fräulein«, fragte der Major mit unbeteiligter Höflichkeit.
»Der Mensch hat mich angepackt. Da hat mein Freund mich verteidigt. Das Gericht muß ihn freisprechen, nicht wahr.«
Der Offizier betrachtete sie genau, wie eine Kuriosität.
Er war ein gutaussehender Mann, von Familie wahrscheinlich, adrett wie auf dem Paradefeld – ein blinkend blankgeputzter Hebel an Deutschlands Eroberungsmaschine.
»Die Illusion muß ich Ihnen nehmen, mein Fräulein. Angeordnet ist, daß gegen Ukrainer gesetzlich verfahren wird. Aber das Urteil ist sicher. Nun, wenigstens stirbt er einen ehrlichen Tod von Soldatenhänden.«
Sie machte einen vergeblichen Versuch, aufzustehen. Ihr war schauerlich übel. Sie vernahm die Stimmen der Offiziere bald von fern, bald trompetenhaft nahe.
»Schaller«, hörte sie den Major. »Der Alte wird sich nicht freuen. War sein einziger Sohn. Sonst nur Töchter.«
»Verzeihung, Herr Major, ich bin da nicht orientiert.«
»Aber hören Sie, Örtzen. Sie kennen doch Schaller. O-ber-grupp-en-führ-er Ferdinand Schaller!«
»Obergruppenführer« entsprach in der Hyänenhierarchie einem sehr hohen Generalsrang. An der höhnischen Art, wie der Major die Silben des Titels auseinanderzog, wurde die ganz wütende Rivalität erkennbar, die zwischen der regelrechten Armee und dieser besonderen Truppe bestand.
»Eine von diesen Karrieren«, hörte sie den Major. »Österreichischer Kavallerist. Übergelaufen zum Zaren. Armee Denikin. Brigade Ehrhardt. Na, jetzt ist er also O-ber-grupp-en-führer.«
Elisabeth hob den Kopf.
»Ist es möglich«, fragte ihre ausgebleichte Stimme, »daß dieser Schaller einmal hier in der Gegend gedient hat?«
»Durchaus, meine Gnädige. Hier stand ja wohl immer Kavallerie. Absolut möglich.«
Auf einmal wurde ihm wohl bewußt, daß ihr Interesse unter den Umständen sonderbar war. Er kniff die Augen zusammen, grüßte knapp und verließ mit dem andern den Raum.
Sie mußte ja gehen! Mit Anstrengung vermied sie im Aufstehn den Anblick des Gerichteten. Ein dünnes Blutrinnsal zog sich von ihm her weit über den Estrich.
Draußen hielt noch der Lieferwagen, verlassen. Die Schubkarre stand umgekippt auf dem Bürgersteig.
Es waren nur hundert Schritt zur Woiwodschaft hinüber. Sie kam ganz sicher zurecht! Eine Gerichtsverhandlung nimmt Zeit in Anspruch, und wer wußte, ob Pjotr gleich an der Reihe war.
Aber als sie das Tor erreichte, neben dem das besudelte Adlerschild lehnte, kam er zwischen Bewaffneten schon wieder heraus.
Er nickte ihr zu. Dann bestieg er das Lastauto, auf dem zehn oder zwölf Verurteilte standen. Offenbar vervollständigte Pjotr die Fracht. Denn der Wagen fuhr augenblicks an, rechts und links von Motorradfahrern begleitet.
Die Männer oben schwankten und hielten sich fest. Pjotr suchte Elisabeth mit dem Blick und nickte wie vorhin.
Sie lief nebenher.
»Pjotr«, rief sie mit all ihrer Kraft, »der Mensch, den du umgebracht hast –«
Unmöglich, daß er sie hörte. Der Wagen ratterte, die Motorräder knatterten wild.
Sie konnte nicht Schritt halten. Sie rannte dem Todeszug nach, hinaus zur Lehmkuhle.
Der Ort war durch einen Kordon abgesperrt. Hinter den graugrünen Soldatenrücken hielten sich ein paar ältere Männer und mehrere Frauen, eine davon mit zwei Kindern an der Hand. Alle sahen aus steinernen Augen zu. Was sich abspielte, war so unglaubhaft, so jenseits aller Erfahrung, daß noch niemand zum Schmerz gelangte.
Die zuletzt Hertransportierten waren bereits in Abständen aufgestellt. Doch die Reihe setzte sich weiter fort. Es mochten fünfundzwanzig Männer im ganzen sein, die in ihren weißen oder blauen Hemden dastanden, die Gesichter nach der Lehmwand gekehrt. Ihre Röcke lagen in einem Haufen beisammen, auf denen der früher Getöteten.
Das Peloton rückte wieder heran und hielt gegenüber dem ersten. Es bestand aus vier Mann, Leuten mit Stahlhelm und trotz des warmen Wetters in Mänteln. Nur der befehligende Leutnant trug keinen. Er war ein blutjunges Bürschchen, und er war grün im Gesicht. Seine Mannschaft hatte man mehrfach abgelöst; er aber tat diesen Dienst seit dem Morgen schon. Und ihm fehlte die abhärtende Sonderausbildung der Hyänen.
Eben hob er die Hand. Das Peloton feuerte. Es war kaum ein Knacken zu hören. Der Verurteilte stürzte. Die Soldaten setzten ihre Gewehre ab, und der Leutnant sah auf die Uhr. Zwischen je zwei Exekutionen wurde eine kurze Pause eingelegt.
Weit hinten, jenseits der Kuhle, gruben schwarzgekleidete Menschen in dem dort mageren Boden. Man hatte hier gleich nach dem Einmarsch, vor nun vier Tagen, ein Massengrab ausgehoben. Aber da die Hinrichtungen immer mehr zunahmen, mußte auch immer mehr Raum unter der Erde geschafft werden.
Die dort schaufelten, waren Juden in Käppchen und Kaftan. Für sie fügte sich heute am Sabbat zum Grausen dieser Arbeit auch noch die Sünde.
Elisabeth war an die Absperrungskette gelangt. Sie hielt einen Augenblick still, bis sie ihren Atem zurückhatte. Mechanisch zählte sie die Reihe der Opfer ab. Pjotr stand dort als der elfte.
Sie wollte zwischen den Soldaten hindurch. Ein Armstoß schleuderte sie zurück.
»Pjotr!« schrie sie über den Platz. Er wandte den Kopf und suchte nach ihr mit dem Blick.
»Gesicht zur Wand!« rief der Leutnant mit einer Knabenstimme, die überkippte.
Seltsamerweise gehorchte Pjotr, obgleich es für ihn doch keine Drohung mehr gab.
»Pjotr!«
Zwei Leute des Kordons drehten sich nach ihr um. »Maul halten!« knurrte der eine.
Der Leutnant hob wieder die Hand. Ein Mann drüben fiel. Pjotr rührte sich nicht. Es standen noch acht lebendige Menschen zwischen ihm und dem Tod.
Sie mußte zu ihm! Er mußte es noch erfahren. Es machte das Sterben leichter für ihn.
Aber ihm zurufen konnte sie's nicht. Er würde nicht verstehen, was sie rief. Denn Pjotr wußte nichts von dem Mörder Schaller. Immer hatte sie ihn bei dem schöneren Glauben gelassen, daß sein Herr vorm Feinde gefallen sei.
Ratlos sah sie sich um. Abschrankung überall. Und vorne die Wand in doppelter Mannshöhe, an deren Fuß nun drei unbewegliche Bündel lagen.
Die Lehmwand – aber das war ja der Weg! So einfach war es. Sie rannte.
Sie lief um den kleinen Hügel herum und seitlich hinauf, ausglitschend auf dem trotz der Dürre seifigen Grund. Oben wuchs krankes Gras und ein paar verkrüppelte Bäume am Rand.
Sie spähte hinunter. Wenige Schritte nach links, und sie befand sich genau über Pjotr. Sie blickte auf seinen Kopf mit dem grauen und sandfarbenen Haar. Er hielt ihn ganz ruhig, die Augen zur Wand.
Sie streckte sich flach auf dem Boden aus, hielt sich an einem der dürren Stämmchen, bog sich vor.
»Pjotr!«
Er legte den Kopf in den Nacken. Sein gutes Gesicht strahlte auf, ganz unirdisch, als er die über sich sah, die er liebte. Und wahrhaftig, er lächelte.
»Pjotr, mein Liebster!«
Aber sein Lächeln verlosch.
»Bessie, du kannst da nicht bleiben. Die schießen womöglich.«
»Pjotr, hör zu – der Mann, den du umgebracht hast –«
»Du darfst da nicht sein!«
»Hör mich doch an. Mein Vater –«
»Ja, Bessie.«
»Du glaubst, er sei von Kosaken gefallen. Meinen Vater hat man ermordet.«
»Ermordet?«
»Einer von seinem Regiment hat ihn erschossen, rücklings. Der Rittmeister Schaller. Er lebt noch. Aber seinen Sohn hast du heute erschlagen.«
»Wie kannst du das wissen!«
»Ich weiß es. Ich schwör' dir's. Ich dachte, es müßte dich freuen.«
»Ja, Bessie, das freut mich.«
Von drüben kam die quäkende Stimme des Leutnants:
»Sie da oben! Gehn Sie da weg. Augenblicklich!«
»Bist du sicher, daß es der Sohn war von dem?«
»Ganz sicher. Sein einziger Sohn.«
»Das ist gut«, sagte Pjotr.
»Wegscheren sollen Sie sich!« kam wieder das Quäken. »Oder Sie tragen selbst die Verantwortung.«
›Wer sonst soll sie tragen‹, dachte sie flüchtig. Unten stürzte ein Mann, der zweitnächste vor Pjotr. Sie wußte nur, daß sie nahe war, ihm nah bleiben mußte. Sie weinte.
»Bessie, weine doch nicht. Ich bin ja schon alt. Und schnell geht es auch. Sieh nur zu, daß du über die Grenze kommst! Allein ist es leicht.«
Der Leutnant sah auf die Uhr. Das Peloton rückte weiter.
»Pjotr, wenn ich bloß deine Hand halten könnte!«
Sie umkrampfte mit ihrer Rechten den Stamm und griff mit der Linken an der Lehmwand hinunter, so tief sie konnte. Sie hielt seinen Blick mit den Augen fest.
Pjotr hob sich auf die Zehen und reckte die Hand hoch. Aber es blieb noch ein Abstand.
»Geht nicht, es ist zu weit«, sagte er lachend, »halt dich bloß fest und fall nicht herunter –«
Da fiel er selbst, wie ein Stein.
Er sank seitwärts zusammen, das Gesicht nach oben gewendet. Sein weißes Hemd, das nur einen Ärmel besaß, begann sich zu färben.
Pause. Der Leutnant hob seine Hand. Der nächste Mann starb.
Da geschah dies. Von der Stadt her kam ein Motorrad, durchschnitt den Kordon, schwankte auf dem lehmigen Grund und hielt vor dem Leutnant. Der Fahrer saß ab und übergab ein Papier.
Der Leutnant hob seine Hand nicht mehr. Er krähte ein Kommando über den Platz. Die vier Mann nahmen ihre Gewehre unter den Arm und machten links kehrt. Der Kordon löste sich auf. Motore starteten ratternd. Verhallendes Lärmen.
Die verschont Gebliebenen, ein Dutzend noch, verharrten mit dem Gesicht nach der Wand. Dann drehte der, an welchem die Reihe war, sich vorsichtig um. Andere folgten. Einer, ein ganz junger Mensch, stürzte ohnmächtig hin.
Auch die Frauen und Männer beim Eingang rührten sich lange nicht, so als wären die Soldatenrücken noch da. Endlich begann die Frau mit den beiden Kindern zaghaft vorwärtszugehen.
Die Juden dort hinten gruben weiter am Grab.
Sie blieb liegen, so wie sie war, ihre Hand hinabhängend. Zu keiner Überlegung war sie noch fähig, nicht einmal zur Verzweiflung darüber, daß der Mordspuk zu spät vergangen war, um genau drei Minuten zu spät.
Dann ging sie hinunter, ging wie blind an den Toten vorbei und an denen, die sich, halb ungläubig noch, ins Dasein zurücktasteten. Sie schluchzte nicht einmal, als sie neben Pjotr kniete und seine Augen schloß. Die furchtbar angespannte Konzentration währte fort in ihr, der eine Gedanke, ihm nahe zu bleiben, Pjotr zu bewahren, ganz, als lebte er noch.
Eines durfte nicht sein. Sie durften ihn nicht mit hineinschaufeln in das gemeinsame Erdloch. Sie mußte ihn fortbringen, ihn in sein Grab legen, in sein eigenes, anständiges Grab, wo er ausruhen konnte, tief und für ewig – so als gäbe es keinen Frieden für ihn dort in dem wüsten Haufen von Fleisch und Leichengebein.
Sie hob ihn auf, legte sich seinen Arm um die Schulter und begann ihn zu schleppen. Die Wunden bluteten stärker und befleckten über und über ihr Kleid. Sie trug ihn ungeschickt, und Pjotr war schwer, sein ganzer Leib wie aus einer Muskel gebildet. Mühselig gelangte sie bis zum Eingang, dorthin, wo der Kordon gewesen war. Hier legte sie ihn nieder, abseits, so daß von der Grube her keiner ihn sehen konnte.
Beistand aufzutreiben, einen Wagen zu finden, dazu war keine Aussicht. Aller Verkehr unter Menschen hatte ja aufgehört.
»Vielleicht steht die Karre noch dort.«
Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Es geschah ihr zum erstenmal, daß sie laut vor sich hin sprach.
Sie lief zurück, nach der Stadt, den Weg, auf dem sie dem Todeszug nachgerannt war. Seither war noch keine Stunde vergangen.
Vor der Ulanenkaserne herrschte Bewegung. Mannschaft strömte zum Tor heraus. Fahrzeuge formierten sich. Es wirkte wie eiliger Aufbruch.
Sie überquerte das Stück baumloses, strauchloses Land, hinter dem die Häuser begannen. Im Ort aus allen Gassen Motorenlärm, anrückende Züge. Vor der Woiwodschaft am Ringplatz wurde Appell abgehalten. Kommandos erschollen.
Die Drehtüre am Warenhaus Gelbfisch stand still. Wie zuvor hielt vor der Buchhandlung der Lieferwagen, zu einem Drittel mit Büchern gefüllt. Die Karre lehnte daneben.
Sie griff nach den Schubstangen. Keinen Blick warf sie durch die offene Tür in den verwüsteten Raum, der einmal ihr Dasein umfaßt hatte.
Unterwegs in den schmalen Gassen mußte sie sich vor den marschierenden Truppen in Torwege drücken. Die Züge bewegten sich alle in einer Richtung – dorthin, woher sie gekommen waren, auf die Lemberger Straße zu. Niemand schenkte dem verwildert aussehenden Mädchen im beschmutzten und blutigen Kleid die mindeste Beachtung.
Sie fand Pjotr, wo sie ihn niedergelegt hatte. Auch die anderen Toten waren noch da. Vor einem stand mit hängenden Armen die Frau mit den Kindern. Die Juden waren verschwunden.
Auch die Geretteten hatten die Richtstätte verlassen, bis auf zwei. Der eine, ein polnischer Herr mit schwarzseidenen Hosenträgern über seinem blütenweißen Hemd, starrte mitten auf dem Platz vor sich hin, mit einem Ausdruck, als habe er das Gedächtnis verloren. Der zweite, ein Bauer, suchte sich aus dem Kleiderhaufen seine Jacke heraus oder vielleicht eine andere, die ihm besser gefiele.
Elisabeth lud ihren Toten auf. Seine Wunden bluteten nicht mehr. Sie bettete ihn sorgsam, damit sein Kopf nicht hin und her schwanken könne. Aber die Karre war kurz, und sie mußte seine Glieder zurechtbiegen. So fuhr sie Pjotr nach Hause.
Sie begegnete niemand. Stille im sonnigen Herbstnachmittag. Aber in ihrem Kopf sauste es wüst. Als sie die Brücke betrat, begannen durch das Sausen Verse zu hämmern.
Es waren gewaltige Verse – großartig männlich und frei, gedichtet von einem jener Unsterblichen, die im Geistersaale der Völker an der oberen Tafel sitzen. Aber sie waren Deutsch. Sie versuchte, sie von sich zu jagen. Die Verse hämmerten fort:
Und wo die Freunde verfaulen,
Das ist ganz einerlei,
Ob unter Marmor-Saulen
Oder im Rasen frei.
Der Lebende bedenke,
Wenn auch der Tag ihm mault,
Daß er den Freunden schenke,
Was nie und nimmer fault.
Sie hielt das nicht aus. Sie begann zu rennen hinter ihrer Totenlast, als könnte sie den Versen entlaufen. Aber sie drangen aus dem Knarren der Karre hervor, aus dem Schollern des Rads über den Brückenbohlen.
Und wo die Freunde verfaulen,
Das ist ganz einerlei –
Da war kein Entrinnen. Es hämmerte fort in ihr auf der staubigen Landstraße, an der Fabrikruine vorbei, bis hinein in ihr Haus.
Daß er den Freunden schenke,
Was nie und nimmer fault.
Sie bettete ihren Freund auf dem Ruhelager im Wohnraum. Sie hätte ihn waschen sollen, ihm reinliche Kleidung anlegen für seine Rast. Aber sie hatte dazu den Mut nicht. Sie holte zwei große leinene Tücher herbei und deckte sie über ihn. Nur sein Gesicht war zu sehen, das zwischen den grauen Bartstreifen gelassen lächelte.
Dann suchte sie nach dem Gartengerät, um ihm sein Grab zu bereiten.
Sie hatte gedacht, ihn an der Stelle einzusenken, die ihm die liebste gewesen war, nahe seiner Wohnung, neben der Bank. Ein Baum schattete breit drüberhin, eine kräftige Esche, die hier gewesen sein mußte, lang ehe das Haus stand, reich belaubt, vollhängend mit ihren gebündelten Früchten.
Aber sie hatte nicht mit den Eschenwurzeln gerechnet, die sich nach allen Richtungen ausstreckten. Der Spaten stieß darauf wie auf Stein. Sie mußte Pjotr anderswo betten, mitten auf der Wiese, wirklich »im Rasen frei«.
Hier war Boden, der locker nachgab. Trotzdem würde sie schaufeln bis in die Nacht. Denn man legte ja Tote tief in die Erde, sechs Schuh tief, wie die Redensart ging.
Es war ihr nur recht so. Solange sie an seiner Ruhestatt grub, war sie von ihm noch nicht völlig getrennt. Jenseits lag die Leere, das Nichts.
Aber sie hatte nie solche Arbeit getan. Sie mußte einhalten. Ihre Arme schmerzten, als hätte man sie ihr zwischen Schulter und Ellbogen mit schweren Stöcken zerschlagen.
Von der Straße herunter quoll Staub; sie vernahm Marschieren und Räderrollen. Sie blickte nicht einmal auf. Was verschlug es noch, ob das Ungetüm sich nord- oder südwärts wälzte. Es hatte an ihr das Seine getan.
Das Rollen und Stampfen schwand hin. Das Gras lag trübe bestäubt. Sie stieß wieder den Spaten ein und warf Erde aus, die schollernd zurückfiel.
Sie hatte die Gitterpforte nicht gehört. Aber jetzt knirschte auf dem Wege der Kies.
Er kam auf sie zu, übern Rasen. Sie ließ ihren Spaten fallen und stürzte ihm gegen die Brust.
»O Herk! Herk! Herk!«
Er preßte sie an sich. Aus ihrem Kleid stieg ein Geruch nach Erde und Wunden zu ihm auf und zugleich aus ihrem wirr hängenden Haar der rührende Hauch ihrer Jugend.
Er sah hinüber nach dem begonnenen Grab. »Deine Mutter?« fragte er leise.
Er glaubte zu spüren, daß sie nickte an seiner Brust. Sie weinte. Aber es war nicht jenes Weinen, das erlöst und hinwegwäscht. Es waren hohe, schneidende Schreie, mit denen alles aufgestaute Grauen aufbrach in ihr. Ein stoßweises, wildes Jammern und Aufbegehren gegen eine Welt, in der über Nacht das Tier sich von der Kette gerissen und fletschend zerfleischte, was gestern noch Leben hieß, Frieden, Menschensatzung, Liebe, Arbeit und Glück.
Das Schreien war entsetzlich anzuhören. Er umschlang sie fester, als könnte er's zurückhalten in ihr.
Das dauerte lang. Sie ließ sich endlich ins Haus führen. Er trug sie beinahe.
Beide Türen standen geöffnet. Und so sah er den Toten.
»Allmächtiger Gott«, sagte er. »Wann ist das geschehen?«
»Vor zwei Stunden«, sagte Elisabeth.
Er führte sie zu einem Sessel, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.
»Bessie – ich habe nicht früher kommen können.«
Sie nickte, noch immer schluchzend.
»Glaubst du es mir?«
»Herk – ich weiß es.«
Pjotr hatte richtig vermutet. Nach der Schlacht am San waren von diesem Frontabschnitt die Korrespondenten nach Deutschland zurückgeschickt worden. Herkimer entzog sich dem Rücktransport und versuchte, bei Dunkelheit gegen Osten weiterzukommen. Er wurde eingeholt und im Schulhaus des Ortes Próchnik gefangengesetzt. Hier brach er aus, bei Tage diesmal. Er fand seinen Wagen, geplündert, sonst aber fahrtbereit, und raste los, feldein, über Sturzäcker. Der Wagen wurde erst von den Deutschen beschossen, dann irrtümlich von den weichenden Polen. Wie durch ein Wunder blieben Maschine und Reifen intakt. Vor Chyrow hörte das Schießen auf. Er erreichte die Straße.
Unmöglich, das jetzt zu erzählen. Und es war auch nicht nötig. Sie glaubte ihm.
Sie aber berichtete. Es wurde ein kurzer Bericht. Drei kleine Sätze umschlossen all das gräßliche Leid.
Von der Straße kam wieder Kolonnenlärm. Ein Wind, der über den Dnjestr blies, trieb den Staub nach der andern Seite; deutlich unterschied man die fremdartige Uniform der ziehenden Truppe.
»Herk – was für Soldaten sind das?«
»Russen. Sie besetzen das Land hier. Die Deutschen überlassen es ihnen.«
»Die haben es doch den Ukrainern versprochen.«
»Versprochen!« wiederholte er nur.
»Also deshalb ziehn sie mit solcher Eile ab! Aber die Russen – was bedeutet es denn?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er langsam. »Nur ganz gewiß das nicht, was sich die Leute jetzt denken.«
»Und hier wird weiter gemordet?«
Er sah sie an, mit einem eigentümlichen Blick.
»Das sollte mich wundern«, sagte er und stand auf. »Mach dich bereit, Bessie. Wir müssen fort.«
»Gleich? Heute noch? Du sagst doch selbst, die Russen werden nicht wüten.«
»Aber trennen werden sie uns. Sie dulden keine Korrespondenten bei ihrer Armee.«
»Nur einen Tag, Herk!«
»Wir müssen diese Nacht aus dem Land. Sonst werde ich morgen über die Grenze geschafft – aber allein.«
Sie ergab sich.
»Übrigens«, sagte er, »auf der Gesandtschaft in Bukarest können wir getraut werden. Das macht alles viel einfacher.«
»Ja, Herk«, sagte sie, und ganz schüchtern, ganz schnell regte sich auf dem Grunde ihres gemarterten Herzens, das aber jung war, der Glaube an Glück.
Betreten blickte sie dort hinüber, wo in der beginnenden Dämmerung das weiße Tuch einen riesigen Mann zu bedecken schien. »Und Pjotr?« fragte sie leise.
Er zog sie an sich.
»Ich mach' ihm ein tiefes Grab«, sagte er.
Er ging auf die Türe zu, blieb stehen und tastete in seiner Jacke nach der Stelle, wo er seine Pfeife bewahrte. Aber seine Hand kam leer wieder hervor.
»Rauche nur«, sagte Elisabeth. »Ich weiß doch, wie sehr man es braucht.«
»Die haben mir ja alles gestohlen.«
Sie wies mit dem Kopf nach dem Teller, darauf Pjotrs Pfeife und Tabaksbeutel lagen.
»Du meinst?« fragte er scheu.
»Es würd' ihn freuen.«
Sie begleitete Herkimer in den Garten hinaus.
»Solltest du nicht packen inzwischen?«
»Das ist bald getan, Herk.« Sie standen vor der Tür zum Garagenzimmer. »Vielleicht gibt es hier drinnen etwas, was er hätte mitnehmen wollen.«
Sie sah noch, wie Herkimer drüben den Spaten zur Hand nahm. Dann trat sie ein.
Das Zimmer lag ordentlich aufgeräumt, soldatenhaft sauber, es roch nach Frische. Bessie drehte das Licht an. Nur das notwendigste Gerät war zu sehen. Sie überwand sich und öffnete den schmalen Schrank.
Zwei Anzüge waren vorhanden und die zwei weißen Jacken, in denen Pjotr bei Tische serviert hatte. Dann kam ein quergespanntes Stück Seide; und dahinter, in Absonderung, hing von einem kleinen Bügel ein Kinderkleid, drüber ein Mützchen.
Sie setzte sich auf den strohgeflochtenen Stuhl, den winzigen Anzug auf ihrem Schoß. Kaum unterschied man mehr, daß die schottischen Karos einmal rot gewesen. Kragen und Gürtel waren völlig vergilbt. Aber da war keine Falte, alles sah aus, als habe es jemand erst kürzlich geplättet. Von der geknickten Feder am Mützchen war nichts mehr übrig als bloß der Kiel.
Sie trug es hinüber ins Haus und breitete es neben Pjotr auf das weiße Tuch. Dann nahm sie das silbergerahmte Bild ihres Vaters zur Hand. Sie drehte es gegen das sinkende Tageslicht und betrachtete die freie Stirn und die heiteren Augen, die ihre Augen waren.
Eine Sekunde lang schwankte sie. Nein – ihr selbst blieb das Medaillon, das den Vater und Recha zusammen zeigte in dem kurzen Jahr ihres Glücks. Aber Pattays Bild war für Pjotr.
Sie legte es ihm an die Brust. Da ihm auf dieser Seite der Arm fehlte, sank das Bild tief in die Leinwand ein.
Sie ging in das weiße Zimmer hinüber, worin sie als Kind neben Chana geschlafen hatte. Sie wusch sich, wechselte das Kleid und packte das Notwendige.
Als sie zurückkam, war es Nacht geworden. Sie war dabei, eine Kerze anzuzünden, um sie Pjotr zu Häupten zu stellen. Aber dann überlegte sie, wie er von dergleichen gedacht haben würde, setzte sich im Dunkel ans Fenster und wartete.
Es war ein sternklarer Abend ohne Mond. Sie hörte die Schollen aufschlagen, die Herkimer auswarf. Die Pfeife schien nahe am Boden zu glimmen; daran sah sie, wie tief er schon in der Erde stand. Vorm Winde, der über den Dnjestr kam, wehte eine Rauchfahne den westlichen Hügeln zu.
* * *
Portrait und Kurzbio aus ©-Gründen gelöscht. Re. für Gutenberg.