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Das Land Galizien lag in einem der Zentren des Erdbebens, das vier Jahre lang mit nicht aussetzenden Stößen den Weltteil Europa zerrüttete. Monate hindurch gab es keinen Tag, an dem in der kleinen Stadt nicht entfernt oder näher Geschützdonner vernehmbar war. Wo die Kampffront eigentlich lief, war nur selten mehr klar, längst hatten die Zeitungsleser es aufgegeben, ihre Landkarten mit Fähnchen zu bestecken. Die starke Festung am San, Schutz der Provinz, fiel in russische Hand. Dann gewann man sie wieder. Mit schwankendem Glück, in wüstem Gemetzel wurde um die Bergpässe der Karpaten gefochten. Die Russen rückten ein in die Stadt, in den Ulanenbetten schliefen Kosaken, und ihre struppigen Pferdchen tranken vom gelbgrauen Wasser des Dnjestr. Dann wieder waren sie fort, und ungarische Husarenpferde und mährische Artilleriegäule standen am Fluß. Das ging hin und her. Wochen gab es, da hätte der Feind den Ort selber inne, aber die Österreicher hielten das südliche Ufer mit der Zuckerfabrik und dem Häuschen der Frauen. Eigentlich gekämpft wurde hier nicht. Daß die Bevölkerung ukrainisch war und den Russen nahe verwandt, bewahrte die Stadt vor Zerstörung. Gelegentlich pfiff eine Kugel über den Fluß, aber eher aus Laune, wie ein matter Gruß. Selbst die Brücke war nicht gesprengt worden, und der Verkehr der Einwohner zwischen hüben und drüben hörte nie völlig auf. In ihren Mannsstiefeln ging Chana über den Fluß, um für Vorräte zu sorgen – keine einfache Aufgabe neuerdings, denn die Gegend war kahlgegessen. Besonders Milch aufzutreiben war schwer, und Milch war es, was man in der weißen Villa jetzt am nötigsten brauchte. Oft blieb Chana stundenlang aus. Dann kam in einer der engen Gassen vielleicht ein Zug der russischen Reiter an ihr vorüber, und sie drückte sich in eine Einfahrt, einen Schauder im Herzen in der Erinnerung an einst Erlittenes. Einmal, als sie die Augen aufhob, glaubte sie unter der fremdgeformten Mütze des Anführers das Gesicht des Rittmeisters Schaller zu erkennen. Aber der Sotnik und seine Sotnie waren vorbei, ehe das ganz Unwahrscheinliche sich ihr hätte bestätigen können.
Im vierten Jahr sah es aus, als sei der Feind aus Galizien endgültig vertrieben. Kein fernes Rollen war mehr zu hören. Dennoch glaubte niemand mehr an den Sieg und an die Rückkehr zum Gestrigen. In seinem gelben Schloß in Schönbrunn hatte nach einer Amtszeit von ehrfurchterzeugender Dauer der glücklose Reichsverwalter seine uralten Augen geschlossen und einem unerfahrenen Agnaten, den niemand kannte, seine brüchige Krone und seine leidenden Länder vererbt. Sein Gegenspieler, der weiße Zar, taumelte von seinem byzantinischen Thron. Ein blutbenäßter, gigantischer Finger begann die Umrisse neuer europäischer Staaten aufzuzeichnen.
Das neue Polen, das kommen sollte, würde ganz jenes alte sein, das von der Raffgier seiner mächtigen Nachbarn einst in Stücke zerschnitten worden war. Für den Traum seiner Wiedergeburt, der nun der Erfüllung entgegenging, waren in fünf Generationen hunderttausend Patrioten unter der Knute, am Galgen, im Kerker gestorben.
Hier in Galizien, unter Österreichs Greisenhand, war man niemals so unglücklich gewesen wie unter der russischen Peitsche oder unter Preußens eisernem Lineal. Und hier war nicht Polen der Wunschtraum. War Österreich dahin, so wollte man ein ukrainisches Reich, das von den Karpatenschluchten hinunterreichen sollte bis an das Schwarze Meer. Im Augenblick des Zusammenbruchs schlugen diese schwelenden Wünsche zur Flamme auf. Die Ukrainer schienen den Sieg schon zu halten. Ihre blau-weiße Flagge wehte von dem Rathaus zu Lemberg, der künftigen Hauptstadt. Aber dann kam polnischer Zuzug, und sie erlagen.
Mit ihrem Blut zahlten wiederum die, die sich nicht zu wehren vermochten. Als der Pogrom zu Ende war, lag im Herzen von Lemberg das jüdische Viertel wüst, siebzig Erschlagene verbrachte man bei Nacht auf den Friedhof. Die Juden wußten kaum, wie ihnen geschehen war. Sie hatten in dieser Fehde nicht Partei genommen, hatten keinen der beiden Reichsträume mitgeträumt. Aber das war es gerade – man tobte sich aus an diesen ewig Fremden, die zu niemand gehörten. Wieder einmal saßen in einer ganzen Provinz die Händler und Handwerker hinter geschlossenen Läden lauschend im Dunkel, den Gebetsmantel um die Schultern geschlungen.
Der Pogrom griff nicht übers Land. Die siebzig von Lemberg hatten für alle geblutet. Auch das Städtchen am Dnjestr blieb verschont.
Aber die Wehen der Neugeburt wollten nicht enden. Längst hatten die Unterhändler der Mächte ihre Namen unter das Friedensinstrument gesetzt, in Atlanten und Karten war das neuerstandene Polen mit farbigen Grenzstrichen klar eingetragen, doch in Wirklichkeit zuckten und schwankten diese Grenzen und brachen ein. Endlich wurde doch Friede. Das wiedervereinigte Land sollte beginnen zu leben.
Wiedervereinigt und frei. Aber diese dreißig Millionen Menschen, Polen, Litauer, Weißrussen, Juden, Ukrainer, hatten nach anderthalb Jahrhunderten des Zerstücktseins wenig Gemeinsames mehr in Verfassung, Verwaltung, Justiz. Die Städte vom Krieg halb zerstört, Dörfer vom Boden gewischt, die Straßen Moräste, der Acker verdorben, Industrie und Handwerk gelähmt. Keine regelmäßigen Einnahmen, kein gesicherter Wertmesser; mit Phantasiekursen fluteten in dem weiten Gebiet die Währungen der drei geschlagenen Monarchien. Kein Geld für den Häuserbau, keins für Spitäler und Schulen, keines für die Krüppel und die Verwaisten. Ein bettelarmes Reich in Verwirrung und Krämpfen – zusammengehalten und aufrechtgehalten durch nichts als durch eine Legende.
Diese Legende trug die blaugraue Montur der polnischen Legion und einen silbernen Marschallstab. Und die Menschen riefen sie bei einem zärtlichen und geheimnisvollen Namen: der Großvater.
Der Großvater war noch nicht alt, aber sein Leben war ereignisreich genug gewesen, um ein ganzes Jahrhundert zu füllen, nicht bloß ein halbes. Es war das Leben eines Revolutionärs und Patrioten gewesen, und er hatte es außerhalb der Gesetze verbracht, unter immer wechselnden Namen, Jahre davon als Gefangener in Sibirien, in der Zitadelle von Warschau, in der Irrenzelle sogar, denn er hatte im Kerker Wahnsinn gespielt, weil aus dem Irrenhaus das Entkommen leichter erschien. Aber frei oder gefangen – dreißig Jahre hindurch war er die Flamme und das Herz des zerrissenen Polen gewesen und die Hoffnung seiner elend lebenden Bauern und Arbeiter. Von ihm flüsterten sie in ihren hölzernen Hütten und in den Slums von Warschau und Łódź. In dem Großvater waren ihre abgeschiedenen Götter wieder erschienen; wie Jagiełło die deutschen Ritter und Sobieski die Türken, so würde er die Russen davonjagen und wie der Held Kościuszko ein Schützer der Armen sein. Die russischen Zeitungen schrieben, der Großvater sei ein Bandit. Aber die Bauern wußten, daß alles gut war, was er tat. Er überfiel einen Postzug und raubte zweihunderttausend Rubel. Aber die Bauern wußten, daß das polnisches Blutgeld war, das die Russen davonfuhren, und daß der Großvater es brauchte, um seine Legion auszurüsten, die die Freiheit erkämpfen sollte. Nie war er Soldat gewesen, aber als wirklich der Krieg kam, da führte er seine buntscheckigen Haufen als ein großer General. Treu war er und klug, nicht zu täuschen und nicht zu mißbrauchen. Die Deutschen glaubten, er sei ihr Bundesgenosse. Aber er war nicht ihr Bundesgenosse, er war ein Pole und Revolutionär. Und als sie den Fahneneid von ihm verlangten, da wies er sie ab, und sie führten ihn auf ihre Festung Magdeburg. Das war sein letztes Gefängnis. Denn am Tage des deutschen Zusammensturzes sprang das Festungstor auf, und am nächsten empfing ihn seine befreite Nation, jubelnd bereit, sich unter seine Füße zu werfen. Der Großvater hätte König von Polen sein können. Aber er wollte nicht König sein. Den Marschallstab nahm er an und behielt den Oberbefehl, denn noch war ja lange nicht Friede. Er mußte weiter fechtend von Grenze zu Grenze ziehen, während seine Frau und seine zwei kleinen Töchter im Warschauer Belvedere auf ihn warteten.
Das war ein düster prunkvolles Fürstenschloß, das der Großvater keineswegs liebte. Er liebte auch keine Feierlichkeiten, Empfänge und Staatsdiners. Sie lächerten und langweilten ihn. Und am meisten verabscheute er die Huldigungsreisen, die von ihm verlangt wurden, als endlich im Lande Ruhe erreicht war. Mißmutig bestieg er den Sonderzug oder sein Pferd, um sich den Leuten zu zeigen, und seine Ansprachen an die Befreiten hatten gar nichts von offizieller Rhetorik. Immer sagte er Unerwartetes, sehr oft Befremdliches, und die glänzenden Herren in seiner Suite – denn er hatte ja nun eine Suite – schüttelten heimlich den Kopf. Aber er war der Großvater, und niemand konnte ihm dreinreden.
Nur die Reise in jene Südprovinz, die einst Galizien geheißen hatte, unternahm er ohne viel Murren. Hier hatte er als Verfolgter oft ein Asyl gefunden und hatte unter den nachsichtigen Blicken der Österreicher die ersten Kader seiner Legion formiert. Auch war hier die Zeit der Kämpfe noch nicht lange vorüber, sein Erscheinen unter dem ukrainischen Volk hatte werbenden Sinn, und es war vielleicht noch Gefahr dabei. Er fuhr beinahe gerne hierher.
Erst kam er nach Krakau, der alten Hauptstadt. Da stand er in ihrer Kathedrale, die Polens Pantheon war, vor den Särgen derer, die vor ihm für die Nation gefochten hatten, ihrer Könige, Dichter, Soldaten, und wußte, daß er bald bei ihnen liegen würde. Daran dachte er gern; immer war der Tod in seinen Gedanken, und oft auch in seinen Reden.
In nicht so würdevoller Gestalt begrüßte der Tod ihn in der Stadt Lemberg. Hier ging der Großvater lange umher zwischen den schwarz klaffenden Ruinen des jüdischen Viertels, die niemand wegräumen mochte. Es waren seine eigenen Soldaten gewesen, die da gebrannt und gemordet hatten. Was dachte der alte Revolutionär? Juden waren einmal seine Mitkämpfer für die Freiheit gewesen. Hatte die Feindschaft gegen die bleichen Fremden auch in seinem Gemüt Wurzeln geschlagen, das durch zu viel Schicksal verdüstert war? Niemand wagte danach zu fragen.
Dann zog er weiter nach Osten, tiefer hinein in ukrainisches Gebiet, zu Pferde nun meist, denn hier waren die Bahnlinien noch unterbrochen. Und er hielt auch in der Stadt am Dnjestr seinen Einzug.
Die Stadt war bei der Neuordnung der Provinzen zum Verwaltungssitz ausersehen worden, denn der Krieg hatte sie nicht zerstört, und ihre Lage war günstig. Der Großvater kam, um den neuen Woiwoden feierlich in seinem Amt zu bestätigen.
Jede Erinnerung an Österreichs vergangene Souveränität hatte man weggetilgt. An der »Bezirkshauptmannschaft« war die kaisergelbe Fassade blendend weiß übertüncht, und überm Portal, an der Stelle von Habsburgs Doppelaar, spreizte ein weißer Adler im roten Feld seine Fänge und Schwingen.
Die Behörden sahen den Ehrentag nicht ohne Sorge heranrücken. Wenn der Marschall und Großvater einen Reiz darin sah, sich einer jüngst noch feindlichen Einwohnerschaft öffentlich darzubieten – der Woiwode und sein Sicherheitschef hörten allnächtlich in Angstträumen die Schüsse ukrainischer Attentäter. Die Polizei im Städtchen wurde verstärkt. Man nahm in der Stille ein paar Verhaftungen vor. Anlaß dafür gab es eigentlich nicht. Die halb ländliche Bevölkerung, gedrückt und bescheiden von Art, schien sich im Gegenteil gutmütig auf das Ereignis zu freuen. Und als der Woiwode anordnete, daß an jenem 14. Mai jedes Haus in der Stadt, durchaus jedes, in den polnischen Farben zu flaggen habe, da bedeckten sich ganz gehorsam alle die schiefen, bröckelnden Mauern mit weiß-rotem Tuch. Als die ersten – und niemand wahrhaftig durfte sie dafür tadeln – flaggten die Juden.
Erstaunlich nur und ein Glücksfall, daß so viel weiß-rotes Fahnentuch im Städtchen vorhanden war. Das war dem Kaufhaus Gelbfisch und Sohn zu verdanken, dessen Inhaber sich zur rechten Zeit bei den Textilfabriken in Łódź und Tomaszów eingedeckt hatte.
Nie würde der alte Herr Gelbfisch sich zu einer Transaktion von solchem Ausmaß entschlossen haben, und noch weniger wäre es ihm eingefallen, die teure Ware ohne jeden Aufschlag an die Bevölkerung weiterzugeben – all diese ungezählten Ellen weiß-roten Tuchs ganz einfach ohne einen Heller Gewinn. Aber der alte Herr Gelbfisch war gleich zu Beginn des Krieges gestorben, und sein Sohn hatte allein zu verfügen.
Heinrich Gelbfisch war ein Enthusiast, eine jener entflammbaren Seelen, wie sie in seinem Volk nicht viel seltener sind als der bekanntere realistische Schlag – ein später Zeitgenosse von Byron und Schiller, dessen magern, dunkeläugigen Kopf Begriffe wie Menschenrecht, Freiheit, Verbrüderung unwiderstehlich zum Glühen brachten. Dem polnischen Unabhängigkeitskampf und den verwegenen Taten des Großvaters war er immer schon mit leidenschaftlichen Wünschen gefolgt, und nun, da das Werk gekrönt war, triumphierte er wie in eigener Sache – obgleich doch keineswegs ausgemacht schien, wie es gerade den Juden mitten in der Flut eines siegreichen Nationalismus ergehen würde.
Als ein persönliches Geschenk beglückte es ihn, daß sein Etablissement am Ringplatz der Rathaus-Freitreppe genau gegenüberlag. Dort nämlich sollte der große Empfang und ein Hauptteil der Feier sich abspielen.
Seine dreistöckige Fassade hatte er überschwenglich dekoriert. Nicht nur hingen zwischen den Spiegelglasfenstern weiß-rote Flaggen in ganzer Länge herunter. Er hatte außerdem noch, wo immer Raum blieb, fächerförmige Arrangements von kleineren Fähnchen anbringen lassen, so wie er es in Paris an offiziellen Erinnerungstagen gesehn hatte. Dies erschien ihm in Anbetracht der polnisch-französischen Waffenbrüderschaft besonders passend und sinnreich.
Lange schon vor der Mittagsstunde waren die breiten, geöffneten Fenster von geladenen Zuschauern besetzt. Man sah an denen des ersten Stockwerks Heinrich Gelbfischs bevorzugte Gäste. Der Notar Krasna und seine ebenfalls weißhaarige Frau waren da, Daniel Zweifuß mit seinen beiden Söhnen und deren kopfreichen Familien, der Hotelbesitzer Herr Löw, dessen »Erzherzog Rainer«, jetzt »Weißer Adler« genannt, zwar auch hier am Ringplatz lag, jedoch auf der unbegünstigten Südseite, und der alte Arzt Doktor Adler mit seinen zwei unverheirateten Töchtern. Nur das mittlere der fünf Fenster war immer noch leer, und Heinrich Gelbfisch beugte sich öfters nervös über das Treppengeländer, in der Art eines Theaterdirektors, dem hoher Besuch zugesagt ist und der fürchtet, im Stiche gelassen zu sein.
Endlich erschienen diese letzten Gäste. Es waren zwei stille Frauen in Schwarz und ein Kind. Er eilte ihnen entgegen.
»Es war kein Durchkommen«, sagte Recha und entzog ihre gebrechliche Hand sanft seiner etwas zu stürmischen Huldigung, »schließlich haben wir den rückwärtigen Eingang gefunden.«
Sie war vielleicht etwas schlanker, als sie sechs Jahre früher gewesen. Und es war vom Durchlittenen in ihrem braunbleichen Gesicht eine Störung zurückgeblieben, ein schwach nur merkbares, doch unablässiges Vibrieren unterhalb ihres rechten Auges – wie das Zittern auf einer Seefläche an einem ganz ruhigen Tag. Seltsam wiederholte sich da an ihr eine Erscheinung im Gesicht ihres toten Geliebten. Aber das wußte sie nicht. Denn bei ihm hatte sich dieses Erzittern nur in Augenblicken des Zornes gezeigt, und im Zorn hatte sie Pattay niemals gesehen.
»Was sagen Sie zu unserm Kind, Herr Gelbfisch«, sagte Chana mit ihrer tiefen Stimme, »sie hat es heute zum erstenmal an.«
»Es« war ein schottisch gemustertes Kleidchen, kariert in verschiedenem Rot, mit weißem Fallkragen, losem weißem Gürtel und weißen Aufschlägen an den halblangen Ärmelchen. Ein ebenfalls schottisches Mützchen gehörte dazu, darin eine kecke Feder steckte, und Herr Gelbfisch selbst hatte das Ganze zwei Wochen zuvor an die Frauen verkauft, zu einem Preis, über dessen Geringfügigkeit er sich heimlich die Hände rieb. Mutter und Tante hielten die kleine Elisabeth an den Händen, und sie schaute, da sie sich examiniert fühlte, zu Heinrich Gelbfisch auf, mit einem ein klein bißchen verlegenen, aber im Grunde doch zuversichtlichen Blick, in dem eine reizende, sehr kluge Schelmerei lag.
»Ganz großartig sehen wir aus«, sagte Herr Gelbflsch, »der Marschall von Polen wird Augen machen, wenn er dich anschaut.«
Die kleine Elisabeth war fünf Jahre alt. Sie war nicht hübsch nach der Engelsweise. Sie sah weder Recha sehr ähnlich noch ihrem Vater; die beiden Elemente, von so weither zusammengetroffen, mischten sich in den winzigen Zügen auf eine überaus persönliche Art. Nichts darin war ganz regelrecht und gerade. Ihre Augen lagen ein wenig schräg. Es waren langgeschnittene, helle Augen, beinahe so hell wie die Pattays, mit bläulichen und goldenen Lichtern darin und voll von einem warmen, vieldeutigen Leben. Der Mund aber, ein holder, freundlicher Kindermund, folgte wieder der Augenschrägung genau, die feinen verwöhnten Winkel deutlich nach oben gebogen. Inmitten dieser schon unverwechselbaren Geprägtheit wirkte das weiche, noch völlig ungeformte Näschen wie ein rührender Witz. Schön war das Haar der kleinen Elisabeth, von der Farbe dunkleren Honigs, in seidigen Wellen flutete es reich hervor unter der Mütze. So stand sie zwischen den Frauen und schaute zu Herrn Gelbfisch auf, einen Fuß über den andern gestellt, so daß sich ihre Knopfstiefelchen scheuerten. Das war eine Haltung, die ihr die Tante Chana öfters verwiesen hatte. Aber die kleine Elisabeth von einer Gewohnheit abzubringen war vielleicht nicht ganz einfach.
Marschmusik, noch gedämpft, wurde hörbar. Herr Gelbfisch führte seine drei Gäste vor das mittlere Fenster. Es reichte nicht bis zum Fußboden, sondern begann erst dort, wo Elisabeths Näschen war.
»Was machen wir da«, sagte der Hausherr, »du wirst ja nichts sehen.«
»Ich stell' mich auf meine Zehen, dann geht's schon.«
»So lange kannst du auf deinen kleinen Zehen nicht stehen.« Und er brachte aus dem Verkaufsraum einen Schemel herbei und hob sie hinauf. Die beiden Frauen hatten das Kind bei den Händen gefaßt und hielten sich seitlich im Hintergrund.
Vom Volk auf dem Platz sah man wenig – den Ukrainern in ihrer bunten und schweren Tracht und den jüdischen Leuten dazwischen im dunkeln Sabbatgewand. Denn ein Kordon Soldaten in nagelneuen Uniformen hielt die Menge in weitem Kreis gegen die Häuser zurück. Dafür aber befand man sich dem Treppenpodest auf gleicher Höhe gegenüber, und dort hatten die Würdenträger der Stadt für den Empfang ihre Aufstellung genommen.
Der neue Woiwode stand dort, ein schmaler Herr im Zylinder, der aus verhaltener Nervosität eine steinerne Miene zur Schau trug, der Bürgermeister mit seiner Kette, derselbe noch, der einst Recha und Pattay so hastig zusammengegeben, Magistratsräte, mehrere Offiziere und die obersten Geistlichen. Ganz in Violett, mit einem großen Amethystkreuz vor seiner Brust, der Prälat der römischen Kirche, die die vorherrschende des neuen Staates war; der Priester des griechisch-katholischen Glaubens, dem die Ukrainer anhingen, eine leuchtende Figur in silbergestreiftem Himmelblau, aus dem ein rosenrotes Untergewand hervorblitzte; und etwas abseits von beiden, weißbärtig, in schwarzem Taler, der Erste Rabbiner. Über seine Teilnahme am Empfang waren in der Judenschaft lange, aufgeregte Debatten geführt worden. Die einen fürchteten, man werde sein Auftreten als Zudringlichkeit auslegen, die andern hielten sein Fernbleiben für ganz unmöglich und einen Affront. Schließlich machten ja die Juden fast die Hälfte der Bevölkerung aus. Da stand er nun also und war bemüht, eine selbstverständliche Miene zu zeigen.
Im Grunde waren sie alle nervös. Beklommen schauten sie hierhin und dorthin, begannen Gespräche untereinander, die gleich wieder abrissen, oder horchten der Musik entgegen, mit der der Großvater heranritt. Aber wer von ihnen geradeaus auf die Front des Kaufhauses blickte, der sah dort in ihrem freudigen Kleidchen die kleine lächelnde Mittelfigur, die frei im Fenster zu schweben schien. Und wer sie ansah, nervös oder nicht, der lächelte auch.
Der Großvater ritt ein kleines, hellgraues Pferd von arabischer Rasse, das zur Trompetenmusik der Ulaneneskorte genießerisch tänzelte. Denn es lagen nun wieder Ulanen in der Kaserne, beinahe ebenso prächtig anzuschauen wie vordem die österreichischen, und ihre beste Schwadron war dem Großvater auf der Lemberger Straße entgegengeritten.
Im Sattel hatte er massig gewirkt mit seinen sehr breiten Schultern. Aber als er nun abstieg, bemerkten alle, daß er kaum mittelgroß war und ganz schmal in den Hüften. Leichtfüßig, von den Herren der Suite gefolgt, stieg er zwischen dem Woiwoden und dem Bürgermeister, die ihn am Fuß der Treppe empfangen hatten, zu dem Podest empor, während die Trompeter fortfuhren zu blasen und Salutschüsse dazwischendröhnten. Einiges Hochrufen und das dünne Geläut von der griechischen Kirche her gingen beinahe unter.
Die versammelten Würdenträger begrüßte der Marschall ziemlich eilig und aufs Geratewohl und reichte dabei dem Rabbiner, der zufällig näher stand, vor den christlichen Geistlichen seine Hand, was unter den Zuschauern Schocks von sehr verschiedner Art auslöste. Dann ließ er sich zu dem in der Mitte stehenden, einzigen Sessel geleiten und nahm, da ihm offenbar heiß war, in ganz unmilitärischer Weise seine schwer betreßte Schirmmütze ab. Einer der Magistratsräte sprang herzu, um ihn von ihr zu befreien, und hielt dann während der ganzen Zeremonie die Mütze in seiner Hand, was ungeschickt wirkte.
Der Huldigungslärm war verstummt. Der Großvater blickte gerade vor sich hin auf seinem thronartigen Sitz, und jedermann konnte seine legendären Züge deutlich studieren.
Aus der Generalsuniform, die an den Schultern schlecht saß und auf der wie durch Zufall da und dort Sterne und Ordenskreuze angesteckt waren, erhob sich ein zarter, nervöser Kopf mit einer Gelehrtenstirn unter grauschwarzem, rauhem Haar. Die Brauen der tiefliegenden, klug und einsam blickenden Augen waren auffällig stark zusammengewachsen.
Den Mund sah man nicht, ein gebauschter, hängender Schnauzbart verbarg ihn, und Leute, die mit der Lebensgeschichte des Großvaters intimer vertraut waren, wie zum Beispiel Herr Gelbfisch, wußten, daß es damit seine Bewandtnis hatte.
»Den Bart trägt er nicht gern, er haßt ihn sogar«, sagte er dort gegenüber leise zu Recha. »Aber sein Mund ist entstellt. Den hat ihm einmal ein Polizeisoldat mit dem Gewehrkolben eingeschlagen.«
»Warum hat der Soldat das gemacht?« fragte, ohne sich umzudrehen, die kleine Elisabeth, für die diese Mitteilung eigentlich nicht bestimmt gewesen war.
Herr Gelbfisch übertrug seine Anbetung für Recha sehr stark auf ihr Töchterchen. »Du mußt wissen«, begann er sofort, »daß von der russischen Polizei –«
»Aber Herr Gelbfisch«, unterbrach ihn Chana mit einem brummenden Lachen, »wie soll denn ein Kind solche Sachen verstehen.« Gelbfisch verstummte.
»Traurig schaut er aus, Mama«, sagte unvermittelt das Kind, »ich glaube, er möchte schon wieder fort.«
»Pst«, flüsterte Recha, als könnte der Marschall sie hören.
Der hatte sich drüben die Begrüßungsrede des Bürgermeisters angehört, mit einem Gesicht, das wohl eher gefaßt und gottergeben als traurig zu nennen war. Nun stand er auf, und die Ulanentrompeter bliesen durchdringend einen Tusch, um die Rede des Nationalhelden einzuleiten.
Er begann sie mit einer unkonventionellen Geste, indem er den rechts neben ihm stehenden Woiwoden bei der Hand ergriff und ihn mit seinem Namen, Thaddäus Skolski, der Bevölkerung vorstellte. Herr Skolski hielt seinen spiegelnden Zylinder in der freien Hand und erschien noch bleicher als vorher.
»Leicht wird er's nicht haben«, sagte der Großvater. »Schwere, peinliche Lasten werden auf seinen Schultern liegen, und er wird Maßnahmen durchführen müssen, die ihn unpopulär machen. Wenn das der Fall ist, kann ich ihn nur bitten, sich mit meinem Beispiel zu trösten. Ich weiß sehr gut, warum man mir im Kriege meinen Posten anvertraut hat. Einfach, weil ihn niemand sonst haben wollte. Eine richtige Armee existierte ja nicht, unsere Soldaten kamen daher wie die Landstreicher. So steht es heute mit der Administration. Es ist alles in Unordnung. Keine anerkannten Gesetze gibt es und beinahe kein Geld. Da muß man Männern wie Herrn Skolski danken, daß sie sich der Last unterziehen.«
Und er ließ die Hand des Woiwoden los, der sich mehrmals verbeugte.
»Ihr wollt aber nicht solche Worte der Ermahnung von mir hören, sondern etwas, was eure Herzen erhebt. Ihr wollt von mir hören, was ihr schon wißt: daß ein heroischer Kampf endlich durch den Sieg gekrönt worden ist, daß unser langer Traum Wirklichkeit gewonnen hat. Ja, das ist alles wahr.«
Er verstummte ganz unvermutet, pausierte lang, schien sich in seinen Gedanken zu verlieren.
»Jede Nation«, fuhr er fort, »hat ihre geschichtlichen Denkmäler, Heiligtümer, auf die sie mit Andacht blickt. Aber unser größtes Heiligtum ist etwas, was man in Zukunft nicht mehr wird sehen können. Es sind die Grenzen, die gestern noch unser Reich zerteilt haben. Unwirkliche Striche, so nichtig, daß das kleinste Tier drüber hinhuschen konnte. Aber unsere Nation haben sie auseinandergespaltet hundertundfünfzig Jahre lang. ›Vergeßt eure gemeinsame Vergangenheit‹, riefen die Zwingherren uns zu, ›gemeinsame Freuden, gemeinsame Tränen. Entfremdet euch einander, noch besser: haßt euch, am besten: bekriegt euch, schlachtet einander!‹ Hier in dieser Provinz brauche ich davon nicht viel zu sagen. Noch ist das Blut nicht trocken, das hier vergossen wurde. Das soll nicht wiederkommen. Denkt nicht mehr: Der dort ist ein Pole von Abstammung, aber ich bin ein Ukrainer. Glaubt mir – es ist nicht wichtig. Laßt mich an ein Wort erinnern, das euer Bürgermeister gebraucht hat – nicht aus Stolz erinnere ich daran, sondern weil es beweist, was ich meine. Er hat gesagt, ich mit meiner Person sei die Verkörperung Polens. Nun – im Sinne derer, die Blutstropfen nachzählen, bin ich gar kein Pole. Da bin ich ein Litauer, geboren auf einem litauischen Gutshof von litauischen Eltern. Die Litauer stammen woanders her als die Polen, sie sprechen eine andere Sprache. Aber beide haben jahrhundertelang ein gemeinsames Leben gelebt, und nur das hat Bedeutung.«
Es schien ihm jetzt wohl, als habe er lange genug geredet, und wie auf der Suche nach einer abschließenden Wendung hob er den Kopf, so daß seine Blickrichtung sich veränderte.
Etwas Überraschendes ging vor in seinem Gesicht. Er mußte etwas gesehen haben, was ihn erfreute. Gelassen, als wäre er allein, griff er in die Seitentasche seines Uniformrocks, brachte eine Brille zum Vorschein, setzte sie zurecht und schaute aufmerksam, lächelnd auf die gegenüberliegende Front. Dann nahm er das Glas wieder ab und steckte es ein.
»Ich habe erwähnt, daß ich ein Litauer bin. Aber in diesem Augenblick hat etwas mich daran gemahnt, daß ein Teil meines Blutes noch viel weiter herstammt. In alter Zeit ist ein Vorfahr von mir übers Meer gekommen, aus Schottland, als ein Verfolgter, weil er seinem schottischen König die Treue gehalten hatte. An den Mann denke ich gern. So steht das mit mir. Und trotz alledem hat euer Bürgermeister mich so nennen können – wie er mich genannt hat.«
»Er hat herübergesehen«, flüsterte Recha und legte ihren Arm um Elisabeth, als müsse sie sie vor dem Augenstrahl des Mächtigen schützen.
»Elisabeth hat er angesehen«, sagte stolz Herr Gelbfisch, »ihr Kleidchen hat ihn erinnert.«
Chana wandte ihm ihr Gesicht zu. »Von allen spricht er, Ihr Marschall – Schotten, Polen, Ukrainern, was weiß ich. Nur von uns spricht er nicht.«
»Was will ich sagen mit alledem«, kam von drüben die Stimme. Klar und wie aufgefrischt schallte sie über den Platz. »Damit will ich sagen: Glaubt nicht an die Redensarten von der Abstammung und vom Blut. Gebt euch nicht einem Haß hin, der aus dieser Quelle genährt wird. Es ist etwas andres, das zählt, etwas Geheimnisvolles und Tiefes, und wofür es kein besseres Wort gibt als ›unser gemeinsamer Geist‹. Durch den sind wir einmal eine Nation gewesen und wollen es wieder sein. Nicht eine, die ihr Entzücken in Unterjochung und Eroberung sucht, sondern eine, die in menschenwürdiger Existenz sich selber genugtut. Das wird sich nicht rasch vollziehen, nicht ohne Zweifel und Rückschläge. Wir Älteren werden das volle Licht schwerlich erblicken. Aber ein Kind darf getrost lächeln.«
Wieder, ganz unverkennbar, schaute er hinüber zu der kleinen Figur im Fenster. Jetzt, ohne sein Augenglas, sah er wohl nur einen freudigen Farbenfleck dort.
»Hundert Jahre lang haben unsere Kinder früh weinen lernen. Das soll nicht mehr sein. Ich bin schon ein alter Mann, aber ich habe zwei kleine Töchter, die zu Hause auf mich warten. Die will ich noch spielen und lachen sehen. Dann kann ich ruhig in die große Leere hinausblicken, aus der man nicht wiederkommt. Auf dieser Erde, die so viel Tränen getrunken hat, gibt es nichts Besseres als ein lächelndes Kind.«
Die Herren in seiner Suite sahen einander an. Sie warteten, was der Großvater noch weiter Erstaunliches sagen werde. Aber er sagte nichts mehr. Das war das Ende seiner Rede gewesen.
Es kamen wieder regelmäßig Blumen ins Haus, und es waren Angestellte von Heinrich Gelbfisch, die sie ablieferten.
Im zweiten Kriegsjahr hatte Recha sein Kaufhaus zum ersten Male besucht. Sie kam mit Chana. Herr Gelbfisch war anwesend. Man hatte ihn nach dem Tode seines Vaters für unabkömmlich erklärt und aus dem Armeedienst entlassen, sehr zu seiner Erleichterung, da er ja Österreichs Sache als die seine nicht ansah. Kaum betrat Recha sein Etablissement, so erkannte er unter der Trauerkleidung mit Herzklopfen ihren Umriß. Denn er war ein Theaterenthusiast und ein Kenner, und ihrem Zauber als Schauspielerin hatte ihr tragisches Schicksal, von dem er wußte, noch eine wehe Verklärung hinzugefügt. Er eilte zu ihrer Bedienung herbei und horchte demütig auf die wohlbekannte, süße und scharfe Stimme, die in einem verwunderten Flüstern unter dem schwarzen Schleier hervordrang. Er geleitete die Frauen die Treppe hinunter, hielt die Türe vor ihnen auf und verneigte sich tief.
Als sie nach langer Pause wiederkam, führte sie die dreijährige Elisabeth an der Hand. Sie selbst war nicht mehr verschleiert, und Heinrich Gelbfisch gewahrte gerührt die winzige Störung in ihrem Gesicht, ihre Leidensspur. Wieder bediente er sie, war dann plötzlich verschwunden und legte, als er zurückkam, der kleinen Elisabeth eine stattliche Puppe in den Arm, die bunt als ukrainische Bäuerin gekleidet war und die Augen aufschlagen konnte.
»Sie hat nämlich ganz dein Haar«, sagte Gelbfisch und strich der Kleinen rasch und scheu über die honigfarbenen Locken.
Elisabeth schaute fragend zu ihrer Mutter auf.
»Das ist nichts für uns, Herr Gelbfisch«, sagte Recha. »Ich weiß überhaupt nicht, wem Sie so kostbare Puppen verkaufen können mitten im Krieg.«
»Das ist es ja. Eben. Gar nicht verkaufen kann ich sie jetzt. Sie tun mir geradezu einen Gefallen. Bitte!« fügte er leise hinzu, und es war ein fast ergreifender Nachdruck in dem Wort.
Recha sah ihn an, und in ihrem Gesicht erschien ein kleines, zögerndes Lächeln. Es war, als hätte dies Gesicht so sehr die Fähigkeit zu lächeln verloren, daß es sie schmerzte.
Aber nach dieser Szene konnte es unmöglich lange dauern, ehe Herr Gelbfisch an der Villa überm Fluß vorfuhr, um seine Aufwartung zu machen.
Das lag nun vier Jahre zurück, und mehr als zwei war es her, seit sich der Marschall und Großvater sein Augenglas aufgesetzt hatte, um Elisabeth zu betrachten. Das »schottische« Kleid war längst zu klein geworden für sie. Aber sie hatte geweint, als es zertrennt werden sollte, und so hing es im Schrank, zusammen mit seinem Mützchen.
Sie nahm es hervor, heute wie oftmals, und drehte es in den Händen. Es war Abend, sie sollte zu Bette gehen und zögerte nach Kinderart den Augenblick noch ein wenig hinaus. Heinrich Gelbfisch, der nun sozusagen zum Haushalt gehörte, stand neben ihr in dem weißlackierten Zimmer, darin sie mit Chana schlief.
»Das war doch mein schönstes Kleid, Onkel Heinrich. So eines bekomm ich nicht wieder.«
»Unsinn, Bessie. Viel schönere wirst du bekommen.«
»Aber das Schottische wird es nicht sein.«
»Nun, wenn dir so viel daran liegt, kann man es nachmachen, bloß etwas größer.«
»Es wäre doch nicht dasselbe.«
Das war abschließend gesagt, in einem Ton, der auf Verständnis verzichtete. Denn selbst die kleine Elisabeth behandelte Herrn Gelbfisch nicht ganz als Erwachsenen.
Später dann saß er im Wohnzimmer bei den Frauen und perorierte vor ihnen über die Begebnisse draußen in der europäischen Welt, mit so bebendem Anteil wie je, trotz mancher bittern Erfahrung. Nichts hatte seinem Schwärmertum Abbruch tun können, nicht einmal der Umstand, daß man ihn schnöde zurückwies, als er sich um Aufnahme in einen der politischen Klubs bewarb, die überall in der jungen Republik aus der geeinten Erde schossen. Noch immer war der Untergang der drei Kaiserreiche, der »drei finsteren Kolosse«, wie er sie nannte, ein Gegenstand seines Entzückens, auch als sich längst neue Wolken über dem Weltteil zu sammeln begannen. »Ni Dieu ni maître«, stieß er begeistert hervor, und Recha, die allein das verstand, sah mit melancholischem Spott die Flamme in seinen runden, schwarzen Augen zucken, die zu nahe beisammen lagen.
»Chana, es geht wirklich nicht weiter«, sagte sie, als er schließlich gegangen war, »hast du gesehen, was er wieder geschickt hat?«
»Was denn?«
»Eine neue Lampe fürs Eßzimmer.«
»Nun, die alte war ja wirklich fatal.«
»Aber es vergeht keine Woche, ohne daß er was schickt. Der Teppich hier, das Schildpatt auf meinem Toilettentisch, das viele Spielzeug für Bessie, die Delikatessen, die Weine –«
»Wenn es ihn glücklich macht.«
»Aber es gibt ihm nach und nach einen Anspruch.«
Chana schwieg. Sie saßen einander am runden Tisch gegenüber, Chana mit einer Näharbeit beschäftigt, zu der sie trotz ihrer Jahre keine Brille benötigte, Recha über einer Stickerei in den braunen und mattgrünen Tönen, die ihr Geschmack waren. Die Fenster standen offen gegen die warme Aprilnacht.
»Dem jungen Zweifuß bin ich heute begegnet«, sagte Chana, scheinbar ohne Zusammenhang. »Er hat nach der andern Seite geschaut, um mich nicht zu grüßen.«
»Die werden uns nicht mehr lange hier wohnen lassen.«
»Sie werden uns wohnen lassen, solang wir die Miete bezahlen.«
»Wie lange wird das noch sein.«
»Ja, das frag' ich mich auch.«
Die Kamine der Zweifußschen Zuckerfabrik, tausend Schritte flußaufwärts, rauchten nicht mehr. Schon während des Krieges war die Produktion dort sprungweise zurückgegangen, und nun hinderten neu aufgerichtete Zollbarrieren die Ausfuhr nach dem ehemaligen Absatzgebiet. Das schlimmste aber war: es fehlte am Betriebskapital. Denn die Mehrzahl der Forderungen, die der alte Daniel Zweifuß seinen Söhnen hinterlassen hatte, erwies sich als uneinbringlich. Die Adelsfamilien, deren historische Namen seine häßliche Hand so zuversichtlich in das Geheimbuch eingetragen, waren versprengt und verarmt, viele ihrer Söhne im Felde gefallen. So war es begreiflich, daß eines Tages aus dem Kontor der feiernden Fabrik ein Schreiben nach der Villa hinübergebracht wurde, das die Witwe des Oberleutnants Graf Pattay um Rückerstattung jener längst fälligen zwanzigtausend Kronen ersuchte.
Recha hatte von dieser Schuld nichts gewußt. Die Rechtslage war zweifelhaft. Notar Krasna, der konsultiert wurde, war nicht der Ansicht, daß eine Verpflichtung bestehe. Aber Recha fühlte sie auf sich. Um ihretwillen hatte Pattay dies Darlehen aufgenommen, und die Söhne dessen, der es gewährt hatte, waren nun selbst in Bedrängnis. Ihr Impuls war, herzugeben, was sie besaß.
Das war wenig genug. Die Ersparnisse aus ihren Bühnenjahren waren unter den Stößen der Währungskrise zusammengesunken. Allvierteljährlich bot die Aufbringung ihres Mietzinses ein Problem. Mußten sie nun in der Tat das Haus am Fluß und den Garten verlassen?
An diesem Punkt setzten Chana und der alte Jurist ihre Überredungskraft ein. Zwei Zimmer irgendwo in der Stadt beziehen, Elisabeth aufwachsen lassen in der kellerigen Feuchte dieser luftlosen Gassen – es war ein Opfer, vor dem Recha zurückschrak.
Aber es gab einen anderen Verzicht, und an den rührte Chana mit keinem Wort. In dem weißen Hause war Rechas Herz. Hier war sie mit Pattay glücklich gewesen, hier hatte sie gelebt in der kurzen Zeit, da sie wirklich gelebt hatte.
Bessie hatte den Tisch gedeckt, und Chana trug das Abendbrot auf.
Die alte Frau und das Kind waren jetzt miteinander allein. Ehe Recha von der Reise zurückkam, die sie kürzlich angetreten hatte, konnten Monate vergehen. Man mußte sogar hoffen und wünschen, daß es viele Monate sein würden.
Draußen fuhr ein Wagen vor. Die beiden legten Messer und Gabel hin und sahen einander an. Da ging schon die Tür auf, und im Reisekostüm kam Recha herein. Sie sah derangiert und krank aus.
»Da bin ich schon wieder«, sagte sie und nickte sonderbar zu Elisabeth hinunter, die auf sie zugesprungen war. Elisabeth ließ die Arme herabfallen. Man hörte draußen im Flur den Kutscher den Koffer niedersetzen, hörte ihn gehen und den Wagen davonrollen.
»Du kommst genau richtig zum Abendbrot«, sagte Chana mit einer Stimme, der man die Anstrengung, natürlich zu bleiben, nicht anmerkte, »es gibt sogar etwas Gutes.«
Recha setzte sich an den Tisch, ohne Jackett und Hut abzulegen, wie eine Fremde.
Und dann kam es. Ihr Kopf sank vornüber auf ihre ausgestreckten Arme, und ein Schluchzen riß ihren schmalen Körper hin und her.
»Tante Chana!« Elisabeth bewegte kaum ihre Lippen.
»Geh vor ins Schlafzimmer, Bessie. Decke Mamas Bett auf.«
Elisabeth nickte ernsthaft. Sie bückte sich nach Rechas Hut, der zu Boden gefallen war, und ging.
Chana umfing die Nichte von rückwärts und richtete sie mit ruhiger Gewalt in die Höhe. Einen Augenblick ließ sie das zuckende Gesicht an ihrer Schulter ruhen. Dann nahm sie ihr das Jackett ab und begann sie schon im Gehen zu entkleiden.
»Chana, du weißt ja nicht –«
»Ich will jetzt nichts wissen. Leg dich nur hin. Das Bett ist immer ein Trost.«
Nicht rasch ging die Krise vorüber. Chana, nach ihrer Art, besaß die Stärke, stumm abzuwarten. Sie fragte nicht, ob ein Arzt geholt werden solle, hatte keine der fahrigen Besorgtheiten, die in solchen Fällen den Kranken verstören. Verließ sie das Zimmer, so kam Elisabeth herein und rückte sich den Stuhl an das Bett. Sie war nicht lauter als Chana und zeigte eine Fähigkeit auszuharren, die merkwürdig war für ein Kind. Nur die Gewohnheit, ihre Schuhe aneinander zu scheuern, hatte sie beibehalten. Sie tat es fast unaufhörlich, aber vorsichtig, ohne Geräusch, und genoß es doch immerhin, daß jetzt niemand da war, es ihr zu verbieten.
Am Morgen des dritten Tages aß Recha zum erstenmal, schlief dann über den Mittag, und als sie erwachte, sah die kleine Elisabeth, daß ihr Gesicht war wie sonst.
Ein leichtes Anthrazitfeuer brannte. Draußen schien helles Septemberlicht. Ein schräger Strahl leuchtete auf dem blonden Schildpatt der Toilettengarnitur und erreichte den Silberrahmen der großen Photographie auf dem Tischchen daneben. Sie zeigte Franz Pattay in voller Uniform, die Tschapka mit dem Haarschweif in die Hüfte gedrückt, das klare, freie Gesicht dem Beschauer mit einem unbefangenen Lächeln zugewendet.
»Bessie, rück mir das Tischchen mit dem Bild unten ans Bett. Da blendet es nicht.«
»Ja, Mutti.«
Und sie sprang auf.
»Mutti?« fragte Recha, und das Kind sah, daß sie lächelte, »seit wann sagst du Mutti zu mir? Nicht mehr Mama?«
»Mutti ist lieber.«
»Zärtlicher, meinst du.«
»Ja, zärtlicher. Mutti – ist's jetzt vorbei?«
»Ganz vorbei.« Und schon begannen ihre Tränen wieder zu strömen. Aber sie schmerzten nicht länger. Sie öffnete ihre Arme, und die Kleine stürzte über sie her, leidenschaftlich.
»Bessie – du drückst mich ja tot!«
»Ich hab schon geglaubt, du magst mich nicht mehr.«
»So was Dummes kannst du nicht glauben.«
»Mutti – war es so dumm?«
Die Kleine richtete sich empor, saß auf dem Bettrand und schlenkerte ihre Beine, beglückt.
Chana kam herein. Sie trug ihr Sabbatkleid und ein dunkelrotes, seidenes Umschlagtuch, das von Heinrich geschenkt war.
»Gehst du aus, Chana? Das ist recht.«
»Ich will in den Tempel.«
»Du bist wirklich ganz aus der Ordnung. Laubhütten ist. Freudenfest. Hörst du nicht?«
Sie hob ihren Finger. Aus dem Garten kam leichtes Hämmern und Knacken von Ästen.
»Heinrich hat uns seine Leute geschickt. Sie bauen eine Hütte im Garten. Lauf hinaus, Bessie, schau ihnen zu.«
»Laubhüttenfest, Freudenfest«, wiederholte Recha und wandte ihre Augen nach Pattays lächelndem Bild. »Sag einmal, Chana, mußt du gleich gehen?«
»Es ist noch nicht fünf. Heinrichs Leute nehmen mich dann zur Stadt mit dem Wagen.«
Und sie setzte sich zurecht. Nun würde sie hören. –
Vor nicht ganz zwei Wochen war Recha nach Warschau gereist, um ein Bühnenengagement anzutreten.
Sie war vor diesem natürlichen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten bisher immer zurückgewichen. Der Gedanke, sich wieder dem Publikum darzustellen, zu tanzen, Walzerlieder zu singen, jagte ihr Ängste ein. Eine Demütigung schien ihr gewiß. Sie fühlte sich zu alt, verbraucht und verwelkt mit ihren dreiunddreißig Jahren. Und ganz sicher war sie vergessen.
Aber in diesem Frühjahr und Sommer griff ihnen die Not an den Hals. Als die Juli-Miete herankam, packte sie ihre Schmuckstücke zusammen und bot sie den beiden Händlern an, die im Städtchen als Juweliere firmierten. Aber in dem ausgebluteten Land, und zumal hier in der Provinz, war für Kostbarkeiten kein Markt. Sie gewann nur eben Hilfe für einen Moment.
Sie wußte, welch anderen Schritt Chana schweigend von ihr erwartete. Heinrich drängte sie nicht. Aber sie lag wach in vielen Nächten und wog das Unrecht an ihrem Kind gegen das Unrecht an dem Manne, den sie nicht liebte. Ihre verwundete Natur scheute zurück vor der unersehnten Umarmung. So ging man nicht in die Ehe mit einem redlichen Menschen.
Da kam um die Mitte August der Antrag aus Warschau. Das Theater, an dem sie ihre Erfolge geerntet hatte, lud sie ein, wie vordem in einer Operette des jüngeren Strauß die Titelpartie zu singen. Es war ein reizendes Werk, das sie immer geliebt hatte. Und der Brief war bestechend. Der Warschauer Direktor schrieb im Tone schmeichelhafter Überredung und bot ihr seine stattliche Gage mit einer Art von Entschuldigung an. Ganz offenbar setzte er voraus, daß sie als Witwe eines Mannes aus so großem Haus in mehr als bequemen Umständen lebe.
Erstaunt gewahrte die alte Frau die Wirkung dieses Schreibens auf Recha. Die Höflichkeit dieses Theatermenschen, der sie fast ein Jahrzehnt nicht gesehen hatte, überzeugte sie unmittelbar von der Grundlosigkeit ihrer Zweifel. Nun sah sie es klar: noch war sie imstand, allen Nöten durch ihr Talent ein Ende zu machen. Nicht in ungesunder, trüber Enge würde ihr Kind herankümmern müssen. Und sie akzeptierte mit einem so enthusiastischen Brief, daß Chana ihr riet, doch in gemessenerem Tone zu schreiben.
In Warschau ließen die Dinge sich verheißungsvoll an. Sie war nicht vergessen. Die Blätter nahmen eifrig Notiz von ihr, Unbekannte füllten ihr das Hotelzimmer mit Blumen, ältere Kollegen, mit dem reizenden Überschwang polnischer Leute, begrüßten sie wie eine täglich Entbehrte, endlich Heimgekehrte.
Ein Kummer freilich war es und fast ein Schlag, daß sie ihren alten Gesangslehrer Dossi nicht mehr vorfand. Sie hatte sich während der Zeit, die bis zum Probenbeginn noch blieb, bei ihm einsingen wollen und hatte ihm schon von unterwegs eine Depesche gesandt. Der ehemalige Bariton der Scala, der für seine Fechterfigur und exquisiten Manieren nicht minder berühmt war als für seine Lehrmethode, hatte sie in vergangenen Tagen als Schülerin immer bevorzugt. Aber Dossi war tot. Er hatte auch jedes Recht, tot zu sein; er wäre ein Achtziger gewesen, wenn er gelebt hätte. Das hatte sie nicht bedacht, und es gab ihr ein Gefühl der wegsinkenden Zeit.
Von Eile gedrängt, griff sie nach dem ersten Ersatz, den man ihr empfahl. Das war ein deutscher Opernsänger, dem vor einigen Jahren ein Unglücksfall die Karriere zerstört hatte. Entstellt, tief verbittert, hatte er sich nach dieser polnischen Stadt zurückgezogen, die für seine Begriffe außerhalb der Zivilisationssphäre lag. Er kannte noch heute nicht zwanzig Worte der Sprache.
Recha erschrak, als sie unter dem sorgsam gelockten Blondhaar in ein Antlitz blickte, dessen linke Seite als gelähmte Halbmaske herabhing. Der Mann starrte sie an, aus Augen, die nicht mehr in gleicher Höhe lagen, und mit nervöser Hellsicht wußte Recha, daß er das kranke Erzittern in ihrem Gesicht, ihre Leidensspur, wie ein Hohn auf die eigene furchtbare Entstellung empfand.
In einer Atmosphäre von Kälte und Antipathie begannen die Stunden. Nach der langen Entwöhnung war sie zufrieden mit Halt und Farbe ihres Organs, und die Korrekturen dieses Lehrers, gleichgültig, ja wegwerfend vorgebracht, trugen nicht dazu bei, ihre Zuversicht zu stärken.
»Die Stimme sitzt nicht, Herr Kammersänger«, rief sie irritiert, »es wird immer schlechter.«
»Ach, sitzen tut sie schon«, gab er zur Antwort, und es lag Unheil und Hohn in der Art, mit der er das Wort wiederholte.
Sie stand zu seiner Linken am Flügel, sie hatte die zerstörte Gesichtshälfte unter sich und wagte nicht, ihren Standort zu wechseln.
Als sie sich nach acht Tagen verabschieden konnte, fühlte sie sich erlöst. »Natürlich wäre es gut«, sagte sie höflich, »unser Studium auch während der Probenzeit fortzusetzen. Aber ich gestehe Ihnen, daß ich das Honorar in Betracht ziehen muß. Vielleicht kann ich mit dem Korrepetitor noch üben.«
Er hielt schon die Tür vor ihr auf. »Ja, üben Sie mit dem Korrepetitor«, sagte er. »Und vielleicht sehen Sie doch einmal einen Halsarzt!« Und er schloß die Tür hinter ihr.
Verstört kam sie am andern Morgen in das Theater. Sie hatte bisher nur an zwei Arrangierproben teilgenommen. Dies war ihre erste Probe mit dem vollen Orchester. Der Kapellmeister, ein unruhiger jüngerer Herr, der vage an Arnold Grünbaum erinnerte, entschuldigte sich bei dem Gast. Sein erster Geiger sei krank. Es werde nicht alles zum besten sein.
»Auch bei mir kaum«, sagte sie trübe.
Damit stand sie in der Kulisse und horchte auf die Rezitative der einleitenden Szenen. Die Bühne war leer. Ihr Auftrittslied erklang. Sie ging hinaus. Sie öffnete ihren Mund.
Nichts kam. Die Stimme war ein dünner, brüchiger Faden. Die triumphale Walzermusik schwoll zu ihr auf wie eine gierige Brandung. Der Kapellmeister klopfte ab.
»Nicht markieren, Gnädige!« Das war der Direktor, der mit dem Regisseur im Parkett saß. »Nun heraus mit der Stimme!«
Wieder rauschte das Walzerlied auf. Sie hörte sich selbst nicht. Es war alles vorbei. Da half auch kein Arzt. Nicht nur eine Saite hing schlaff, ihr Instrument war zerbrochen.
Jenseits der Walzerbrandung öffnete sich der Raum, grabesschwarz, ungeheuer. Unter ihr der Bretterboden begann Wellen zu schlagen. Sie sang weiter, vier Takte lang, sechs.
Das Orchester spielte noch fort. Der Kapellmeister wagte nicht, nochmals abzuklopfen. Die beiden Herren irgendwo saßen stumm, ihre Zigarren glühten in dem offenen Grab. Es gab nichts mehr zu sagen, nichts zu erklären.
Sie trat ab. Über einem Versatzstück lagen ihr Hut und ihr Mantel. Sie stemmte sich gegen die eiserne Bühnentür, die nur einer furchtbaren Anstrengung wich.
Sie gelangte in ihr Hotel. Sie reiste. Da war sie.
Zu dieser Zeit des Jahres bauten überall in der Welt fromme Juden sich Hütten. Die buchstabengläubigen wohnten darin, die lässigeren nahmen während der sieben Tage wenigstens ihre Mahlzeiten dort. Nicht ganz aus Gebälk und Brettern durfte solch eine Hütte gezimmert sein, ihr Blätter- und Zweigdach sollte nicht völligen Schutz bieten gegen Regen und Winde, und das Sternenlicht sollte hindurchscheinen.
»Dies«, so verfügte wortkarg das Buch, »soll euch an jene Zeit erinnern, da ihr in der Wildnis in Hütten gewohnt habt.«
Aber es erinnerte die Juden an nichts mehr. Selbst denen, die in den Lehrhäusern über rabbinische Schriften gebückt saßen, wurde der Festsinn der sieben Tage nur dämmerig erkennbar. Zu undenklich lang war es her, daß sie als ein wandernder Stamm ihre Herden getrieben hatten, auf der Suche nach neuen Weiden oder nach herrenlosem und fettem Land, wo sich siedeln und säen ließ. Weide und Ackerflur, Herde, Aussaat und Ernte – es gab auf dem Rücken der Erde kein Volk, so abgetrennt vom anfänglichen Erbteil wie dieses letzte, das aus antiker Frühe noch übrig war.
Aber wo immer ein Gärtchen lag hinterm Haus, ein dunkles Höfchen auch nur zwischen Mauern, da hatten sie etwas Hüttenartiges aufgerichtet, schoben Tisch und Bänke hinein und saßen und aßen in dem wackligen Unterschlupf. Im Schmutz der feuchten Gassen liefen ihre Kinder mit Jubelfähnchen herum, auf deren buntem Papier Mosis Bild aufgemalt war über hebräischen Zeichen. Gehorsam schritten die Älteren in den Tempel zur Freudenfeier. Aber worüber die wandernden Vorväter sich einst gefreut hatten, das wußten sie nicht mehr.
Der erste der sieben Morgen ging strahlend auf überm Djnestrtal, und als Recha sich angekleidet hatte, traten die drei in den Garten hinaus, um in der Hütte zu frühstücken. Unten, nahe überm Fluß, hatten die Männer am Vortag sie hingebaut – eine ausnehmend schöne Hütte, hoch, die Wände so solide, wie es erlaubt war, und das luftige grüne Dach mit bunten Herbstblumen reizend durchflochten. Sie standen und blickten bewundernd hin. Dann faßte die alte Frau Recha und das Kind bei den Händen, und alle drei wandelten über den morgenfeuchten Rasen hinunter.
Die breite Tür stand offen gegen den Fluß. Drinnen war der Tisch verlockend gedeckt. Neben Chanas Platz lag ihr hebräisches Buch, gebunden in blauen Samt und mit vergoldeten Spangen geschlossen. Da Recha am Vorabend noch zu Bette gelegen hatte, war dies Frühstück das erste gemeinsame Festmahl, und ehe Chana das Brot brach, sprach sie den Segen.
»Gepriesen seist Du, mein Gott und Gott meiner Väter, der Du uns befohlen hast, in Hütten zu wohnen.«
»Was heißt das?« fragte Elisabeth.
Chana übersetzte es ihr. Das Kind hielt mit beiden Händen die Tasse umklammert, blies auf die heiße Milch und schaute mit einem kleinen Schielen zu Chana auf.
»Warum hat der Herr befohlen, in Hütten zu wohnen?«
»Das ist einmal so. Man braucht nicht alles zu wissen.«
Die Kleine setzte die Tasse nieder und leckte den Milchrand ab, der um ihren Mund zurückgeblieben war.
»Aber wenn der Herr es befohlen hat, muß er doch wissen, warum.«
»Der Herr weiß alles«, sagte Recha. »Nimm lieber deine Serviette, und leck dich nicht ab wie ein Kätzchen.«
Sie aßen und tranken.
»Wie hübsch Heinrichs Leute das gemacht haben!«
Recha sah sich um in dem sauber gefügten Räumchen und schaute dann hinaus auf den Fluß und die spielzeughaft beieinanderliegende Stadt, über der die letzten durchsonnten Morgennebel flogen.
»Übrigens, Recha – er war gestern selbst hier. Er hat dich nur nicht stören wollen.«
»Heinrich?«
»Ich hab's gewußt, Mutti. Onkel Heinrich hat mitgeholfen beim Bau.«
»Und das hast du mir gar nicht erzählt?«
»Aber Mutti, wenn jemand sagt, es ist ein Geheimnis!«
»Ja, natürlich –. Hör einmal, Bessie, ich möchte dich etwas fragen.«
Elisabeth sah ihre Mutter aufmerksam an und legte den Rest ihres Honigbrots auf das Tischtuch. Recha nahm das Brot und legte es auf einen Teller.
»Wünschst du dir eigentlich manchmal, Onkel Heinrich wär' dein Papa?«
»Onkel Heinrich – eigentlich nicht.«
»Aber du magst ihn doch gern.«
»Ich mag ihn schon gern. Nur Angst könnt' ich nicht vor ihm haben.«
»Angst? Muß man denn Angst haben vor einem Papa.«
»Nicht wirklich Angst, Mutti. Aber einbilden muß man sich's können.«
»Mir scheint, du redest Unsinn«, sagte Chana. »Lauf lieber hinauf und hole mir meinen wollenen Schal. Es ist doch noch kühl.«
Elisabeth lief.
»Recha – er kommt heute nachmittag.«
»Das habe ich erwartet.«
»Ich red' dir nicht zu. Du bist frei.«
»So frei wie man ist in einer Lage wie unsrer.«
»Das klingt beinahe, als wäre er dir zuwider.«
Recha schüttelte langsam den Kopf.
»Er ist ein sanfter, aufrichtiger Mensch. Von zuwider ist gar keine Rede.«
»Nun, das ist mehr, als die meisten Bräute von sich sagen können.«
»Wahrscheinlich.« Recha lächelte ein bißchen über die melancholische Weisheit.
»Für ihn wär's auf alle Fälle ein Glück. Unter uns gesagt – ich glaube, er macht auch geschäftlich allerhand Dummheiten. Gut, wenn er eine vernünftige Frau bekommt.«
»Ich bin gar keine so vernünftige Frau.«
»Aber du hast eine vernünftige Tante«, sagte Chana mit einem brummenden Lachen, das doch recht befriedigt klang.
Elisabeth sprang herein mit dem Wolltuch. Chana legte es neben sich auf die Bank.
»Ist dir nicht mehr kalt, Tante Chana?«
»Jetzt nicht mehr. Hast du fertig gefrühstückt?«
Elisabeth nickte.
Die alte Frau öffnete die vergoldeten Spangen an ihrem Buch, schlug es auf, dort wo das Zeichen lag, und las das Gebet.
»Herr, Du mein Gott und Gott meiner Väter, wir sind Deinem Gebote gefolgt und haben in dieser Hütte gesessen. So gib auch, daß wir im kommenden Jahre würdig befunden werden, in der Hütte des Leviathan zu sitzen.«
»Tante, was heißt das?«
Chana runzelte halb ärgerlich ihre Stirn. Aber Recha nahm das samtene Buch und übersetzte die hebräischen Worte für ihr Kind.
»Wer ist der Leviathan, Mutti?«
»Der Leviathan – wahrhaftig, ich weiß nicht.«
Aber in Chanas altem Kopf regten sich Erinnerungen an die eigene Kinderzeit, als in einem Judenstädtchen im Norden ihr langverstorbener Vater am Sabbat aus den Fabeln und Lehrmärchen der Haggada erzählt hatte. Da war vom Leviathan die Rede gewesen, dem nach Blut brüllenden Ungeheuer, das von den Gerechten erlegt wird und dessen zolldicke Haut sie für sich ausspannen als Zeltwand.
»Der Leviathan, Bessie, das ist ein Ungetüm – damit sind böse Menschen gemeint.«
»Böse Menschen«, wiederholte die Kleine mit grübelndem Ausdruck. »Mutti – warum verstehe ich kein Hebräisch?«
»Hebräisch ist nicht so leicht.«
»Alle jüdischen Kinder können Hebräisch.«
»Im Frühjahr kommst du in die Schule. Da lernst du's.«
»Das wird fein«, sagte Elisabeth.
Die beiden Frauen saßen still und blickten auf das Kind mit dem honigfarbenen Haar, auf seine hellen, heiteren Augen mit den bläulichen und goldenen Lichtern darin, die Pattays Augen waren.
Es war ein Gespräch von mehr als zwei Stunden und beinahe ein Verlobungsgespräch. Nur das allerletzte, ganz klare Wort war noch nicht gefallen. Recha stand vor einer weit offenen Tür und wußte, daß sie eintreten müsse, aber noch sperrte, undurchschreitbar, ein magnetischer Riegel die leere Schwelle. Es war nicht Abneigung, was sie gegen Heinrich empfand, wie er da auf dem abfallenden Rasen neben ihr saß und sie im Reden aus seinen runden, schwarzen Augen so sanft und dringend ansah – und auch keineswegs hemmende Fremdheit. Viel eher war es das Gegenteil, ein Gefühl des zu nahe Verwandtseins. So, als sollte ihr jüngerer Bruder sie jetzt gleich in die Arme nehmen und als seine Braut küssen. Doch dies alles, natürlich, war Sache der Nerven, war Einbildung, kranker Unsinn. Ein Zurück gab es nicht, durfte keins geben.
»Ich komme ein Stück mit hinaus, Heinrich«, sagte sie und trat mit ihm auf die Landstraße. Die Sonne war schon hinunter, es wurde angenehm kühl.
Der Augenblick war nun da. Ehe sie stehenblieb, und ihn seinen Wagen besteigen ließ, der dort langsam vorausfuhr, mußte alles entschieden sein. Zögernd ging sie. Sie setzte sich Fristen. Wenn sie jetzt in den Hof der Zweifußschen Fabrik hineinblickte und er war völlig von Menschen leer – dann würde sie sprechen. Aber als sie heran waren, standen hinter dem Gitter die Zweifußschen Kinder und schauten unfreundlich durch die Stäbe –. Wenn sie jetzt bis zwanzig zählen konnte, ehe die Pferde dort vorn die Birkengruppe erreichten dann tat sie den Mund auf. Aber sie war mit ihrem Zählen nicht rechtzeitig zu Ende. Die Straße senkte sich schon, und man sah den Eingang zur Brücke. Dies war die letzte Station; vor der Brücke gab sie ihr Ja. Sie wandte die Augen nach Heinrich. Er war kaum größer als sie, wie er da neben ihr herschritt, zierlich und schmal. Sie bemerkte den leichten Schweiß, der ihm auf der Schläfe stand. Mitleid durchzuckte sie wie ein Schmerz, Mitleid nicht weniger mit sich selbst als mit ihm. Da war die Brücke. Man hörte den langsamen Tritt der Pferde auf den Bohlen schallen.
Ein Mann kam über die Brücke daher und traf am Eingang mit ihnen zusammen. Der Mann wich seitlich zurück, machte gewissermaßen Front, nahm seine Mütze ab und verbeugte sich achtungsvoll. Recha dankte befangen.
Er sah aus wie ein ukrainischer Bauer, breitschultrig, freundlich. Aber er trug keinen Bauernkittel, sondern einen unbestimmt grüngrauen Rock, der einmal ein Uniformstück gewesen sein konnte, und auf dem Rücken ein kleines Felleisen aus Sackleinwand.
»Ich erlaube mir, die Frau Gräfin zu begrüßen«, sagte, der Bauer in einem mühevollen, slawisch artikulierten Deutsch.
»Wer sind Sie denn?« fragte Recha und wußte schon die Antwort, während sie sprach, »Sie sind ja der Pjotr.«
Der Mann verbeugte sich wieder. Er blickte sich um und legte sorgfältig seine formlose Mütze hinter sich auf das Brückengeländer. Dann griff er in seine Brust und brachte ein blaues, zusammengeknotetes Tuch zum Vorschein. Einen Zipfel davon nahm er zwischen die Zähne und knüpfte mit der Hand das Bündel auf. Jetzt erst sah Recha, daß sein linker Ärmel leer herunterhing.
Auf der flachen Hand bot Pjotr ihr den Inhalt seines Tuches dar. Es waren eine kleine lederne Taschenuhr und ein altertümliches Medaillon aus gehämmertem Gold.
»Das bringe ich vom Herrn Grafen«, sagte Pjotr.
Recha nahm das Medaillon und blickte drauf nieder. Das künstliche Linienwerk auf dem Deckel verrückte sich ihr, verzerrte sich durch den Tränenschleier. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und drückte die Feder auf. Sie sah das Bildchen – sich selber und Pattay, ihre beiden Köpfe nahe beieinander, winzig, aber wohlgetroffen und scharf, jung alle zwei, lächelnd, glücklich. Es war eine Aufnahme aus jener Zeit im Gebirg, den Wochen seliger Windstille.
Pjotr stand dort und hielt noch immer die lederne Uhr auf dem blauen Tuch vor sich hin. Recha lehnte sich gegen die Brückenbrüstung. Die Zeit ward zunichte. Die sieben Jahre waren nicht gewesen. Da kam dieser Pjotr und brachte diese Gegenstände »vom Herrn Grafen«.
»Wo kommen Sie her nach der langen Zeit?« fragte sie endlich.
»Ich war gefangen. Dann war ich in Jakutsk. Das ist sehr weit.«
»Wie lange sind Sie zurück im Land?«
»Zehn Tage, wenn die Frau Gräfin erlaubt. Vor zehn Tagen bin ich gekommen.«
»Es sind Sachen von Pattay«, wandte sich Recha an Heinrich, so als habe er nicht dem Ganzen beigewohnt und bedürfe einer Erklärung. »Pjotr war Pattays Mann.«
Sie gebrauchte keinen der üblichen Ausdrücke – Pattays Putzer oder Offiziersbursche oder Diener. »Pattays Mann«, sagte sie, und es klang wie von weither. »Heinrich – ich muß jetzt mit ihm reden.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte Herr Gelbfisch.
Er nickte Recha zu. Eigentlich war es eine kleine Verneigung. Er gab auch Pjotr einen Gruß, drehte sich um und ging davon über die leere Brücke, an deren jenseitigem Ende sein wartender Wagen sichtbar war. Recha blickte ihm nach, seiner kleinen, schmalen Gestalt im schwarzen Festtagsrock. Er ging steif und ein wenig gebeugt, man sah ihm sogar von rückwärts an, wie gut er wußte, daß er für immer davonging.
Es wurde schon dämmerig. Haus und Garten lagen ganz still. Chana, die mit dem Kinde zur Stadt gegangen war, dehnte ihren Spaziergang aus, sicherlich um dem Verlobungsgespräch Zeit zu lassen. Die beiden Stühle, auf denen es hatte stattfinden sollen, standen nahe beisammen noch auf dem Rasen. Hier setzten sich Recha und Pjotr, und sie ließ den Zurückgekehrten erzählen.
Pjotrs Rede zu folgen fiel ihr zuerst nicht ganz leicht. Ukrainische und polnische Brocken mischten sich trübend in sein Armeedeutsch, und noch andere, fremdere Laute klangen dazwischen, deren Ursprung nicht recht zu deuten war. Dann aber, je länger er sprach, kam ihm die halbvergessene Sprache fließender zurück.
Das erste, was er Recha versicherte, war, daß er die beiden Andenken, Medaillon und Uhr, mit ausdrücklicher Erlaubnis der Vorgesetzten an sich genommen habe, damals, als Pattay gefallen war und nach Wien überführt werden sollte. Bei seinem ersten Urlaub von der Front wollte er sie in Rechas Hände liefern. Aber Pjotr bekam keinen Urlaub. Wie ein Stück Kork auf dem Meer wurden die Ulanen im Osten Europas umhergeschwemmt. Und eines Tages war Pjotr gar kein Ulan mehr, sondern kauerte als Infanterist in einem Schützengraben der erstarrenden Front. Bei einem unvermuteten nächtlichen Vorstoß der Russen verlor er im Nahgefecht einen Arm und geriet in Gefangenschaft. Er wurde krank auf dem Abtransport und fieberte monatelang in einer Typhusbaracke irgendwo an der Grenze Sibiriens. Ohne Hilfe und Pflege genesen und immer ostwärts geschleppt, fand er sich schließlich, ein kaum mehr bewachter Krüppel, in einer unglaubhaften Gegend zwischen den Strömen Aldan und Lena, wo gar nichts wuchs, die Menschen nach Gold in der kreidigen Erde wühlten und etwas sprachen wie Türkisch. Hierhin gelangte kein Brief und nur der späteste, schwächste Nachhall vom Zusammensturz in der Welt. Lange schon gab es kein Österreich mehr und länger keine Zarenregierung, als Pjotr wieder in Bewegung gesetzt wurde, mit sechs anderen zusammen, heimwärts diesmal. Fußmärsche über gefrorene Schneisen, Wochen im Schlitten, im Karren, endlich der Güterwaggon einer Bahn. In einer Stadt namens Omsk lud man sie aus – zu einem Aufenthalt von drei Monaten. Die sieben kampierten in einer verlassenen Schnapsbrennerei, wo es beinahe nichts zu essen gab, jedoch Zigaretten in Fülle, und Pjotr saß rauchend am zerschlagenen Fenster und schaute auf die weite, feldähnliche Straße hinaus, auf der Kamelkarawanen und kirgisische Ponys zogen. Dann, mitten in einer Nacht, hieß man die Heimkehrer aufstehen und trieb sie zum Bahnhof. Statt des erwarteten Güter- und Viehzugs nahm ein heranrauschender Expreß sie auf, mit weichen Betten und gedeckten Speisetischen, und nach einer unerklärlichen Luxusfahrt traf Pjotr an der Grenze der Republik Polen ein, von deren Existenz er durchaus nichts wußte und deren stimmberechtigter Bürger er seit mehreren Jahren war.
Sein Dörfchen fand er nicht mehr. Es war vom Kriege rasiert. Die paar Holz- und Steintrümmer lagen schon grün überwachsen. Nur die Mauer des Friedhofs stand, aufrecht und das Feuerwehrhaus, in dessen Innern eine Spritze verrostete. Er wanderte nach dem Hauptort seines Distrikts. Dort ließ man in den Schreibstuben der Starostei den schüchternen Krüppel tagelang warten. Von seinem Vater und seinen Geschwistern wußte niemand etwas.
Pjotr war gründlich allein. Sein Herr lag seit sieben Jahren in seiner entfernten Gruft, und nichts blieb zu tun übrig, als der Witwe Uhr und Medaillon zu überbringen, die Pjotr auf all seinen eisigen Wanderungen, in all seinen Elendsbetten eingeknüpft am Leibe getragen und die ihm mirakulöserweise niemand gestohlen hatte. Die weiße Villa am Fluß war sein letztes und einziges Ziel, und er wußte es in seinem simplen Kopfe nicht anders, als daß sie der Ort sei, an den er gehörte. Seine Sorge war nur, die Frau Gräfin werde ihn vielleicht für unbrauchbar halten, weil er bloß einen Arm besaß.
Beklommen lauschte Recha auf den schwerfälligen Bericht und auf Pjotrs Hoffnungen. Sie hätte ihn unterbrechen müssen, seine Illusionen zerstören, ihm klarmachen, daß sie selbst arm war, in diesem Hause kaum noch geduldet, und daß es hier für ihn weder Obdach noch Arbeit gab. Sie vermochte es nicht. Da saß er vor ihr im sinkenden Dunkel, voller Vertrauen – das arme Stück Menschenwrack, ihr zugetrieben auf phantastischen Umwegen, mit seiner letzten Botschaft von Pattay.
Am Hause wurden die Fenster hell. Chanas große Figur erschien in der Gartentür.
»Sitzt Ihr noch immer beisammen?« sagte die tiefe Stimme, »es wird doch zu kalt.«
Recha stand auf, Pjotr folgte ihr, und sie traten beide in den Lichtkreis.
»Pjotr ist gekommen«, sagte Recha. »Du wirst dich erinnern an ihn. Er hat mir Sachen von Franz gebracht.«
»Jetzt?« fragte Chana und umfaßte die verstümmelte Gestalt mit dem Blick.
»Er war in Asien gefangen. Haben Sie nicht Hunger, Pjotr? Kommen Sie doch ins Haus.«
»Ich danke der Frau Gräfin gehorsamst«, sagte Pjotr. »Ich habe heute schon etwas gegessen.«
Mitten im Wohnzimmer stand die kleine Elisabeth und schaute aus weiten, erregten Augen auf den fremden Menschen. Ihr Gesicht war gerötet.
»Bessie muß sich erkältet haben«, sagte die alte Frau, »sie soll gleich zu Bett.«
Recha legte Elisabeth die Hand auf die Stirne.
»Ja, sie hat Fieber. Pjotr – das ist unser Kind. So groß ist es schon.«
Pjotr verbeugte sich. »Ich habe die Ehre, guten Abend zu wünschen, Komteß.«
» Wie nennt er mich, Mutti?«
»Sie heißt Elisabeth, Pjotr. Der Mann hat deinen Vater gekannt, Bessie. Gib ihm die Hand.«
Elisabeth streckte ihre Hand aus. Da sah sie, daß der fremde Mann nur eine besaß. Auf einmal schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie faßte nach dieser einen Hand und bedeckte sie mit Küssen.
»Was machst du denn, Bessie! Da sehen Sie's. Pjotr, sie ist richtig krank.«
Pjotr, in tiefer Verstörung, stand steif wie auf dem Exerzierplatz. Er atmete kaum vor Scham.
»Mutti, bleibt Pjotr jetzt bei uns?«
»Das weiß ich noch nicht –«
»Wir haben doch jetzt die Hütte. Da kann er gut wohnen.«
Chana trat hinter das Kind und faßte es um die Schultern. »Komm jetzt zu Bett.«
»Ich will aber, daß er bleibt!« schrie Elisabeth und stampfte mit dem Fuß. »Mutti – versprich mir's.«
»Also gut. Heute nacht bleibt er.«
Elisabeth riß sich von Chana los und flog ihrer Mutter wild an den Hals. Dann ließ sie sich gehorsam ins Schlafzimmer führen.
Auf der Schwelle drehte Chana sich um.
»Und Heinrich?« fragte sie nur.
Recha schüttelte den Kopf.
Die kleine Elisabeth hatte sich keineswegs einfach erkältet. In der Nacht wachte Chana an ihrem lauten Stöhnen auf; das Kind warf sich im Schüttelfrost und erbrach. Und am Vormittag hätte es keines ärztlichen Blickes mehr bedurft, um die Natur der Erkrankung zu erkennen. Nacken und Hals der Kleinen zeigten bereits den scharlachnen Ausschlag.
Der alte Doktor Adler, seit Monaten im Begriff, sich aus seiner Praxis zurückzuziehen, brachte ans Krankenbett den Kollegen mit, auf den er sie nach und nach übertrug. Dies war Doktor Kasimir Silbermann, der mit Glanz promoviert hatte, auch gewiß modernere Kenntnisse besaß als der siebzigjährige Hausarzt, nur leider nicht dessen beschwichtigende persönliche Aura, die selbst schon ein Heilmittel war. Verweisend schüttelte er seinen mageren Kopf mit dem pechschwarzen Kinnbart, als sich Recha außerstande erklärte, diese Ansteckung zu begreifen. Fünf Wochen sei es mindestens her, wohl eher sechs, seit Elisabeth mit anderen Kindern in Berührung gekommen sei. Das besage nicht das geringste, ließ Silbermann sie wissen. Kontakt sei durchaus nicht vonnöten, ein infiziertes Kleidungsstück, irgendein Möbel genüge, auch Übertragung durch genossene Milch komme vor, da man im Körper von Kühen den Erreger gefunden habe. Während seiner Ausführungen konnte man fast von Minute zu Minute verfolgen, wie sich der unheilvolle Aussatz über Ärmchen und Brust der Kleinen verbreitete. Mit halbem Bewußtsein lag sie, atmete gurgelnd aus ihrem dichtverschwollenen Hals und preßte leise klagend die Hand an ihr Ohr.
Doktor Silbermann nickte. »Sie sehen, wie die Entzündung sich fortpflanzt – durch die Eustachische Röhre vom Hals in das Mittelohr.« Er sprach in einem Ton, als habe er alles vorausgesagt und niemand habe auf ihn hören wollen.
»Die Ohren auch!« sagte Chana. »Was macht man da, Doktor Adler?«
»Ausspritzen alle vier Stunden. Der Kollege schreibt Ihnen die Lösung dann auf.«
Er überließ dem Kollegen sämtliche Maßnahmen. Er wußte genauso wie der, daß in Fällen wie diesem die Natur ihren Lauf haben mußte und daß hier der Senat der Medizinischen Fakultät in Warschau so ohnmächtig war wie ein Dorfbader. Mit gesammelter Miene erteilte Silbermann seine Weisungen: Vollbäder mit einem Zusatz von Soda, lauwarme Packungen, Abreibungen mit einer kompliziert benannten Flüssigkeit, die aber nichts war als Karbolöl, und leichteste Kost, allerleichteste – als hätte es in der Absicht der Frauen gelegen, das hochfiebernde Kind mit Wildschweinpastete zu füttern.
An der Akkuratesse, mit der die Frauen seine Anordnungen befolgten, hätte der strenge Gelehrte nichts aussetzen können. Nie verließ eine von ihnen das Haus. Drei-, viermal täglich trabte Pjotr über die Brücke zur Apotheke.
Die Krankheit der kleinen Elisabeth hatte sein Bleiben gar nicht erst zum Problem werden lassen. Es war jetzt einfach ein Glück, daß er da war. Pjotr sah die Patientin nicht. Sie aber, auffallenderweise, hatte mitten in Hitze und Schmerzen den fremden Mann nicht vergessen. Es ging draußen ein Platzregen nieder – da fuhr sie aus ihrem Halbschlummer auf und rief, man müsse rasch das Hüttendach zudecken, damit Pjotr nicht naß werde. Und als dann am dritten, dem kritischen Tag, ihre Temperatur der Lebensgrenze sich näherte, da kreiste ihr wankendes Seelchen unablässig um Pjotrs fehlende Hand. Dringend erkundigte sie sich, wieder und nochmals, ob denn keine Möglichkeit sei, daß diese Hand, die der Leviathan ihm abgebissen, doch wieder nachwachse, wenn auch vielleicht etwas kleiner.
»Ich will aber, daß er zwei Hände hat, kannst du's denn nicht machen, Tante Chana!« rief sie und weinte bitterlich.
In der Nacht sank das Fieber, und als am Vormittag Recha der Kleinen ihre Karbolwaschung verabreichte, konnte sie feststellen, daß der brennrote Ausschlag abzublassen begann.
Aber eine langsame Rekonvaleszenz stand bevor, und die Schmerzen in Hals und Ohr waren zunächst eher quälender als in den Tagen fieberischer Umschleierung.
»Wie ist es denn heute?«
»Ganz scheußlich, Mutti. Es sticht und brennt wie verrückt. Aber ich glaube, sterben muß ich jetzt nicht mehr.«
»Was redest du eigentlich! Seit wann sterben Kinder?«
»Kinder sterben ganz oft«, sagte Elisabeth. »Nach meiner Meinung sterben sogar mehr Kinder als alte Leute. Ich werde mal Onkel Adler fragen.«
Sie schloß die Augen und lächelte wissend, wobei ihr die angeschwollenen Lider weh taten.
Recha erzitterte das Herz vor unmäßiger Liebe. Sie hätte nicht brauchen die Mutter zu sein, um das Kind hinreißend zu finden in dieser Krankheit. Mit einem Gleichmut, in dem Ironie, beinahe Lustigkeit war, sah es gewissermaßen von außen seinen Schmerzen zu. Dieser Gleichmut kam von weither – von dorther. In die Sorge und Zärtlichkeit der beiden Frauen mischte sich eine Art von befremdetem Respekt.
Übrigens kehrte im Maß ihrer Genesung auch Elisabeths Eigensinn kräftig zurück. Sie protestierte entrüstet, als man ihr die Schlucke Champagner und die kleinen runden Eisstückchen entzog, die ihr in den ersten kritischen Tagen verabreicht worden waren.
»Aber, Bessie, dein Hals tut dir ja gar nicht mehr weh. Du kannst ganz ordentlich trinken und essen.«
»Das war doch das einzige, Mutti, was wirklich Spaß gemacht hat.«
»So! Und der Pjotr muß jeden Tag in die Stadt laufen und muß dir das Eis holen.«
»Muß er? Jaja. Ich möchte mich überhaupt bedanken bei ihm.«
»Der Pjotr darf nicht ins Zimmer«, sagte Chana. »Solange deine Haut sich abschält, bist du noch ansteckend. Du willst doch nicht, daß er dein Scharlach hinüberbringt in die Stadt.«
Darauf verlangte sie, Pjotr wenigstens von weitem zu sehen. Und draußen vorm Fenster erschien sein Bauerngesicht mit den gutmütigen Augen und dem sandfarbenen Haar und lächelte huldigend.
»Danke, Pjotr«, rief sie mit Anstrengung.
Pjotr hob ungeschickt seine Hand zum Gruß und verschwand.
»Den Pjotr mag ich«, erklärte sie mit verwöhnter Bestimmtheit.
Die Umstände brachten es mit sich, daß der einarmige Bauer während dieser Wochen in die Geheimnisse der kleinen Familie eingeweiht wurde. Missionen von delikater Natur mußten ihm anvertraut werden.
Das Schrecknis der fälligen Miete zum Beispiel war diesmal untergegangen in der Angst um das Kind. Der Termin wurde einfach vergessen. Aber einige Tage danach kam aus der Fabrik mit der Mahnung zugleich die endgültige Kündigung.
Recha antwortete sofort. Sie setzte auseinander, wie alles sich verhielt, und bat herzlich um Aufschub.
Drüben ließ man Pjotr vor dem geschlossenen Gitter eine Stunde lang warten und händigte ihm dann einen eisig stilisierten Zettel ein, der eine Frist von sechs Wochen gewährte. Am 15. November, mittags zwölf Uhr, habe die Villa nach geschehener Zahlung und sachverständiger Desinfektion von den Mietern geräumt zu sein.
»Du kannst ruhig wissen, wie die Sachen hier stehen«, sagte Chana zu Pjotr, der in der Nähe der Tür verharrt war. »Wir sind arme Leute. Nur aus Gnade läßt man meine Nichte noch wohnen.«
Pjotr, nach seiner Weise, verneigte sich.
»Die Frau Gräfin wird bei besseren Menschen Quartier finden.«
»Sag nur nicht immer Frau Gräfin zu mir«, rief Recha, die nervösen Tränen nahe war. »Eine schöne Gräfin, die dir nicht einmal Lohn zahlen kann.«
»Das macht gar keinen Unterschied. Es ist eben ein großen Unglück, daß der Herr Graf damals gefallen ist.«
»Du wirst dich nach einer anderen Stelle umschauen müssen.«
»Wie die Frau Gräfin befiehlt. Aber einen Menschen mit einem Arm wird niemand haben wollen.«
Dabei blieb es dann auch. Pjotr stellte weiter die einzige Verbindung mit der Außenwelt dar. Er war es, der zum Pfandleiher trug, was Recha an wertvollem Eigentum noch geblieben war: das silberne Tischzeug, den Rest ihres Schmucks, einen Sealpelz aus ihren Bühnentagen. Entrüstet über die zähe Knickerei des Versatzamts kam er zurück. Der erlöste Betrag war auch wirklich deprimierend gering, kaum zur Bezahlung der Ärzte würde er ausreichen.
Der Tag kam, an dem die kleine Elisabeth zum ersten Male ihr Bett verließ und zu gehen versuchte. Sie befand sich in einem Zustand hinfälliger Schwäche. Der Herbst hatte abscheuliches Wetter ins Djnestrtal gebracht. Eisige Oststürme wechselten ab mit heftigen Regengüssen. Man sah in Wochen den freien Himmel nicht. Nach Ansicht der Ärzte war es dringend geboten, das Kind in reine Bergluft zu bringen, wollte man gefürchtete Nachwirkungen ausschließen. Da oben in der Tatra, im schönen Kurort Zakopane, lag jetzt bereits Schnee, und die Sonne schien. Aber für empfehlenswerter noch hielt Doktor Silbermann Pontresina oder Sankt Moritz. Und er blickte unwillig auf, als Chana bei Erwähnung dieser Ortsnamen unerwarteterweise ihr brummendes Lachen hören ließ. Sie dachte an die Rechnungen in der Apotheke und bei den Krämern, die zu begleichen keinerlei Aussicht bestand.
Es war nun soweit. Recha mußte den Schritt tun, der von allen der peinvollste war.
Heinrich Gelbfisch hatte kein Lebenszeichen gegeben, seit sie sich an jenem Nachmittag dort am Brückenkopf von ihm getrennt hatte. Er hatte verstanden, hatte ihre stumme Absage als so endgültig genommen, wie sie gemeint war. Daß er während Elisabeths Krankheit, die ihm nicht verborgen geblieben sein konnte, kein Wort der Erkundigung fand, zeigte, wie tief verwundet er war. Unter solchen Umständen an seine Großmut zu appellieren – es war ein kaum beschreitbarer Ausweg. Aber sie schrieb, sie bat ihn um Beistand.
Nach einer unvermutet kurzen Zeit war Pjotr zurück. Er trug Rechas Brief in seiner Hand, uneröffnet.
»Frau Gräfin, Herr Gelbfisch ist nicht in der Stadt. Herr Gelbfisch reist um die ganze Welt.«
Sie wußte sofort, was gemeint war. Diese Fahrt hatte Heinrich lange geplant, er hatte von ihr als seiner Hochzeitsreise geträumt und auch schon gesprochen, damals, als er hoffte, Recha zu gewinnen. Es handelte sich um eine der Luxusfahrten, wie sie die großen Reedereien veranstalteten – vorbei an den schönen Ländern des Mittelmeers ins wunderreiche Asien und zurück über die Hafenstädte der Neuen Welt. Nun hatte er sich also seinen Wunsch erfüllt – um zu verwinden. Monate würden vergehen, ehe er zurückkam. Der Stellvertreter, dessen Namen Pjotr berichtete, war den Frauen ganz fremd.
Die kleine Elisabeth war nun fast den ganzen Tag außer Bett. Vorsichtig und vergnügt bewegte sie sich in den vertrauten Stuben umher. Sie war während dieser Krankheitszeit auffallend gewachsen, wirkte gebrechlich und rührend.
November schritt vor, und Aufschub blieb nicht mehr möglich. An einem düstern Nachmittag, an dem der Wind stoßweise über den Djnestr heulte, machten sich die Frauen auf, um neues Quartier zu suchen. Sie fanden schließlich zwei Zimmer am Stadtrand, die wenigstens einen freien Ausblick boten. Über ein Stück baumloses, strauchloses Land hinweg sah man den langgestreckten Bau der Kaserne, in der jetzt die polnischen Ulanen lagen. Da das Haus neu war – zu neu vielleicht, um gesund zu sein –, bot die kleine Wohnung ein gewisses Maß von Komfort. Und sie war billig. Aber das hinderte nicht, daß Recha sich nach Arbeit würde umsehen müssen, ohne Verzug und ohne wählerisch zu sein.
Schweigend legten sie ihren Heimweg zurück durch den frühen und finsteren Abend. Sie dachten beide an das Kind, das sie liebten.
»Ein Elend ist's, alt und unnütz zu sein«, sagte Chana, als sie schon mitten auf der Brücke waren. Der Sturm fiel die beiden so wütend an, daß sie sich am Geländer festhalten, mußten. Und Recha dachte, daß Chana wirklich schon alt war – fünfundsechzig Jahre im nächsten Monat –, und es war wie eine ganz neue, schreckliche Entdeckung.
Zu Hause fanden sie Elisabeth bereits in ihrem Bett. Pjotr saß neben ihr. Auf dem Nachttisch stand ein sorgfältig leergegessener Teller.
»Er hat mir Reisbrei gemacht, Mutti. Dick mit Zucker und Zimt. Der Pjotr kocht großartig.«
Sie war in strahlender Laune, wie immer, wenn sie sich mit ihm unterhalten konnte.
Recha löschte das Licht. Im Nebenzimmer war für die Frauen der Tisch gedeckt. Es gab ein dürftiges Abendbrot, aber Pjotr servierte es nach Art eines Herrschaftsdieners. Er trug einen weißen Handschuh dabei, Gott wußte, woher ihm der kam.
»Ein Stück Roquefortkäse ist auch im Hause«, sagte er zeremoniell. »Wünscht den die Frau Gräfin zum Nachtisch?«
In diesem Augenblick hörte man Wagenrollen, und die Türglocke ging. Die Frauen sahen einander an. Der Zustand, in dem sie lebten, war derart, daß alles Unvermutete nur Unglück bedeuten konnte. Pjotr ging, um zu öffnen. Es erschien Notar Krasna.
Der Besucher berührte mit der Hand die kleine Rolle mit den Zehn Geboten oben am Türpfosten und nahm dann seinen Hut ab. Es war noch immer sein altmodischer Judenhut, breitkrempig, flach, aus braunem Velours und mit Pelz eingefaßt, den er damals vor dem »Erzherzog Rainer« so trotzig als einziger auf dem Kopfe behalten hatte.
Weißbärtig und kahl stand Krasna auf der Schwelle und verbeugte sich. Er trug eine kleine, lederne Mappe unter dem Arm.
Pjotr hatte den Tisch abgeräumt. Man setzte sich. Der Jurist legte seine Mappe vor sich hin.
»Ich wollte Sie eigentlich in meine Kanzlei bitten«, sagte er, und da er eine Anrede vermied, wurde nicht klar, ob er beide Frauen meinte oder nur Recha, »aber Ihr Telefon scheint nicht in Ordnung zu sein.«
»Wir haben keines mehr«, sagte Chana. »Wir konnten es nicht mehr bezahlen.«
»So. Aha. Ja. – es handelt sich um eine Erbschaft.«
Recha lächelte. Die Mitteilung klang unwahrscheinlich in diesem Moment, komisch beinahe. Sie vermochte keinen Begriff mit ihr zu verbinden.
»Eine Erbschaft«, wiederholte Chana, und sofort begannen sich durch ihr Gedächtnis schattenhaft Gesichter zu bewegen, ein verschwimmender Zug jüdischer Gesichter aus dem Städtchen ihrer Jugend oben im Norden – Onkel Horowitz, Cousine Freidla. Aber das waren arme Leute gewesen, und zudem waren alle längst tot. Plötzlich kam Chana die Erleuchtung.
»Grünbaums!« rief sie aus. »Grünbaums in Berlin. Wer ist denn von denen gestorben?«
Krasna schüttelte leicht den Kopf, lehnte sich zurück und schickte sich zu einer Erklärung an.
»Mutti!«
Es war die Stimme der kleinen Elisabeth. Recha entschuldigte sich und ging durch die Tür, die halb geöffnet blieb.
»Mutti, mach doch mal Licht!«
»Was willst du denn?«
»Noch einen Kuß.«
Recha beugte sich über das Bett und zog die Decke höher über Elisabeths Schulter.
»Tante Chana soll auch noch kommen!«
»Du mußt jetzt schlafen. Wir haben Besuch.«
»Nur einen Moment! Ich schlafe viel besser, wenn ich euch beide noch mal gesehen habe. Tante Chana!«
Chana erhob sich schwerfällig und trat auf die Schwelle.
»Da siehst du mich. Ist dir jetzt wohler?«
»Das Kind war krank«, erklärte Recha, als alle drei wieder saßen. »Da ist sie jetzt schrecklich verwöhnt.«
»Sie war schon vorher ganz hübsch verwöhnt«, bemerkte Chana. Es klang nicht besonders mißbilligend.
»Um Ihr Kind eben handelt es sich«, sagte der Notar.
»Um Bessie?«
»Jawohl.« Er wandte sich jetzt eindeutig an Recha, jedoch immer, ohne eine Anrede zu gebrauchen.
»Am Tage Ihrer Trauung erschien in meiner Kanzlei Ihr verstorbener Gatte, um vor seiner Ausreise ins Feld gewisse Vorkehrungen zu treffen. Da er selbst über erhebliches Eigentum nicht verfügte, ersuchte er mich, im Fall seines Ablebens jener Verwandten, in deren Hand das Familienvermögen lag, eine Anempfehlung zu Ihren Gunsten zuzuleiten. Vor kurzem ist nun diese Verwandte, eine Fürstin Sofie Weikersthal, in Wien verstorben. Und sie hat in ihrem Testament der Anempfehlung insoweit stattgegeben, als zwar nicht Sie selbst, wohl aber ein etwaiges Kind aus Ihrer Ehe bedacht worden ist.«
»Ein etwaiges –«, wiederholte Recha, die der Auseinandersetzung mit Mühe folgte.
»Nun ja. Die Anempfehlung enthielt hiervon nichts. Graf Pattay ist ja mehrere Monate vor Geburt seiner Tochter aus dem Leben geschieden.«
»Bessie erbt«, sagte Chana und ließ unvermutet ihr Lachen hören. »Das klingt ja sehr gut. Aber ist es auch gut?«
»Soviel ich weiß, ist das österreichische Geld noch weniger wert als das hier in Polen. Für zehntausend Kronen kann man sich grade zwei Eier kaufen.«
Doktor Krasna lächelte. »Für zwei Eier wäre ich kaum bei diesem Wetter zu Ihnen herausgefahren.«
Er nahm aus der Mappe ein Schriftstück zur Hand und brachte sein Gesicht in sachliche Falten.
»Das Schreiben kommt aus der Kanzlei von Hofrat Cajetan Dandl, Vermögensverwalter und jetzt Testamentsvollstrecker der Fürstin. Hofrat Dandl ist zugleich Kurator der Jesuitengesellschaft in Wien, von der ich annehme, daß sie als Haupterbin des großen Vermögens zu gelten hat. Die Väter Jesuiten sind kluge Verwalter, und Veränderungen auf der Landkarte verwirren sie nicht. Nein, mit entwertetem österreichischem Geld hat dieser Nachlaß nichts zu tun. Er besteht in soliden englischen und kanadischen Werten. Das Legat für Ihre Tochter Elisabeth beträgt zehntausend Pfund Sterling.«
Recha wußte nicht sehr genau, welchen Wert zehntausend Pfund Sterling vorstellten. Sie sah nur, daß im Augenblick der höchsten Bedrängnis die Hand ihres toten Geliebten aus seiner Gruft herausgriff, um sein Kind zu schützen.
»Außerdem«, hörte sie Krasna sagen, »ist verfügt, daß eine Darlehensschuld Pattays an den Fabrikbesitzer Daniel Zweifuß mitsamt der aufgelaufenen Zinsen zu bereinigen ist.«
Pjotr würde nicht mehr mit Bittbriefen vor dem Fabrikgitter warten müssen. Man trieb sie nicht aus dem Haus, aus dem Gärtchen. Bessie mußte nicht dort hinüber in diesen entsetzlichen Neubau mit dem Ausblick auf die Kaserne. Ungedrückt und frei und gesund würde sie aufwachsen dürfen – als ein glückliches Kind zu einem glücklichen Menschen.
»Mein Gott«, flüsterte sie.
Chana sagte mit tiefer Stimme: »So sind solche Dinge nicht. Wir haben bestimmt nicht alles gehört. Daß ein Mensch einem andern ein Vermögen vererbt und einfach sagt: Nimm's und genieß es, das kommt nicht vor auf der Welt! Sicher muß prozessiert werden um das Geld, es liegt irgendwo fest –«
»Nichts dergleichen«, antwortete Krasna. Das Geld liegt in Wien bei der Anglo-Österreichischen Bank und ist verfügbar. Nein, da ist alles in Ordnung.«
»Bessie wird eine reiche Dame«, murmelte Chana. Sie schien überzeugt. Ihr hartflächiges Gesicht war blaß und fast andächtig.
»Eine Bedingung allerdings ist dabei«, sagte Krasna und vermied die Frauen mit seinem Blick. »Aber das lese ich besser vor.« Er hielt sich das Schreiben seines frommen Wiener Kollegen vor die alten Augen.
»Voraussetzung für den Antritt der Erbschaft ist, daß das Kind des Grafen Franz Pattay, sofern ein solches vorhanden, dem römisch-katholischen Glauben angehört, worüber kirchliches Zeugnis vorzulegen wäre. Sollte das Kind bisher nicht in dem Glauben seines Vaters auferzogen worden sein, so wäre an ihm binnen drei Monaten nach Behändigung dieses die Taufe vorzunehmen und der Vollzug der heiligen Handlung anher zu melden. Eine solche beglaubigte Mitteilung müßte vor dem 15. März nächsten Jahres bei dem Unterfertigten eingetroffen sein; andernfalls das in Rede stehende Legat zugunsten von der Erblasserin namhaft gemachter religiöser Institute verfällt.«
»Noch einmal bitte«, sagte Chana. Und bereitwillig, langsamer, las Herr Krasna den Absatz ein zweites Mal vor. Dann legte er das Schriftstück genau rechtwinklig auf die anderen zurück, wobei er weiter dem Blick beider Damen sorgfältig auswich. Eine vollkommene und lange Stille trat ein.
Recha hatte es heimlich gewußt. Solche Wunder ereigneten sich nicht. Nie würde Chana den geforderten Schritt zulassen, nie auch nur der Erwägung zugänglich sein, ob dem fremden, dem verworfenen Glauben des Vaters hier ein Seelenrecht zustehe. Der Gedanke kam Recha gar nicht, daß bei ihr selbst, die die Mutter war, eine Entscheidung gesucht werden könnte. Chana war das Haupt der Familie, war es immer gewesen. Chana, der jene »anderen« nie völlig als Menschen gegolten hatten. Chana, die in der deutschen Stadt verzweifelnd in ihrem Zimmer gewartet hatte, weil sie, Recha, sich allein durch die christlichen Menschenmillionen bewegte. Chana, die wie eine Kranke aus dem Theater nach Hause kam, weil sie einige Stunden in Atemnähe der gedrängten »anderen« hatte ausharren müssen. Chana, die aufleuchtete und erst wieder sie selbst war, als sie in Warschau jüdische Menschen in jüdischer Tracht in den Straßen erblickte. Chana im Tempel, mit ihrem Sabbatkleid und Feiertuch. Chana, wie sie die vergoldeten Spangen öffnete an ihrem Buch und mit tiefer Stimme die Gebete las in der Sakralsprache ihres Volkes. Und noch eine andere Stimme klang Recha im Ohr: »Nicht alle Christen sind Teufel, Chana!« Die rügende Stimme ihres Vaters war das, den Christen dann doch getötet hatten. Es war alles vorbei. Einen Augenblick war das Elendsdunkel zerrissen, und Licht war herabgestrahlt auf ihr Kind. Nun erschien alles schwärzer verhängt als zuvor.
»Ja, Doktor Krasna«, sagte sie endlich, »da gibt es wohl wenig zu überlegen.«
»Nichts«, sagte Chana laut. »Gottes Willen kennen wir nicht. Aber daß er unsere Elisabeth für ein glückliches, freies Leben geschaffen hat, das glaube ich.«
»Was willst du sagen?« fragte Recha mit völlig weißen Lippen.
»Die Verantwortung tragen wir, Recha. Will Gott strafen, so straft er uns, nicht das Kind.«
Sie saß da, fast wie aus Holz. Aber sie weinte. Niemals hatte Recha sie weinen sehen, nicht einmal damals, als die beiden Männer gemordet wurden. Die Tränen fielen einzeln und schwer aus Chanas Augen, die sie weit offenhielt.
Eine Woche später danach reisten Recha und das Kind hinauf in die Tatraberge, auf deren frühem Schnee das heilende Sonnenlicht strahlte. Und wieder zwei Monate später wurde in der Salvator-Kirche hinter dem Türkentor die kleine Elisabeth im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen.
Wie es ihr die Mutter an jenem Morgen in der Laubhütte in Aussicht gestellt, trat Elisabeth mit dem Frühjahr in eine Schule ein. Aber Hebräisch lernte sie dort nicht.
Man hatte gar keine Wahl gehabt. Die jüdische Schule, aus einleuchtenden Gründen, kam nicht mehr in Frage. Die ukrainische, ganz in der Mundart der Gegend geführt, von den Behörden vernachlässigt und miserabel dotiert, verbot sich gleichfalls. Es blieb nur die polnische Anstalt, die unter liebevoller offizieller Fürsorge stand.
Zweiundzwanzig kleine Mädchen saßen beisammen in der untersten Klasse, alle etwas jünger als Bessie, meist Töchter der Beamten, Offiziere, Juristen, die mit der veränderten Staatsordnung in das Städtchen gekommen waren. Das Kind des Woiwoden war darunter und ein Töchterchen des Sicherheitschefs. Beinahe die Hälfte von ihnen trugen Namen von Adelsklang, und so auch die Dame, die in allen Fächern hier unterrichtete – mit einziger Ausnahme der Religion.
Es war ein Fräulein Skarga, aus alter, aber völlig verarmter Familie, Hinterbliebene eines im Kriege gefallenen Oberstleutnants, der man dieses Schulamt als Versorgung geboten hatte. Sie versah es nicht ohne eine distinguierte Gekränktheit. Auch physisch war sie empfindlich, und die Atmosphäre in dem zu engen Klassenzimmer belästigte ihre Nerven. So bestand sie darauf, selbst während der kalten Monate immer mindestens ein Fenster offenzuhalten, was gelegentlich zu Kontroversen mit den besorgten Eltern der Zöglinge führte.
In der hintersten Bank, in einer Art von Absonderung, saßen fünf Schülerinnen, von denen es als zweifelhaft galt, ob sie dem polnischen Unterricht im Tempo der übrigen würden folgen können. Denn in den Familien dieser fünf war die tägliche Umgangssprache immer nur Deutsch oder Jiddisch gewesen. Hier saß auch Elisabeth.
Sie hatte in ihrem kurzen Leben kaum ein Wort Polnisch gehört, so daß Recha sich vornahm, ihr zu Hause ein wenig nachzuhelfen. Sie begann auch wirklich mit diesen Stunden. Aber mit jedem Tag kam die kleine Elisabeth sorgloser aus ihrer Schule zurück.
»Ich verstehe schon ganz gut, was sie sagen«, erklärte sie nach ein paar Wochen. Es war so. Die neue Sprache flog ihr an. Kein Auswendiglernen, keine Gedächtnisübung schien notwendig für sie. Es war, als brauchte sie nicht erst ihren Verstand in mühevolle Funktion zu setzen, sondern als drängen Lautbild und Wortsinn wie Luft oder Sonne ihr durch die Haut. Es konnte vorkommen, daß sie daheim sich in Spiel oder Mahlzeit ganz plötzlich unterbrach und lange polnische Sätze vor sich hin redete, mit vollkommener Aussprache und mit offenkundiger Lust, so als schmeckten Rhythmus und Klang ihren kleinen Ohren sinnlich gut.
Dabei erstreckte sich diese Lernfähigkeit durchaus nicht auf alle Gegenstände. Was ihr nicht gemäß war, das fiel wie durch ein Sieb. Mutlos saß sie über den Rechenaufgaben und rief die Hilfe von Mutter und Tante an.
»Ich kann das einfach nicht lernen, Mutti«, rief sie und blickte zu Recha auf mit einem Ausdruck, sehr ähnlich dem, mit dem einst Pattay den Kopf in die Hand gestützt hatte, als ihm die »Geschichte der österreichischen Kavallerie« beinahe den Dienst bei seiner glänzenden Waffe verleidete. »Fünfzehn mal zwölf. Wieviel ist fünfzehn mal zwölf? Ich hab' keine Ahnung. Und wenn ich es weiß – was weiß ich dann schon?«
»Nun, Bessie, zum Beispiel, du gehst in einen Laden und kaufst zwölf Pfund Zucker zu fünfzehn Groschen. Da mußt du doch wissen, wieviel du bezahlen sollst.«
»Das weiß doch das Fräulein, das mir den Zucker verkauft.«
»Die hat es ja auch einmal lernen müssen. Und was so ein Fräulein kann, das kannst du doch auch.«
»Eben nicht. Ich nicht. Weißt du, Mutti, es ist nichts dahinter.«
»Wohinter?«
»Hinter solchen Zahlen. Es ist nichts drin. Ich kann mir nichts denken dabei.«
»Unsinn! Wie schnell hast du Polnisch gelernt. Tausend polnische Worte und noch viel mehr.«
»Ja, Worte, Mutti! Worte sind schön. Man kann gar nicht genug davon haben. Unter den polnischen sind manche, die klingen so sanft, man könnt' einfach weinen.«
Recha strich ihr eine honigfarbene Strähne vom Augenwinkel weg.
»Mit all dem wirst du mir nicht einreden, daß ein gescheites Kind nicht das Einmaleins lernen kann.«
»Ich bin vielleicht gar nicht gescheit«, sagte Bessie mit grübelndem Ausdruck.
Es war nur ein Glück, daß für Fräulein Skarga gegenüber den Fortschritten in der Sprache des Vaterlands sonstige Mängel nicht zählten. Sie hatte zu Anfang durchaus keine Vorliebe gehegt für diese Schülerin, in der sich, wie ihr bekannt war, mit dem mißachteten jüdischen Blut das der vertriebenen Fremdherren vermischte. Aber je öfter Elisabeth aufstand in ihrer letzten Bank und der hübsche Mund mit den verwöhnten Winkeln in weichem, immer reinerem Polnisch Antwort gab, desto mehr verblichen die Vorurteile des patriotischen Fräuleins.
Es bestand kein sachlicher Grund mehr, sie weiter dort hinten in dem Miniatur-Ghetto zu belassen.
»Von morgen ab sitzt du in der zweiten Bank. Daczyńska und Bortnowska rücken ein wenig zusammen.«
Das Fräulein verfügte es zeremoniell, als hängte sie der kleinen Elisabeth den Orden vom Weißen Adler um den Hals. Aber als nach der Stunde die Kinder das Klassenzimmer verließen, blieb Bessie zurück und näherte sich dem Katheder. »Was willst du, Elżunia?« fragte das Fräulein.
Es war eigentlich Sitte, die Schülerinnen bei ihren Familiennamen anzureden. Aber als zu Beginn des Schuljahrs Elisabeth sich mit dem ihrer Mutter gemeldet hatte, hielt eine komplizierte Scheu die Lehrerin davon ab, die Korrektur vorzunehmen. Sie nannte sie also nicht Pattay, sondern rief sie als einzige bei ihrem Vornamen. Und neuerdings, mit ansteigender Sympathie, war sie zur polnischen Diminutiv- und Koseform dieses Vornamens übergegangen.
»Elżunia, willst du etwas?« fragte sie noch einmal und blickte von ihrem Klassenbuch auf, in dem sie Eintragungen vorgenommen hatte.
Bessie stand vor ihr, die Füße gekreuzt, und scheuerte ihre Schuhe gegeneinander – eine Gewohnheit, die eigentlich ihren Reiz für sie verloren hatte und in die sie jetzt nur aus Verlegenheit zurückfiel.
»Fräulein – wenn ich darf – ich möchte lieber dort sitzen bleiben.«
»Warum denn? Du brauchst doch keine Nachhilfe mehr.«
»Geht es nicht vielleicht doch?«
»Aber du sprichst ja Polnisch wie eine Polin – beinahe so gut«, fügte sie schwach hinzu.
»Das ist es auch nicht.« Elisabeth schielte jetzt vor Befangenheit. »Die anderen werden sich kränken.«
Die adelige Jungfrau drückte die Augen zusammen, als wollte sie irgendein Detail an Elisabeth mit besonderer Schärfe erkennen. Ihr dünnlippiger Mund stand etwas offen dabei.
»Schön, dann bleib sitzen«, sagte sie trocken und kehrte mit einer verabschiedenden Geste zu ihrer administrativen Schreibarbeit zurück. Bessie ging.
Die vier jüdischen Kinder hatten ihr zu Solidaritätsgefühlen eigentlich wenig Anlaß gegeben. Alle vier hatten zu Hause aus Familiengesprächen entnommen, daß mit dieser Schulkameradin irgend etwas in schwerer Unordnung sei und daß vertrauter Umgang mit ihr nicht gewünscht werde. Von Beginn an zeigten sie ihr eine Kälte, die an Feindseligkeit grenzte.
Elisabeth wußte natürlich oder ahnte doch deutlich, was da im Spiel war. Sie mußte allein damit fertig werden. Zu Mutter und Tante zu reden verbot sich. Seit jener gewissen Zeremonie in der Salvator-Kirche gab es zwischen ihnen ein unbetretbares Gebiet.
Damals hatte Recha sich beladenen Herzens auf alle die Fragen vorbereitet, die Bessie nun stellen würde. Aber die Fragen kamen nicht. In ihren Zärtlichkeitsausbrüchen, die häufiger und heftiger waren als je zuvor, trat etwas zutage wie Schuldgefühl. Genau hätte niemand sagen können, was in ihr vorging.
»Sie schweigt schon heute wie du«, sagte Recha zu der alten Frau, »es ist beinahe unheimlich.«
Chana gab keine Antwort.
Auf jener letzten, der Ghetto-Bank saß unter den fünfen auch die kleine Justine Zweifuß, Daniels Enkelin, ein ungesund dickliches Kind mit zwei steifen schwarzen Zöpfen und großen, dunklen, leer blickenden Augen. Es wäre das Natürliche für Bessie gewesen, gemeinsam mit dieser Nachbarin den weiten Schulweg zurückzulegen. Aber daran konnte gar nicht gedacht werden.
Äußerlich zwar war längst alles in Ordnung gebracht. Nicht nur sahen sich die Erben des alten Daniel in ihren Forderungen befriedigt; Recha hatte zudem das weiße Haus und den Garten käuflich von ihnen erworben, zu Bedingungen, die der beratende Notar Krasna hoch über Gebühr fand. Aber nichts vergibt der Mindergeartete schwerer als Unrecht und Härte, die er selber geübt hat. Man war dort drüben geradezu froh, als man aus dem Übertritt der kleinen Elisabeth Anlaß und Rechtfertigung zu neuer Feindschaft gewann – obgleich dieser Akt der Abtrünnigkeit nicht wenig mit dem Umstand zu tun hatte, daß in der Zuckerfabrik ein paar der Kamine nun wieder rauchten.
Aber Elisabeth hatte bessere Begleitung als Julius Zweifuß' leeräugiges Töchterchen. Denn pünktlich an jedem Morgen stand Pjotr wartend für sie bereit und wiederum dann mit dem Glockenschlag gegenüber dem Schultor.
Gleich zu Anfang war eine Differenz zwischen ihm und Bessie entstanden, als er sich mit Selbstverständlichkeit anschickte, ihren kleinen Bücherranzen zu tragen. Sie protestierte.
»Das geht absolut nicht, Pjotr. Ich will nicht, daß alle die Kinder sehen, daß du etwas für mich schleppst.«
Schließlich einigte man sich. Sobald sie jenseits der Brücke das Städtchen betraten oder verließen, legte Pjotr die schmalen Riemen Elisabeth über die Schultern. Aber selten fruchtet ein Kompromiß. Justine Zweifuß, der sie unvermeidbarerweise recht häufig begegneten, verbreitete mit beflissenem Hohn die Tatsache von Pjotrs Sklavendienst. Dennoch, da die Regelung nun einmal bestand, blieben die beiden dabei, die leichte Last am Brückeneingang zu wechseln.
Sie genoß diese Wege mit Pjotr. Er hatte so fremdartig viel erlebt in Kampf und Gefangenschaft – er war wie ein unerschöpfliches Märchenbuch, das man wahllos aufschlagen konnte.
»Wo waren wir stehengeblieben«, hieß es frühmorgens, »jetzt weiß ich es wieder – beim Fluß!«
»Bei welchem Fluß denn, Fräuleinchen«, sagte Pjotr, der ganz genau wußte, um was es sich handelte. »Da kann ich mich gar nicht erinnern.«
»Ach, Pjotr, du willst mich bloß ärgern. Bei dem ungeheuern Fluß, an dem keine Brücke war und kein Boot und kein Dorf weit und breit und überhaupt nichts. Und da saßet ihr am Ufer zwei Tage lang und eine Nacht, und keiner wußte, was machen. Und dann zog sich einer die Stiefel aus, weil ihm seine Füße weh taten und watete hinein. Und da ging ihm das Wasser nur an die Knöchel, und der ganze Fluß war ein Witz.«
»Ja«, sagte Pjotr, »überhaupt nicht probiert hatten wir's. So dumm ist der gewöhnliche Mann.«
»Ich hätte es auch nicht probiert«, erklärte Elisabeth. »Jetzt erzähl weiter. Drüben überm Fluß, hast du gesagt, war wunderbar grünes Land, eine richtige Himmelswiese. Aber wie ihr hinüberkamt, war's ein Sumpf –«
Pjotr hatte zu Anfang in dem slawisierten Armeedeutsch erzählt, in dem er damals an jenem Laubhüttentag Recha seinen ersten mühsamen Bericht abgestattet hatte. Aber das änderte sich. Denn wann immer aus diesem Gemisch Pjotrs ursprüngliches, angeerbtes Ukrainisch hervorklang, spitzt seine Zuhörerin hochangeregt ihre Ohren.
»Noch einmal, Pjotr, wie heißt das? ›Die Ponys waren nicht größer als Hunde.‹ Das ist beinahe so wie auf polnisch. Sag's noch einmal – langsam!«
Bald redeten sie fließend miteinander in Pjotrs eigenem Idiom, wie er es einst in seinem verschwundenen Dorf von Mutter und Geschwistern erlernt hatte.
»Du bist ein ganz großartiger Lehrer, Pjotr. Ich geh' eigentlich doppelt in die Schule.«
»Das Fräuleinchen ist wie der Herr Graf. Der verstand auch gleich jede Sprache. Wie heute weiß ich es noch – am ersten Tag –, ich habe seine feinen Hemden auspacken müssen. Da hat er gleich einen Witz gemacht auf ukrainisch.«
Das war einfach nicht wahr. Aber es war auch keine gewöhnliche Lüge in Pjotrs Mund. Denn Pattay war für ihn nicht ein Mensch mit Vorzügen und Mängeln wie andere; er war das nie wiederkehrende Bild des Absoluten, früh von Pjotr erschaut, wie ein Frommer einmal im Leben die Vision erschaut, von der er dann zehrt durch die Jahrzehnte. Pattay war vollkommen gewesen, vollkommen schön, vollkommen gütig, vollkommen klug, vollkommen tapfer.
»Hätte er mich damals nur mitgenommen«, – und mit »damals« war jener Augustnachmittag gemeint, an dem der Oberleutnant von seinem Erkundungsritt nicht zurückgekehrt war – »ich wär' nicht im Dorf geblieben mit diesen Ulanen.« Pjotr vergaß, daß ihn ein Befehl genauso festgehalten haben würde wie jene. »Ich hätte schon aufgepaßt, und die Russen wären dem Herrn Grafen nicht in den Rücken gekommen.«
Denn es stand fest für Pjotr, daß sein Herr damals von gewaltiger Überzahl umzingelt worden war – und ein Kosak hatte ihn durch feige Schüsse von hinten getötet.
»So schön lag er da, Fräuleinchen, wie sie ihn brachten. Schön wie Gottes liebster Engel. Das war ein Herr so einer kommt niemals wieder.«
Elisabeth preßte fester Pjotrs Hand, in der ihre winzige ganz versank. So gingen sie meistens. Pjotrs verbliebene Rechte war eine große, starkfingrige Bauernhand; sie war noch breiter und kräftiger geworden, seitdem sie allein alle Arbeit zu tun hatte.
Einmal, im schwülen Sommer, bemerkte Elisabeth, daß Pjotr einen Zwirnhandschuh angelegt hatte. Sie wunderte sich.
»Es ist anständiger so, Fräuleinchen.«
»Anständiger? Wieso denn anständiger?«
»Der gewöhnliche Mann schwitzt an den Händen«, antwortete Pjotr, »da ist es so besser.«
Bessie blieb stehen. »Gib deine Hand her!«
Gehorsam hielt er sie hin, und sie zog ihm den Handschuh von den Fingern.
»So etwas darfst du nicht wieder sagen«, erklärte sie.
»Es ist aber wahr. Es kann nicht angenehm sein. Und anständig ist es auch nicht«, beharrte er.
Sie blickte ihm gerade in seine gutmütigen Augen. »Ich werde dir sagen, Pjotr, wie das ist. Wenn man jemand nicht leiden kann, dann mag man auch seine Hand nicht anfassen – da kann sie sein, wie sie will. Und wenn man jemand mag, dann ist es ganz gleich, ob er schwitzt.«
Sie steckte ihm den Handschuh in seine Jackentasche, legte ihr Händchen in seine gewaltige Pfote und zog weiter neben ihm her.
Der Geistliche machte halt vor der Villa und legte den Finger auf den Klingelknopf. Aber er ließ seine Hand wieder sinken und seufzte.
Er war ein hochgewachsener, magerer Mann mit einem alten Gesicht, das geschulte Sanftheit und melancholische Klugheit ausdrückte. Seine Stirne unter dem flachen Hut war ein wenig feucht von der Mühe des Weges, und seine plumpen, fast viereckig geschnittenen Stiefel sowie der Saum seines langfaltigen Rockes zeigten sich weiß bestaubt. Das Wetter in diesem Frühling war sehr vorzeitig trocken und warm.
Er entschloß sich und läutete. Lange hörte er nichts. Dann kamen drinnen langsame, schwere Tritte zur Tür – Tritte von ähnlichen Stiefeln, wie er selber sie trug. Es war Chana, die öffnete. Ihr künstlicher Scheitel berührte beinahe den Türbalken. Sie setzte mehrere Male an, ehe sie sprach.
»Sie kommen wegen Elisabeth? Sie ist in der Schule.«
»Ich möchte Elisabeths Mutter sprechen«, sagte der Besucher und nahm seinen Hut ab. »Mein Name ist Pfarrer Korzon.«
Chana ging mit ihren stampfenden Schritten voran und ließ den Geistlichen in ein Gartenzimmer eintreten, das von weißer Mittagssonne leuchtete.
Es war eines der beiden Zimmer, die nach dem Kauf an das kleine Haus angebaut worden waren, großfenstrig und weit, mit hellen Cretonne-Möbeln ausgestattet, ein reizend wohnlicher Raum.
Zwischen zwei Fenstern, auf einem Tischchen, das mit grüner Seide überhangen war, blickte die Photographie Pattays aus ihrem Silberrahmen. Davor lagen seine lederne Taschenuhr und das Medaillon.
Der Pfarrer, alleingeblieben, beugte sich nieder zu dem Bild, und als er sich aufrichtete, seufzte er wiederum, sei es von der leichten Anstrengung oder aus intimeren Gründen.
Dann stand er mitten im Raum und hielt seinen Hut in der Hand. Sein Auge wurde von der metallenen Kapsel angezogen, die oben an der Eingangstüre schräg angebracht war. Er näherte sich und schaute danach empor. Dann kamen die Frauen herein – Recha sehr schmal und zart, in einem hochgeschlossenen grauen Morgenrock mit glockigen Ärmeln, hinter ihr Chana. Er wandte sich um.
»Ich sehe«, sagte er zur Begrüßung, »Sie folgen der Sitte, jeden hier Eintretenden sogleich an Gottes Gebot zu erinnern. Ein herrlicher Brauch.«
Er erhielt keine Antwort.
»Dies ist meine Nichte«, sagte Chana, bereits im Begriff, sich wieder zurückzuziehen.
»Wollen Sie nicht bleiben bei unserm Gespräch? Ich weiß, wie nahe Sie dem Kinde stehen.«
»Nehmen Sie Platz, Herr Priester«, sagte Recha.
Die ungelenke Anrede mußte ihm seltsam im Ohre klingen. Er setzte sich. Seine klobigen und bestaubten Stiefel standen befremdlich nebeneinander auf dem schimmernden Fußboden, der aus Hölzern von zweierlei Art in schrägem Muster eingelegt war.
»Ich bin Elisabeths Katechet«, sagte Korzon.
Es war Chana, die fragte. Es war, als fasse sie einen wildfremden und bedrohlichen Gegenstand an.
»Ihr Lehrer. Ich erteile ihr Religionsunterricht. Im Zusammenhang damit bin ich gekommen.«
»Gibt sie Anlaß zur Klage«, fragte Recha, »lernt sie schlecht?«
»O gar nicht. Durchaus nicht. Davon kann gar keine Rede sein. Sie lernt im Gegenteil mit besonderer Leichtigkeit. Und ihr Betragen während der Stunden ist das beste und höflichste. Ich habe das Kind sehr liebgewonnen – in diesen drei Jahren.«
Seine Stimme schien diese letzten Worte behutsam zu unterstreichen.
»Nur eben«, wiederholte er, »– es sind jetzt drei Jahre. Schon nach dem ersten war sie mit unserem Katechismus völlig vertraut, sie kannte, was er in Frage und Antwort enthält, die Glaubensartikel, die Gebote des Herrn, die Heilsmittel –«
Zu spät fühlte er, daß dieser letzte Ausdruck hier nicht begriffen werden würde. Er errötete ein wenig, blickte auf seine weißen Stiefel hinab.
»Wer sich dieses wenige zu eigen gemacht hat, der hat eigentlich unserer Kirche schon genuggetan – was das Wissen betrifft.«
»Und Sie sagen, Herr Priester –?«
Er machte sich frei. »Elisabeth liebte dieses Buch. Und man muß es auch lieben. Sein Inhalt ist natürlich der gleiche überall in der Welt. Aber die Fassung, wie sie in diesem Lande gebraucht wird, ist eine besonders glückliche. Die polnischen Bischöfe, denen man sie verdankt, waren Meister des Wortes, und eindrucksvoll haben sie die herrlichsten Stellen der heiligen Schriften darin verwendet. Da hat es mich innig erfreut, zu sehen, wie stark die Wirkung auf Elisabeth gewesen ist – ja, zu Anfang hat mich das sehr glücklich gemacht.«
»Zu Anfang«, wiederholte Recha beklommen, »später demnach –«
Dem Pfarrer war die Stirn feucht geworden wie zuvor auf der Landstraße. Er spürte wohl: er hätte deutlicher sein müssen, rascher, geradeaus auf sein Ziel zusteuern. Aber noch fand er nicht zurück von seinem Umweg.
»Es gibt da Stellen in unserm Buch«, fuhr er fort, »da sind in lateinischer Sprache die Gebetsworte angeführt, wie sie der Priester während des Gottesdienstes verwendet. Dies soll mit Hilfe der beigefügten Übersetzung unsere Kinder instand setzen, den Vorgängen bei der Messe von Beginn mit Anteil zu folgen. Aber ich möchte fast zweifeln, ob hier die redigierenden Prälaten das Rechte getroffen haben. Nach meiner Erfahrung ist diese schöne Mühe an den meisten Kindern verloren. Nicht so bei Ihrer Elisabeth. Ich staunte, mit welchem Verständnis sie gleich die altheiligen Formeln begriff. Der starke, innige, redliche Klang des Lateins schien einen tiefen Eindruck auf sie zu machen. Und als ich mit ein wenig privatem Unterricht nachhalf – unregelmäßig, eine Viertelstunde hier, eine halbe dort –, da öffnete sich ihr der Geist der Sprache fast wie von selbst.«
»Ja«, sagte Recha, »für diese Dinge hat sie eine Begabung.«
»Begabung und Eifer. Um mir eine Freude zu machen, lernte sie lange lateinische Kirchengesänge auswendig und rezitierte sie für mich, auf eine Weise, daß es zu Herzen ging. Meine Freude war wirklich groß. Aber heute mache ich mir das beinahe zum Vorwurf.«
Er hielt inne, zögerte und entschloß sich.
»Zu spät ist mir aufgegangen, daß es keineswegs der Glaubensgehalt dieser Worte war, was das Kind anzog. Sie empfand ihre große Schönheit auf eine ganz andere Weise – auf eine weltliche Weise. Und das ist nicht alles. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß sie sich ihrem eigentlichen Kern und Inhalt, der Glaubenswahrheit selbst, entziehen wollte. So daß sie schließlich mit all ihrem Wissen und all ihrer starken Empfindung vor dem Ziel der Katechese weiter entfernt war als das dumpfeste und einfältigste meiner Kinder.«
»Von welchem Ziel?« fragte Recha.
Pfarrer Korzon schöpfte Atem. Allmählich erst war ihm deutlich geworden, welch breites und tiefes Wasser hier zu überbrücken war.
»Diese Unterweisungsstunden«, sagte er sanft, »sind ja nicht Selbstzweck. Sie dienen dazu, die jungen Gemüter für Gottes Gnade bereitzumachen. Außer Elisabeth sind alle Kinder am Ende des ersten Jahres in die Gemeinschaft der Kirche eingegangen.«
»Wir dachten, das geschieht durch die Taufe«, flüsterte Recha. In der schweren Betretenheit dieser Stunde war das kranke Erzittern unterhalb ihres Auges deutlicher wahrzunehmen als sonst.
»Durch die Taufe – gewiß. Die Taufe ist das erste und notwendigste Sakrament. Durch sie wird das Menschengeschöpf der Erbsünde ledig, wird ein Gotteskind und ein Himmelserbe. Aber sie ist nur der Eingang, unbewußt meist wird das Kind durch diese Pforte hindurchgetragen. Anders die Kommunion. Der erste Empfang des Abendmahls ist ein bewußter Akt, die freiwillige, freudige, demütige Vereinigung mit Gottes Leib und Blut. Bis zur Schwelle dieses heiligsten Tages die jungen Seelen heranzuführen ist die Aufgabe des Katecheten. Ich habe sie an Elisabeth nicht erfüllen können.«
Völlig unerwartet erhob sich Chana von ihrem Stuhl. Riesig stand ihre dunkle Figur im Raum; ihr Atem war hörbar. Seit einiger Zeit litt sie an Oppressionen, die Doktor Silbermann auf eine beginnende Störung der Herzarterien zurückführte.
»Wir sind ganz unwissend in diesen Dingen«, sagte sie schwer und laut. »Sagen Sie unumwunden, Herr Pfarrer, worin das Kind sich verfehlt hat und was Sie von uns erwarten.«
Korzon war ebenfalls aufgestanden, und in der selbstverständlichen Gleichzeitigkeit dieser Geste wurde plötzlich der Weltmann erkennbar, der er vor seiner Weihe zum Priester einmal gewesen war. Hager und groß, wenig gebeugt, stand er der alten Frau gegenüber, durch die ganze Breite des mittagshellen Zimmers von ihr geschieden.
»Elisabeth ist nicht wie die anderen zum Tische des Herrn gekommen. Sie hat sich der Beichte und Kommunion bis heute entzogen. Da habe ich schließlich geglaubt, sie werde von Ihnen zurückgehalten.«
»Von uns!« rief Recha.
»Ich glaube es nicht mehr, gnädige Frau. Aber vielleicht, wenn man die besonderen Umstände in Betracht zieht, wird meine Vermutung verzeihlich.«
»Sicherlich«, murmelte sie, »o gewiß.«
»Ich hatte zuerst nicht an dergleichen gedacht. Am Ende des ersten Jahres, als der Tag schon nahe bevorstand, da kam sie zu mir und bat mich um Aufschub. Sie sprach in Andeutungen, gab mir keine recht faßbaren Gründe an. Aber es war zu fühlen, daß das Kind sich in einem Gewissenszwiespalt befand. Es schien mir unrecht, gefährlich vielleicht sogar, in sie zu dringen. Aber das zweite Jahr verging, und die österliche Zeit war wieder heran. Diesmal wurde sie krank. Sie verschwand aus der Schule und erschien erst wieder nach Pfingsten, als der von der Kirche gesetzte Zeitpunkt verstrichen war. Gewiß erinnern Sie sich –«
Recha sah vor sich nieder auf den Estrich. »Vorigen Mai, ja gewiß. Sie sah elend aus, aß nicht, sie hatte auch Fieber. Der Arzt konnte nichts finden –«
»Jetzt ist es bald wieder soweit. Sie steht in ihrem elften Jahr. Länger darf ich meine Pflicht nicht vernachlässigen, es wäre die schwerste Verfehlung gegen mein Amt. Vor einigen Tagen habe ich Elisabeth nach der Stunde zurückgehalten und sie ernsthaft befragt. Aber sie konnte nicht Rede stehen – sie, die doch immer so klug und bestimmt zu antworten weiß. Ich sah nur, daß sie mit aller Gewalt ihre Tränen zurückhielt. Was konnte ich andres vermuten, als daß ihr der heilige Schritt verboten worden sei! Das war ein Irrtum. Ich weiß es jetzt. Aber darum kann ich doch nicht bedauern, daß ich zu Ihnen gesprochen habe. Von denen, die das Kind am meisten lieben, wird auch der beste Rat kommen.«
In dem Schweigen, das folgte, hörte man draußen die Eingangspforte gehen und Stimmen, die sich vergnügt unterredeten. Man unterschied Pjotrs etwas sprödes Organ und Elisabeths Lachen. Dann wurde die Tür aufgerissen, und sie war da, in ihrem blauen Schulkleid, die Haare ein bißchen unordentlich, ihre Mappe unter dem Arm – denn die Zeit des Bücherranzens war ja lange vorüber für sie.
Im Hereinstürmen erstarrte sie und verharrte nahe der Tür, die hinter ihr offenblieb. Sie war groß für ihr Alter und hielt sich sehr gerade. In ihrem plötzlich erbleichten Gesicht erschienen die schimmernden Augen immens.
»Willst du nicht deinen Herrn Lehrer begrüßen«, sagte Recha endlich mit Anstrengung.
Elisabeth legte ihre Mappe auf einen Stuhl. Sie wandte sich gegen Korzon hin und vollzog eine Kniebeuge. Ihre Bewegungen wirkten pedantisch, vollkommen leer. Hinter ihr wurde von außen die Türe geschlossen. Niemand sprach mehr.
Dann ging sie zwischen ihrer Mutter und dem Priester hindurch. Sie ging auf Chana zu, die laut atmend dastand. Sie hob ihre beiden Arme und lehnte ihr Gesicht gegen die Brust der alten Frau.
»Es hat nichts geholfen«, flüsterte sie in das dunkle Tuch hinein. »Ach, Tante Chana, ich hätte es euch so gerne erspart.«
Heinrich Gelbfisch war lang von seiner Fahrt über die sieben Meere zurück. Er hatte weder vergessen auf ihr noch verschmerzt, doch er hatte sich abgefunden.
Wieder saß er wie vordem am Abend bei den Frauen und unterhielt sie von den Begebenheiten in der Welt. Aber was er sagte, klang anders als einst, und durch den dunklen Glanz seiner runden Augen stach jetzt häufig, wie hervor aus einer neu erschlossenen Kammer, ein hartes, fanatisches Licht.
Ein rauhes Erziehungswerk an seiner enthusiastischen Seele hatte gleich nach Beginn seiner Trostreise eingesetzt.
Der holländische Dampfer, auf dem er sie unternahm, war unter gewöhnlichen Umständen ein Schiff für zwölfhundert Passagiere. Für diese Weltfahrt nahm er nur hundertsechzig auf, alles Leute, die sich einen teuren Müßiggang von sieben Monaten ohne einen Blick auf ihr Bankbuch zu leisten vermochten.
Die Gesellschaft hielt sich von Anfang an nach nationalen Gruppen ziemlich strenge geschieden, und nur gelegentlicher Austausch von Höflichkeiten fand statt.
Am zahlreichsten waren die Deutschen, und unter diesen wieder ein Clan von rheinischen Industriellen, deren joviale Behaglichkeit Tag und Nacht mit saftigen Akzenten über das Boot schallte. Unauffällig, ein bißchen langweilig, präsentierte sich ein holländischer Kreis, hinter dessen solider Fassade sich allerhand Welterfahrung und ironische Gescheitheit verbarg. Die Briten vollends wirkten wie von einer luftleeren Schicht umschlossen; einige ihrer Frauen ausnehmend schön, und zwar von keineswegs kühler, sondern höchst lebensvoller und verlockender Schönheit, ältere Herren, deren frisch gebliebene Züge ein in unangezweifelter Sicherheit verbrachtes Dasein bezeugten, und jüngere, einer nervöseren Generation angehörende, bei denen sich ein erschüttertes soziales Gewissen bis in die betonte Vernachlässigung ihrer Kleidung ausdrückte.
Es gab ein paar Inseln zwischen diesen Kontinenten. Zwei französische Akademiker, Junggesellen, eng miteinander befreundet seit ihren Jugendtagen in der École normale, die in nie abreißender Diskussion stundenlang auf Deck promenierten, auch im leuchtenden Sonnenschein stets in dunklem Rock mit der Kommandeurs-Rosette im Knopfloch. Zwei neuvermählte und stark verliebte Ehepaare aus Dänemark. Und eine spanische Adelsfamilie, deren bloßer Name eine historische Welt von Glauben, Mut und Grausamkeit aufriß, vielköpfig, mit einer Dienerschaft, die fast schon ein Hofstaat war, komplett mit Arzt und Kaplan.
Alle erschienen sie eingeordnet und wohlig versorgt. Nur Heinrich Gelbfisch war allein. In seinem korrekten Anzug saß er an seinem Tischchen im Restaurant und bediente sich mit schüchternen Bewegungen von der üppig langen Speisenfolge. Allein blieb er später im großen Salon, bemüht, sich von den Darbietungen der malaiischen Tanzkapelle unterhalten zu lassen. Allein wanderte er auf Deck durch die herbstmilde Nacht oder lag während der Sonnenstunden hier auf dem Ruhestuhl, vor den Augen ein Buch, von dem seine Gedanken traurig und sehnsüchtig zu Recha zurückschweiften.
Vermutlich bestand bei den Eingereihten gar keine besondere Abneigung gegen den stillen Einzelgänger. Man nahm ihn nur einfach kaum wahr.
Aber Heinrich war zur Empfindlichkeit allzu wohl präpariert. Alte, entschlossen verschmerzte Wunden brannten neu, wie eben empfangen. Als er sich damals, ein Bürger der jungen Republik, um Aufnahme in jenen polnischen Klub bewarb – wie war er behandelt worden! Hier auf dem Schiff war es wie dort und wie immer: sie schlossen ihn aus, weil er ein Jude war.
So wechselte er in der Tat seine ersten Worte mit anderen, als die Gesellschaft zu einem Ausflug an Land ging.
Man wurde von Ceuta in bereitgehaltenen Autos durch steinig zerrissenes Land nach der marokkanischen Stadt Fes transportiert. Fährt man auf längere Dauer zu vieren im Wagen, so ignoriert man nicht einen der Teilnehmer, und harmlos bezogen die drei Holländer – ein Importkaufmann aus Rotterdam mit seiner sehr liebenswürdigen Schwester und ein alter Professor aus Utrecht – den bescheidenen kleinen Mann in ihre Konversation ein. Aber leider war eben Heinrich zu diesem Zeitpunkt selbst nicht mehr harmlos. Er argwöhnte Herablassung, Mitleid und hielt sich spröde zurück.
Die zwei Tage im weißgleißenden Fes lohnten sich reich. Hier war Mittelalter dicht vor den Toren Europas. In den verschlungenen Marktgassen, um die stummen Moscheen quoll und roch und scholl arabisches elftes Jahrhundert.
Aber am zweiten Tage wurde die Mellah besucht. Und die Mellah war das jüdische Ghetto.
Trüb gekleidete Menschen, gedrückt oder unbehaglich erregt. Ihre Gesichter unterschieden sie kaum von den Berbern in Burnus dort drüben; seit unvordenklichen Tagen hatte die gleiche Erde und Sonne an ihnen geformt. Doch sie vermischten sich nicht. Sie mieden und wurden gemieden.
Die Reisenden, von ihrem Führer bedeutet, blickten durchs Fenster in eine ebenerdige Stube. Dreißig oder vierzig kleine Knaben warfen da drinnen unter eintönigem Singsang ihre Köpfchen zur Rechten und Linken, nach Anleitung eines Lehrers im Kaftan, der hoffnungslos blickte. So hätte Heinrich im ersten besten polnischen Städtchen durchs Fenster schauen können; er hätte das gleiche gesehen. Von den Reiseteilnehmern äußerte keiner ein Wort. Aber seine Empfindlichkeit vermutete, daß sie nur deshalb nicht sprachen, weil er bei ihnen stand.
Zum zweiten Mal legte das Schiff in Jaffa an, und er setzte den Fuß auf das Land, das nach Englands Willen und Spruch seinem Volke neu als Wohnung aufgetan war. Der Weltbürger Heinrich Gelbfisch hatte den jüdischen Heimattraum niemals mitgeträumt. Aber das Programm dieser Reise schien nun einmal darauf angelegt, sprunghaft seine Erziehung zu fördern.
Ohne Aufenthalt ging es landein nach Jerusalem, zu den Stätten der Verehrung. Man sah sie, den Ölberg, den Teich von Bethesda. Man sah besonders das Heilige Grab, den verwirrenden Ort, wo in der Enge die Kirchen der Konfessionen einander bedrängen, Kirchen der Griechen, Römer, Kopten, Armenier, angefüllt mit ihren Weihgaben, ihren Lampen und Leuchtern, Gefäßen und Teppichen, Figuren, Ikonen. Die entzweiten Bekenner streifen einander, Mord und Verachtung im Blick. Unter Dünkel und Torheit und unterm Devotionalientrödel erstickt der Gedanke an den, aus dessen sanftem und starkem Herzen Hoffnung und Weisheit strömt.
Heinrich blieb lang hier zurück. So also sah der innerste Schrein der christlichen Welt aus. Aber in Klage und Gebet lagen jüdische Männer drüben vor der abblätternden Mauer, von der sie glaubten oder zu glauben versuchten, sie sei von Salomonis Tempel übriggeblieben.
Am Tage darauf, vor der Rückkehr aufs Schiff, sah er am Meer ihre neue Stadt. Mit weiten luftigen Straßen stieg sie empor, man meinte, verfolgen zu können, wie zukunftsmutige Arbeit die Baulücken schloß. Schon gab es eine Bibliothek, gab es Kliniken, ein Theater. Die da entwarfen und maßen, ebneten, aushoben, bauten und schmückten, sie waren heimgekehrt aus zweitausendjähriger Versprengung. Sechzig Vätergeschlechter waren rechtlos gewandert. Nun wohnten sie wieder im eigenen Recht.
Dies war ihre moderne Burg, ganz jüdisch, trotzig jüdisch. Sprach man zu ihnen von Neid und Feindschaft der rings hausenden Araber, so erhielt man ein Achselzucken, ein Lächeln. Sie waren stolz, und sie waren nicht duldsam. Der Fremde, der in ihren Straßen ihre nationale Blockschrift nicht zu entziffern vermochte, fühlte sich verloren und ausgeschieden, und das sollte er auch.
Die Teilnehmer am Ausflug kehrten denn also nach flüchtiger Umschau an Bord zurück. Ihnen war, von den hebräischen Schildern abgesehen, dies Tel Aviv eine aufschießende Siedelung wie andere mehr in einer ungeduldigen Welt.
Aber Heinrich vermochte sich kaum zu trennen. Das Herz sprang ihm auf. Ernstlich erwog er, ob er nicht die Weiterfahrt aufgeben solle und bleiben.
Er schleppte ein schweres Bücherpaket mit aufs Schiff, Literatur, die er in einem der hellen, wohlgeordneten Läden erstanden hatte. Werke ökonomischen, politischen, historischen Inhalts. Er hatte viel zu lernen über sein neues Land.
Die Bücher waren voll von redlichen Vorbehalten. Wirtschaftsprobleme, verwickelt, nur in langer Mühsal zu lösen, türmten sich auf. Der britische Impuls, dem man die Gründung verdankte, mochte eines nicht fernen Tages unter weltpolitischen Rücksichten erlahmen. Die arabische Gefahr blieb flagrant.
Er las und begriff. Aber bis zum enthusiastischen Kern seiner Natur drang kein erkältender Zweifel. Sein Herz glühte so unbedingt für die Heimführung seiner Nation, wie es nur je für Völkerverbrüderung geschlagen.
Sah er nun auf afrikanischer oder asiatischer Erde, unter Dunklen und Gelben, Menschen aus seinem Blut, so schien ihm, als warteten sie und wüßten nur nicht, worauf. Und jedem hätte er zurufen mögen: Heb deinen Kopf, Bruder, ich weiß, wo für dich das Heil und die Zukunft liegt.
Er fühlte sich nicht mehr als Gezeichneter auf diesem Schiff. Denn wie alle hatte auch er nun ein Vaterland. Und da er sich unbekümmert unter ihnen bewegte, stellte sich ganz natürlich mancher freundliche Umgang her.
Noch immer schweiften seine Gedanken sehnsüchtig ab, wenn er von seinem Deckstuhl hinausblickte über indische oder pazifische Wasser. Und unabweisbar formte sich ihm der Traum, doch eines Tages Recha noch zu gewinnen und mit ihr heimzukehren zu ihrem Volk. Aber dann trat die Gestalt des ukrainischen Bauern dazwischen, der ihr dort auf der Brücke Medaillon und Uhr jenes toten »andern« hinbot und so sie wegrief von ihm.
Für den Zurückgekehrten war es ein Schock, als ihm in der Villa am Fluß Pjotr die Tür öffnete.
Aber das war eine Minute später vergessen, als er sich von Recha mit Freude empfangen sah. Ihr war die Enttäuschung, die sie ihm hatte antun müssen, wie eine Schuld auf der Seele gelegen; nun bot sie ihm erleichtert die alte gastliche Freundschaft. Und auch Chana war er willkommen. Man war etwas reichlich allein gewesen in letzter Zeit.
Zwar kam seit neuerem Notar Krasna häufig ins Haus. Aber seine Besuche blieben beruflich. Er war bei Antritt der Erbschaft von Wien her zu Elisabeths Gegenvormund bestellt worden und wachte über das ihr zugefallene Vermögen mit Genauigkeit und Geschick. Vertrauen zu dem alten Juristen stellte sich sogleich ein, Vertraulichkeit nicht.
Und im übrigen lebte man in der weißen Villa wie auf einem gemiedenen Eiland.
Denn von den eingesessenen Familien am Ort war man durch Rechas Ausnahmeschicksal von jeher geschieden gewesen, und Elisabeths Konversion machte den Abstand unüberschreitbar. Nicht für die Erben des alten Zweifuß allein bildete dieser Schritt einen Gegenstand genußreich-gehässiger Unterhaltung. Er war für sämtliche Orthodoxen der Greuel der Greuel.
Daran änderte auch der Umstand nichts, daß ja schließlich das Kind nur dem Glauben seines Vaters gefolgt war. Der brachte nur den ursprünglichen Frevel frisch ins Gedächtnis zurück: Rechas unverzeihliche, nie zu sühnende Ehe.
Die Frauen begriffen das, besonders Chana begriff es – wie gründlich! Aber mit Sorge sahen sie, daß auch Elisabeth in der gleichen Isolierung heranwuchs. Das Mißtrauen gegen sie, das ihren jüdischen Mitschülerinnen früh eingeimpft worden war, erhielt sich von Klasse zu Klasse. Und sie selber sorgte dafür, daß es da keinen Ersatz gab. Denn gegen die kompakte Mehrheit, gegen all die kirchen- und vaterlandsfrommen kleinen Töchter der polnischen Gentry, verhielt sie ihrerseits sich unabänderlich spröde und ungesellig.
Es war ein Zustand, der kaum als normal und befriedigend gelten konnte. Wie aber ihn ändern! Als, Chana eines Tages von der Möglichkeit sprach, das Kind in andre Umgebung zu bringen, in ein Pensionat im Ausland etwa, zu unbelastetem Umgang – da war Recha vor Schreck unfähig zu antworten, und Pjotr, der im Zimmer beschäftigt war, fiel eine Porzellanschale mit Nüssen aus seiner sonst so geschickten Hand.
Der Sache wurde also nicht mehr gedacht, und Elisabeths kleine Welt bestand weiter aus Mutter und Tante, dem verstümmelten Bauernsohn, der ihr Höriger und geliebter Vertrauter war, und Onkel Heinrich Gelbfisch, für den sie ein sonderbares und eigentlich unstatthaftes ironisches Mitgefühl in ihrem früh geprüften Herzen trug.
Es konnte nicht ausbleiben, daß Heinrich erfuhr, was während der Zeit seines Fernseins mit dem Kinde geschehen war. Er weigerte sich, es zu glauben. Dann vernahm er von Recha selbst den Zusammenhang.
»In Not«, rief er, »in wirklicher Not! Und ich segle derweil auf dem Meere herum wie ein Narr.«
»Vergessen Sie's«, murmelte Recha, »es hat sich ja alles geordnet.«
»Geordnet. Wahrhaftig? Und wie sich's geordnet hat.«
Er saß da wie ein Mann, der seiner letzten Glückschance nachblickt. Nie würde Recha nun mit ihm heimkehren können ins uralte Zukunftsland.
Schwer kam er darüber hinweg. Das neu erweckte jüdische Gewissen sprach laut in ihm, und sein Schuldgefühl steigerte nur seine Zärtlichkeit. Wochen vergingen, ehe er Elisabeth anreden konnte, ohne mit Tränen zu kämpfen. Und da Maßhalten nicht seine Sache war, begann er das Kind zu verwöhnen, auf eine Art, daß es Recha zu viel wurde.
»So geht das nicht weiter. Sie plündern ja Ihr Kaufhaus für sie. Heute nun wieder –«
»Ich bitte Sie, Recha! Ein Gürtelchen. Auch ein Geschenk!«
»Was denkt sich denn so ein Kind? Sie wird sich noch für etwas ganz Besonderes halten.«
»Ist sie ja auch.«
»Unsinn! Ich mein' es im Ernst. Sie verderben sie ja.«
»Nicht Bessie. Bessie kann niemand verderben.«
Chana betrachtete ihn. »Hübsch verrückt sind Sie, Heinrich«, sagte sie brummend. Im Grunde war sie ganz seiner Ansicht.
Aber Heinrich Gelbfisch »plünderte sein Kaufhaus« noch auf andere, wirksamere Art als durch Geschenke an Bessie.
Er hatte es bei seiner Rückkehr in blühendem Zustand vorgefunden; unter seinem Stellvertreter war lukrativer gearbeitet worden als je zuvor.
Denn die polnische Oberschicht, die seit der Erhebung des Städtchens zum Verwaltungszentrum im Anwachsen war, brachte neue Bedürfnisse mit. Diese Funktionäre, Offiziere, Ärzte, Juristen, richteten sich auf die Dauer hier ein. Sie kauften Möbel und Teppiche, Weißzeug und Silber, Tafelservice und Bilder. Ihre Damen waren gewohnt gewesen, sich in Warschau zu kleiden; der angeborene Sinn der Polinnen für Eleganz wollte befriedigt sein. Und es gab für das Warenhaus Gelbfisch kaum Konkurrenz. Hätte Heinrichs verstorbener Vater die Einnahme-Kolumnen des Hauptbuchs prüfen können, er wäre überrascht und entzückt gewesen.
Die Bankabschlüsse allerdings hätte man ihm besser nicht gezeigt. Denn die Substanz schmolz zusammen.
Heinrich Gelbfisch hatte an Freigebigkeit nichts eingebüßt seit den Tagen, da er zum Einzug des Marschalls und Großvaters die ganze Stadt mit polnischen Fahnen versorgte. Nur die Empfänger waren jetzt andere.
Mit neugeschärften Augen sah er sich um in der Republik und fand, daß sie den Millionen ihrer jüdischen Bürger nur widerwillig noch Raum ließ. Methodisch, mit obrigkeitlicher Billigung begann man ihnen die Existenz zu erschweren, und der Einfluß des Marschalls schien nicht mehr kräftig genug zum Widerstand. Man erfand für die Juden besondere Steuern. Den Weg in die freien Berufe verlegte man ihnen durch raffinierte Examina. Boykotte wurden gemeldet; vereinzelt, aus abgelegenen Bezirken, auch schon blutige Ausschreitungen.
Die Juden hatten sechshundert Jahre lang auf dieser Erde gelebt. Nun wendeten sich ihre Augen heimatwärts.
Heinrich wußte bei sich, daß er selbst nicht heimkehren würde. Es hätte den Verzicht auf Rechas Nähe bedeutet, und ohne sie war auch das Land Israel ein Exil. Um so enthusiastischer warf er sich auf die Pflicht, andern die Pforte aufzutun, die ihm selber versperrt war.
Auf seinem Tisch häuften sich die Bücher, Broschüren, Aufrufe, Prospekte. Bald wußte er besser Bescheid in Palästinas Landbau und Industrie als in seinem eigenen Warenlager. Seine Zeit gehörte der Korrespondenz mit den Organisationen, die Transport und Ansiedlung besorgten. Die meisten von denen, die fortstrebten, waren bitter arm. Geld und mehr Geld war vonnöten. Und er gab.
Er gab, fast ohne zu rechnen. Jeden Monat befanden sich unter den Rückwanderern solche, deren Schiffskarte vom Hause Gelbfisch bezahlt war. In der Buchhaltung schüttelten sie angstvoll die Köpfe. Mitten in der Prosperität war man vom Kapitalmangel bedroht. Und es kam wirklich der Tag, da die Firma bei ihren Lieferanten in Warschau und Łódź um Prolongation ihrer Wechsel ansuchen mußte.
Heinrich sprach nicht davon. Aus einer ganz gelegentlichen Bemerkung Krasnas erfuhren die Frauen, wie es um ihren Freund stand. Der Notar war erstaunt, sie ununterrichtet zu finden.
»Aber wie ist das denn möglich?« rief Recha. »Bei diesem Geschäftsgang. Sind Sie denn sicher?«
»Vollkommen sicher. Man redet von Liquidation. Es ist einfach kein Geld mehr da.«
Es war ein Abend im Winter, schneelos und ziemlich kalt. Hier drinnen war es behaglich. Elisabeth saß unten am Tische und schrieb mit durchgedrücktem Finger schief geneigten Kopfs in ihr Schulheft.
»Wenn Onkel Heinrich kein Geld hat«, sagte sie, ohne aufzublicken, »warum geben wir ihm dann keins?«
»Schreib lieber deinen Aufsatz zu Ende. Du sitzt schon drei Tage daran.«
»Ja, Mutti, diesmal ist's schwer.«
»Schwer? Wieso denn. Kościuszko in Amerika. Über Kościuszko weißt du doch alles.«
»Über Kościuszko weiß ich schon alles, Mutti. Aber meine Sätze gefallen mir nicht. Die sind zu lang und ganz fad.«
»Ach, wenn die Tatsachen richtig sind, wird Herr Karbowiak nichts sagen.«
»Karbowiak? Der versteht davon nichts. Das mach' ich doch für mich selber.«
»Jedenfalls«, sagte Recha und beugte sich zu ihr hinüber, »sieht dein Heft ganz schauderhaft aus. Alles verkleckst und ausgestrichen.«
»Ich schreib' es ins reine. Mutti, warum geben wir Onkel Heinrich kein Geld? Wir sind doch reich.«
»Reich? Wie kommst du darauf?«
Bessie legte die Feder hin. Ihre Schreibfinger waren voll Tinte.
»Wir haben noch ein Auto. Autos haben nur reiche Leute.«
Wirklich war vor kurzem ein kleiner, blaulackierter Fiat angeschafft worden, an dem Pjotr beständig putzte und rieb und den seine erstaunliche Hand mit Sicherheit lenkte. Es war hauptsächlich Chanas wegen geschehen, deren Füße sie nicht mehr recht trugen.
Chana lachte mit schwerem Atem.
»Hören Sie das, Doktor Krasna? Und solch ein Kind halten manche Leute für klug.«
Aber Herr Krasna lachte nicht mit. Er war nachdenklich geworden. Nach einigen Minuten schob er seine Papiere zusammen, und Pjotr fuhr ihn zur Stadt.
Das war an einem Montag gewesen. Schon am Mittwoch erschien er wieder, unangemeldet und früh am Tage. Chana lag noch zu Bett, mit ziehenden Schmerzen im linken Arm und im Rücken, die sie für rheumatisch erklärte. So empfing ihn nur Recha.
»Ich habe die Bücher geprüft. Es ist in der Tat, wie wir dachten. Das Unternehmen selber ist kerngesund.«
Recha erinnerte sich nicht, irgend etwas »gedacht« zu haben. Im ersten Augenblick wußte sie nicht einmal, wovon Krasna sprach.
»Gelbfisch und Sohn«, fuhr er fort, »haben im vorletzten Jahr mit 15 Prozent Reingewinn gearbeitet, im letzten mit 18, und die Kurve steigt weiter nach oben. Gebraucht wird ein Kapitalzuschuß von hundertzehntausend Złoty. Das wäre ein rundes Viertel von Elisabeths Erbteil. Wir könnten uns keine bessere Anlage wünschen.«
»Und Heinrich wäre geholfen?«
»Natürlich müssen wir volle Kontrolle haben. Es darf kein Scheck mehr hinausgehen, der nicht meine Unterschrift trägt.«
»Und ist er einverstanden damit?«
»Wie sollte er nicht? Mit seiner wilden Großzügigkeit hat es ja auf alle Fälle ein Ende – so oder anders. Sie wissen ja, wie er ist.«
»Ein Kind«, sagte Recha.
Der Notar lächelte.
»Jedenfalls nicht genau das, was man sich unter einem ernsthaften Geschäftsmann vorstellt. Wissen Sie, was er gesagt hat, als ich mit meinem Vorschlag herauskam? ›Da wird jetzt die Bessie mein Kompagnon – das ist ja reizend.‹«
Pfarrer Korzon, die weiße Stola über seinem lichtgrünen Ornat, nahm aus dem Silbergefäß die geweihte Oblate, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und vollführte so das Kreuzeszeichen.
»Möge der Leib unseres Herrn deiner Seele zum ewigen Leben helfen.«
Und er legte die Hostie in Elisabeths Mund. Sie empfing sie mit niedergeschlagenen Augen, die Hände gefaltet. Ihr Gesicht war weiß wie der kleine Schleier, der ihr Haar bedeckte.
Der Priester kehrte vor den Altar zurück, stellte das silberne Gefäß in seine Nische zurück, sank ins Knie und verschloß dann den Schrein.
Während er der Seitentür zuschritt, die der Meßnerknabe vor ihm offenhielt, wandte er ein wenig den Kopf nach der einsamen Kommunikantin dort vorne in ihrer Bank. Er streifte sie mit einem nachdenklichen, zärtlich-sorgenvollen Blick und verschwand in der Sakristei.
Es war dieselbe Salvator-Kirche, in der Elisabeth getauft worden war. Das bescheidene Bethaus war zu dieser Morgenstunde fast leer. Wer von den polnischen Gläubigen zum Frühgottesdienst wollte, der bevorzugte die neue Kirche am Ringplatz, die im Vorjahr unter offiziellem Gepränge eingeweiht worden war.
Stille und Kühle. Nur von dem alten Arbeitsmann, der in erdfarbenen Kleidern, mit erdfarbenem Gesicht seitlich vor dem Altar der heiligen Anna betete, kam ein Hüsteln und Brümmeln. Und in der hintersten Bank, nahe dem Ausgang, saß im schwarzen Rock Pjotr, der strenggenommen gar nicht hierher gehörte, sondern in eine der Kirchen mit dem griechischen Kreuz und den Holzkuppeln.
Jetzt stand er auf, näherte sich der Knienden und berührte sie an der Schulter.
»Kommen Sie, Fräuleinchen, Sie müssen doch essen.«
Denn während der ganzen Zeremonie war er den Gedanken nicht losgeworden, daß Elisabeth nach der Vorschrift seit dem Vorabend hatte fasten müssen.
»Sie sind ja ganz blaß«, wiederholte er draußen in der Sonnenhelle, »Sie werden noch krank.« Und er wollte eilig mit ihr auf den Wagen zu, der blau an der Gassenecke blitzte.
Ein bißchen angestrengt lächelte sie.
»Aber Pjotr, ich kann doch einmal zwei Stunden aufs Frühstück warten. Davon wird man nicht krank.«
Doch er hatte schon recht; sie fühlte sich elend. Sie hatte in der Kirche gefroren in ihrem weißen Kleid.
»Ich möchte nicht gleich nach Hause«, sagte sie. »Setz' dich ein bißchen mit mir in die Sonne.«
Neben der Kirche lag ein kleiner Friedhof. Das Gitter stand offen. Sie traten ein.
Der Friedhof, mit alten, halb versunkenen Gräbern, verwachsenen Wegen, lehnenlosen Bänken aus Stein, war mehr wie ein Gärtchen. In seinen Büschen, die niemand beschnitt, sangen die Vögel.
Es war nicht mehr jenes Frühjahr, in dem Pfarrer Korzon draußen in der weißen Villa erschienen war.
Ein paar Tage nach seinem Besuch, in einem langen vertraulichen Gespräch, hatte er Elisabeth versprochen zu warten. Sie selber sollte ihn wissen lassen, wann sie bereit wäre. Er zeigte keinerlei Ungeduld, nicht einmal, als man sich bei der vorgesetzten geistlichen Behörde über diesen Ausnahmefall gereizt zu wundern begann. Und wie sie dann kam, verlangte er nicht, daß sie den Schritt über die Schwelle zusammen mit den Kindern des neuen Jahrgangs tun solle, die alle so viel jünger waren. Er nahm, wie es ihm die Regel erlaubte, den ernsten Akt während einer stillen Messe vor, auf eine beinahe private Art.
Jetzt ging er draußen am Gitter vorbei, mit seinem flachen Hut und langfaltigen Rock. Er sah die beiden auf ihrem Bänkchen sitzen und grüßte hinüber. Sie standen auf und blieben stehen, bis Korzon nicht mehr zu sehen war.
»Hier ist's hübsch, Pjotr«, sagte Elisabeth, »findest du nicht? Gar nicht traurig, wie eigentlich Friedhöfe sind.«
»Das kommt daher, Fräuleinchen, daß die Gräber so alt sind. Die Leute, die hier liegen, sind lange tot, und auch die andern, die um sie geweint haben, sind tot. Es ist aus mit der Trauer, und damit ist alles vorbei.«
Sie sah ihn an. »Du meinst, Pjotr, wenn man einmal da liegt, dann kommt nichts mehr – mehr ist gar nicht dahinter? Sehr fromm ist das nicht.«
»Ich sollte auch so was nicht sagen, Fräuleinchen – heute am wenigsten.«
»Wird das denn bei euch in der Kirche gepredigt?«
Pjotr verzog das Gesicht. »Guter Gott, nein«, sagte er. »Bei uns in der Kirche ist die Feierlichkeit ein bißchen verschieden, und der Geistliche hat ein anderes Kleid. Aber sonst ist's das gleiche. Ich habe auch immer geglaubt, was man glauben soll. Bis zum Krieg. Da sind wir einmal auf ein Dorf zumarschiert. Wir glaubten, das Dorf wäre leer. Aber auf einmal schossen da Maschinengewehre. Unsere halbe Kompanie fiel um, sechzig Mann oder achtzig. Sie lagen da wie die Enten. Seitdem denke ich, daß alles aus ist.«
»Wieso denn, Pjotr! Ob ein Mensch stirbt oder sechzig auf einmal – was soll denn das ändern?«
»Wie die Enten nach der Jagd lagen sie da«, wiederholte Pjotr, als sei damit das Ganze erklärt.
»Alles vorbei«, wiederholte Elisabeth, »das ist doch entsetzlich trostlos.«
»Ich weiß nicht, Fräuleinchen«, sagte er sanft. »Ausruhen, ganz und für ewig, ist auch etwas Schönes.«
Es war Pjotr anzumerken, daß er sich über diese Fragen öfters seine Gedanken gemacht hatte.
»Es gibt doch hundertmal mehr tote Menschen als lebendige«, meinte er, »wo sollten die alle Platz haben? Da sagt man immer, wie traurig es ist, daß ein Mensch, der gelebt hat, auf einmal nun nicht mehr lebt. Aber vorher war eine lange Zeit, da hat er auch nicht gelebt, und niemand findet das traurig. Sein Grab möchte ich schon einmal sehen«, sagte er ganz ohne Übergang.
Elisabeth blickte ihn fragend an.
»Das Familiengrab mein' ich, in Wien. Sicher ist es sehr prächtig. Ich möchte schon wissen, wie der Herr Graf im Tode liegt.«
»Vielleicht komme ich einmal hin, Pjotr. Dann schreibe ich genau die Inschriften ab und erzähle dir alles.«
Er nickte. Er sah auf seine Uhr. Es war eine hübsche silberne Armbanduhr, ein Geschenk Heinrich Gelbfischs. Er sprang auf.
»Um Himmels willen, Fräuleinchen, da sitz' ich und schwatze ganz ohne Gewissen. Sie müssen doch frühstücken.
Sie sprach nicht zu Hause davon; aber mehr und mehr glich ihre Schulexistenz der eines versprengten Soldaten in Feindesland.
Sie gehörte zu niemand. Die Freundschaften unter den polnischen Mädchen reichten ins private Leben hinüber, in ihre Offiziers- und Beamtenfamilien, die alle versippt oder durch Interessen verbunden waren. Die paar jüdischen Schülerinnen, die man von Klasse zu Klasse mitführte, waren geduldet, gleichgültig akzeptiert, man übersah sie. Nur Elisabeths Dasein, Dabeisein war eine stete Beunruhigung. Wenigstens hätte man sich gewünscht, daß sie ihre Isolierung schmerzhaft empfinde. Sie schien aber nichts zu entbehren, niemand zu brauchen.
»Hochmütig ist sie, die Dame mit dem gepantschten Blut«, sagte Jadwiga Lubecka, die Tochter des Polizeichefs, der zu Hause Gelegenheit geboten war, antisemitische Wendungen aufzuschnappen.
Und Wanda Sławek, deren Vater dem Steueramt vorstand, fügte epigrammatisch hinzu:
»So hochmütig, daß sie es nicht einmal zeigt. Ihre Art, auf uns herunterzusehen, ist, daß sie uns gar nicht ansieht.«
Nicht viel anders reagierten Elisabeths Lehrer – mit der einzigen Ausnahme von Fräulein Skarga.
Mit der aristokratischen Jungfer hatte Freundschaft sich hergestellt. Es begann mit Spaziergängen am Dnjestr entlang. Dann lud sie Elisabeth zum Tee bei sich ein und setzte ihr die köstlichen kleinen Kuchen vor, für die der Zuckerbäcker Spiegelglaß bekannt war und von denen sie selber nie aß. Sie erschien auch in der weißen Villa und hielt steife, verlegene Konversation mit den Frauen. Und über das verständige Maß gerührt zeigte sie sich, als an ihrem Geburtstag Elisabeth sie mit einer Rezitation in altertümlichem Polnisch überraschte – dem freien Vortrag einer berühmten Staatsrede des Jesuiten Peter Skarga, der ein Bruder eines ihrer Vorfahren gewesen war.
»Wie hast du nur meinen Geburtstag herausgebracht, Elżunia«, sagte sie mit naß glänzenden Augen. »Und kein schöneres Geschenk hättest du dir ausdenken können. Was für ein gewaltiger Strom in diesen Sätzen, nicht wahr! Und was für ein hoher Ernst in der Warnung. Der kannte seine Polen und fürchtete für sie. Wollten sie nur jetzt wieder hören auf seine Stimme! In diesem Staat sitzt der Wurm, heute wie damals.«
Leider jedoch hatte die Lehrerin in der Schule mit Elisabeth nichts mehr zu tun. In den höheren Klassen unterrichteten Männer, hitzig-patriotische Kriegsteilnehmer zumeist, die mit ihren Dekorationen im Knopfloch erschienen. Voll Mißtrauen blickten sie auf die Einzelgängerin. Hinter deren Höflichkeit, ihrem gleichbleibenden Wohlbetragen witterten sie eine Reserve, die schlimmer war als die gelegentlichen Ungezogenheiten der anderen. War es nicht eigentlich unverschämt, daß dieses Kind einer Jüdin und eines habsburgischen Offiziers das nationale Polnisch reiner als alle schrieb, daß sie in der heroischen Landesgeschichte am klarsten Bescheid wußte! Und auch das Französische flog ihr verletzend rasch an; nach sechs Monaten sprach sie es besser als der Pedant, der es lehrte.
Anzuhaben war ihr nie viel. Für die Mitschülerinnen war das ein schleichender Ärger. Es versprach wenig Gewinn, jemand zu sticheln und zu hänseln, der mit einem geschliffenen Wort unfehlbar parierte – wobei denn in diesen hellen Augen ein Licht aufblitzte, vor dem man sich klüger zurückzog. So sah man sich auf die üblichen Darbietungen beschränkt: das unterhalb mit Tinte beschmierte Pult, die mit Wasser vollgegossene Schultasche. Nur gelegentlich raffte man sich zu Größerem auf.
Einmal, an einem Regentag, als Bessie aus dem Gebäude herauskam, sah sie Pjotr neben dem kleinen Fiat auf der Erde knien.
»Sehen Sie das«, rief er von weitem. »Kaum zehn Minuten war ich vom Wagen fort, und nun schauen Sie an, was passiert ist!«
Mit einer naiv-pathetischen Geste zeigte er auf einen total luftleeren Pneu, und auf die blaue Lackierung, die kreuz und quer zerkratzt war.
»Das müssen Sie anzeigen, Fräuleinchen! Alles kann man diesen Teufelsratten doch nicht durchgehen lassen.«
Rot vor Entrüstung, blickte er zu ihr auf. Sie stand da in ihrem dunklen Lodencape, das von ihren geraden Schultern herabfiel wie ein Rittermantel und von dem der Regen troff. Aus ihrer Lederkappe hing das honigfarbene Haar naß und strähnig hervor.
»Anzeigen, Pjotr! Bei wem denn? Die Lehrer freuen sich höchstens. Aber was kommst du auch mit dem Wagen! So geht's, weil du nicht auf mich hörst.«
»Sie hören ja auch nicht«, sagte Pjotr, den die Untat an seinem zärtlich geliebten Fiat ganz aufsässig machte. »Wie schauen Sie denn aus! Bei solch einem Wetter nimmt doch jedes Gottesgeschöpf einen Schirm.«
Sie lachte. »Gut, von heut an trage ich einen Schirm wie eine Madame. Jetzt komm, und mach dir nichts draus!«
Aber sie selber machte sich allerhand aus der heimtückischen Bosheit. Ihre Gleichgültigkeit war schon lange zerrieben und durchgescheuert. Und ein paar Wochen später führte ihr Überdruß zu zwei Vorfällen, die sich nicht so leicht reparieren ließen wie ein zerschnittener Reifen.
Man stand am Ende des Schuljahrs, zwei Tage vor der Ostervakanz. Die Versetzung in die nächsthöhere Klasse hatte man ihr, beim redlichsten Willen, wieder einmal nicht verweigern können. Und trotz ihrer Schwäche in den mathematischen Fächern befand sie sich leider sogar unter jenen fünf Ersten, die an diesem Tag nach der Tradition vom Schulinspektor mit einer kleinen Ansprache und Ehrenprüfung ausgezeichnet wurden.
Dieser Inspektor, der in Haar- und Barttracht und sogar in der Sprechweise das Bestreben verriet, dem nationalen Standbild des Marschalls und Großvaters zu gleichen – ein Ehrgeiz, den ein fliehendes Kinn und wässerig hervorquellende Augen ganz aussichtslos machten –, stand am Katheder neben dem Hauptlehrer und rief aus einer Liste die Namen auf.
»Komteß Elisabeth Pattay.«
Alles blieb still.
»Hören Sie nicht?« sekundierte der Hauptlehrer.
Sie erhob sich halb aus der Bank. »Ich wußte nicht, daß ich gemeint war.«
»Sie kennen doch wohl Ihren Namen«, sagte der Inspektor und blickte sie an, wobei er versuchte, seine Quellaugen zusammenzukneifen.
»Ich heiße Elisabeth Doktor. Jedenfalls will ich so heißen.«
Durch die Klasse ging ein erregtes Raunen. Man war glücklich, sich in legitimer Entrüstung mit der Autorität zusammenzufinden.
Der Inspektor stellte überlegene Gelassenheit zur Schau.
»Graf Pattay war der Name Ihres Vaters – oder stimmt das nicht?«
»Mein Vater hieß so«, sagte Elisabeth.
»Nun also. Wir Polen ehren erfüllte Pflicht beim Feinde. Sie brauchen sich seines Namens nicht zu schämen. Im Gegenteil. Sie dürfen stolz auf ihn sein.«
Elisabeth blickte haßerfüllt diesen Menschen an, der da ihrem Betragen hämisch eine Auslegung gab, an die er selber nicht glaubte.
»Ich brauche keine Belehrung, Herr Inspektor«, sagte sie laut. »Ich weiß selbst, worauf ich stolz zu sein habe.«
Das beglückt-entrüstete Raunen schwoll wieder an. Man feierte unterwürfige Vermählung mit der Macht.
»Verlassen Sie die Klasse, Elisabeth Pattay«, kommandierte der Lehrer. »Warten Sie im Vorraum zum Konferenzzimmer.«
Der Vorraum war fensterlos und schlecht ventiliert. Er enthielt zwei Strohstühle, eine riesige Landkarte von Polen und eine Büste des Großvaters. Eine ungeschirmte elektrische Birne brannte.
Draußen kündete die Schelle des Pedells den Stundenschluß an. Sie hörte die Stimmen und das Getrappel der herausstürmenden Mädchen. Dann war wieder alles stumm.
Der Hauptlehrer öffnete die Tür und durchschritt den Raum, ohne stehenzubleiben.
»Sie finden sich morgen um zehn Uhr hier ein«, warf er ihr hin und verschwand.
Auf der leeren Treppe kam ihr Fräulein Skarga entgegen. Elisabeth grüßte fremd.
»Was hast du, Elżunia? Du siehst erhitzt aus. Bist du krank?«
»Ich bin ganz gesund«, sagte Bessie. »Ich habe mich unverschämt gegen den Schulinspektor benommen, und man wird mich hinausschmeißen.«
Das Fräulein öffnete ihren blassen Mund. Aber sie sagte nichts, sondern lief hastig weiter die Treppen empor.
Auf dem Platz vor dem Gebäude standen die Schülerinnen in Gruppen beisammen. Wo sie vorbeikam, verstummte man. Aber als sie die Tochter des Polizeichefs passierte, trat die ihr quer in den Weg.
»Ich weiß schon, worauf ich stolz zu sein habe«, imitierte sie mit plärrender Stimme.
Elisabeth nahm sich zusammen und ging um Jadwiga herum.
»Judenkomteß!« brüllte man ihr in den Rücken. Und gleichzeitig flog aus einer der Gruppen ein Stein.
Elisabeth sah ihn kommen. Sie hob zum Schutz ihre linke Hand, die, getroffen wurde. Sie spürte einen reißenden Schmerz.
Die Blicke der Horde im Rücken, bog sie in die Sobieskigasse ein. Ihr Ringfinger zeigte eine blaue Verfärbung. Sie versuchte ihn zu bewegen. Der Schmerz stach ihr bis in die Schulter hinauf.
Gleich um die Ecke wohnte hier Doktor Silbermann. Mit Hilfe seines jüngst erworbenen Röntgenapparates, auf den er sehr stolz war, durchleuchtete er düstern Blicks das getroffene Glied und fand es gebrochen. Die Einrichtung und Schienung nahm er unter lokaler Betäubung vor, die sich als unzulänglich erwies.
Den Arm in der Schlinge, verantwortete sie sich am andern Tag vor der Konferenz, und Fräulein Skarga erregte Mißbilligung, als sie die forensische Prozedur gleich zu Beginn mit einer besorgten Frage nach dieser Verletzung unterbrach.
»Der vierte Finger ist gebrochen«, sagte Elisabeth, wobei ihr im selben Moment die trockene Antwort schon leid tat.
Dann wurde ihr der Beschluß mitgeteilt, sie gnadenweise vorläufig in der Lehranstalt zu belassen. Beim geringsten fernem Verstoß jedoch habe sie sofortige Wegweisung zu gewärtigen.
Mehr war über den Fall nicht zu sagen. Aber es schien, als kosteten die versammelten Herrn den Augenblick aus und könnten sich zur Verabschiedung so rasch nicht entschließen.
Eine sinnlose Pause entstand.
»Es war lieb von Ihnen, sich zu erkundigen«, sagte Elisabeth, als wäre sie mit dem Fräulein allein.
Es war nicht als Frechheit gemeint. Aber der richtenden Körperschaft war die ganze Wirkung gestört.
»Gehen Sie«, rief der Hauptlehrer. »Ihre Mutter wird schriftlich benachrichtigt.«
Diesmal war es in der weißen Villa jedermann klar, daß ihres Bleibens nicht sein konnte. Den »geringsten fernem Verstoß« wartete man besser nicht ab.
Durch seine ausländischen Korrespondenten begann Herr Gelbfisch Erkundigungen einzuziehen. Pensionate in England, Österreich, der Schweiz wurden erwogen. Schließlich einigte man sich auf das berühmte Institut von Madame Dieudonné in Lausanne.
Als von Elisabeths Finger die Schienung entfernt wurde, zeigte sich, daß Doktor Silbermann schlechte Arbeit getan hatte. Der Finger war verkrümmt, nicht sehr stark, aber merklich. Es würde notwendig sein, ihn nochmals zu brechen und in seine richtige Form zu bringen.
Alle wunderten sich, als sie sich weigerte.
»Es ist eine Kleinigkeit, Bessie«, sagte Heinrich Gelbfisch, der mit bei der Mahlzeit saß. »Und der Professor in Lembach wird dir nicht weh tun wie dieser Silbermann.«
»Fräulein Elisabeth hat keine Angst«, sagte da der servierende Pjotr. Verwundert sah man ihn an.
Elisabeth lachte und betrachtete ihren Finger.
»Ich hab' ihn ganz gern so«, sagte sie.
»Gern?« fragte Chana.
»Ganz gern. Es ist ja auch bloß an der linken Hand.«
Pjotr stand ihr gegenüber am Tische, noch immer rot vor Verlegenheit bis unter sein sandfarbenes Haar. Sie zwinkerte ihm freundschaftlich zu. Dann glitt ihr Blick an seiner linken Seite nieder, wo der leere Ärmel hing.
Man erwartete sie zu Anfang des Sommers im Pensionat. Herr Gelbfisch ließ sich's nicht nehmen, Recha und ihr als Reisemarschall zu dienen. Und seine unersättliche Fürsorge gestaltete diese Fahrt nach der Schweiz sehr teuer und kompliziert.