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Ein warmer Windstoß drückte das Fenster auf. Er blätterte in Madame Dieudonnés Hauptbuch und ließ die beschriebenen Blätter aufflattern, die vor Elisabeth auf dem Tisch lagen. Sie ging zum Fenster und schloß es.
»Der Föhn«, sagte sie und schaute über den See zu den Bergen der französischen Seite, die unterm Vorfrühlingslicht ungewohnt nahe erschienen, mit scharfen Schatten in den trennenden Tälern.
»Nicht der Föhn«, sagte Madame. »Unsern Vent de Pluie müßtest du eigentlich kennen in deinem vierten Jahr.«
Sie schickte einen Blick nach dem Himmel, der noch vollständig klar war. »Hoffentlich kommen die Kinder trocken nach Hause. Sicher hat wieder keine einen Schirm mitgenommen.«
»Ja«, sagte Elisabeth, »gegen Schirme hat man etwas in diesem Alter.« Und sie lächelte, als gedächte sie einer fernen Vergangenheit.
Die Kinder, nämlich die sämtlichen Zöglinge des Pensionats, waren heute zu einer Matinee ins Theater geführt worden, wo eine Truppe der Comédie-Française mit Racines »Athalie« gastierte.
Madame genoß die seltene Nachmittagsstille im Haus, allein mit ihrer erwachsenen Schülerin. Sie genoß auch die Eintragungen und Additionen in ihrem Hauptbuch; denn die Geschäfte des Pensionats gingen gut.
Sie gingen gleichmäßig gut seit fast einem Vierteljahrhundert. Damals hatte der Tod ihres Gatten, der ein Archäologe von Namen und Mitglied der Académie des Inscriptions gewesen war, sie mit dürftigen Mitteln zurückgelassen, und sie hatte ihr Lehrinstitut in engem Rahmen aufgebaut. Nie war sie später der Versuchung erlegen, ihn zu erweitern. Der Ruf solider Exklusivität, persönlichster Sorgfalt ließ sich nur aufrechterhalten, wenn die Zahl der Pensionärinnen begrenzt blieb. Es waren zwanzig, heute wie damals.
Sie war eine füllige Dame mit reichem, gepflegtem schwärzlich-silbernem Haar, einer gutgeformten, etwas zu hohen Stirn und klug und freundlich blickenden Augen hinter der Goldbrille. Dem Eindruck von Gelehrsamkeit und Behagen fügte sich nur ein karger, sehr kleiner Mund nicht völlig befriedigend ein, der anzeigte, daß diese angenehme Matrone nebenbei eine vorzügliche Rechnerin war.
Ein knitterndes Geräusch gegenüber am Tische ließ sie von ihren Kolumnen aufschauen.
»Du kassierst schon wieder ein Blatt«, sagte sie lächelnd. »Diese Übersetzung muß schwer sein.«
»Nicht schwer, Madame, sondern völlig unmöglich.«
»Das kann ich kaum glauben. Die hübsche Erzählung von Monsieur Géraldy hast du in drei Tagen übersetzt. Und eine Zeitschrift in Warschau hat dir Komplimente gemacht und hat sie gleich abgedruckt.«
»Ja«, sagte Elisabeth. »Aber das hier ist anders.«
»Saint Julien l'Hospitalier!« Die Direktorin schüttelte ihr stattliches Haupt. »Es ist doch längst in alle Sprachen der Welt übersetzt.«
»Ich mach' es auch nur für mich, Madame.«
»Zur Übung? Das brauchst du nicht mehr.«
Elisabeth legte ihren Bleistift in das aufgeschlagene Buch und sah vor sich nieder.
»Es ist eigentlich nur eine Art, es besser zu lesen«, sagte sie stockend. »Wenn man versucht, es in eine andere Sprache zu bringen, dann geht einem langsam auf, was für ein Wunder es ist. In jedem von diesen Sätzen liegt ein Geheimnis, das mehr ist als das, was er ausdrückt.«
»Nun«, sagte Frau Dieudonné, »mit solch einer Leserin würde der Meister zufrieden sein, wenn er noch lebte. Mir sind seine Werke zwar immer äußerst poliert erschienen, aber doch etwas trocken und kalt.«
»Trocken, kalt«, wiederholte Elisabeth.
Frau Dieudonné lachte. »Das sagst du, als ständest du vor einem Abgrund, über den keine Brücke führt. Ich will dir deine Götter nicht rauben.«
Elisabeth machte einen letzten Versuch.
»Irgendwo, Madame, erzählt er von einer Mauer, die er einmal gesehen hat – auf der Akropolis, in Athen. Eine ganz nackte Mauer. Die sei so herrlich gewesen, so schön der Stein und die Proportion, daß er Herzklopfen bekam vor lauter Entzücken. So, sagt er, müßte Prosa auch sein. Manchmal glaube ich zu verstehn, was er damit meint.«
»Ganz sicher verstehst du's«, sagte tröstend Madame, der vor so viel Leidenschaft etwas unheimlich wurde, »und eines Tages wirst du selbst etwas Gutes hervorbringen.«
»Ich, Madame? Niemals! Bücher schreiben dürften überhaupt nur Menschen wie Flaubert oder Tolstoi. Die andern machen nur nach und sollten sich schämen.«
»Da gehst du wieder zu weit. Dem Publikum kultivierte Unterhaltung zu bieten ist ein sehr schöner Beruf.«
Elisabeth ließ einen Moment vergehen.
»Gewiß, Madame«, sagte sie artig.
»Aber für dich gibt es ja mancherlei Aussichten. Erst neulich wieder hat Monsieur Delangre erklärt, daß du drüben in Genf Karriere machen könntest, als Interpretin beim Völkerbund. Schade nur, daß du so jung bist.«
»So jung, Madame? Anderthalb Jahre älter als Ihre älteste Schülerin. Es wird wirklich bald Zeit, daß ich nach Polen zurückkehre, zu meiner Mutter und Tante.«
»Die Damen wünschen ja selbst, daß du bleibst. Oder sind dort in letzter Zeit die Verhältnisse besser geworden?«
»Nicht für uns Juden«, sagte Elisabeth.
Madame zuckte zusammen.
»Diese ewige Betonung, Lisa – wirklich, es ist nicht geschmackvoll. Ein moroser Tick.«
»Ja, den haben mir meine Mitschülerinnen beigebracht. Sie hätten Jadwiga und Wanda kennen sollen, Madame!«
»Ich dächte, unsere Mädchen hier hätten das gutgemacht. Die hängen ja alle an dir, geradezu schwärmerisch. Ich habe gemerkt, daß sie sich um gewisse kleine Andenken von dir streiten.«
»So etwas habe ich auch bemerkt«, sagte lachend Elisabeth. »Meine Taschentücher verschwinden, eins nach dem andern.«
»Manchmal denke ich mir«, sagte Madame Dieudonné träumerisch, »du könntest hier unterrichten. Und noch viel Besseres könnt' ich mir vorstellen. Ein Jammer, daß du so jung bist!«
Elisabeth hob ihren Kopf. Sie wartete auf eine Erklärung für diese seltsame Klage, die da zum zweiten Mal kam.
Madames Blick wanderte über den See nach dem französischen Ufer. Aber sie sah dort nicht die verbleichenden Berge, über denen jetzt Wolken zogen. Was sie sah, das waren rechtshin die Türme von Notre-Dame, und zur Linken war's der Pont-Neuf und die Flußfront des Louvre. Sie saß vier Treppen hoch in der kleinen Wohnung am Quai des Grands-Augustins, wo Professor Dieudonnés Bücher unverrückt auf den Regalen standen und seine Kästen mit den antiken Goldmünzen. Unter Bedenken und Opfern hatte sie diese Wohnung beibehalten alle die Jahre her, mit ihrer unverheirateten Schwester, Mademoiselle de Trévoux, als Platzhalterin. Hier, trotz der vier Treppen, gedachte sie einst ein Ruhejahrzehnt ihres Alters zu verbringen, oder lieber noch zwei.
»Ja«, sagte sie, »wärst du dreißig, Lisa, wärst du nur sechsundzwanzig – du könntest an meine Stelle hier treten. Wie schön wäre das. Es ist ein trüber Gedanke, gleichgültigen Händen zu überlassen, was man mit Sorgfalt aufgebaut hat.«
»Daß Sie mir das zutrauen, Madame –«, Elisabeth war so gerührt, daß sie ganz vergaß, stolz zu sein.
»Aber es ist ja Unsinn, ich weiß es. Wenn du einmal so weit bist im Leben, dann hast du geheiratet und erinnerst dich nur noch vage an dieses Haus.«
»Ich würde dir gute Bedingungen machen«, fuhr sie versonnen fort – denn ihr wirtschaftliches Gewissen verbot ihr sogar in einem Wunschtraum, die praktische Seite zu ignorieren. »Wenn ich auch am Erträgnis beteiligt bliebe, du hättest eine auskömmliche Existenz. Deine Mutter und Tante würden bei dir wohnen, in diesem angenehmen Klima. Für jeden wäre gesorgt. Aber diese acht, neun Jahre machen alles zunichte«, endete sie, und vor ihren Augen tauchten Notre-Dame und Pont-Neuf zurück ins Unerreichliche.
Es war dunkler geworden im Zimmer, und auf einmal schlug heftiger Regen gegen die Scheiben.
Madame Dieudonné blickte auf die Uhr. »Jetzt ist das Theater aus. Die Kinder werden schön naß werden.«
Es klopfte. Der Bauernbursche aus dem Valais, der im Hause Dienerstelle versah, brachte die Nachmittagspost.
»Hier ist einer für dich, Lisa.« Und sie reichte ihr den Brief über den Tisch.
Elisabeth griff begierig danach. Sie war, ganz ungewohnterweise, seit zwei Wochen ohne Nachricht geblieben.
Der Brief trug eine polnische Marke. Aber es war ein grobes Kuvert, und die geschnörkelte Rundschrift kannte sie nicht.
Der Junge aus dem Valais nahm die sortierte Post in Empfang und ging, um sie auf die einzelnen Zimmer zu verteilen.
Madame beschäftigte sich mit ihrer eigenen Korrespondenz. Wie sie davon aufblickte, sah sie Elisabeth dasitzen, den geöffneten Brief in der Hand, mit strömenden Tränen.
»Was ist denn, Kind? Etwas Schlimmes von Haus? Doch nicht deine Mutter!«
Sie verneinte stumm. Frau Dieudonné stand auf, trat neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Sie fragte nicht weiter.
Elisabeth las ihren Brief noch einmal. Er kam von Pjotr. Aber Pjotr, der der lateinischen Schrift nicht mächtig war, hatte diese Botschaft diktiert. So klang sie ungelenk und formell.
Chana war krank, kränker als jemals. Es war das Herz, und Pjotr wußte und teilte mit, daß das Ende nicht fern war. Er tat das gegen Chanas Verbot. Sie erfährt es noch zeitig genug, wenn alles vorbei ist, hatte die Frau Tante geäußert – und Elisabeth wußte, daß dieser Satz wörtlich zitiert war. Aber Pjotr hatte es für unrecht gehalten, der Frau Tante zu gehorchen. Das geehrte Fräulein, stilisierte der Besitzer der Rundschrift, würde das in Zukunft möglicherweise niemals verzeihen. Dann folgten kaufmännische Ergebenheitsfloskeln und, ebenfalls in der fremden Hand, die Unterschrift Pjotr Gargas.
Darunter aber standen in kyrillischen Buchstaben auf ukrainisch zwei Worte:
»Prychody zywo.« Komm schnell.
Früh am Tage langte sie im Wiener Westbahnhof an. Ein Aufenthalt von mehreren Stunden in der unbekannten Hauptstadt lag vor ihr, und sie hatte nichts zu verrichten hier auf ihrer Fahrt zu einer Sterbenden, nichts als den Besuch bei einem Toten.
In die Ankunftshalle schien das graue Vorlicht eines naßkalten Februarmorgens. Sie wollte sich nach der im Halbschlaf verbrachten Nacht ein wenig auffrischen; aber sie fand das Waschkabinett unbehaglich verwahrlost, die Handtücher aus Papier, die Seife wie Stein. Sie beorderte ihr Gepäck nach dem Nordbahnhof und machte sich auf zur Stadt.
In der langen, schlechtgepflasterten Mariahilfer Straße kamen ihr wenige Menschen entgegen, verdrossen auf ihrem Weg zur frühen Arbeit. Wie sie die Ringstraße erreichte, begann es zu nieseln. In trüber Verlorenheit säumten Staats- und Wohnpaläste sie ein.
Aber aus einem Kaffeehaus nahe der Oper fiel durch geraffte Vorhänge gelbes Licht verlockend übers nasse Trottoir. Drinnen war es warm, und das Frühstück, so erfreulich nach unbehaglicher Nacht, stand auf dem Tischchen, kaum daß sie's bestellt hatte. Köstlicher, mild-kräftiger Kaffee, zierliche Semmeln, die frisch krachten unter ihren gesunden Zähnen. Sie ließ sich ein Ei geben, sogar noch ein zweites. Auf einmal erschrak sie über sich selbst. Da saß sie und ließ es sich gut gehen, während dort in dem weißen Zimmer, darin sie so viele Jahre neben ihr geschlafen, Chana nach Luft rang und den Tod kommen sah. Wie konnte man Mitgefühl von irgendeinem Menschen erwarten, wenn ihr das bei ihren Nächsten geschah! Und während sie es dachte, tasteten ihre Finger schon nach der Zigarette, ohne die das Körperglück dieses Frühstücks nicht vollkommen war.
Ein Kellner eilte herzu, um ihr Feuer zu reichen. Dann legte er nach der Ortssitte den Stoß der neuesten Zeitungen für sie bereit.
Es war ein älterer Kellner, absolut kahl, mit südlich schwarzen, wimperlosen Augen und hochgebuckelter Nase. Sein weißes Vorhemd war nicht recht sauber, und sein Frack spiegelte schäbig.
Da steht so ein alter Mensch morgens um fünf Uhr auf, dachte Elisabeth, und zieht sich den Frack an. Seltsame Pflichten füreinander erfinden die Menschen.
Er war neben ihr stehengeblieben und wies auf das Zeitungsblatt, das zuoberst lag.
»Große Neuigkeiten, Gnädigste«, sagte er devot und vertraulich.
Sie blickte schräg auf die alarmierende Aufschrift.
»Deutscher Reichstag in Flammen. Schonungsloser Kampf der Regierung gegen die Brandstifter.«
Darunter zwei Bilder. Zur Linken das Berliner Parlamentshaus, aus dessen Kuppel das Feuer schlug. Rechts aber, mit Odinslocke, amorpher Nase und Seherblick, der neueste Herr der deutschen Geschicke, seit Wochen nun allen weißen, gelben und schwarzen Presselesern dieses Planeten hinlänglich vertraut.
»Der wird's ihnen zeigen«, flüsterte hingegeben der Kellner.
»Wem?«
»Aber den Roten, Gnädigste. 's wird Zeit. Vor denen ist nichts mehr sicher.«
Elisabeths Blick haftete auf einem eingesetzten Flicken in der Nähe seines Ellbogens.
»Sind Sie selbst denn so reich?« sagte sie leise.
Sein Mund öffnete sich, rund vor Erstaunen.
»Verstehen denn Gnädigste nicht? Die Roten. Die Juden. Die bringen jeden ums Brot. Schauen sich Gnädigste unsre Kaiserstadt an, unser Wien! Gnädigste können sich allerdings an die schöne Zeit nicht erinnern, sind noch zu jung – Bitte sehr, bitte gleich!« unterbrach er sich und wedelte mit seinem Tuch, denn irgendwo hatte ein Gast an die Tasse geklopft.
Aber er war schon ein Feind. Mit bitterer Würde nahm er sein Trinkgeld entgegen, als Elisabeth aufbrach, und den Weg zu der Kirche, nach der sie ihn frug, behauptete er nicht zu kennen.
Die Ringstraße war nun belebt. Umströmt von Geschäftigkeit, bei offenen Fenstern und Kaufläden wirkten die Prachtgebäude nicht mehr gespenstisch. Weiterhin aber auf ihrem Weg in den schöngewundenen Gassen der Inneren Stadt redeten holde Fassaden, kunstreiche Gitter von einer andern, fühlenderen Zeit. In den Ehrenhöfen, in die sie hineinblickte, wuchs Gras zwischen den Quadern. Vielsilbig komplizierte Aufschriften zeigten an, daß diese Adelshäuser jetzt Behörden als Unterkunft dienten. Sicherlich gab es hier auch ein kleines Palais, das einmal die Pattays für sich erbaut hatten. Aber sie wohnten jetzt alle beieinander in jenem letzten Haus, nach dem sie sich durchfrug.
Es war die Kirche zu Sankt Quirin, nicht weit von dem Platze Am Hof.
Die schwer gepolsterte Tür sank hinter ihr zu. Sie beugte das Knie mit einer tiefen, furchtsamen Höflichkeit. Aber sie tauchte nicht ihre Finger in das geweihte Wasser, um sich mit dem Kreuz zu benetzen, sondern ging auf Zehenspitzen, als wäre ihr Eindringen unerlaubt, ins Juwelenlicht der gemalten Fenster hinein.
Stille und Kühle. Die Kirche war leer. Nur von einer alten Frau, die in erdfarbener Kleidung, erdfarbenen Gesichts seitlich irgendwo kniete, kam ein Hüsteln und Brümmeln, und der Laut brachte den Morgen ihrer ersten Kommunion zu Elisabeth zurück. Ferne schien das. Sie war kaum in einer Kirche gewesen seither. Kehrte sie in ihren Ferien aus der Schweiz in das polnische Städtchen zurück und begegnete ihr da der geduldige Priester, der sie einst so schonend über die Schwelle geführt, so wurde sie rot und schlug ihre Augen nieder, als hätte sie ihn betrogen.
Und war es nicht so? Durch Geburt zwischen die Religionen gestellt, hatte sie nie zu einer ein Herz gefaßt und hatte wie selbstverständlich auf Gotteslehre und Gottesgeschichte immer nur geblickt wie auf ehrwürdige Märchen. Ein Gott, der die Menschen so böse erschuf, daß zu ihrer Erlösung sein anderes Selbst den Tod sterben mußte – für Millionen war er die Wirklichkeit und jedem zweifelnden Gedanken entrückt. Verriet es nicht eine Krankheit, einen trockenen Schaden an ihrer Seele, daß sie sich nicht einmal sehnen konnte zu glauben – weder an Chanas strengen, einsamen Gott noch an den sanften Helden am Kreuz und seine liebliche Mutter?
Schüchtern sah sie sich um. Vorne erweckten hohe, schwach brennende Kerzen das Inkarnat und Gold des Hochaltars zu umschleiertem Leben. Und dort, gleich rechts hinter dem geschnitzten Gestühl, begann auch die Reihe der Gräber.
Diese kleine Kirche zu St. Quirin war wie eine Familiengruft. Wenigstens auf der einen Seite des Schiffes lagen nur Pattays. Die frühesten von den Gräbern vermochte Elisabeth nicht deutlich zu sehen, da es ihr unstatthaft schien, den abgeschrankten, erhöhten Chor zu betreten. Aber auch die ersten unten im Schiff waren noch sehr alt, beschädigt die Figuren und die Schrift zersprungen.
Langsam ging sie die Jahrhunderte entlang. Im Panzerhemd ruhten die Steinritter über ihren zerfallenen Resten, die Hände im Schuppenhandschuh betend erhoben, mit aufgestelltem Visier. In einer Nische sah sie zwei winzige, schmucklose Särglein mit den Fußenden schräg gegeneinandergestellt; keine Inschrift nannte die Namen der zwei kleinen Grafen, die da ohne Geschichte gestorben waren. Daneben, aufgetürmt, das Ehrenmal eines Matthias Cornelius Pattay, Türkensiegers und Feldmarschalls, barock triumphal, mit tubablasenden Genien, Flügellöwen und starr flatternden Fahnen. Auch ein geistlicher Pattay war da, ein Bischof in Dalmatica und Inful, den kunstreich geschnitzten Krummstab zur Seite. Sein Bildnis aus gelblichem, zärtlich poliertem Stein war von allen das schönste. Dann kam eine sonderbar wüste Lücke; hier war Mauerwerk von der Wand gefallen, und niemand hatte es fortgeschafft. Zuletzt aber, schon in der Nähe der Tür, die ins Freie ging, erblickte Elisabeth den, den sie suchte.
Sie erschrak. Denn die Ähnlichkeit war vollkommen. Zug für Zug glich dieser Vater aus Stein seiner Photographie im silbernen Rahmen, die daheim auf dem Tischchen stand.
Nicht wie die andern lag er auf seinem Sarge ausgestreckt. Von einem Sarge war nichts zu sehen. Als einziger in der Reihe stand er aufrecht da, nur wenig erhöht, das mitten entzweigebrochene Wappenschild zu seinen Füßen. Noch erschien der Stein, aus dem er geformt war, allzu kalkig weiß, nicht geadelt vom Alter, und dieser Umstand verlieh der Porträtähnlichkeit etwas Unheimliches, beinahe Anstößiges.
Sie hatten ihn nicht im Soldatenkleid dargestellt. Er war barhaupt und trug einen gerade herabfallenden, fußlangen Mantel mit aufgemeißelter Kette und Kreuz: Ornat eines in der Familie hergeerbten Ritterordens. Dafür war der Ausdruck seines Gesichts völlig unfeierlich – die steinernen Lider lächelnd geschlossen, mit freier Stirn und freundlichem Mund stand da ein heiter unbeschwerter Herr seinem Kind gegenüber, das ihm die Tochter von sechzig wandernden, leidenden Geschlechtern geboren hatte, als er selber schon tot war.
Fast so sehr wie ihm selbst glich sein Steinbild dem Mädchen. Sogar das Cape, das sie trug – es war jetzt ein schwarzes, aus einem schweren, seidigen Stoff – fiel von ihren geraden Schultern ähnlich herab wie sein Ordensmantel. Die hellen Augen mit den goldenen Lichtern darin waren so langgeschnitten und waren eingebettet wie seine steinernen. Die kurze, feine Nase war die seine, das runde Kinn. Nur ihr Mund, der schon ganz ein Frauenmund war, zeigte in reicheren Kurven die Andeutung einer Üppigkeit, die unter einer südlichen Sonne gereift war – vor sechzig Geschlechtern.
Sie fühlte sich geisterhaft angerührt von der Begegnung. Aber sie war weder ergriffen noch traurig und bildete sich auch keineswegs ein, es zu sein. Und da sie nicht vergessen hatte, wem zuliebe sie hier war, setzte sie sich dem Steinmal gegenüber auf eine Ecke der Bank, nahm ihr Taschenbüchlein hervor und kopierte für Pjotr die Grabschrift, die seitlich auf einer Tafel angebracht war.
Dominus
Dom. Franciscus Otto
de Pattay et Schlern
Comes Palatinus
natus A. D. 1886.
defunctus A. D. 1914
R.I.P.
Darunter aber stand dies:
»Homo, natus de muliere,
brevi vivit tempore,
repletus multis miseriis, qui,
tanquam flos egreditur et conteritur,
et fugit velut umbra.«
Sie las das Geschriebene durch, und auf einmal kamen ihr vor der wunderbar einfachen Klage die Tränen. Unwillig schüttelte sie den Kopf über sich. Diese Worte paßten ja nicht einmal recht. Kurz freilich war Pattays Frist gewesen, seine Blüte zertreten worden vor dem Sommer – aber »repletus multis miseriis«? Ein Dasein voll Elend? Wer mochte diese Schriftstelle ausgesucht haben für den glänzenden jungen Herrn, der ihr Vater gewesen war?
Wie sie aus der Kirche heraustrat, schlug über ihr tiefdröhnend die Uhr viele Male. Es blieb ihr eben noch Zeit, den Zug zu erreichen.
Er fuhr von demselben Bahnhof, und es war sogar noch derselbe Zug, mit dem Pattay in seine kurze Zukunft abgereist war, vor zwanzig Jahren.
Das Bett, in dem Elisabeth noch im Vorjahr geschlafen hatte, war hinausgeschafft worden. Aber sonst erschien das weißlackierte Zimmer ganz unverändert. Von der Unordnung einer Krankenstube war nichts zu bemerken, keine umherstehenden Medizinflaschen und Schüsseln, keine Binden, Kompressen, Wattepakete.
Ein einziges Flakon, gefüllt mit winzigen, weißen Tabletten, stand auf dem Nachttisch. Und zur andern Seite von Chanas Bett ragte vom Boden auf ein hoher, massiger Eisenzylinder. Ein dünner Schlauch leitete Sauerstoff zu der Gummimaske, unter der die alte Frau laut und unregelmäßig atmete.
Elisabeth war mit der Kranken allein. Vor zehn Tagen war sie angelangt, und heute endlich hatte sie Recha, die in vielen Wochen das Haus nicht verlassen, zu einer Ausfahrt mit Pjotr bewegen können. Nun schlug ihr das Herz vor Verantwortung. Unverwandt sah sie zu, wie die schwarze Maske über Chanas Gesicht sich bauschte und wieder zusammenfiel.
Mit einemmal hörte diese Bewegung auf. Angstvoll faßte sie nach Chanas Hand und erhielt einen schwachen, beruhigenden Gegendruck. Sie nahm ihr die Maske ab. Chanas Gesicht erschien ganz so, wie Elisabeth es seit vielen Jahren gekannt hatte; nur die Partie unter den Augen zeigte sich bräunlich verfärbt und teigig gedunsen.
»Hast du gemeint, ich bin tot?«
In Chanas ausgebleichter Stimme war ein fernes Echo ihres brummenden Lachens von einst.
»Aber Tante Chana –«
»Nun, wir zwei brauchen einander nichts vorzumachen.«
»Fühlst du dich besser?«
»Besser! Ich kann dir sagen, Kind, diese Schmerzen da links – Als ob ein Berg drückte, aber von innen. Oh –«
Der welke, zersprungene Mund stand lechzend offen. Die Nasenflügel sanken ein. Elisabeth griff nach der Maske.
»Nein! Die Tabletten! Noch eine! Drei!«
»Aber Silbermann sagt doch –«
In Chanas Gesicht erschien ein solcher Ausdruck von Qual und Geringschätzung, daß Elisabeth ihr einfach den Willen tat. Chana zerbiß die Tabletten und schluckte. Fast augenblicklich glättete sich ihr Gesicht.
»Hilft immer noch«, sagte sie glücklich. »Nitroglyzerin, Bessie. Damit sprengen sie Felsen. Oh, wie gut –«
»Du wirst sehen, das bringt dich über die ganze Krankheit hinweg.«
Chana lachte. Diesmal war es wirklich das brummende Lachen von ehedem.
»Das glaubst du doch selbst nicht. Wozu auch! Genug gesprengt. Nächstes Jahr wär' ich achtzig –«
» Wirst du achtzig«, sagte Elisabeth.
Hierauf ging Chana nicht ein. »Ersticken wenigstens werde ich nicht«, erklärte sie sachlich. »Der Silbermann macht sich ja wichtig und sagte einem nichts. Aber dieser Professor aus Lemberg hat ganz vernünftig geantwortet. Er meint, es geht plötzlich zu Ende. Da reißt sich irgendwas los in der Ader, sagt er, so ein kleines Geschoß, und fliegt einem mitten ins Herz. Schön, Bessie, daß du noch gekommen bist«, sagte sie ohne Übergang.
Elisabeth legte zärtlich ihre Hand auf die hagere, bräunlich gefleckte. »Das sagst du jetzt. Aber hätte der Pjotr sich nicht einen Mut gefaßt –«
»Der Pjotr ist gut«, sagte Chana, und die vier Worte waren wie Placet und Siegel unter Pjotr Gargas' ganze Existenz. Sie wandte voll die Augen auf das junge Gesicht.
»Hübsch siehst du aus, Bessie. Schade, daß ich deinen Mann nicht mehr kennenlerne.«
»Wer denkt denn an so etwas, Tante. Ich bin noch nicht achtzehn.«
»Ich war auch nicht viel älter. Mein Mann war so fromm – der hat mich nie angesehen vor unserer Hochzeit. Sonst hätte er's wahrscheinlich sein lassen.«
Elisabeth lachte und preßte die Tränen hinunter, die vorquellen wollten.
»Bessie!«
»Ja, Tante?«
»Was werdet ihr anfangen, wenn ich tot bin?«
»Du sollst jetzt von so was nicht reden.«
»Wann soll ich denn reden davon? Bessie, ihr müßtet fort.«
»Fort von hier? Kannst du dir denken, daß Mutti das will?«
»Erst kommst einmal du. Du kannst doch nicht hier sitzen und Recha Staub wischen helfen.«
Sie schickte einen amüsierten Blick über die pedantische Ordnung des Zimmers.
»Hier schaut es wahrhaftig aus, als wäre schon alles vorüber – ausgeräuchert und aufgeräumt.«
Elisabeth nickte. »Es ist wie eine Manie«, sagte sie leise.
Jedesmal, wenn sie in den Ferien nach Hause kam, hatte sie diesen Ordnungs- und Reinlichkeitsdrang ihrer Mutter gesteigert vorgefunden. Pjotr mit seiner einen Hand hielt das kleine Haus untadelhaft sauber. Aber ruhelos bewegte Recha sich in den Zimmern umher, rückte Bilder und Spiegel gerade, spähte in Ecken und unter Teppiche und rieb Flecken hinweg, die nicht da waren. Sie trug Zeughandschuhe dabei, die ständig gewaschen wurden. Ihr Bedürfnis nach Körperreinheit war zur völligen Qual geworden. Sie hatte die Gewohnheit angenommen, vier-, fünfmal am Tage sehr heiß zu baden, was ihrer Gesundheit nicht zuträglich war. Als einmal auf ihrer Oberlippe ein kleiner Ausschlag erschien, hielt sie sich tagelang im verdunkelten Zimmer, betupfte die entzündeten Stellen unablässig mit Alkohol und zitterte vor Widerwillen gegen sich selbst.
»Ja, es ist krankhaft«, wiederholte Elisabeth, »man müßte einen Nervenarzt fragen.«
»Kind, das sitzt tief, dieser Ekel«, antwortete Chana und schloß ihre Augen. Mit der Klarsicht derer, die abscheiden, zog sie die Linie zum lange Vergangenen. Hinter ihren geschlossenen Lidern sah sie die Hütte und das traurige Höfchen von Wieniawa, sah sich selber eingesperrt in der Kammer, wie sie rasend am Riegel rüttelte, und draußen den Greuel: die zwei schwarzen Gestalten, die da von den Bäumen schwankten, und die Kosaken, die sich gleichmütig hermachten über das vierzehnjährige Kind.
»Ihr müßt fort«, sagte sie wieder. »Macht zu Geld, was ihr könnt. Wartet nicht lange. Hier wird's wieder schlimm.«
»Meinst du wirklich? Solange der Marschall lebt –«
»Der Marschall! Er soll sich sonderbar aufführen in seinem Warschauer Schloß. Und um ihn herum, hinter ihm, da sind Leute … Oh, Bessie«, stöhnte sie auf, »der gräßliche Druck – es fängt wieder an –«.
»Du sprichst auch zu viel, Tante Chana.«
Elisabeth kniete vor dem Bett und legte ihre Wange auf die Hand, die über den Rand hing. Chana beruhigte sich. Ihr Atem ging gleichmäßiger.
»Deinen Großvater haben die Tiere ermordet«, hörte Elisabeth sie sagen, »und dann deinen Vater.«
Erschrocken blickte sie auf. Da sah sie, daß Chana lächelte mit ihren zersprungenen Lippen.
»Nein, Bessie, ich rede nicht irre. Du meinst, dein Vater sei im Kampf mit den Russen gefallen. Es ist aber nicht so. Der Mensch, den er damals abgestraft hat vor dem ›Erzherzog Rainer‹, der hat ihn ermordet.«
»Der Rittmeister Schaller?« fragte Elisabeth ungläubig.
Sie kannte die alte Geschichte. Immer erzitterte ihr das Herz vor Vergnügen, wenn sie daran dachte. Noch kürzlich, vor dem Steingesicht in der Wiener Kirche, hatte sie sich ihrer erinnert.
»Der Schaller?« fragte sie noch einmal. »Aber wann denn, wie denn? Es kam doch nicht zum Duell.«
»Duell! Hast du schon einmal gehört, daß solch ein Schuft sein Leben riskiert?«
Ihre Stimme klang kräftig. Ihre Augen flackerten vor Abscheu und Haß. Mit einer unbekümmerten Bewegung drehte sie sich Elisabeth zu.
»Nicht, Tante Chana? Du mußt doch still liegen.«
»Ich liege noch lang genug still. Bessie – deiner Mutter habe ich's niemals erzählt. Besser, sie glaubt, was alle geglaubt haben. Aber du sollst es wissen –«
Erstaunlich, wie alle die Fakten in ihrem Gedächtnis hafteten, die sie damals in der verlassenen Kaserne dem eitlen Geschwätz des Schreibers hatte entnehmen können. Wie Pattay seine Ulanen im Dorf zurückließ, um allein über den Hügel weiterzureiten. Wie seine Leute die Schüsse hörten und wie sie ihm nachfolgten und wie sie ihn fanden, sein Pferd neben ihm grasend, und von den Russen weit und breit keine Spur –
»Und er hatte die Schüsse im Rücken, Bessie! Dieser antisemitische Schweinehund hat es getan.«
Sie hatte sich aufgerichtet in ihren Kissen. Und Elisabeth lauschte mit solcher Anspannung, daß sie nicht mehr daran dachte zu warnen.
»Das vermutest du aber alles nur, Tante Chana«, rief sie, »wissen kann man es nicht.«
Chanas Gesicht wurde fleckig rot. Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Ich weiß es. Als wär' ich dabeigewesen, so weiß ich es. Dein Vater hat sterben müssen, weil er in uns Juden Menschen gesehn hat. Und ist das nicht schön?«
Elisabeth nickte. Sie atmete kaum.
»Paß auf – so ist das gewesen. Der Hund war ganz in der Nähe. Er sieht deinen Vater über den Hügel reiten. Er reitet ihm nach – unten herum. Er schneidet Pattay den Weg ab. Geräusch macht es keines, da unten ist lauter Sumpf. Dann legte er sich auf die Lauer, versteckt sich, und wie dein Vater daherkommt, mit den Augen zum Feind, da zielt er und jagt ihm von hinten die Schüsse hinein in sein anständiges Herz – –«
Sie saß aufrecht im Bett. Sie gestikulierte, während sie sprach. Auf einmal warf sich ihr Körper in schnellender Bewegung seitlich zurück, ihr Kopf hing über den Bettrand, der Mund stand weit offen, und ihm entbrach ein Schrei – hoch schrillend, zerreißend, entsetzensvoll.
Elisabeth umfaßte Chanas Kopf mit den Händen. Von den Augen war nur das Weiße zu sehen. Es kam noch ein Laut, ein Gurgeln und Ächzen, aber er kam schon von jenseits der Grenze. Wie sie's vorausgewußt, so war das Ende gekommen. Ein Blutgeschoß hatte sich losgerissen in ihr und war hineingeschleudert worden mitten in ihr starkes, anständiges Herz.
Der Krokus und die weißen Narzissen, die man auf Chanas Hügel gesät hatte, blühten dicht in die Höhe, lang vor der Zeit. Fast ohne Übergang kam ein warmer, leuchtender Frühsommer in das Dnjestrtal.
Elisabeth empfand es wie ein Unrecht an der Verschwundenen, als sie sich nach langen Wochen eines traurigen Stillsitzens hinauszusehnen begann in Sonne und starke Bewegung. Aber sie wußte auch, daß Chana als erste über solche Skrupel gelacht haben würde. Und dort, gleich unten vorm Garten, lud der Dnjestr zum Bade ein, breit, voll, mit rasch und lautlos ziehenden Wogen.
Sie war eine leidenschaftliche Schwimmerin. Während der Schweizer Jahre hatte sie zwischen März und November das Vergnügen in dem herrlichen See kaum einmal versäumt. Sie schwamm nicht kunstgerecht, aber ausdauernd; ihre gesunde junge Brust, ihre geraden Schultern und kräftigen Arme gaben mühelos her, was sie ihnen abforderte. Sie fühlte sich köstlich frei und zu Hause im Element.
Sie entschloß sich doch endlich.
»Heute werde ich einmal baden, was meinst du?«
»So früh im Sommer?« antwortete Recha. »Es wird noch nicht offen sein.«
»Offen?« Bessie verstand nicht.
»Und außerdem, Bessie, ich weiß nicht – diese Menschen dort in der Anstalt, viele sind schmutzig, man holt sich etwas –«
Elisabeth nahm den Arm ihrer Mutter und führte sie die niedrige Eibenhecke entlang, die den Garten gegen das Flußbett hin abschloß.
»Doch nicht drüben in dieser Bucht! Die ist für Frösche und ganz kleine Kinder. Schau – der Dnjestr ist sauber, wenn er auch gelb ist. Da holt man sich nichts.«
»Im offenen Fluß willst du baden! Das tut doch kein Mensch. Der Dnjestr ist reißend.«
Aus Rechas Stimme klagte bleiches Entsetzen. Es war ergreifend und komisch. Elisabeth senkte den Kopf. Von der Härte unbekümmerter Jugend war nichts in ihr, und wohl begriff sie den leidenden Egoismus ihrer Mutter, deren Dasein Verlust und Verzicht gewesen war. Sie schickte einen abschiednehmenden Blick über die ziehende Weite.
Aber am Abend, nach der Mahlzeit, trug sie doch ihren Kummer hinüber zu ihrem Vertrauten. Er saß auf dem Bänkchen vor der kleinen Garage, in der auch sein Zimmer war, und rauchte aus einer Tonpfeife. Wie er Elisabeth kommen sah, stand er auf und klopfte die Pfeife aus.
»Laß doch den Unsinn, Pjotr. Ich rauche ja auch.«
»Ausklopfen und Anzünden ist das halbe Vergnügen«, sagte Pjotr sentenziös, und steckte die Pfeife ein. »Ein alter Mann muß wissen, was sich gehört.«
Obgleich dazu Mitte der Vierzig kaum Anlaß war, sprach Pjotr neuerdings gerne von seinem Alter. Er schien die Altersvorzeichen zu lieben. Seitdem er zu ergrauen begann, ließ er sich bis zur Wangenhälfte hinunter schmale Bartstreifen stehen – eine Tracht, die vage an habsburgische Zeiten gemahnte und seinem rasierten, starkknochigen Bauerngesicht eine verschollene Distinktion gab.
Bessie setzte sich neben ihn, und er hörte ihr zu.
»Da hat die Frau Mama nicht so unrecht. Der Dnjestr ist reißend.«
»Aber Pjotr – was soll denn da reißen! Schnell ist er, nichts weiter.«
»Na, Fräuleinchen. Ich hab' es einmal probiert, gerade hinüberzuschwimmen. Da kam ich weit unten an Land.«
Elisabeth gab keine Antwort. Er lachte.
»Ich weiß schon, was Sie sich denken: Du natürlich mit einem Arm.«
»Daran hab' ich durchaus nicht gedacht«, sagte Bessie verlegen. »Gegen die Strömung kann man nicht schwimmen. Aber hinuntertragen lassen könnt' ich mich doch, und dann einfach zurücklaufen.«
»Jawohl! Im nassen Anzug und Lungenentzündung bekommen.«
»Ich sehe schon«, sagte Bessie entmutigt, »an dir habe ich auch keine Hilfe. Steck wenigstens deine Pfeife wieder an.«
Sie saßen rauchend nebeneinander und schwiegen. Drüben im erleuchteten Hause sah man Recha sich durch die Zimmer bewegen, haltmachen vor einer Stelle der Wand und geraderücken, was gerade hing. Über das Wasser her kamen, rasch nacheinander und scheppernd, neun Schläge von einer Kirchenuhr. Neun andere folgten, weiterher, dumpfer und langsam. Dann war wieder alles still, und man hörte die Grillen.
Am nächsten Nachmittag trat Pjotr unvermutet in Elisabeths Zimmer. Er nahm zeremoniell seine Mütze ab.
»Wenn das Fräulein jetzt schwimmen will – ich wäre bereit.«
»Du, Pjotr, wieso? Sollst du vielleicht nebenherschwimmen?«
»Herfahren«, antwortete Pjotr mit feinster Artikulation.
»Im Wagen neben mir her! Hast du dir das ausgedacht?«
»So wird die Frau Mama sich nicht ängstigen. Sie hat es wenigstens versprochen.« Pjotr lächelte mit behutsamem Stolz auf seine Diplomatie. »Sie schwimmen, Fräuleinchen, solang's Ihnen Spaß macht – und dann steigen Sie ein.«
»Das kommt mir doch eher albern vor«, sagte Elisabeth schwach.
Es wurde ihre beste Stunde am Tag, den ganzen Sommer hindurch. In ihrem stahlblauen Trikot lief sie durch die Hecke über den Uferstreifen ins Wasser. Oben auf der Straße setzte Pjotr den Wagen in langsame Bewegung. Der Wagen war wieder ein Fiat, aber diesmal ein Kabriolett und dunkelweinrot lackiert.
Die Straße lief über dem Fluß hin. Pjotr brauchte keinen Moment seine junge Herrin aus den Augen zu lassen, die dort von den lautlosen Fluten sich wiegen ließ, vorwärts schnellte, stillezuhalten schien, sich wohlig warf. Sie hatte eine sportlich nicht sehr korrekte Art, den Kopf hochgereckt überm Wasser zu tragen. Das Licht blitzte auf ihrer glatten, blauen Kappe. Auf einmal war sie verschwunden, tauchte lang, und obwohl Pjotr nun wußte, wie sicher sie war, wurde ihm jedoch während dieser Minute seine Hand krampfig am Lenkrad. Aber da war sie wieder, hob grüßend einen glitzernden Arm zu Pjotr hinauf. Sie schwamm zwei Meilen, schwamm drei. An einer flachen Stelle stieg sie ans Ufer, lief die Böschung hinauf, er stand schon bereit und hüllte sie ein in den Mantel.
»Pjotr, was war das für ein Automobil, das da vorhin vorbeikam?«
»Das war unser Herr Polizeichef.«
»Lubecki?«
»Jawohl. Fräulein Jadwiga mit ihrem bestechlichen Schwein von Papachen.«
»Hast du bemerkt, wie sie anhielten? Die werden schön lachen über uns.«
»Das werden wir mit Geistesstärke ertragen«, antwortete Pjotr.
Sie waren zurückgelangt, Recha stand hinterm bewachsenen Gitter, wie jeden Tag, und bestrebte sich, gleichgültig auszusehen.
»Da seid ihr ja«, sagte sie, so wie jeden Tag, und bog mit ihrer Hand eine unbotmäßige Ranke ordentlich zwischen die Stäbe zurück.
Aber die schönen Monate währten kurz, und wie in diesem Jahr die Wärme plötzlich gekommen war, so fiel auch unerwartet ein früher Winter ein. Ungegliedert, ohne Verlockung streckte sich vor Elisabeth eine klösterlich abgeschlossene Existenz aus, bevölkert von alten Menschen.
Pjotr allein war nicht alt. Sprach er davon, daß er's sei, so klang es halb wie ein Spiel, halb wie Ungeduld. Als lebten in seinem redlichen Herzen noch Wünsche und Unruhen, die es ihn verlangte, bald dahinten zu lassen.
Alt war Fräulein Skarga. Sie hielt sich straff aufrecht und war fähig zu langen Gängen mit Bessie, am vereisten Fluß hin, wie in früheren Wintern. Aber seit sie vor bald drei Jahren ihr Lehramt quittiert hatte, war die letzte Verbindung gerissen zwischen ihr und dem Tag. Sie lebte rückwärtsgewendet. Mit der Tür ihrer kleinen, verschollen möblierten Wohnung tat sich ein totes Jahrhundert vor Elisabeth auf.
Alt vor der Zeit war Herr Gelbfisch. Treu, hingebungsvoll, stillgeworden, nahm er beinahe jeden Abend seinen Platz ein am Ofenfeuer der Villa. Seine bescheidene Figur schien vollends zusammengesunken unter Desillusion und lastender Ahnung. Sein Haar war grauer als Pjotrs.
Aber Recha war weiß. Das reiche, reine Silber stand ergreifend zu ihrem bräunlichen Gesicht mit den wehrlos blickenden Augen. Die schmal gebliebene Gestalt, die fürstlich geformten, empfindlichen Hände, alles erschien hauchhaft gebrechlich an ihr, obgleich Recha nie krank lag.
Seit Chanas Hingang gab es für sie keinen Daseinsinhalt außer Elisabeth. Sie war von einer unterwürfigen Zärtlichkeit gegen ihr Kind. Nie kam es vor, daß sie ihr etwas befahl. Aber ihre Liebe, ein stiller und leidender Fanatismus, war tyrannisch in seiner angstvollen Ausschließlichkeit. Es wurde ihr zur untragbaren Qual, das Mädchen allein zu lassen. Unwiderstehlich getrieben, öffnete sie ihre Tür.
»Wo bleibst du denn, Bessie?«
»Aber wo werde ich sein? Ich übersetze ein bißchen.«
»Mir war plötzlich so bang.«
Sie konnte halbe Stunden lang wortlos neben ihr sitzen und ihre Hand halten wie die Hand eines Geliebten. Und es war nicht anders. Es war Pattays Hand, die sie hielt. In Elisabeth wandelte leibhaftig, stark und schön das kurze Glück, das die ganze Blüte und Frucht ihres früh verstörten Daseins gewesen war.
Elisabeths Herz zog sich in Beklemmung zusammen. Ihr war, als müsse sie ewig so sitzen, ihre Hand in dieser zerbrechlichen, ausgeliefert dieser armen, nie zu stillenden Liebe.
Sie setzte sich tapfer zur Wehr gegen die pressende Lebensangst. Sie wollte dergleichen nicht denken. Allzu leicht, sie wußte es wohl, übertrug sich auf Recha, was in ihr vorging.
Aber es war schon zu spät.
»Wozu bin ich noch da«, klagte die scharfe und süße Stimme, »dir nur zur Last! Ich hätte sterben sollen statt Chana.«
»Mein Geliebtes, was quälst du dich!«
Bessie umfing sie, küßte die schmale Wange, das weiße Haar. Ohne es selbst recht zu wissen, gab sie Recha nie mehr den Mutternamen. Sie war von Chana allein gelassen worden mit einem verängsteten, vom Leben grausam behandelten, hinfälligen Kind. Aber es war ein Kind, das tragisch Bescheid wußte.
»Weißt du, Bessie, mir hat das Leben nichts zugeleitet, mich wenig gelehrt, ich habe nichts gesehn, nichts erfahren. Nun sitze ich mit leeren Händen da und habe nur dich.«
Wenig gelehrt, nichts erfahren. Aber war es wirklich zu spät? Die Welt stand offen. Und da war Chanas strenge Ermahnung, diesem polnischen Land den Rücken zu kehren, bevor es zu spät sei.
Chana hatte Gefahren dabei im Auge gehabt, jene politischen Wolken, unter deren Schatten Heinrich verstummt war und in sich zusammensank. Vielleicht aber bedeutete solch ein Wechsel zugleich auch Heilung und Glück für Recha – und eine Befreiung für sie selbst.
Doch das Problem war entmutigend. Elisabeth vergegenwärtigte sich die lautlose, eingefriedete Existenz ihrer Mutter. Kaum verließ sie mehr das Haus und den Garten. Eine Fahrt ins Städtchen hinüber war ein Entschluß. Elisabeth fürchtete, sie zu verstören mit dem ersten andeutenden Wort.
Keinesfalls durfte sie sprechen, ehe ein klarer, vernünftiger Plan in ihr feststand. Und da war niemand, dessen Rat sie vertraute.
Heinrich vorzeitig einzuweihen verbot sich durchaus; allzu tief schnitt eine solche Veränderung in sein eigenes Dasein ein. Fräulein Skarga? Die zeitabgewandte Jungfer war seit ihren Jugendtagen niemals gereist. Der weltunkundige Krasna war tot, sein Sohn und Nachfolger im Notariat ein pedantischer Ehrenmann von geringer Erfahrung. Der eine aber, auf dessen redliche Klugheit sie immer baute, Pjotr, vermochte gerade hier nicht zu dienen.
Die Entscheidung entglitt ihr. Sie fühlte sich hilflos. Schließlich war sie ein neunzehnjähriges Kind.
Da kam, schon gegen das Frühjahr, ein umfänglicher Brief aus der Schweiz. Madame Dieudonné wiederholte ihr Angebot. Lisa, schrieb sie, sei jetzt mit ihrer Mutter allein; da werde eine Verpflanzung weniger schwierig sein als zu Lebzeiten ihrer alten Verwandten. Und bald zu handeln sei weise. Niemand könne voraussehen, wie lang eine Übersiedlung ungehindert noch möglich sein werde. Überall zittere schon der Boden unter den Vorstößen kommenden Unglücks.
Was sie selber betreffe – sie habe bei Lisas Fortgang doch nicht geahnt, wie sehr sie ihr fehlen würde. Ihr Haus, trotz all der Jugend, die es bevölkerte, sei ihr einsam geworden. Übrigens komme hinzu, daß eben jetzt zwei Lehrkräfte ausgeschieden seien: Fräulein Dinklage wegen nervöser Unverträglichkeit, die sich seit dem Umsturz in Deutschland jählings bei ihr entwickelt habe, und Miss Abercrombie durch Heirat. Lisa werde reiche Tätigkeit vorfinden.
Sie ging aber weiter. Jener Gedanke, ihr Lebenswerk später einmal ganz in Elisabeths Hände zu legen, träumerisch hingesprochen von ihr an jenem letzten Nachmittag – er war jetzt mehr als ein Luftbild. Verschlug es wirklich so viel, ob dann Lisa ein paar Jahre mehr oder weniger zählte? Hatte sie nicht unter den Kindern eine Art Autorität und Verehrung genossen, als sie fast selbst noch ein Kind war? Scherzhaft erinnerte Madame Dieudonné an die verschwundenen Taschentücher. Und dann – wer wisse, wie bald – werde sich Lisa ja auch verheiraten, mit einem Mann aus gelehrtem Stande etwa, um Arbeit und Verantwortung mit ihm zu teilen. Madame Dieudonné hatte ihren praktischen Wunschtraum sorgfältig ausgebaut.
Es folgten unmittelbare Vorschläge. Sie warf ein Jahresgehalt aus, das in Anbetracht ihrer ökonomischen Vorsicht stattlich genannt werden mußte. Verlockend beschrieb sie die Wohnung, die sie bereithielt. Es handelte sich um die oberen Zimmer im Seitentrakt – Lisa kenne sie ja –, freundlich und mit Geschmack eingerichtet, übrigens frisch tapeziert, und alle drei mit dem vollen Ausblick über die Stadt und den See. Gewiß würde auch Lisas Mutter sich wohl fühlen, abgesondert, wie sie da wäre, und fröhlichem jungem Leben doch nahe.
In Elisabeth strahlten alle Hoffnungen auf. Dieser Brief war ein Fingerzeig, war der Weg. Augenblicklich begann sie sich mit den Einzelheiten der großen Änderung zu befassen.
Wie vor allem war Pjotr einzuordnen in diesen Plan, der keines Menschen Sprache verstehen würde dort in der Schweiz? Denn daß es von Pjotr nie eine Trennung gab, war das eine, was feststand.
Sie schwieg noch. Sie wartete ihren Augenblick ab. Alle Zeichen schienen günstig zu stehen. Sie durfte hoffen, Recha weniger lebensscheu und unzugänglich zu finden als seit langer Zeit. Dafür gab es ein kleines, ermutigendes Symptom.
Noch nicht eine Woche war es her, da hatte Herr Gelbfisch von einem Kunstereignis berichtet, das im Städtchen erwartet wurde. Ein Virtuose von Weltnamen sollte auf einer Tour durch das Land mit dem hauptstädtischen Orchester auftreten. Eindrucksvolles, populäres Programm: Szymanowski, Brahms und das große Violinkonzert von Tschaikowski. Es war die erste Darbietung solcher Art hier am Ort. Die Sitze waren nahezu ausverkauft.
Zu Elisabeths ungläubiger Freude hatte Recha den Wunsch geäußert, auch hinzugehen. Es stellte sich heraus, daß sie den Künstler in ihrem vergangenen Leben gekannt hatte. Sie beschrieb den berühmten Mann, wie er ihr erst in Berlin, später mehrmals in Warschau erschienen war: unscheinbar von Gestalt, mit dem beunruhigend anziehenden Kopf eines melancholischen Knaben, gar nicht eitel, wunderbar klug und über vielerlei Gegenstände feurig beredt.
Elisabeth hörte dem zu wie einem wehmütigen Märchen. Daß ihre Mutter einmal einer Welt angehört haben sollte, in der man den Pfad solcher Menschen kreuzte, daß sie geschmückt, hinterm Rampenlicht an hundert Abenden selber begrüßt und bestaunt worden war – so gar nichts erinnerte mehr daran, daß es wehe tat. Elisabeth stand auf und ging aus dem Zimmer, denn sie mußte weinen.
Aber sie war voller Zuversicht. Sie trug Madame Dieudonnés Brief auf der Brust wie den goldenen Schlüssel zum Tor der Welt. Am Abend nach dem Konzert, wenn Recha, das Herz gelockert durch die Musik, heimkam von ihrem festlichen Ausflug ins lang Entwohnte, dann war der Augenblick da, um zu reden.
Elisabeth war an dem Tage wach vor der Zeit. Der lange Morgen verging nicht. Am Nachmittag vermochte sie nicht länger stillzuhalten vor froher Vorwegnahme.
Drüben in seiner Garage putzte Pjotr am Wagen.
»Pjotr«, rief sie ihm zu, »mir sagt's mein krummer Finger, wir werden verreisen.«
»Wohin denn! Nach Lemberg?«
»Lemberg! Du wirst dich noch wundern.«
»Wenn's bloß nicht Jakutsk ist, Fräuleinchen. Da wär' ich dagegen.«
Sie lachte und schritt aus, die Straße entlang.
Trüber Tag. Der Dnjestr ging hoch, mit treibenden Eisschollen. Ein grauer, wattiger Himmel verfloß mit dem märzlichen Land, aus dem jede Farbe gewichen schien. Aber sie wanderte stürmenden Schritts ihrem leuchtenden See zu und den Matten des Waadt und des Valais.
Es wurde dunkel. Sie befand sich so weit von Haus, daß sie einen Rollkutscher, der mit seinem Pferdchen leere Fässer zur Stadt fuhr, bitten mußte, sie mitzunehmen. Sie kam nur eben zurecht, sich noch umzukleiden.
»Gleich bin ich soweit«, rief sie zu Recha hinüber, denn schon hörte sie Pjotr den Wagen vorfahren. Als keine Antwort kam, ging sie hinüber zu ihr.
Recha saß vor dem Toilettentisch, im schwarzsamtenen Kleid mit ihrer Brustkette aus kleinen goldenen Schilden, reglos, die bekleideten Hände im Schoß, den sorgsam frisierten Kopf gesenkt und in Tränen.
Es war unüberwindlich. Sie vermochte es nicht. Der Gedanke an das Gedränge, den erleuchteten Saal, die weißen Gesichter, die Stimmen, an die mächtige Musik selber sogar, machte sie ersticken vor Angst. In rührenden Ausdrücken bat sie Elisabeth um Verzeihung.
Sie hatte gekämpft, man sah es ihr an, und war unterlegen. Das verriegelte Tor in die Welt – der goldene Schlüssel schloß es nicht auf. Elisabeth brauchte zwei Herzschläge Zeit, sich zu fassen. Sie schob einen Schemel heran.
»Niemand zwingt dich, Geliebtes. Unter uns: er soll längst nicht mehr gut sein.«
Aber während sie redete und die Hand ihrer Mutter hielt, schlich durch ihr Herz eine Erinnerung, vor der sie erschrak.
Es war auf dem Wawel in Krakau. Der Fremdenführer hatte die Gewölbe unter der Kathedrale gezeigt. Er war düster gesprächig. Er erzählte von Toten, die sich in abgeschlossener, versiegelter Gruft lebensähnlich erhalten, aber beim geringsten Zustrom von Luft in sich zusammenfallen und Staub sind.
Zu jener Zeit schloß der Marschall und Großvater seinen Pakt mit den Deutschen. Das Wolfsgeheul von dort drüben verstummte; das Gezeter über schlecht behandelte Blutsgenossen, das Brüllen nach Grenzregulierung, es wurde abgedreht wie eine Leitung mit Jauche. Der Mißduft verzog sich.
Freundschaft also und guter Wille auf zehn lange Jahre, unterschrieben, besiegelt, beschworen. Kein rauhes Wort mehr gegen den Nachbar. Waffengewalt, durch Staatsakt und Manneswort perhorresziert und geächtet. Wahrhaftig, da hatte der Marschall mit einem Meisterschlag sein altes Leben gekrönt.
Alles in Polen atmete auf, Beherrschte und Herrschende.
Der Arbeitsmann in den Slums von Warschau und Łódź, schuftend um ein Fünftel des Lohns, den man seinem Kameraden in Leeds oder Pittsburgh bezahlte; der Bauer im übervölkerten Dorf, so auf die Notdurft beschränkt, daß ihm der Ankauf von ein Paar Stiefeln sein trostloses Jahresbudget umstieß – sie wußten, daß nun wenigstens kein Krieg sein würde, und sie waren dankbar.
Dankbar waren andere auch, aus anderen Gründen.
Die Gutsherren auf ihren weiten, dilettantisch verwalteten Ländereien, die christlichen Häupter der Industrie, die gottgleich schreitenden Militärs, das angeschwollene Heer der Beamten und Staatspfründner, sie alle kannten nur eine Angst: die vor der verschlossenen, trächtigen Welt, die da von der östlichen Grenze ungeheuer sich ausstreckte über ganz Asien. Dorther, von der fürchterlichen Doktrin, die sich gegen jede Voraussage und Verfemung seit bald zwei Jahrzehnten lebendig erhielt, war ihr Alles bedroht: Bodenbesitz, industrielles Diktat, Erbschlösser und Warschauer Stadtpalais, Kastenprivileg und -distanz.
Gegen diese Todesgefahr der Gefahren war der deutsche Gewalthaber der natürliche Bundesgenosse. Aber er wollte ja nicht. Zwar heulte er unverdrossen seine Kreuzzugsparolen gegen den Kremlin. Zugleich aber schäumte der Böse kaum minder wüst gegen Polen, dessen adlige und besitzende Herren zum Hochzeitskuß mit dem belfernden Strolch so bräutlich bereitstanden.
Nun hatte der Marschall es doch noch geschafft. Er war noch zu brauchen, der Alte. Freudenfeste wurden gefeiert auf Schlössern und Landsitzen und in den Appartements mit den hohen Plafonds an der Avenue Szucha.
Die einzigen, die sich nicht freuten, waren die Juden. Drüben, im erwachten Germanenland, wurden ihre Brüder zum Vieh degradiert, zerprügelt, verstümmelt, ohne Ahndung erschlagen. Was konnte allein, was mußte auch hierzulande die Frucht dieses Bundes sein! Wieder saßen die Händler und Handwerker hinter verriegelten Fensterläden im Dunkel, den Gebetsmantel um die Schultern geschlungen, da der sie verraten zu haben schien, auf den sie gebaut hatten.
Aber es war nicht an dem. Zwar von dem Volksmann von einst, dem stürmenden Streiter für gleiches Recht und für Brot, war nicht mehr viel übrig. Man ist nicht umsonst so lang an der Macht. Sein Geist, erschöpft von allzuviel Schicksal, verlor sich auf Schattenwegen. Jähe Eruptionen von Ekel und Zorn wechselten ab mit langer Ermattung. Seine Militärs und Privilegierten, die »Obersten«, schlossen dichter den Ring um ihn und verstellten seinen geschwächten Augen den Ausblick.
Doch er sah zwischen ihren Schultern hindurch. Er kannte das Spiel, das da anlief seit seinem Pakt. Es war das alte Spiel der Zarenregierung. Alles im Land, was befahl und schmarotzte, atmete köstliche Morgenluft. Er kannte dies kunstreiche Crescendo in der Presse – wie da von Monat zu Monat das Ziel bei immer vulgäreren Namen genannt wurde. Unter den Studenten gab es inszenierten Krawall. Wanderredner zogen durch die hungernden Ebenen und klärten die Bauern auf über die beschnittenen Teufel, die da in ihrer Mitte von Wucher, Betrug, Mädchenhandel und Zauberkniffen sich mästeten.
Das Ärgste geschah ihnen nicht. Im verwölkten Gemüt des Alten flackerte ein Licht von Anstand und Wahrheit fort, entzündet in jener fernen Zeit, als hebräische Schwärmer und Waffenfreunde neben ihm geblutet hatten für ein freies Polen. Er hielt seine nicht mehr stete Hand über die Wehrlosen, schützte ihr Leben und, wo er's vermochte, ihr Eigentum. Die randalierenden Hochschulknaben unterwarf er dem Zugriff der Polizei. Mit einem Federzug verbot er eine ungeduldige neue Partei, die sich »Nara« benannte und deren eingestandenes Ziel der Pogrom war.
Er sah auch noch klar genug, um an seinen eigenen Pakt nicht zu glauben. Vermutlich verachtete er den kreischenden Seher und sein Rudel noch mehr als die russischen Knutengeneräle von einst. Nein, es gab keinen Bund mit den Wölfen. Er zuckte seine schweren Achseln über diese zehnjährige Freundschaft.
Was er gewollt hatte, war Aufschub. Der war erreicht. »Jeder Tag ohne Krieg ist Gewinn«, wurde seine stehende Wendung. Und er trieb die Obersten an, zu rüsten, zu rüsten, damit Polen ein Wall und Widerpart sei gegen den reißenden Freund, wenn der seine Berge von Stahl heranwälzte am Tage des Paktbruchs.
Die Obersten hatten viel mehr Vertrauen als er. Was zweifelte eigentlich dieser Gewesene an der prächtigen Armee, die er selber geschaffen hatte? War nicht der polnische Soldat als todesmutig berühmt? Vor allem war da die Kavallerie, unvergleichlich beritten und hochtrainiert, ein trostreich erhebender Augenschmaus für jedes patriotische Herz.
Und dann – es kam ja kein Krieg. Der Alte sah Gespenster. Die Obersten fühlten solch tiefe, brüderliche Sympathie für diesen Führer und Kanzler. Er war ihr bestauntes Vorbild. Genau solch einen Staat zu errichten, wie seiner war, rassenrein, judenfrei, autoritär, war ihr innigster Traum. Wie sollte seine Liebe nicht dauern.
Freilich – auch für sie drängte die Zeit. Noch war das Land eine Art Republik. Da gab es ein Parlament, in dem alles Gesindel Gesetze beschloß und Gesetze zu Fall brachte. Bauernvertreter, Sozialisten, ukrainischer Pöbel, weißrussischer, und sogar diese Juden. Das mußte weg. Blieb etwas stehen vom Parlament, dann nur eine Stuckfassade mit der Leere dahinter. Alle Gewalt dem Präsidenten, ihm die »eine, unteilbare Autorität« – einbegriffen das Recht, seinen Nachfolger selbst zu ernennen. Den Nachfolger hielten die Obersten schon bereit. Und daß sich künftig das Amt in der richtigen Linie fortpflanzte, dafür würde gesorgt sein.
Aber der Coup war nur möglich, solang der Alte noch lebte. Nur sein jeder Frage entrücktes Prestige, sein geheiligter Namenszug, legitimierte den Umsturz. Ihm die Hand zu führen konnte so schwer nicht sein. Längst war er aller Parteiungen und Fraktionen tief überdrüssig, verachtete die Debatten der gewählten Vertreter als Gezänk und Gewäsch. Man ist nicht umsonst so lang sein eigenes Denkmal. Legte man ihm jetzt einen Beschluß auf den Tisch, worin das Parlament sich selber entmachtete – er würde nicht nein sagen.
Alles kam darauf an, daß am entscheidenden Tage die Opposition an der Sitzung nicht teilnahm. Dann, wie der Blitz aus der Nacht, der Antrag, das Votum – und die Anmarschstraße zu Polens wahrer Größe lag frei.
Lautlose, fiebernde Tätigkeit. Dem Marschall waren nicht mehr viele Wochen gegönnt. Da war im tiefsten Geheimnis dieser Professor aus Wien ins Belvedere gerufen worden. Krebs der Leber – dem Sterbenden blieb das Urteil verborgen, den Emsigen nicht. Und wirklich, mit Trick und Schlich, mit Pfiff und Kniff kam man durchs Ziel. Zwischen einem Spiel Patience und der Fütterung seiner Tauben schrieb der Marschall-Befreier seinen legendären Namen unter diese neue Verfassung vom 23. April 1935. Ein paar Tage darauf war er tot.
Volkstrauerwoche. Düsterer Pomp. Vorbeizug der Zehntausende vorm Katafalk in der Kathedrale der Hauptstadt. Elisabeth las davon in der Zeitung. Sie las seit neuerem die Zeitungen sehr genau. In diesen Tagen waren sie voll von feierlichen Details. Sie las von der bevorstehenden Überführung auf den Wawel in Krakau, damit der Volksbefreier dort liege bei Polens Helden und Königen. Sein Herz aber sollte nach seinem Wunsch in Wilno zur Ruhe gelegt werden, zu den Füßen seiner Mutter.
Abends sprach Heinrich von dem versunkenen Tag, da der Großvater und Marschall hier eingeritten war, um von der Rathaustreppe zu sprechen.
»Immer hat er dich angesehn dabei, Bessie. Seine Worte waren tröstlich und edel. ›Glaubt nicht an die Lehre von der Abstammung und vom Blut! Hundert Jahre lang haben unsere Kinder früh weinen lernen, das soll nicht mehr sein.‹ Und immer die Augen auf dir, auf deinem schottischen Kleidchen. Ich seh' es noch vor mir.«
»Es ist noch vorhanden«, sagte da Pjotr, der den Kaffee servierte. Alle waren erstaunt. Pjotr ging und kam sogleich wieder.
Es war ganz unglaubhaft winzig. Ausgeblichen die roten Karos. Gürtelchen und Kragen vergilbt. Aber zerdrückt war es nicht. Offenbar war es sorgfältig aufgehängt, dort, wo es Pjotr so prompt gefunden hatte.
»Daß du da drin einmal Platz gehabt hast«, sagte Recha und sah ihre schöne, erwachsene Tochter an.
»Und das hab' ich auf dem Kopf gehabt«, sagte Elisabeth und drehte in ihrer Hand das schottische Mützchen, das auch noch vorhanden war. Die kecke Feder, die darin steckte, war in der Mitte geknickt.
»Ja, das Federchen war eines Tages zerbrochen«, bemerkte Pjotr, »ich weiß nicht, wie das passiert ist.«
Alle sahen ihn an.
An einem Nachmittag im Oktober, der abschiedsgolden und warm war, hatte sie nach dem Spaziergang Fräulein Skarga nach Hause begleitet, hatte in der verschollenen Wohnung eine Tasse sehr leichten Tee bekommen und durchschritt nun auf ihrem Weg zur Dnjestrbrücke die Kreuzgasse. Auf dem schmalen Trottoir vor der Posamenteriewarenhandlung Berges preßte sich ein Offizier, der ihr mit einer Dame entgegenkam, flach gegen das Auslagefenster, um sie passieren zu lassen.
Sie war schon ein ganzes Stück weiter, als jemand dort hinten sie anrief. Sie kehrte sich um. Mit ausgestreckten Armen eilte Wanda Slawek auf sie zu.
»Elisabeth, du läufst ja vorüber, als ob du mich gar nicht kenntest.«
»Nicht als ob«, sagte Elisabeth, »ich habe dich wirklich nicht erkannt.«
Die Klassenkameradin von ehedem, das Töchterchen des Steueramtschefs, war zu einer hübschen, vollbusigen Dame herangewachsen. Sie war ein Jahr jünger als Bessie, sah aber bereits nach allzuviel Petits fours und süßem Likör aus.
Vorstellend wies sie auf den Offizier, der ihr gemessener gefolgt war.
»Mein Bruder Stanisław. Er hat nicht erlaubt, daß ich dich einfach vorbeilasse.«
Der junge Mann verbeugte sich bestätigend, eine Hand an der Schirmmütze, mit zartem Sporengeklingel. Strichschlank in seiner knappen Montur, mit seinem gezirkelten Bärtchen im frischen Gesicht, die Brauen über den sanft-frechen Augen wie mit Tusche gemalt, war er die bestrickende Illustration aus einem Damenroman.
»Es geht auch wirklich zu weit«, bemerkte er lächelnd, als ihm die Wirkung seiner Person hinlänglich gesichert schien. »Da hält man elf Monate im Jahr in den wolhynischen Sümpfen ritterlich Grenzwacht gegen die Roten. Und kommt der Ritter auf Urlaub, so unterschlägt ihm die eigene Schwester die Reize der Heimat! Wanda – es ist ein Skandal.«
Das wurde mit einer selbstgefällig gedrechselten Ironie produziert, die er Anlaß haben mußte für unwiderstehlich zu halten. Elisabeth kitzelte das Lachen im Hals.
Sichtlich nicht ohne Überwindung sekundierte ihm seine Schwester:
»Wahrhaftig, warum sieht man dich nie! Absicht kann's doch nicht sein. Schließlich waren wir Freundinnen.«
»Waren wir?« fragte Elisabeth. Sie hob ihren verkrümmten Ringfinger in die Höhe und bewegte ihn ein wenig vor Wandas Nase hin und her.
Wanda lief purpurn an.
»Aber das waren doch Kindereien – lange vergessen.«
Der Leutnant war diesem Vorgang ohne Verständnis gefolgt.
»Mein gnädiges Fräulein«, sagte er frisch, »darf ich mich so benehmen, wie es das Reglement uns Kavalleristen vorschreibt? Attaquez toujours! Am fünfzehnten findet hier der Garnisonsball statt. Die Herren Ulanen versichern, es werde sehr glänzend zugehen. Jahresfeier der Unabhängigkeit Polens. Wollen Sie sich nicht anschließen? Es wird mir eine Ehre sein, Sie zu eskortieren – – ein ganz ungemeines Vergnügen«, fügte er mit einem Siegerblitz aus seinen sanft-frechen Augen hinzu.
»Aber Wanda!« rief Elisabeth vorwurfsvoll. »Du hast ja deinen Bruder nicht aufgeklärt. Seien Sie glücklich, Herr Slawek, wenn ich Ihre Einladung ausschlage. Mit mir am Arm wollen Sie beim Nationalfest erscheinen! Ihre Karriere wäre dahin.«
Der Augenblick verlangte Größe von Wanda. Sie bezwang eine wütende Verlegenheit.
»Was redest du denn! Das stimmt ja alles durchaus nicht. Erstens dein Vater, nicht wahr? Und dann, du bist katholisch getauft so gut wie wir beide.«
»Es hat nichts geholfen bei mir«, sagte Elisabeth dumpf, als stürze diese Erkenntnis sie in einen Abgrund von Trauer.
Aber kaum war sie davon, begann schon ihr Ärger. So benahm man sich nicht! Eiskalte Freundlichkeit wäre am Platze gewesen. Ihr Betragen war ohne Geschmack, albern und billig. Schließlich war sie ja nicht mehr fünfzehn.
Allein diese Selbstkritik hielt nur an bis zur Brücke. Was zum Beispiel hätte Chana gesagt zu dem Vorfall? Gar nichts; gelacht hätte sie, ihr brummendes Lachen. Und Pjotr? Pjotr hätte auch nichts dagegen. Nun also. Sie kam ganz zufrieden nach Haus.
Dies hatte sich an einem Donnerstag abgespielt. Am Samstag, morgens um elf, läutete es an der Tür, und Pjotr brachte zwei Visitenkarten herein: Rechtsanwalt Dr. Alwin Zweifuß und Justine Salzer, geborene Zweifuß.
»Schon wieder eine Schwester mit Bruder«, sagte Elisabeth und zog ihre Brauen zusammen. Und ehe Recha noch fragen konnte, was dieses »schon wieder« bedeute, waren sie da.
Die dickliche Justine von einst erschien jetzt eher karg von Figur, obgleich ihre Verbindung mit dem Fellhändler Salzer bereits mit zwei Knaben gesegnet war. Ihre dunklen, leerblickenden Augen saugten die Einzelheiten des Milieus in sich ein. Denn es war Justines erster Auftritt im Lager dieser Gemiedenen, von denen drüben in der Fabrik so genußreich gehässig die Rede ging.
»Wie liebenswürdig, daß Sie uns aufsuchen«, sagte Recha und trocknete heimlich mit dem zerknüllten Taschentuch ihre Hand, die sie den beiden gereicht hatte.
»Mein Bruder«, erklärte Justine, »hat sich jetzt hier niedergelassen, er wohnt nebenan bei den Eltern –«
»Und da«, schaltete Alwin gefällig ein, »ist der Wunsch wohl begreiflich, unsere nachbarlichen Beziehungen mehr auszubauen.«
Bessie öffnete schon ihren Mund. Da werde er beim Anfang beginnen müssen, wollte sie sagen, diese nachbarlichen Beziehungen hätten sich eigentlich immer aufs Gesichterschneiden beschränkt. Aber nach einem Blick in Rechas schüchtern gespannte Miene bezwang sie sich. Alle vier nahmen Platz.
Unähnlich denen der Schwester, schauten Herrn Alwins Augen zugleich schmelzend und schlau in die Welt. Auch war er nicht dunkel wie sie, sondern rötlich von Haar und besaß zu einer zierlichen Wohlgestalt die plumpen, häßlichen Hände seines Großvaters Daniel.
Sorgsam breitete er die Schöße seines Besuchsrocks hinter sich aus, zog die schwarzweiß gestreiften Hosenbeine hinauf, um ihre Kniffung nicht zu gefährden, und begann ohne weiteres von sich und seinen Errungenschaften zu reden, so als vermöchte in aller Welt kein anderer Gegenhand das Interesse irgendeines Menschen auch nur flüchtig zu fesseln.
Er hatte, gab er bekannt, an der deutschen Universität Leipzig seine Studien begonnen. Vier Jahre war das nun her. Respektvoll, unter Nennung ihrer sämtlichen Titel, zählte er die juristischen Lehrer auf, zu deren Füßen er dort gesessen. Leider hatte dann der politische Umschwung seinem Verbleiben ein Ende bereitet.
Über diesen Umschwung in Deutschland äußerte sich Alwin Zweifuß durchaus objektiv. Ausschreitungen seien vorgekommen, Auswüchse existierten, gewiß. Aber man durfte über Schönheitsgebrechen die großartigen Seiten dieser Bewegung keineswegs übersehen. Eine völlig neue, zukunftssichere Staatskonzeption war da auf dem Marsch.
Er pausierte und schien auf Applaus zu warten.
»Rauchen Sie nicht?« fragte Elisabeth.
Herr Zweifuß hielt seine häßliche Hand über den offenen Kasten, als wähle er kennerisch zwischen den Zigaretten.
»Alwin, heute doch nicht!« entfuhr es Justine.
Aber er wiegte lächelnd den Kopf und drückte die Augen zusammen, erhaben über solch ein Sabbat-Verbot. Genießend zog er den Dampf ein und fuhr fort in seiner Autobiographie.
Er war denn also zurückgekehrt, um an polnischen Hochschulen seine Ausbildung abzuschließen. Widerstände gab es auch hier – begreiflicherweise. Denn die Zahl der jüdischen Hörer war angeschwollen, weit über jede vernünftige Proportion hinaus, und die Regierung bemühte sich drastisch um Einschränkung. Alwin war nicht geneigt, die Regierung dafür zu tadeln. Ihn jedenfalls hatte man inskribiert. Und diese Studentenkrawalle, die eine gewisse rötliche Presse so verantwortungslos aufbauschte? Jungenstreiche, nichts weiter. Hielt man sich nur taktvoll zurück und sah nicht geradezu aus wie ein Lumpenhausierer, so geschah einem nichts. Es stimmte, daß für jüdische Kandidaten die Prüfungen spürbar erschwert wurden; zu bestehen waren sie trotzdem, wie Exempel bewies. Es stimmte, daß die Niederlassung neuer jüdischer Anwälte ungern gesehen wurde; jedoch Alwin war etabliert. Etabliert in bevorzugter Lage, wo man jüdische Mieter sonst aus Grundsatz zurückwies. Dort befand sich seine Kanzlei, Ecke Sobieskigasse und Kornhof.
Angespannt und nicht ohne nagende Zweifel, hatte Justine den Effekt der brüderlichen Darbietung zu verfolgen versucht. Sie blieb völlig im Dunkel. Kaum daß Recha von Zeit zu Zeit ein höfliches Wort zwischen die Strophen seines Hochgesangs einschob.
»Ein Glas Sherry vielleicht«, sagte sie jetzt, ziemlich verspätet. Pjotr brachte den Wein. Man trank ihn beinahe stumm. Elisabeth jedenfalls äußerte nicht ein Wort.
Mich halten sie für ganz idiotisch, dachte sie freudig und spielte mit der Idee, diesen Eindruck durch ein kleines, imbezilles Schielen oder durch nie gehörte, tierähnliche Laute noch zu vertiefen.
Aber sie brachen schon auf. Elisabeth schloß die Tür.
»Das war hinreißend«, sagte sie angeregt. »Willst du wetten, Geliebtes, daß ich weiß, was du jetzt sofort tun wirst?«
Und sie vollführte die Geste gründlichen Händewaschens.
Recha errötete schwach. Sie hatte sich in der Tat die ganze Stunde hindurch nach Seife und Bürste gesehnt.
»Mach dich nur über mich lustig«, sagte sie ungekränkt.
»Lustig machen, wieso denn? So nötig hat man es selten.« Und sie umarmte die Mutter.
Dann begab sie sich in die Küche hinaus, wo Pjotr hantierte.
Pjotr hatte seit den fernen Tagen des Reisbreis seine Kochkünste beträchtlich entwickelt. Einfache Speisen, die leichte Mittagsmahlzeit fast immer, bereitete er ohne Beistand.
»Schon fort, Fräuleinchen?« fragte er und klirrte am Herd.
»Ja, die sind fort. Sag einmal, Pjotr, was wollen alle diese Geschwister plötzlich von uns?« Und sie berichtete von der Begegnung mit Wanda und ihrem militärischen Bruder. »Überall Liebe und Frieden. Kannst du mir's erklären?«
»Das kann ich«, antwortete Pjotr. »Fräuleinchen, Sie sind eine reiche Erbin.«
»Daran hab' ich noch gar nicht gedacht«, sagte Bessie betroffen.
»Natürlich nicht. Aber die denken daran. Einmal wird's ja auch sein.« Er beugte sich über seine eiserne Pfanne.
Bessie schnupperte. »Was machst du denn heute?«
»Omelette aux fines herbes.«
»Wie? Sag das bitte noch einmal.«
»War's nicht richtig gesprochen!« fragte Pjotr und wendete seinen Eierkuchen auf die andere Seite.
Elisabeth zog sich einen Schemel heran, umfaßte ihre Knie mit den Händen und sah ihm nachdenklich zu.
»Du machst schon nichts falsch. Wenn ich daran denke, wie rasch du schreiben gelernt hast.«
Es war ein paar Wochen her, da hatte sie Pjotr vorgeschlagen, ihm das lateinische Alphabet beizubringen: »Dann kannst du so schreiben, daß es die Polen verstehn, und kannst polnische Bücher lesen.«
»Nur los«, hatte Pjotr gesagt, »aber ein alter Mann lernt nicht mehr gut.«
Sie hatte mit einer langen Unterrichtszeit gerechnet, sich eigentlich darauf gefreut. Allein nach wenigen Stunden las Pjotr die neue Schrift und schrieb sie geläufig.
»Ein alter Mann wird ja noch ein paar Buchstaben lernen können«, sagte er jetzt.
»Ach, du immer mit deinem Alter! Komisch. Steht hier am Herd und macht Eierkuchen für uns.«
Pjotr antwortete nicht. Er begann sein Omelett zusammenzurollen.
»Da bilden solche Tröpfe sich ein, alles müsse so sein, wie es ist – solch ein berittener Affe wie Slawek oder dieser trostlose Alwin. Und es ist alles bloß Zufall. Aus dir hätte Gott weiß was werden können, Pjotr, ein Gelehrter, ein General, ein Minister – ein besserer, als wir sie haben.«
»Natürlich«, meinte Pjotr gelassen. »Aus dem gleichen Stück Holz kann man eine Kanzel schnitzen oder den Galgen.«
Bessie spitzte die Ohren. »Das muß ich mir merken. Ein hübsches Sprichwort ist das.«
»Was für ein Sprichwort?« fragte Pjotr erstaunt.
Heinrich Gelbfischs Büro im zweiten Stockwerk seines Geschäftshauses ging mit beiden Fenstern nach dem Ringplatz und der Rathausfassade hinaus. Rechts hinüber sah man die ehemalige Bezirkshauptmannschaft, hinter deren geweißter Front der Woiwode amtierte, sowie das Gotteshaus der römischen Katholiken, vor ungefähr einem Jahrzehnt in ziemlich leerem Prunkstil erbaut. Links aber, schräg zur Reihe gestellt, die griechisch-katholische Kirche, deren drei hölzerne Kuppeln mit den Jahren noch ungleicher und schiefer geworden zu sein schienen.
Auf dem holperigen Pflaster des Rings drückte sich Bude an Bude, Karren an Karren, mit den bunt leuchtenden Gewändern der ukrainischen Verkäufer dazwischen. Lärm schallte herauf. Es war ein Marktmorgen im Mai.
»Schließen wir lieber die Fenster«, sagte Herr Gelbfisch. »Sonst kann sich Bessie nicht konzentrieren. Und es ist ja ein großer Moment.«
Notar Krasna nickte. Er war ein Mann Ende der Dreißig, mit braunem Spitzbärtchen und kühl blickenden Augen hinter der Goldbrille. Die Würde seines Vaters und Vorgängers im Amt erschien bei ihm auf steife Sachlichkeit reduziert Er blätterte befriedigt in seinen Papieren.
Eine Woche zuvor hatte Elisabeth ihr einundzwanzigstes Jahr vollendet. Sie war majorenn. Diese Zusammenkunft heute ging auf Herrn Krasnas Verlangen zurück.
»Sie tun mir viel zu viel Ehre an«, sagte die Mitbesitzerin des Hauses Gelbfisch. »Bestimmt versteh' ich kein Wort von Ihrem Bericht, so klar er auch sein wird.«
»Rechnungslegung muß sein«, erwiderte Krasna trocken verbindlich. »Sie werden mir Entlastung gewähren oder anordnen, daß auf meine Dienste verzichtet wird.« Und er begann, in großen Linien das Bild der Geschäftslage zu entwerfen.
Trotz der unbehaglichen Läufte, trotz Deflationsbeschwerden und Steuerdruck, war sie einfach vorzüglich. Mochte es den nichtchristlichen Bürgern im Lande sonst ergehen, wie es konnte, mochte man sie seit dem Tode des Marschalls aus Gewerbe und Handel immer brutaler verdrängen – Gelbfisch und Sohn hatten nicht zu leiden gehabt.
Denn die Bevölkerungszahl war stetig im Anwachsen; seit der Ort zum Verwaltungszentrum geworden war, hatte sie sich um die Hälfte erhöht. Und da der herrschende Kapitalmangel die Entstehung von Konkurrenzunternehmen verbot, behaupteten Gelbfisch und Sohn weiter das Feld und sorgten für die Luxusbedürfnisse der polnischen Oberschicht. Im abgelaufenen Jahr hatte man mit dreißig Prozent Reingewinn gearbeitet. Elisabeth war in der Tat »eine reiche Erbin«, da konnte kein Zweifel sein.
Der Notar ließ die segenbeladenen Blätter des Hauptbuchs durch seine mageren Finger gleiten.
»Sie werden kaum Wert darauf legen, dies alles durchzustudieren?«
»Um Gottes willen, Herr Krasna. In Mathematik war ich immer die Letzte.«
Er quittierte mit dünnem Lächeln.
»Ich habe auf dem Papier hier die Haupt- und Schlußzahlen zusammengetragen. Sie orientieren sich leicht.«
Und er überreichte der großjährigen Prinzipalin ein Doppelfolioblatt mit rot und schwarzer Lineatur.
Beide Männer sahen ihr zu, während sie las, Krasna ein wenig überheblich zufrieden, Heinrich nachdenklich und gerührt. Es war ihm wie gestern, daß er ein Stockwerk tiefer die winzige Bessie auf den Schemel gestellt hatte, damit sie durchs Fenster hinaussehen könne. Da saß sie, eine verständige, große Person, und las einen Geschäftsbericht. Er selber jedoch? Zwischen damals und jetzt lag die ganze Geschichte seines sinkenden Herzens.
Sie behielt das Blatt mit den Zahlen über Erwarten lang in der Hand. Ohne daß sie sich bewegt hätte, fiel ihr eine Strähne ihres honigfarbenen Haars immer wieder über ein Auge.
»Ja«, sagte sie endlich und strich die Strähne zum letztenmal zurück. »Da ist ein Punkt, den begreif' ich nicht ganz. Was ist das: Unterstützungen und Zuwendungen 900 Złoty?«
»Das war nicht zu umgehen«, erklärte Herr Krasna. Seine Stimme klang plötzlich sehr achtungsvoll. »Für die wohlhabenden Mitglieder der Gemeinde ist es völlig unmöglich, unter einen gewissen Betrag herunterzugehen. Es gäbe Gerede und böses Blut. Ein Nobile officium sozusagen.«
Elisabeth nickte. Sie sah nicht vergnügt aus. Sie faltete das Blatt zusammen und legte es auf Herrn Krasnas Akten zurück. Die Konferenz ging zu Ende.
»Onkel Heinrich«, rief sie, sowie sie allein mit ihm war, »schau einmal da hinunter mit mir!«
Sie hatte ein Fenster geöffnet.
»Ein hübsches Bild, nicht wahr, diese Bauern in ihrer Tracht, gestickt und geputzt! Vor einem Jahr war es nicht so farbig. Da waren zu viel schwarze Kaftane darunter. Jetzt ist es viel lustiger.«
Heinrich sah sie von der Seite her an. In ihren hellen, ein wenig schrägliegenden Augen blitzten und flammten die Lichter.
»Liest der Mann nicht die Zeitung! Bloß die Überschriften braucht er zu lesen: ›Unsern Bauern alle Verkaufsstände!‹ ›Polnische Märkte judenrein!‹ Und es hat schon geholfen. Die Bauern verstehen zwar nichts von diesem Geschäft, das weiß jeder. Aber die Juden sind weg, und das ist die Hauptsache. Die hatten alle nichts weiter als das bißchen Kleinkram auf ihren Karren. Jetzt sitzen sie da. Und da gibt der Mensch 900 Złoty her – bei diesem Riesengewinn!«
»Bessie«, rief Heinrich, schwach und begeistert, und tat, als nehme er Krasnas Partei. »Der Notar hat die Firma im Auge. Unsere Angestellten müssen auch leben. Er meint es nur gut. Ohne seinen Vater und ihn wäre längst alles zu Ende. Ich hatte ja das Geschäft schon beinahe ruiniert.«
»Aber das weiß ich doch alles.« Sie legte im Eifer ihren warmen, kräftigen Arm dem kleinen Mann um die Schulter. »Trotzdem – 900 Złoty! Vor vier Wochen war Passah, nicht wahr? In der Zeitung, die er nicht liest, stand deutlich, daß zwei Drittel der Juden am Ort um Hilfe einkommen mußten. Zwei Drittel hatten nicht Geld genug für ihr ungesäuertes Brot und ein anständiges Kleid für den Tempel. 900 Złoty – wahrhaftig.«
Sie marschierte im Zimmer umher, zornig und verlegen zugleich, von ihrer Rolle beschämt. Als sie ihre Augen wieder auf Gelbfisch richtete, bemerkte sie, daß er weinte. Sie lief auf ihn zu.
»Aber Onkel Heinrich, was ist denn?«
Er lehnte seinen Kopf gegen die junge, bewegte Brust und ließ lautlos seinen Tränen den Lauf. Er weinte über sein Leben, das so voller Zuversicht, Mut und Großmut begonnen hatte und aus dem so gar nichts geworden war.
»Pjotr, ich bin verzweifelt. Ich kann's einfach nicht.«
»Was denn, Fräuleinchen?«
Es war nach dem Bade, weit draußen an einer Stelle, wo das Land vom Flußbett unmittelbar in weichen, grünen Hügeln anstieg. Der Sommernachmittag war so schön, daß sie nicht gleich hatte zurückfahren mögen. In ihren weißen Frottémantel eingehüllt, saß sie im reichen Gras neben Pjotr. Ein paar Schritt unterhalb auf der Straße wartete der Fiat mit blitzenden Lichtern auf seinem weinroten Lack.
»Ich kann's nicht«, sagte sie wieder. »Da haben die ihre Vereine und Komitees – Suppenküche, Kinderhilfswerk und wie das so heißt. Da halten sie ihre Sitzungen ab und prüfen die ›Fälle‹ auf Würdigkeit, und blasen sich auf, diese Damen, die Blauschild, die Spitz, die Kupfermann und die süße Justine. Und tun, als wären die ›Fälle‹ eine Menschensorte für sich, bedenkliche Wilde, die man nur ja nicht verwöhnen darf, sonst werden sie frech. Der Zar von Rußland war nicht halb so erhaben. Die glauben wahrhaftig, sie seien was Besonderes, weil ihr Mann oder Vater Geld verdient. Pjotr, ich habe eine Weisheit entdeckt: Geld haben macht dumm.«
»Ich dachte, damit sei es vorbei, mit den Sitzungen.«
»Ja, es ist auch vorbei. Mich haben sie sowieso nur geduldet, du weißt schon, warum. Wenn irgendein jiddischer Ausdruck fiel – und das kam vor, so fein sie auch sind –, dann haben sie ihn übersetzt für mich, recht mitleidig, weißt du. Sie sind einfach zu blöd. Nun, ich habe es anders probiert. Ich habe die ›Fälle‹ aufgesucht. Die Namensliste hatte ich ja. Und jetzt kommt das Schlimme – dort ist's auch nicht gegangen.«
Pjotr sah sie ernsthaft an und gab keine Antwort.
»Du weißt nicht, wie's ausschaut bei ihnen. Bei euch auf dem Dorfe ist's auch ärmlich gewesen. Aber sicher nicht so. Das schmutzige Elend, Pjotr, die Traurigkeit. Wie sie schlafen in einem kellerigen Loch, das nie ein Sonnenstrahl austrocknet. Und Kinder haben sie, schrecklich viel Kinder, lauter so bleiche, kleine Beter. Die kommen schon mit hoffnungslosen Augen auf die Welt, und bald zeigt sich's, daß sie recht gehabt haben.«
»Gut, daß die Mama von diesen Besuchen nichts weiß. Sie hätte Furcht vor den Krankheiten.«
»Sie braucht keine Furcht mehr zu haben. Onkel Heinrich ist gut. Man muß eben Geld hergeben, so viel wie nur möglich. Aber hingehn kann ich nicht mehr.«
Pjotr blickte sie unverwandt an.
»Sie sind so demütig, weißt du. Da kommt man hinein und bringt ihnen was und versucht, sich zu kümmern. Und sie wischen den Stuhl ab und wünschen Gottes Segen herunter auf einen. Es ist, als dächten sie ganz dasselbe wie die Weiber im Komitee: daß sie was anderes sind, was Schlechtes, Verächtliches, weil sie kein Geld haben. Und da steht man wie der Affe im Staatsrock und möchte in den schmutzigen Fußboden sinken.«
»Das ist einmal so«, sagte Pjotr. »Dank anhören ist von allem das Schwerste. Nämlich für jemand, der ein vornehmes Herz hat.«
»Ach, Unsinn –«
Aber er ließ sie nicht ausreden. »Beim Herrn Grafen war's auch so«, beharrte er. »Ich war erst zwei Monate bei ihm im Dienst, da kam Weihnachten. Der Herr Graf hat mir fünfzig Kronen geschenkt. Fünfzig Kronen, ich konnt' es nicht glauben. Ich habe mich bedankt, mit so ergebenen Ausdrücken, wie wir sie damals gebrauchten, und habe ihm den Saum küssen wollen an seiner Litewka. ›Du bist wohl übergeschnappt‹, hat er gesagt. ›Paß lieber auf, daß du meine Stute nicht mehr schief sattelst.‹ Aber dabei hat er gelacht. Denn das mit der Stute war gar nicht wahr. Die war immer gesattelt wie mit dem Richtscheit. Er hat's nur nicht anhören können.«
»Auf mich paßt das nicht«, sagte Bessie verstimmt. »Ich bin einfach zu nichts zu gebrauchen.«
»Fräuleinchen – es paßt ganz genau.«
»Und ich bin auch kein Fräuleinchen mehr. Eine unnütze, lange Person. Sag endlich Bessie und du.«
Auf der Straße dröhnte ein Lastautomobil an ihnen vorbei. Die dicke Staubwolke brauchte lang, um sich niederzusenken.
»Feine Straßen gibt's hier in Polen«, sagte Pjotr. »Erinnern mich an Jakutsk.«
Die Sommerluft war durchsichtig wie zuvor. Aber auf dem Lack des Fiat blitzten keine Reflexe mehr, er war weiß überzogen.
»Unsere Straßen sind nichts als Löcher und Schmutz«, wiederholte Pjotr. »Aber dafür haben wir das neue Gefängnis, mit Säulen davor, und das Denkmal vom König Sobieski, ganz golden.«
»Ja, scheußlich«, sagte Elisabeth. »Der Künstler ist der Schwiegersohn vom Woiwoden.«
»Man kann das Gesicht kaum erkennen, so glänzt ihm das Gold um die Nase. In meinem Buch sieht der König ganz anders aus. Ein sehr schönes Buch war das«, erklärte er nachdrücklich.
»War? Bist du schon fertig damit, mit beiden Bänden?«
Es handelte sich um eine populäre »Geschichte Polens«, reich illustriert, die ihm Bessie geschenkt hatte.
»Es war aufregend zu lesen. Da kann man sehen, daß sie sich immer schon die Köpfe eingeschlagen haben im Lande.« Er zögerte einen winzigen Augenblick. »Das ist aus Lemberg gekommen, nicht wahr?«
»Das Buch? Natürlich aus Lemberg. Hier gibt's keine Bücher zu kaufen.«
Pjotr nickte. »Hier gibt's eigentlich gar nichts. In anderen Städten haben sie Musik und Theater. Sogar in Omsk waren zwei, und das war ein Drecknest. Was machen eigentlich alle die Herrschaften abends, bevor sie zu Bett gehen? Die möchten sicher alle gern Bücher lesen.«
»Ich auch«, sagte Elisabeth mit einem Seufzer.
Denn es war eine Kalamität. In ihrer ummauerten Existenz, bei dem Mangel an sinnvoller Tätigkeit war dies Bedürfnis in ihr nur immer gewachsen. Sie sehnte sich nach der Wohltat des geformten Gedankens, nach dem Reiz und Geheimnis der Dichtung. Wo sich aber Genüge tun? Eine öffentliche Bibliothek gab es nicht. In Heinrich Gelbfischs Schrank standen nur Werke ökonomischen und politischen Inhalts, und die waren veraltet, denn sie stammten aus jener Zeit, da er noch in seinen Hoffnungen lebte. Fräulein Skargas kleiner Bücherbestand schloß ab mit dem 18. Jahrhundert. Wenn Elisabeth nach Lemberg hinüber kam, was ein oder zweimal im Jahre geschah, so verbrachte sie lange Stunden im Buchladen wie in einer selten geöffneten Schatzkammer.
»Im Warenhaus Gelbfisch zum Beispiel«, redete Pjotr träumerisch vor sich hin. »Alles kann man da kaufen. Porzellan mit feinster Bemalung, ausgeschnittene Kleider, elektrische Teekannen, sogar Vögel und Goldfische. Bloß Bücher kann man nicht kaufen. Warum eigentlich nicht?«
›Warum denn eigentlich nicht‹, dachte Elisabeth folgsam. Ihre Einbildungskraft begann sogleich zu arbeiten. Eine Ecke mit Büchern – eine kleine Abteilung – ein Lädchen im Laden vielleicht. Regale, bis an die Decke gefüllt mit geordnetem Geistesgut. Das Gold auf den Leder- und Leinwandrücken schimmerte zart. Bücher zusammenstellen, empfehlen, verbreiten, es wäre eine Tätigkeit, viel bescheidener noch als Übersetzen. Aber ein kleiner, demütiger Dienst wäre es doch an dem, was sie liebte.
Sie sah sich selber zwischen den hohen Gestellen. Und dann sah sie auch Recha. Leise frug Recha nach den Wünschen der Käufer, neigte bejahend den Kopf mit dem weißen Haar. Dann stand die schmale Gestalt auf der obersten Stufe der Trittleiter. Die empfindliche Hand fand das Buch, zog es heraus. Sie trug keine Handschuhe dabei. Neue Bücher waren solch reine Ware. Schlug man eins auf, so krachte es appetitlich vor Frische und roch wunderbar unberührt. Leichtfüßig stieg die Mutter herunter, fröhlich in der bescheidenen Arbeit –
Elisabeth wandte die Augen nach Pjotr hin. Er war so verdächtig still. Sein gutes Gesicht zwischen den grauen Bartstreifen lächelte unbestimmt. Auf einmal wurde ihr klar, daß Pjotr sie geduldig zu jenem Punkt hingeführt hatte, wo er sie haben wollte.
»Fräuleinchen«, sagte er jetzt, »wir sollten nach Hause.«
Bessie stand auf.
»Wenn du noch einmal Fräuleinchen zu mir sagst – ich habe auch meine Namen für dich.«
»Was denn für Namen«, fragte er unschuldig.
»Die richtigen, sei ganz unbesorgt! Rattenfängerchen, Schlaumeierchen, Obergescheitchen. Oder Füchschen vielleicht.«
Beim Einbau der Buchhandlung war eine Ecke des Geschäftshauses – die nach der griechischen Kirche zu – in Parterrehöhe abgestumpft worden; durch eine Tür aus poliertem Holz mit kupfernen Ornamenten trat man hier von der Straße her ein. Rechts und links von der Ecke, hoch und ungemein breit, erstreckten sich die Spiegelglasfenster.
Dergleichen war am Ort nicht erschaut worden. Die ausgestellte Literatur, in Gruppen zusammengefaßt, mit Auszeichnung isoliert, aufgeschlagen auf kleinen Pulten auch wohl, mit Photographien bekannter Autoren dazwischen, blieb auch des Nachts, lang nach Verkaufsschluß, anlockend erleuchtet. Die Fenster warfen ihren Schein über den dämmerigen Ringplatz. Auf ihrem Abendspaziergang sammelten sich Leute davor, ganz betroffen von so viel Glanz, und erwogen, dieses verschwenderische Etablissement eines nahen Tages doch aufzusuchen.
Taten sie es, so umfing sie Behagen und Wohnlichkeit. Dies schien ein privater Bibliotheksraum eher als ein Geschäft, wo jemand für gute Złotys möglichst viel Bücher verkaufen wollte. Lederbezogene Tische mit bequemen Sitzen darum standen für Leser bereit; der eine runde trug eine kleine Büste des Dichters Slowacki, sehr schön, aus massiver Bronze.
Es war keine »Ecke« geworden, kein Lädchen im Laden; sondern ein ziemlich großartiges, selbständiges Unternehmen.
Heinrich war bei seinen Rayonchefs nicht auf Enthusiasmus gestoßen, als er das Projekt unterbreitete. Ein Buchladen? Wer las denn Bücher am Ort! Und dafür sollte der Abteilung »Hausgerät und Beleuchtung« der Raum beschnitten werden, so daß dann kein Gasherd und keine Stehlampe mehr vernünftig zur Geltung kam? Wahrhaftig, die neue Ära ohne die zügelnde Kontrolle des Notars fing verheißungsvoll an.
Allein die Rayonchefs blieben im Unrecht. Die Buchhandlung war ein Erfolg.
Ihre ersten Besucher, Polen ausschließlich, betraten den Raum mit überlegenem Lächeln. Sie waren Weltleute, vertraut mit den Buchläden von Krakau und Warschau, womöglich von Wien und Paris. Was ließ sich erwarten in diesem Provinznest, in das man verschlagen war.
Sie erstaunten. Ihr Erstaunen war von zusammengesetzter Natur.
Den Beständen in polnischer Sprache gleich gegenüber leuchtete reihenweit das charakteristische Gelb französischer Literatur. Man fühlte sich angenehm angerührt. Französisch las man. Man las es vorzugsweise, mit Ostentation. Französisch zu können war in Polen noch immer ein Freimaurerzeichen, daran sich die gute Gesellschaft erkannte. Allerdings sah man bei näherer Prüfung in den gelben Reihen Namen vertreten, denen ein Hauch des Unzuverlässigen, Unzulässigen, anhing: Aragon, André Salmon, Cocteau, Jean Richard Bloch … Immerhin, sie schrieben französisch.
Dann forschte man weiter und stutzte. Man stand vor unlesbaren Titeln in kyrillischem Druck. Was war das? Russisch etwa, importierter Aufruhr aus Moskau? Nein, die Bücher waren ukrainisch. Das gab es also? Schriftsteller existierten in dieser buntgekleideten Masse von bäuerlichen Analphabeten?
Aber damit war das Ende der Überraschungen nicht erreicht.
Im vollen Licht, einem der breiten Fenster gegenüber, bot ein mächtiges Regal noch fremdartigere Erzeugnisse an – hebräische und jiddische Werke in ihrer asiatischen Blockschrift. Das war nicht viel weniger als ein Affront. Bildeten die beiden Damen sich vielleicht ein, daß adelige Herrschaften sich zusammen mit Kaftanträgern um den Tisch setzen würden, der die Büste des Nationaldichters trug?
Die beiden Damen. Denn Elisabeths rasche Vision vom sommerlichen Straßenrand war glückliche Wahrheit geworden.
Sie hatte ihrer Mutter den Plan erst entdeckt, als zwischen Heinrich und ihr schon alles im klaren war. Recha, natürlich, erschrak. Sie erklärte sich unfähig zu solcher Tätigkeit, unwissend und menschenentwöhnt wie sie sei. Aber dann war gar nicht viel Überredung nötig gewesen.
»Du wirst das wundervoll machen, Geliebtes. Schau es dir erst einmal an, wenn alles soweit ist.«
Es blieb ja auch kaum eine Wahl. Alles war besser, als die vielen Stunden des Tages von Bessie getrennt zu sein.
Die anfängliche herzklopfende Scheu war bald überwunden. Recha genoß das vergessene Empfinden, nützlich zu sein. Die blitzblank elegante Umgebung besaß ihren Reiz. Und auch der Verkehr mit den Menschen war durchaus nicht, was sie gefürchtet. Denn es war ein sachlicher Verkehr, man brauchte keinem nahe zu kommen, reichte niemand die Hand. Verabredet war, daß Recha nach ihrer Wahl eine Hälfte des Tages hier zubringen sollte. Aber bald kam sie häufig morgens mit Bessie und kehrte erst abends zurück.
An solchen Tagen nahm man oben in Heinrichs Büro ein kleines Mittagsmahl ein. Heinrich war glücklich, den zwei Menschen nahe zu sein, die er liebte. Er war glücklich noch aus einem geheimeren Grund. Dies Unternehmen hier unter seinem Dach, diese vielsprachige, vorurteilsfreie kleine Zentrale für Geistesgut – sie trug einen Nachglanz, war wie eine bescheidene Realisierung seiner Menschheitsträume von einst. Heinrich war stolz auf den Buchladen und auf die, die ihn führte.
Sie tat ihren Dienst nicht mit Recha allein. Ein Gehilfe versah jenes Schrifttum, das ihr selber nicht zugänglich war. Er war ein akademisch gebildeter junger Mensch, Józef Sußmann geheißen, den sein Vater, ein Synagogen-Vorbeter, unter Opfern für die juristische Laufbahn bestimmt hatte. Aber er hatte nicht so viel Glück gehabt wie der taktvolle Zweifuß. Bei der Prüfung wurden ihm Fragen vorgelegt, die der Dekan der Rechtsfakultät selbst nicht hätte beantworten können. Da saß er nun, schwächlich und still, dicke Gläser vor den mitgenommenen Augen, wartete auf Käufer für seine jüdischen Bände und las selbst unaufhörlich darin.
»Wie er mich an meinen Bruder erinnert«, flüsterte Recha. »Ich meine, ich sehe ihn noch in seinem Lädchen beim Tor, eigentlich war es nur ein Loch in der Mauer. Er hat auch Józef geheißen. Er war noch nicht neunzehn, wie die Kosaken ihn umgebracht haben. Meinst du, so etwas kommt wieder?«
»Daran sollst du nicht denken, mein Herz«, sagte Bessie beklommen. »Es liegt ja so weit zurück, dreißig Jahre und mehr.«
Sie war froh, wenn während solcher Gespräche die Straßentür ging und Kunden erschienen.
Kunden für Józef waren es selten. Nur fromme Juden lasen die Literatur, der er vorstand, und von ihnen waren die meisten arm. Die sich einstellten, verhandelten gedämpft mit dem Kantorssohn, als gewärtigten sie jeden Moment, aus dieser glänzenden Umgebung verwiesen zu werden. Ganz allmählich kamen sie zahlreicher. Es kamen nur Männer, sehr gelehrte darunter, fast nie eine Frau. Es sprach sich herum, daß man unbehelligt hier stehen und sich satt lesen könne, auch ohne zu kaufen. Aber es drohte wenig Gefahr, daß sich die Kaftanträger zusammen mit den polnischen Herrschaften um den Ladentisch setzen würden.
Ganz anders verhielt sich jener wohlhabende Kreis, mit dem Bessie bei den Komiteesitzungen in kurze, unerfreuliche Berührung getreten war. Hier kamen die Damen allein. Ihre Gatten und Väter waren allzu nutzbringend beschäftigt, um für Allotria Zeit aufzubringen. Die Damen traten selbstsicher auf, vielleicht etwas lauter als nötig. Sie trugen die internationalen Autorennamen auf ihrer Zungenspitze. Sie kauften polnische Bücher, französische Bücher, englische Bücher. Nur Józef Sußmanns Blockschriftregale ignorierten sie völlig.
Auch Ukrainer erschienen. Zwar eine intellektuelle ukrainische Schicht existierte hier kaum. Deren Zentrum war Lemberg; dort ging noch immer der Kampf um die Errichtung einer ukrainischen Hochschule. Aber es lebten doch nicht nur buntkostümierte Bauern in der Provinz. Es gab Lehrer und Advokaten, es gab die griechisch-katholischen Priester, auch Beamte in bescheidener Stellung. Freudig griffen sie nach den Epen und Volksgesängen, den neuen Erzählungen in ihrer Sprache, die eine früh abgetrennte, vollerwachsene Tochter der russischen war.
Doch die Polen überwogen natürlich. Ganz nach Pjotrs Vermutung ersahen sie dankbar die Möglichkeit, die langen Stunden vorm Schlafengehen lebendiger zu verbringen. Bücherlesen wurde die große Mode, Bücherkaufen jedenfalls wurde es. Man schenkte einander Bücher zu Weihnachten, zu Ostern, zum Geburtstag und Namensfest. Man akzeptierte, was einmal vorhanden war. Und da ja die Auswahl in Elisabeths Händen lag, machte sie sich's zur durchtriebenen Pflicht, das Herkömmliche, allzu liebedienerisch Platte aus ihren Regalen fernzuhalten. In den Wohnungen sehr konservativer Herrschaften häuften sich vorgeschrittene Warschauer Literatur und gelbe Bände mit unzuverlässigen Namen.
Bessie sah sie allesamt wieder, die Töchter der Gentry, von denen sie sich in der Schule abgetrennt hatte, um auf ihrer Ghettobank zu verbleiben. Die Töchter hatten ihr diese Haltung durchaus nicht vergessen. Sie kamen mit einer kleinen Vorfreude im Herzen, sich tüchtig bedienen zu lassen, sie springen zu machen.
Aber in Elisabeths Höflichkeit war ein Zug, vor dem die Pläne leider zerfielen. Schlank, hoch und hell, glitt ihre Gestalt an den Borden entlang; und sie brachte lächelnd das Buch. Es fiel geradezu schwer, an der Vorstellung festzuhalten, daß hier jemand um bares Geld Ware verkaufe. Und auch diese leise weißhaarige Mutter, so unvermischt sie im schmalen Gesicht die Merkmale ihres Volkes trug, unleugbar wirkte sie distinguiert. Von ihr vermutlich hatte die Tochter den Hochmut geerbt. Denn man hatte noch nie erlebt, daß sie jemand die Hand reichte.
Aber man fühlte sich wohl. Man übersah die Damen der Komitees, übersah die paar stillen Ukrainer und jene schwarzen Figuren, die da im Hintergrund seltsame Bände von rückwärts aufblätterten. Man war unter sich. Um die Teestunde traf man sich beinahe lieber hier als an den Marmortischchen beim Zuckerbäcker Spiegelglaß. Um diese Zeit stellten auch die Herren sich ein, und die Bücherstube war voll von Geplauder, Handküssen, Flirt.
Einmal, während der Mittagsstille, erschien Wanda Slawek. Seit jener Begegnung auf dem Trottoir in der Kreuzgasse hatte sie die Feindin sorgfältig gemieden. Aber nun war sie verlobt mit dem zweiten Staatsanwalt Roman Klimecki, und an seinem Arm trat sie auf.
Wanda hatte ihn präpariert, man sah es ihm an: Er trug einen Harnisch von ironischer Reserviertheit. Allein der schmolz, beklagenswert prompt, beim Anblick der lichtäugigen Dame mit dem honigfarbenen Haar. Er hielt sich nur eben zurück, ihr die Hand zu küssen.
Wanda erkannte, daß der Angriff ihr überlassen blieb. Sie sagte etwas sehr Gutes:
»Da verkaufst du also jetzt Bücher, Elisabeth.«
»Ja, was sagst du«, erwiderte Elisabeth schmerzlich. Aber dann, ganz eifrige Ladnerin: »Ich weiß, du liest nur Französisch. Da können wir dienen.«
Und sie führte den Staatsanwalt und seine Braut vor die gelben Reihen.
Es war eine Gemeinheit von Bessie. Rechtzeitig war ihr eingefallen, daß sich die Tochter des Steueramtschefs in der Klasse durch Unbegabung für Sprachen hervorgetan hatte. Einmal hatte sie lang nachhallendes Gelächter erregt, als sie aus einem Geschichtsbuch vorlas, Marschall Turenne sei »un des plus grands héros de la France« gewesen – wobei sie die Wörter »grands« und »héros« so unglücklich band, daß der tapfere Turenne aus einem der größten Helden zu einer der größten Nullen Frankreichs wurde.
Aber während seine Verlobte hilflos die Pariser Buchtitel studierte, richtete hinter ihrem Rücken Staatsanwalt Klimecki seine dunklen Augen, die er für Inquisitoraugen hielt, auf das bedienende Fräulein und lächelte ihr unverschämt ins Gesicht. Bessie amüsierte sich sehr.
Es war eine heitere, lebendige Zeit. Die Ummauerung ihrer Existenz war lautlos gefallen. Sie reiste auch und fand keinen Widerspruch. Verlagshäuser in Krakau und Warschau mußten aufgesucht werden. Sie erwog schon weitere Fahrten, nach Paris und nach Wien. Denn von überall strömte das gedruckte Gut auf ihren Borden zusammen. Nur aus Deutschland kam nichts. Die in Deutschland gedacht und gesungen hatten, irrten im Weiten. Deutschland war stumm.
Europa sang noch und sprach. In Warschau zum Beispiel gab es eine unabhängige Literatur. Und es konnte kaum ausbleiben, daß sich Elisabeth der Zutritt erschloß zu diesem geisteslebendigen Kreis um die »Literarischen Nachrichten« und den »Skamander.«
Damals waren Vorlesungen von Autoren aus dem eigenen Werk beliebt und in Aufnahme. Sie lasen vor vollen Sälen in Łódź, in Krakau und Lemberg. Warum sollten sie nicht ein wenig südlicher vorstoßen? Der Parterreraum im Hause Gelbfisch bot einen schicklichen Rahmen.
Der erste, der hier neben der Lampe erschien, war Antoni Słonimski, als Bühnendichter berühmt. Doch er las betrachtende Prosa. Unter ihrer witzig blitzenden Fläche drangen murmelnd die Stimmen von Mitleid und Sehnsucht hervor, wie von einem unterirdisch mitziehenden Strom.
Polen, Juden, Ukrainer, lauschten gedrängt, doch durchaus nicht vermischt. Als zwänge sie ein Gesetz der Chemie, so saßen sie scharf nach Gruppen getrennt. Getrennt gingen sie auseinander und priesen, was sie gehört, ein jeder in seiner Sprache.
Wenige Wochen darauf kam Polens großer Lyriker, Tuwim. Diesmal war der Andrang so heftig, daß aus allen drei Stockwerken nicht Sitze genug zusammengebracht wurden. Man schaffte Stühle aus dem »Weißen Adler« herüber, und noch immer standen Menschen an den polyglotten Regalen entlang und horchten auf diese tiefen, vollen Glockenlaute polnischer Sprache, deren Sänger ein Jude war.
Die Abende wurden zum etablierten Kunstereignis im Städtchen. Man hatte auf kein andres zu warten. Wünsche wurden geäußert. Man verlangte und hörte Józef Wittlin, dessen wahrheitskräftiges »Salz der Erde« eben jetzt die Gemüter erregte. Madame Iłłakowiczówna kam, Jan Lechón.
Und es erschien auch, den ganzen Weg her von Wien, ein exilierter, deutscher Autor, der sich durch seine Übertragungen polnischer Klassik Heimatrecht im Lande erworben hatte. Es war ein Mann von ansteckender Wärme und Freundlichkeit, überwallend beredt, in seinem Äußern so unordentlich wie ein Bohemien aus der Welt Murgers. Am Morgen nach seinem Vortrag hätte er abreisen sollen, er wurde in der Hauptstadt erwartet. Aber er blieb. Er blieb drei Tage, blieb fünf. Er war Tischgast in der Villa am Fluß und führte mit Elisabeth bis tief in die Nacht eine glühende Diskussion über gewisse Stellen in seiner Übersetzung Krasinskis. Tagsüber tauchte er alle paar Stunden im Buchladen auf. Er schien sich, aus welchen Gründen auch immer, von dem Städtchen am Dnjestr nicht trennen zu können.
Am Morgen des sechsten Tags begleitete Elisabeth ihn zur Bahn. Pjotr trug ihm die verwilderte Handtasche. Der Zug fuhr an, der Scheidende winkte noch lang.
Es war noch derselbe kleine Bahnhof, an dem Pattay angelangt war, weit draußen, »auf dem halben Weg nach Wien«. Der weiße Kalkbewurf am Gebäude blätterte ab, und wie Flecken kranker Erinnerung zeigte sich das alte österreichische Gelb.
Der Fiat stand draußen an jenem Platz, wo einst der Kutschwagen mit den zwei Steppenpferdchen auf Pattay gewartet hatte.
»Willst du jetzt ans Steuer, Bessie?«
»Nein, fahr du nur. Seitdem ich es ordentlich kann, bin ich nicht mehr so ehrgeizig.«
Die Straße ging immer geradeaus zwischen den spätwinterlichen Stoppeläckern. Einzelne Siedlungen wurden passiert, bescheidene Höfe, die zu Pattays Zeit nicht dagewesen waren. Trotz ihres geringen Alters wirkten sie schäbig, verwahrlost.
»Weißt du, Pjotr«, sagte Elisabeth, »eigentlich müßt' ich mich schämen. Da floriert jetzt der Laden, und berühmte Leute kommen und tragen vor, und für all das werd' ich gelobt. Und dabei stammt doch das Ganze von dir, ganz allein. Ohne dich wäre nichts da. Aber nie sagst du ein Wort, du erwähnst es gar nicht.«
»Bessie«, sagte Pjotr behaglich, »eins wird ein alter Mann noch vom Leben gelernt haben: daß man einen gewissen Satz nie aussprechen darf.«
»Was für einen Satz? Ich versteh' nicht.«
»Den Satz: Ich hab' es ja gleich gesagt. Das darf man nie aussprechen, im Bösen nicht und im Guten erst recht nicht.«
»Mein Gott«, sagte Elisabeth, »du wirst immer klüger. Gar nicht auszudenken, wie klug du sein wirst, wenn du wirklich mal alt bist.«
Sie lachten. Die Straße bog um, gleichzeitig senkte sie sich, und der Fluß kam in Sicht, hochgehend vom Eisbruch, weißgelb, mit treibenden Schollen.
»Der deutsche Herr hat feuchte Augen gehabt, wie er gewinkt hat vom Zug«, sagte Pjotr. »Solche feuchte Augen hab' ich schon öfters gesehen.«
»Ja, Pjotr, ist es nicht sonderbar? Mit mir muß was nicht in Ordnung sein. Ich merke schon selber, daß ich manchem gefalle. Aber wenn alle Mädchen so reagierten wie ich, dann wär's bald aus mit der Menschheit.«
»Wird schon kommen, wird schon kommen«, sagte Pjotr und warf das Lenkrad herum, um knapp vor der Brücke nach rechts einzubiegen.
»Ich weiß nicht, ob's kommen wird. Hier und in Warschau – es waren doch Männer dabei, die etwas vorstellen in der Welt, lebendige, bedeutende Menschen. Aber da regt sich nichts. Mir scheint, der einzige Mann, aus dem ich mir je was gemacht habe, heißt Pjotr Gargas.«
Es war gut, heiter und freundlich gemeint. Auf einmal sah sie, daß sich Pjotrs Hand derart um das Lenkrad krampfte, daß die Knöchel weiß wurden.
Sie erschrak. ›Um Gottes willen, was habe ich gesagt‹, dachte sie. ›Oh, ich hirnlose, fühllose, grausame Gans.‹
Denn vor den weißen Knöcheln an Pjotrs Hand war ihr die einfache Wahrheit seines Herzens aufgegangen.