Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Teil.
Pattay und Recha


I

Selbst in dem lebensheitern, duldsamen Wien von 1913, das einem Mitglied der Reichsaristokratie ungefähr alles erlaubte, hatten die Spiel-, Weiber- und Zweikampfaffären des Grafen Franz von Pattay eines Tages die Grenze erreicht, bis zu der sie übersehen werden konnten, und seine Versetzung nach einer der Kavallerie-Garnisonen im Nordosten der Monarchie wurde verfügt.

Der Kommandeur des Nobel-Regiments, bei dem er diente, wäre vielleicht willens gewesen, es nochmals bei einer letzten und vorletzten Warnung bewenden zu lassen. Er war dem glänzenden jungen Menschen gutmütig zugetan, auch war in dessen Ausschreitungen nichts, was mit den traditionellen Ehrengesetzen von Armee und Gesellschaft durchaus unvereinbar gewesen wäre. Die Strafversetzung kam über den Kopf des Obersten hinweg von der höchsten Stelle.

Die einzige nahe Verwandte des Exzedenten nämlich, eine Fürstin Weikersthal, verwitwete Schwester seiner Mutter, eine tyrannische und sehr bigotte Dame, hatte um Audienz in Schönbrunn nachgesucht und hatte vom Thron des achtzigjährigen kaiserlichen Pedanten den inappellabeln Spruch zurückgebracht. Es bereitete ihr ein ungütiges Vergnügen, ihn dem Betroffenen als erste zu verkünden.

Aber dem war zu ihrer Enttäuschung weder Erstaunen noch Bedauern anzumerken.

»Das kommt genau im rechten Moment, gnädigste Tante«, sagte er sofort. »Drei Jahre Amüsement in Wien sind wahrhaftig genug. Ich hoffe, Sie besuchen mich bald einmal dort in der Steppe, damit ich Ihnen meinen Zug vorexerzieren kann.«

Mit besserer Manier ließ sich eine fatale Lebensveränderung nicht hinnehmen. Der Gedanke, sich zu weigern und lieber den Dienst zu quittieren, als in einem öden Grenzstädtchen ukrainische Rekruten zu drillen, schien den Oberleutnant gar nicht zu streifen. Unter den Offizieren seines Regiments, die den liebenswürdigen Kameraden ungern verloren, hatte man dafür eine naheliegende Erklärung. Dem Befehl des Kaisers, meinte man, wäre schließlich zu trotzen gewesen, dem Wunsch der frommen Tante aber nicht. Denn sie allein stand zwischen Pattay und dem Familienvermögen. Überwarf er sich mit ihr, so ging er dereinst wahrscheinlich leer aus, und den Vorteil hatte die Kirche.

So fanden sich denn drei Wochen später in der zugigen Halle des Nordbahnhofs alle jüngeren Herren des Regiments zum Abschied versammelt. Eine ziemlich krampfige Ausgelassenheit stellte sich zur Schau. Man legte dem Abreisenden ans Herz, sich vor den sengenden Augen der schönen galizischen Judenmädchen zu hüten; einer beschenkte ihn mit prächtig gebundenen Wörterbüchern der polnischen, ukrainischen und jiddischen Sprache, da ohne Kenntnis all dieser Idiome in jener Gegend der Neuankömmling notwendig verloren sei; ein anderer überreichte ihm ein riesiges, in rosa Seide gehülltes Gefäß, von dem sich herausstellte, daß es Insektenpulver enthielt.

Der Exilierte nahm das alles mit gutem Humor auf, bestieg endlich den Waggon und umfaßte die bunte Eskorte mit einem abschiednehmenden Blick. Er trug bereits die Uniform der Ulanen, denen er zugeteilt war, den lichtblauen Waffenrock mit umgehängter silberner Patronentasche, die grellroten Hosen, die in den hohen Lackstiefeln steckten, und überm schmalen, kräftigen Gesicht die flotte Tschapka mit dem Haarschweif. Er grüßte noch einmal, schlug leicht die Hacken zusammen, daß es fröhlich klingelte. Die Wagentür knallte zu. Das letzte, was man von dem Scheidenden sah, war ein blaues und silbernes Blitzen.

 

II

Auf der vielstündigen Fahrt in den Reichsosten hatte Pattay Zeit, sich mit dem Wechsel in seinen Lebensumständen auseinanderzusetzen.

Seine Kameraden waren im Irrtum: er machte nicht einfach freundliche Miene zum bösen Spiel, und das bedrohte Erbe hatte mit seiner Bereitwilligkeit nicht viel zu tun. Praktische Schlauheit lag ihm fern, sein Wunsch nach Umkehr war echt.

Drei oder vier Monate früher wäre ihm selbst dergleichen noch unwahrscheinlich vorgekommen. Er fand an seinem Dasein nichts auszusetzen. Die Geldleute, bei denen seine Schulden aufgelaufen waren, saßen ihm nicht weiter drängend im Nacken, sie wußten, daß er mit hohen Interessen bezahlen würde, sobald der Familienbesitz an ihn fiel. Bei den Ehrenkämpfen, die er ausgefochten hatte, war Allerschlimmstes nicht geschehen. Meist hatte er durch überlegene Fechterkunst den Gegner entwaffnet; der eine bedenkliche Stich in die Schulter, mit dem er einem vorlauten Legationssekretär den linken Arm gelähmt hatte, belastete sein Gewissen keineswegs. Und was seine Abenteuer mit Frauen betraf, so war bis in die jüngste Zeit keines darunter gewesen, auf das er anders als mit einer halb heitern, halb gerührten Befriedigung zurückgeblickt hätte. Die wechselnden Damen, um die es sich handelte, ob nun seinem engern Gesellschaftskreis angehörig oder entgleisende Bürgerinnen, waren nicht von der Art, der das Ende einer leichtgeknüpften Verbindung gleich das Herz bricht.

Eine Ausnahme aber hatte es hier vor kurzem gegeben, und mit dem tragischen Ausgang dieser Episode war er zu seinem Befremden nicht recht fertig geworden.

Er hatte eigentlich keinen Anlaß, sich schuldiger zu fühlen als sonst. Das Mädchen war ihm anheimgefallen so leicht, womöglich leichter als andere vor ihr. Auch wußte er nichts von bedrohlichen Komplikationen, nichts war »passiert«, und er hatte nach einiger Zeit die Beziehung einschlafen lassen, ohne lauten Konflikt, mit geübter und schonungsvoller Allmählichkeit. Das Ganze schien gründlich abgetan, da vernahm er durch einen Zufall, daß sie schon seit vierzehn Tagen unter der Erde lag.

Er war erst nicht besonders erschüttert und brachte die Tat kaum mit sich selbst in Zusammenhang. Dann kehrten Einzelheiten in sein Gedächtnis zurück, und er konnte nicht mehr gut zweifeln. Aber was hatte sie denn erwartet? Daß ein Pattay, Letzter seines Hauses, das mit einem halben Dutzend regierender Familien und sogar mit Habsburg selber verwandt war, die Tochter eines Juweliers Blau heiraten würde? Seine Erinnerung an das reizende Geschöpf mit dem mächtigen Haar und den weiten, immer etwas angstvoll blickenden, sehr hellen Augen war weniger von Reue als von Unmut über so viel urteilslose Torheit gefärbt.

Da kam ihm, an einem Samstagnachmittag im September, auf der Ringstraße unvermutet ihr Vater entgegen, eine schwarze Figur im prächtigen Herbstsonnenlicht. Er kannte den Juwelier flüchtig und ging rasch mit sich zu Rat, ob es schicklich wäre, stehenzubleiben und eine Kondolation zu murmeln. Aber Siegmund Blau hatte ihn bereits von weitem bemerkt. Drei Schritte, ehe sie einander passierten, nahm er den hohen Hut vom Kopf und grüßte den ihm Entgegenklirrenden tief und respektvoll. Und dabei sah Pattay in seinen Augen, daß er alles wußte.

Es geschah weiter nichts. Es war der Vorgang einer Minute gewesen. Aber eigentümlicherweise behielt er mehr Bedeutung für Pattay als das traurige Ereignis, das vorausgegangen war. Es war die Demut im Blick und in der Geste des Mannes, die ihm nicht aus den Gedanken ging, dieses Sichbeugen, dies devote Hinnehmen einer empörenden Gegebenheit. Da war diesem Bürger ein Äußerstes, Furchtbares zugestoßen, und er wußte oder vermutete doch, durch wessen Schuld. Aber er lehnte sich nicht auf, er verbiß seinen Gram und grüßte den Zerstörer seines Glücks und seiner Hoffnungen mit einem servilen Schwung seines schwarzen Hutes.

Zum ersten Mal schien es Pattay, daß in seiner Existenz etwas nicht stimme. Er war ungeübt in Selbstbetrachtung und zu unwissend, um aus seinem Erlebnis allgemeine Erkenntnisse abzuleiten. Aber die klare Wirklichkeit, die ihn umschloß, erschien ihm zum ersten Mal anfechtbar. Sein Instinkt schrak zurück vor dem Zweifel; denn gab man dem einmal Raum, so tat sich ein Abgrund auf, und geheiligte, selbstverständliche Begriffe, Adelsprivileg, Ehre der Armee, ja der Begriff Österreich selbst, schwankten am Rande.

Er zuckte über sich selber die Achseln, suchte zu vergessen und wegzudrängen; aber der schwarze Hut des Juweliers Blau hing in der Schwebe zwischen ihm und dem heiter-festen Horizont seines bisherigen Daseins. Ein sonderbarer Mißmut, unangemessen seinen Jahren und seiner Position, schlich sich bei ihm ein. Er fühlte, daß er »heraus müsse«. In solch einer Verfassung traf ihn der Exilbeschluß, den ihm die Fürstin Weikersthal mit ungütigem Vergnügen überbrachte.

 

III

Der Bahnhof, gelb getüncht, lag ganz allein zwischen abgeernteten Hafer- und Maisfeldern. Zwei Herren vom Regiment, ein Fähnrich und der jüngste Leutnant, erwarteten Pattay, versorgten sein Gepäck und bestiegen mit ihm den leichten Wagen, dem zwei schwarzbraune Pferdchen vorgespannt waren, struppig wie russische Steppenpferdchen. Vom Bock grüßte mit seiner geflochtenen Peitsche ein blasser junger Jude mit Schläfenlocken.

»Es ist ziemlich weit bis zur Stadt«, sagte der Leutnant. »Unser Bahnhof liegt schon auf dem halben Wege nach Wien.«

Pattay hörte, daß das ein Witz sein sollte, einer von denen, die Generation auf Generation von Offizieren wiederholt, ein müder, abgetriebener, sehnsüchtiger kleiner Witz hier im Exil. Er lächelte höflich.

Die Straße ging immer geradeaus zwischen den Stoppeläckern, dann, unvermutet, bog sie um und senkte sich gleichzeitig, und der Fluß kam in Sicht, breit, gelbgrau, mit lautlos ziehenden Wogen. Der Trab der Steppenpferdchen schallte auf der hölzernen Brücke.

»Der Dnjestr«, sagte vorstellend der Fähnrich. Der Name schmeckte Pattay nach Rußland, nach Asien.

Drüben angelangt, durchquerten sie das Städtchen, in dessen engen, ungleich gepflasterten Gassen es kellerig roch. Die Häuser endeten unvermutet, und über ein Stück baumloses, strauchloses Land rollte man auf den langgestreckten, niedrigen Bau der Kaserne zu. Er zeigte dasselbe eigentümliche Gelb wie der Bahnhof, eine Farbe, nüchtern und anheimelnd zugleich, so wohlvertraut jedem, der in den Ländern der Monarchie zu Hause war. So sahen offizielle österreichische Bauten aus, von der Adria bis nach Böhmen und von der russischen Grenze bis Salzburg. Die Farbe stammte von dem kaiserlichen Schloß in Schönbrunn, wo der achtzigjährige Reichsverwalter saß, dessen Spruch Pattay hierher verdammt hatte.

»Wir haben dich in der Kaserne einlogiert, Herr Oberleutnant«, sagte wieder der ältere von den zweien, »die paar besseren Quartiere im Städtchen sind alle besetzt.«

»Es ist mir so lieber«, antwortete Pattay zu leichter Überraschung seiner Begleiter.

Das Zimmer, in das sie ihn führten, war ein großer, nicht hoher Raum mit teppichloser Holzdiele, sehr kahl und sehr sauber. Ein Kruzifix, schön geschnitzt, aus Barockzeiten hinterblieben, hing über dem spartanischen Bett, ein abscheuliches Öldruckporträt des Kaisers in großer Generalsuniform an der Wand gegenüber.

Die zwei Fenster gingen nach dem Hof hinaus, jenseits lagen die Stallungen. Pattay, als er herantrat, blickte auf eine Reihe von Pferdehinterteilen, auf deren blankgestriegeltem Fell die schräge Nachmittagssonne blitzte. Eine Sekunde lang dachte er an seine Junggesellenwohnung in einem oberen Stockwerk an der Herrengasse in Wien mit den Familienandenken aus vier Jahrhunderten, den Möbeln aus der Zeit Karls VI., dem Blick über heiter geschwungene Giebel hin nach der Hofburg.

Er wandte sich um, denn der ihm zugeteilte Bursche war mit den Gepäckstücken eingetreten. Er war ein ukrainischer Bauer, breitschultrig und fest, mit auffallend hochgeschwungenen Brauen über den gutmütigen Augen, sandfarben von Haar. In ziemlich gepreßter Erwartung schaute er auf den neuen Herrn, dies über ihn verhängte, unbekannte Schicksal. Mit seiner Hilfe begann Pattay sein mitgebrachtes Eigentum im Zimmer zu verteilen. Pjotr hielt die seidenen Hemden auf ausgestreckten Armen vor sich hin wie die Hostie. Aber dann begann sein unbekanntes Schicksal mit ihm zu plaudern, so wie es die lässigen Herren aus altem Blut allenthalben im weiten Reich mit ihren Untergebenen taten. Und ehe er die letzte Schublade wieder geschlossen hatte, war Pjotr, obwohl er Pattays Deutsch nur halb verstand, diesem aus der Wolke herabgestiegenen Halbgott verfallen – mit einer Liebe, von der noch seine Kinder und Enkel einen Strahl auffangen würden, wenn Pjotr vielleicht einmal alt war und Zeit hatte, sich zu erinnern.

Dann schnallte Pattay um, zog die Handschuhe an und setzte die Tschapka auf, um sich bei seinem neuen Kommandeur zu melden.

 

IV

Achtzehntausend Menschen wohnten in der Stadt, beinahe die Hälfte davon waren Juden. Aber sie schienen zu überwiegen, die ukrainische Bevölkerung, trotz der Buntheit ihrer ländlichen Tracht, trat vor ihnen zurück. Fast alle Kaufläden gehörten ihnen, armselige Buden zumeist von geringer Tiefe, jedoch mit schweren Fenstertüren versehen, die mit Eisen beschlagen waren. Die Juden handelten mit jedem Bedürfnis, mit Tuch und Linnen, mit Schnur und Knopf und Band und Litze, mit Schuhen und Kappen, mit Brot und Bier und Fetten und Butter. Sie waren Schneider und Kürschner, sie waren auch Schlosser und Kesselschmiede. Sie deckten die Dächer, sie fegten die Schlote aus, sie fuhren die Wagen. Sie waren überall. Die meisten von ihnen waren sehr arm. Die wenigen, die zu Wohlstand gelangt waren, der Besitzer des einen Warenhauses, das existierte, ein paar Wirte, die Eigentümer der Zuckerfabrik überm Fluß, lebten nach außen kaum anders als die Unbegünstigten, bestrebt, durch achtsame Wohltätigkeit Vorwurf und Neid von sich fernzuhalten. Furcht steckte ihnen allen im Blute, obgleich ihnen seit langer Zeit kein Anlaß dazu geworden war. Die eingeborene Bevölkerung nahm ihr Dasein hin als etwas natürlich Gegebenes.

Eingeboren waren sie eigentlich selbst, eingesessen hier seit sechs Jahrhunderten, aber in ihrem Blick war ewig und immer etwas von einem, der aufgescheucht werden kann mitten in der Nacht und um sein Leben rennen muß durch Wälder und Bäche.

Sie kamen aus Deutschland. Sie hatten dort den Rhein entlang gesessen, immer, seit ihre Ureltern den römischen Legionären über die Alpen gefolgt waren – bis nach einem Jahrtausend fortschwelendes Mißtrauen zu Haß und Verfolgung aufbrach. Es geschah im Jahre der schwarzen Pest. Millionen in Deutschland erlagen der Seuche, deren Ursprung geheimnisvoll war. Und die Fremdlinge trugen die Schuld. Die einst den Heiland ans Kreuz genagelt, sie hatten jetzt auch die Brunnen vergiftet, all das gute, klare, gesunde Wasser im deutschen Land, aus dem nun das Volk sich den Tod trank. Man erschlug sie dem Tausend nach. Die sich verbergen konnten, blickten verzweifelnd nach einer Zuflucht aus.

Ein Fürst tat seine Länder vor ihnen auf, die von Kriegen verheert und entvölkert waren, Kasimir, den das polnische Volk seinen Großen nennt – Friedensstifter, Verwalter, Schützer der Bauern, weit ausschauend, fühlend und unbetrügbar.

Die Juden kamen mit ihrer Todesangst, ihren geretteten Habseligkeiten, ihren wachen Talenten. Und sie kamen mit ihrem Deutsch. Das sprachen sie weiter. Dort hinten verwandelte es sich, die Wasser der Zeiten schliffen es ab. Aber die Juden sprachen es fort, so wie es gewesen war im Augenblick, als Deutschland sie mordend ausstieß. Ein paar Brocken aus ihrer Sakralsprache mischten sich ein, ein paar slawische Laute. Unkundigen, späten Ohren klang es verdorben, so wie die Juden es redeten, mit heftigem Tonfall, übermäßigen Gesten. Aber es war das Deutsch, das die Minnesänger geredet hatten und die staufischen Kaiser. Das Blut der Juden vergaß die Hügel und Ströme nicht, an denen sie tausend Jahre lang geglaubt hatten, Bürger zu sein.

Viele von ihnen, die älteren Leute zumal, gingen im langen schwarzen Kaftan herum, der den christlichen Bewohnern, soweit sich einer Gedanken machte, für ein Erbstück aus Asien galt. Doch er war etwas anderes. Er war der alte deutsche Bürgerrock, den ihre Urväter am Rheine getragen hatten. Er sah nicht stattlich aus an den Juden, der gotische Rock, schäbig und fleckig war er geworden im Staub und Drang der Jahrhunderte, und er paßte zu den bleichen Gesichtern mit den Schläfenlocken.

Bleich waren selbst die unter ihnen, denen ein physischer Beruf die Brust breiter machte und die Muskeln schwellte. Zu lange hatten ihre Voreltern in den Lehrhäusern und Betschulen gesessen, gebückt über den aufgehäuften Geistesschatz der Rabbinen, Gemara und Mischna – mit dem stillen Hochmut derer, die im Buchstaben der Wahrheit wohnen. Solcher Betstuben gab es noch heute Dutzende in der kleinen Stadt, niedrig alle, luftlos und lichtlos, ohne einen Schmuck, ohne ein Bild. Und so ungesund wie hier war das Atmen in ihren dumpfen, schmalfenstrigen Häusern und Kaufgewölben, in den ungepflasterten, feuchtriechenden Gassen, die nur an einer Stelle sich jählings auftaten zum freien, unmäßig geweiteten Ringplatz.

In seiner Mitte erhob sich das städtische Rathaus, ein neuer und häßlicher Bau, in irriger Gotik errichtet, und jenseits des Rings im Umkreis andre offizielle Gebäude: unterm selben figurengeschmückten Dach Gericht und Finanzamt; die Bezirkshauptmannschaft, zweistöckig, vornehm nüchtern und kaisergelb; und die griechisch-katholische Kirche, schief zur Front stehend, ein unübersichtliches Gebilde, ganz aus Holz, mit drei ungleichen Kuppeln, das hier gewesen war, ehe alles andere kam. Die Synagoge der Juden stand nicht hier am Platz, sie hielt sich verborgen irgendwo in der Enge. Aber das Kaufhaus Gelbfisch und Sohn war da, und das Hotel »Zum Erzherzog Rainer«, Besitzer Salomon Löw.

Dies war eine jüdische Stadt – die Offiziere des Ulanenregiments wußten es alle nicht anders. Neuherversetzte nahmen vielleicht in den ersten Tagen befremdeten Anstoß, ungeschickt versuchten sie, das singende »Mauscheln« und die fremdartige Mimik zu imitieren. Die Eingewöhnten lächelten nur gelangweilt und wußten, das würde sich geben.

Antisemitismus galt als sehr schlechter Stil unter den Herren, es roch ihnen nach ungelüfteten Spießbürgerstuben. Man wußte, daß er von gewissen Parteien im politischen Kampfe verwendet wurde, um das Selbstgefühl der kleinen Leute zu kitzeln und ihre Wahlstimmen zu fangen. Man selbst stand viel zu hoch und unangefochten, um Abneigung gegen die bleichen Fremdlinge zu fühlen. Ja, die geistig lebendigeren unter den Herren achteten in deren starr bewahrter Eigenart, diesem Festhalten an absurden Gesetzen, Bräuchen und Sprachformen, sogar etwas unbestimmt Verwandtes, einen weithergekommenen, etwas herabgekommenen Aristokratismus.

Aber nicht gab sich der Schock bei manchen der »Einjährigen«, jungen Leuten aus wohlhabendem Haus, deren Privileg es war, kürzern Armeedienst zu leisten als das besitzlose Volk. Für diese Söhne von Wiener Bankiers und Brünner Fabrikanten war der Tonfall des Jiddisch, der Anblick der Figuren im Kaftan ein täglich erneuerter Stich. Denn ihr Ehrgeiz war es, in Manier und Rede ganz der Herrenklasse zu gleichen, ja vielleicht in gnädigen Ausnahmefällen zu ihr aufzurücken. Und furchtbar war ihnen die Vorstellung, einer der Offiziere könnte in Gedanken die Brücke schlagen zwischen ihnen und diesen Händlern. Eisig und zitternd blickten sie über die blassen Verwandten hinweg, die mit ausfahrenden Gesten vom Mittelmeer das Deutsch Herrn Walthers von der Vogelweide sprachen.

 

V

Man hatte sich im Regiment von Pattay, dem sein verwegener Ruf vorausflog, allerlei Neubelebung versprochen. Aber schon nach den ersten Tagen griff Enttäuschung Platz. Denn mit anspruchsloser Selbstverständlichkeit fügte der Held eleganter Gerüchte sich in den gleichförmigen Tageslauf ein, gar nicht gewillt offenbar, ihm durch exzentrische Darbietungen frische Farben zu geben.

Blieben die Herren nach der Abendmahlzeit beim Wein im Kasino beisammen und fingen die Anekdoten und Erzählungen an, gewagter und schließlich eindeutig zu werden, so lachte er gutwillig auch zu den weniger geglückten Pointen, trug aber selbst nichts Nennenswertes bei. Ging man dann, was ziemlich regelmäßig geschah, zu substantielleren Vergnügungen über und wurden zur Bakkarat-Partie die Karten fächerförmig auf den Tisch ausgebreitet, so pflegte er sich zu empfehlen und auf sein Zimmer zu gehen. Das hielten erst manche für Hochmut. Vermutlich reizte ihn dieses kleine Jeu unter Kameraden nicht mehr, nach allem was er in seinen Wiener Clubs mitgemacht und mitangesehen hatte.

Und dabei war dieser nächtliche Zeitvertreib durchaus nicht so bescheiden und unschuldig. Im Gegenteil, es ging recht verantwortungslos zu unter den gelangweilten Herren hier an der Grenze. Sah man sie in sonniger Harmonie an der Abendtafel beisammen, so wäre niemand auf die Vermutung gekommen, wie schwer verschuldet hier einer dem andern war. Denn im allgemeinen wurde mit der Bezahlung nicht gedrängt, die Gewinner – es waren fast immer dieselben – ließen die Kette schleifen, da sie unzerreißbar war. Dem präraffaelitischen Gesicht des Leutnants Baron Seldnitzky zum Beispiel sah niemand an, daß er seinem ältern Nachbar am Tisch eine Summe schuldete, von der dieser längst entschlossen war, sein verlorengegangenes Stammgut in Kärnten dereinst arrondiert zurückzukaufen. Auch die einjährig dienenden jungen Leute waren trotz ihrer gesellschaftlichen Zwitterstellung nur allzu willkommene Teilnehmer, und gewisse Industrielle in Wien und Brünn ahnten nicht, mit welch ruinösen Beträgen ihre Unternehmungen für die Zukunft belastet waren. Einmal, ein paar Jahre früher, war im Zusammenhang mit diesen Zerstreuungen ein Selbstmord vorgekommen, und damals war ihnen ein Ende gesetzt worden. Aber das war vergessen, und der jetzige Kommandeur sah seinen Herren sehr vieles nach, wenn nur der Dienst nach seiner Zufriedenheit lief.

Auch in dieser Richtung bot der Neuangelangte Anlaß zum Erstaunen. Wer ihn auf dem Gelände sah, wie er mit nicht ermattender Geduld begriffsstutzigen Rekruten kurzen und langen Trab beibrachte, keinen geringsten Mangel an Adjustierung, Sitz und Haltung übersah und von diesen Übungen in Staub oder Regen mit unberührt heiterer Laune nach der Kaserne zurückkehrte, der mußte zum Schluß kommen, daß der Reichs- und Altgraf von Pattay und Schlern, Verwandter der Dynastie, in dieser Tätigkeit den ausfüllenden Inhalt seiner Existenz gefunden habe.

Man begann zu glauben, daß er militärisch ehrgeizig sei, etwas ganz Unwahrscheinliches bei einem österreichischen Kavallerieoffizier aus vornehmem Haus. Und die Vermutung wurde bekräftigt, als nacheinander mehrere Büchersendungen aus der Hauptstadt für ihn eintrafen und er die Gewohnheit annahm, seine privaten Stunden studierend auf seiner Stube zu verbringen.

Dergleichen war nicht erschaut worden. In seinen Kreisen galt es als guter Ton, auf Bildung und Wissenschaft ironisch herabzublicken, sich noch uninteressierter zu stellen, als man in Wirklichkeit war; die Pose eines halben Analphabetentums gehörte zum Schick.

Nicht, daß sich Pattay zu Strategie und Taktik besonders berufen gefühlt hätte; die Beschäftigung mit ihren Problemen fiel ihm schwer. Nie geschah es ohne Widerstand, daß er einen der gewichtigen Bände vom Regal nahm, Clausewitz oder Willisen, Puysegur oder Gilbert. Da er sich von hier aus leichteren Zugang versprach, ließ er sich eine »Geschichte der österreichischen Kavallerie« von seinem Buchhändler schicken; aber die Darstellung langweilte ihn so unsäglich, daß die ritterliche Waffe, der er angehörte, von Kapitel zu Kapitel mehr von ihrem Schimmer verlor. Trotzdem ließ er nicht ab.

Der Kommandeur der Ulanen hatte Weisung erhalten, nach Ablauf des ersten Vierteljahres der höchsten Stelle ein Gutachten über die Konduite des Oberleutnants einzureichen. Das Gutachten fiel über jede Erwartung günstig aus. Der pedantische Oberherr in Schönbrunn ließ eine Abschrift davon der Fürstin Weikersthal zuleiten, und als sie nach der Lektüre ihre Lorgnette von den Augen nahm, waren die Aussichten der Kirche auf das Pattaysche Familienvermögen in sich zusammengefallen.

Pattays tugendhafte Schrullen oder was man im Regiment dafür hielt, hätten vielleicht einen anderen mißliebig gemacht. Aber Pattay war hilfsbereit, gutlaunig, ein angenehmer Gesellschafter – ohne neiderregend glänzend zu sein. Eine gute Akquisition.

Der Rittmeister Schaller allein schien ihn dafür nicht zu halten. Vom ersten Augenblick an brachte er Pattay eine steife Kälte entgegen, eine ganz offenbar physische Abneigung.

Ferdinand Schaller war ein Mann aus mittlerm Beamtenstamm, Sohn und Enkel strebsamer Justiz- und Finanzfunktionäre, immer mit subalternem Argwohn auf seiner Hut. Alles war ihm zuwider an Pattay, seine nachlässige Freundlichkeit, in der er Mißachtung witterte, die gestreckte Reiterfigur mit den sorglosen Bewegungen, das schmale und feste Gesicht mit den empfindlichen Schläfen und dem verwöhnten Mund. Dieser Mund besonders war ihm verhaßt. Ihm selber hatte schon in der Kadettenanstalt seine stramme Soldatenerscheinung den unfreundlich gemeinten Spitznamen »der Preuße« eingetragen. Preußisch wirkte zumal sein rechteckig geschnittenes, unbestimmt blondes Haar, das aufrecht über der engen, ledern gefurchten Stirn stand.

Der Rittmeister war verheiratet und Vater von vier ungewöhnlich reizlosen Kindern. Er war bekannt für seine humorlose Strenge im Dienst, für seinen Geiz und für seinen giftigen Judenhaß, der beim unzureichendsten Anlaß hervortrat und über den man im Regiment leicht angewidert die Achseln zuckte.

 

VI

Wenn für die Ulanen Wien das entrückte Ziel von Wünschen und Träumen war, so sah im erreichbaren Umkreis die Stadt Lemberg einer Großstadt am ehesten ähnlich, und man fuhr hin, so oft es sein konnte. Am frühen Samstagnachmittag pflegte man im Rudel die dreistündige Fahrt nach der Ersatzmetropole anzutreten.

Im Hotel wurden unter viel Gelächter und Türenschlagen die bestellten Zimmer okkupiert. Dann blieb eben noch Zeit für ein hastiges Mahl vor der Vorstellung im Varieté, deren Beginn man niemals versäumte. Dem Etablissement, wo sie stattfand, hatte sein weltkundiger Gründer einst den Namen »Vauxhall« verliehen, was niemand recht aussprechen konnte.

Man war in Zivilkleidung. Trotzdem kannte jedermann die Ulanenoffiziere, die regelmäßig die beiden großen Logen rechts an der Bühne besetzt hielten, eine auf dem Niveau des Parterres und eine in Höhe der Galerie. Man ließ sich Champagner servieren während der Vorstellung, und es herrschte ungenierter Verkehr zwischen oben und unten. Ja, es war vorgekommen, daß einer der Herren halsbrecherisch an einer der vergoldeten Karyatiden hinunterkletterte, was den Ablauf des Programms auf einige Augenblicke unterbrach.

Dies Programm bestand aus einer sogenannten Revue, einer an dünnem Handlungsfaden aufgereihten Folge von burlesken und sentimentalen Spielszenen, Exzentrikakten, Gesangsnummern und Ballettdarbietungen, bei welch letzteren in der Kostümierung der Tänzerinnen von der Duldsamkeit der Polizeibehörde dankbar Gebrauch gemacht war. An Samstagabenden galten das Lächeln und die freigebigen Gesten der Mädchen vorwiegend den beiden Proszeniumslogen, deren Inhaber man sämtlich bei Vornamen kannte. Und der Nachtportier des Hotels, in dem die Ulanen abgestiegen waren, konnte an diesen Samstagen auf Trinkgelder rechnen, wie er sie während der Woche vom bürgerlichen Reisepublikum nicht empfing.

Pattay hatte an den vergnügten Ausflügen nie teilgenommen, und er zeigte auch dann kein Verlangen danach, als man ihm, schon in der zweiten Hälfte der Theatersaison, mit einer besonderen Verlockung zusetzte. Die berühmte Recha Doktor, hieß es, sei wie alljährlich zum Gastspiel eingetroffen, sie zu bewundern könne und dürfe er nicht versäumen, sie sei das Beste, ja eigentlich das einzige, was diese gottverlassene Provinz an wahrem Kunstgenuß zu bieten habe. Nicht einmal in Wien, wo sie unverständlicherweise noch niemals aufgetreten sei, gebe es Ähnliches. Aber als er sich schließlich erkundigte, worin denn bei dieser Recha das Außergewöhnliche bestehe, bekam er nicht viel Präzises zu wissen, er hörte nur immer wieder, sie sei einmalig, göttlich; denn die Fähigkeit, empfangene Eindrücke wiederzugeben, war unter den Ulanen wenig entwickelt.

Wieder einmal standen die Herren zum Aufbruch beisammen. Und mehr zum Scherz, ohne an einen Erfolg zu glauben, drang man nochmals auf Pattay ein. Dies sei eine letzte oder vorletzte Gelegenheit; Recha Doktors Gastspiel gehe schon seinem Ende entgegen.

Der Rittmeister Schaller hatte heute ausnahmsweise an der Mittagstafel im Kasino teilgenommen, vermutlich weil seine Gattin zu Hause große Reinigung abhielt. Er schnallte sich eben den Säbel um.

»Recha Doktor«, sagte er laut in die Unterhaltung hinein. »Ich wollte, ich brauchte von dieser dreckigen Judengeiß nichts mehr zu hören.« Die Herren verstummten.

Pattay war rot geworden bis unter die Haare.

»Da werd' ich heut also mitfahren«, hörte er sich selber sagen. Es kam Schlag auf Schlag, war ganz deutlich die Antwort an Schaller.

Der Rittmeister fuhr herum und starrte Pattay ins Gesicht. Aber die Situation bot keine Handhabe für ihn. Er grüßte summarisch und klirrte hinaus.

Pattay ärgerte sich. Einen Augenblick vorher hatte er durchaus nicht die Absicht gehabt mitzufahren. Was fiel ihm denn ein, sich zum Ritter für eine unbekannte Varietédame aufzuwerfen. Ach, er wußte schon, was ihm einfiel. Der ganze Auftritt hätte schwerlich stattgefunden, hätte es nicht in seiner Vergangenheit ein unverständiges Mädchen gegeben, das eines Nachts zwanzig Veronaltabletten in ein Glas Wasser rührte, und nicht den hohen schwarzen Hut des Juweliers Blau, der jenen weiten, so entsetzlich demütigen Bogen beschrieb. Aber das war es durchaus nicht allein.

Während der ganzen Bahnfahrt saß Pattay mißmutig schweigend in seiner Coupé-Ecke.

Es war leider klar, daß er den Rittmeister Schaller haßte, genauso oder schlimmer als jener ihn. Denn seinem eigenen Haß war eine reichliche Portion Ekel beigemischt. Er war dem Mann aus dem Wege gegangen, was meist gelang, denn der Rittmeister war ihm nicht unmittelbar vorgesetzt. Aber kamen sie doch in Berührung und reichte der Mensch ihm die Hand, so spürte Pattay jedesmal ein Bedürfnis, sich die Ärmel bis zum Ellbogen aufzustreifen und sich minutenlang Hände und Arme zu waschen.

Es lag durchaus nicht in seiner Gewohnheit, so mit Ekel zu hassen. Sich kräftig zu ärgern, jawohl. Aufzubrausen, jawohl. Dafür waren seine Ehrenhändel ein Zeugnis. Aber wenn er früher in Wien in der Morgenfrische einem Kontrahenten gegenübertrat, so wußte er gewöhnlich kaum mehr, warum er sich schlug, und das Ganze tat ihm schon leid.

Dies hier war anders. Im kalten, schnöden, giftigen Pedantismus dieses Menschen spürte er seinen Widersacher von Natur aus. Pattay lehnte in seiner Ecke, er hatte die Augen geschlossen, er war nicht mehr ganz wach. Er stand dem Rittmeister gegenüber auf dem nachtnassen Rasen, nackt beide bis zum Gürtel, er hörte den Unparteiischen zählen, er faßte eisern in seinen Säbelkorb, fiel aus und spaltete mit einem sausenden Hieb diese ledern gefaltete Stirn.

Jemand berührte ihn an der Schulter. Man war angekommen.

 

VII

Die Handlung der diesjährigen Revue in der »Vauxhall« überschritt an dürftiger Albernheit noch das sonst übliche Maß. Ihr Mittelpunkt und komischer Held war Herr Dienstel aus Lemberg, den seine eifersüchtige Gattin eines Fehltritts mit seiner Sekretärin verdächtigt und wild bedroht. Herr Dienstel flieht. Die Rasende setzt ihm nach, rund um den Planeten.

Überall erwartet Herrn Dienstel die Verlockung in Gestalt schöner Exotinnen, in der Türkei und in Indien, in Japan, auf den Inseln der Südsee und in Peru. Überall findet er eben noch Zeit, der Versuchung auch zu erliegen. Überall kommt die Verfolgerin knapp zu spät. Bis er zuletzt, vom atemlosen Liebesglück erschöpft und bereit zu kapitulieren, wieder im heimischen Lemberg eintrifft. Hier klärt sich erlösend alles auf. Denn nie hat Herr Dienstel sich mit jener Sekretärin vergangen, der Verdacht seiner Gattin war falsch, und mit Rührung zieht sie den maßlosen Sünder an ihre reuige Brust.

Der Herr aus Lemberg war sonst auch schon aus Krakau gewesen, aus Beuthen, aus Breslau, aus Łódź, je nach dem Ort, wo die Truppe gastierte. Varieté-Unterhaltung jeder Art, Zauber-, Jongleur- und Groteskakte, fügten sich seiner erotischen Flucht mühelos ein. Und was die Hauptsache war, fremdartige Tänze, vom Bauchtanz über den Geishatanz zum Fandango, boten den hübschen Mädchen des Chors reiche Gelegenheit zur Darstellung ihrer Reize. Siebenmal hatten sie in rasender Eile das Kostüm zu wechseln. Nur vor und nach dem Akt in der Südsee war ihnen eine Atempause gegönnt. Denn hier trugen sie beinahe gar nichts. Aber während dieser Umzüge und während hinten eine neue exotische Kulisse aufgebaut wurde, trat vor den Zwischenvorhang die Sängerin Recha Doktor und sang ihr Lied.

Bei solchen Einlagen pflegte sonst das Publikum sich gehenzulassen, niemand hörte recht hin, man lachte und schwatzte laut in Erwartung des Kommenden. Hier war es umgekehrt. Kaum schloß sich der Vorhang und Recha Doktor kam seitlich hervor in ihrem schwarzen, anliegenden Kleid, so trat freudige Stille ein. Man wollte keine Note verlieren.

Sie war eine brünette, zierliche Frau, mit weitgeschnittenen, sehr dunklen, redenden Augen und mit prinzessinnenhaft schmalen Händen und Füßen. Sie verschmähte beinahe die Geste, und ihre Mimik war sparsam. Aber jede winzige Regung in diesem bräunlichen Gesicht übertrug sich. Sie senkte die schweren, gewölbten Lider, und durch einen Schleier der Sehnsucht blickte der Zuschauer in eine geahnte schönere Welt. Sie drückte vor einer Pointe den einen Augenwinkel kaum merklich zu, und eine Verheißung zartester Freuden fuhr noch dem Gelassensten elektrisch durch alle Sinne.

Ihre Stimme war nicht sehr groß, sie war von einer gedeckten, etwas scharfen Süße, aber Recha Doktor beherrschte dies Mittel vollkommen. Ihre Souveränität, dies Spielen mit ihrer Wirkung, war das eigentlich Mitreißende an ihr. Berühmt war ihre Kunst zu pausieren. Es kam vor, daß sie solch eine Pause dehnte, dehnte, bis die Empfindung der Hörer zum Zerreißen gespannt war, und der Einsatz wirkte wie Erlösung aus einer süßen Qual. Wenn dann der Applaus losjubelte, während sie sich damenhaft ein wenig verneigte, das Orchester exotisch ausbrach und hinter ihr der Vorhang sich voneinandertat zum Massenauftritt, so blieb in ihrem Publikum ein wundervoll unbestimmtes Verlangen zurück, eine ohnmächtige, begeisterte beglückende Ungestilltheit.

Nicht leicht konnte ein Künstler in elenderem Material zu arbeiten haben als die Sängerin Doktor. Gott weiß, daß die Verfasser ihrer Chansons sich durch Geschmack oder Anstand keine Beschränkung hatten auferlegen lassen. Das schielte und kicherte nur so vor grundordinärer Dummheit. Aber in ihrem Munde war nichts gemein.

Da war zum Beispiel das Chanson, mit dem sie im ersten Zwischenakt Herrn Dienstels erotische Erlebnisse in Japan vorzubereiten hatte. »In Europa ist alles so groß, und in Japan ist alles so klein«, lautete sein Refrain, und das ließ, zusammen mit dem Rest der drei Strophen, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Aber nur die allerprimitivsten Besucher dieser Samstagsvorstellung reagierten mit Grinsen auf die Absicht der Textfabrikanten. Die meisten schlossen ihre Augen und lächelten, fremdartig angerührt. Denn Japan war da, ein Traum- und Illusions-Japan, mit all seiner Zierlichkeit, seinen Häuschen aus Bambus, gezirkelten Zwerggärtchen, seinen leisen, delikat sich verneigenden Menschen, das alles bedroht von einer grob redenden, laut dahertrappenden Rasse – in Europa ist alles so groß, und in Japan ist alles so klein. Es war entzückend, und der hingerissene Beifall hatte gar nichts von einer Quittung über einen unanständigen Witz.

Trotzdem verließ, während dieser Beifall noch scholl und der Vorhang auseinanderging zum Aufzug der zwanzig hochfrisierten Geishas, einer der Offiziere nervös und hastig die Loge, riß Hut und Mantel vom Haken und eilte durch das hallende Vestibül. Draußen schlug er den Kragen hoch und begann in der windigen, regnerischen Februarnacht einen ziellosen Spaziergang. Er ging um den Rynek, an Rathaus und Kathedrale vorbei, durchquerte den Park, gelangte zur Krakauer Vorstadt hinaus und kehrte in großem Bogen zurück, entlang dem Gitter des alten jüdischen Friedhofs, durch das die versinkenden Steine regennaß schimmerten.

Er glaubte, weit gegangen zu sein. Aber es war noch lange nicht Mitternacht. Und erst um zwei kam der Expreß aus Deutschland hier durch, mit dem Pattay nach seiner Garnison zurückfahren konnte.

 

VIII

Aber am Montag, nach beendetem Dienst, nahm er den Abendzug und kam noch zurecht, um sie ihre beiden letzten Lieder singen zu hören. Kaum tat sie den Mund auf, so war der unertragbar gemischte Zustand von Bezauberung, Zorn, Scham und ratlosem Verlangen wieder da, der ihn in der Samstagnacht aus dem Hause getrieben hatte. Doch diesmal hielt er aus bis zum Schluß. Dann ging er um das Theater herum an den Bühneneingang.

Er blickte durch die Glasscheibe hinein. Er sah in seiner Loge den Portier, einen freundlichen jüdischen Alten mit schwarzem Käppchen und dünnem, rundem Bart, wie er den Choristinnen zunickte, die einzeln oder zu zweit die steinerne Treppe herunterkamen. Heute, am Wochentag, wurden sie von niemand erwartet. Jede, die herauskam, blickte neugierig in Pattays Gesicht. Dann erschien der muntere Herr Dienstel. Er trug einen mitgenommenen Krimmerpelz und eine Krimmerpelzmütze, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und hüstelte grämlich.

Pattay hatte schon die Hand auf dem rotlackierten Drehknauf der Tür. Aber er entschloß sich nicht. Er trat zurück in den Schatten und überlegte. Und zu spät nahm er wahr, daß eine der beiden Frauen, die eben das Theater verlassen hatten und den Bäumen der Promenade zustrebten, den Umriß der Gesuchten aufwies. Er folgte ihnen nicht. Es erleichterte ihn, die Entscheidung hinauszuschieben. Eigentlich wartete er auf den Moment, da er aufwachen würde, sich die Stirne reiben, über sich selber in Lachen ausbrechen. Aber dieser Moment kam durchaus nicht.

In einem Kaffeehaus am Halickiplatz, in einer Ecke, wo das Licht schon ausgedreht war, saß er, bis die Dame am Buffet ihre Kasse verschloß und rings um ihn her die Kellner die Stühle auf die Tische stellten. Im Zuge schlief er ein wenig und war in seiner Kaserne zurück – eine Stunde, ehe der Dienst begann.

Er fuhr am Dienstag, am Mittwoch, kam keinen Schritt weiter und stieg an jedem frühen Morgen aufs Pferd, übernächtig, mit schmerzenden Augen. Endlich, am Donnerstag, drehte er den roten Türknauf, schritt rasch an dem Alten vorbei, der ihn erst anrief, als er schon auf der Treppe war, und fand oben gleich ihre Garderobe. Es war eine Art Bretterverschlag; ihr Name, der seltsame Nachname nur, stand auf einem Stück Pappe zu lesen.

Sein Entschluß entsank ihm. Die Kehle war ihm so trocken, er räusperte sich laut. Spaltweit öffnete sich die Türe, und jemand schaute heraus. Eine großgewachsene Frau kam hervor und fragte nach seinem Begehren. Die Tür fiel hinter ihr zu.

Pattay vermutete oder wußte vielmehr, daß es die Frau war, mit der zusammen die Sängerin damals im Dunkel verschwunden war. Es war das versorgte, eher harte Gesicht einer Frau in den Fünfzigern. Die offene Gasflamme neben der Tür beschien scharf ihren stumpfschwarzen Scheitel, in dem jedes künstliche Haar ordentlich und einzeln neben dem andern lag.

»Wollen Sie bitte dem Fräulein meine Karte geben.«

Die Frau streckte die Hand nicht aus.

»Sie empfängt niemand in ihrer Loge.«

»Dann werde ich warten.«

»Sie schließt keine Bekanntschaften.«

Er lächelte ironisch, und sogleich schämte er sich. Das war ein Lächeln aus vergangenen Tagen gewesen.

»Vielleicht bestimmen Sie das Fräulein, eine Ausnahme zu machen«, sagte er immerhin, und tat eine Bewegung nach seiner Brusttasche.

»Geben Sie sich gar keine Mühe. Ich bin ihre Tante.«

»Das freut mich«, sagte er sinnlos.

Hinter der Frau ging die Tür auf, und Recha Doktor trat heraus, in schwarzem, anliegendem Mantel, mit einem dreieckigen kleinen Hut. Die bräunliche Blässe ihres Gesichts schimmerte warm im Licht. Ihre weiten Augen sahen an Pattay vorbei.

»Sie sollten hier keine Auftritte machen«, sagte die süße und scharfe Stimme. »Es ist völlig nutzlos.«

Pattay stand da, den Hut in der Hand. »Die Situation ist ganz ungehörig«, sagte er. »Aber ich wußte nicht, wie ich es sonst anstellen sollte, Sie zu sprechen.«

»Gar nicht«, sagte sie sehr entschieden. »Gar nicht sollen Sie es anstellen. Ich hoffe, Sie verstehen das.«

Die Tante war in die Garderobe zurückgegangen, in der noch Licht brannte. Pattay sah sie drinnen den Mantel umnehmen, sich ein Tuch übers Haar legen, die Flamme über dem Toilettentisch löschen. Sie kümmerte sich um nichts mehr, schien beruhigt, daß ihre Nichte selbst für sich sorgen würde. Dann kam sie wieder heraus und wartete gelassen.

»Gehen Sie nun«, sagte die Sängerin. »Meine Deutlichkeit müssen Sie mir verzeihen. Es ist besser, Sie sehen gleich klar.«

»Das tue ich. Ich sehe vollkommen klar. Ich verwechsle Sie mit nichts und mit niemand. Beweisen läßt sich so etwas freilich nicht.«

»Nein, nicht wahr«, sagte sie mit einem geringschätzigen Lächeln, »beweisen läßt es sich nicht.«

»Vielleicht ist es ein Beweis, ein ganz kleiner, wenn jemand seine Nächte im Zug verbringt und nie mehr ordentlich schläft, um Sie singen zu hören.« Und er nannte das Städtchen, aus dem er kam.

»Es ist einer von diesen Ulanen, Kind«, sagte die Tante. Da sie das Ganze für erledigt hielt, ging sie langsam voraus, der Treppe zu. Recha schickte sich an, ihr zu folgen. Rasch sprang er weiter.

»Ich komme nur immer zum Ende zurecht. Sie tragen wundervoll vor. Aber doch ist es jedesmal eine Qual.«

»Sie sollten das aufgeben.«

»Es ist nichts, was man aufgeben kann.«

Zum erstenmal lächelte sie. Sie blickte ihn flüchtig an, sah gleich wieder weg und war errötet.

»Sie werden schon wieder schlafen. In zehn Tagen bin ich weit fort, in Warschau. Was machen Sie dann?«

»Dann nehme ich meinen Abschied und folge Ihnen.«

Sie sah ihm jetzt gerade ins Gesicht, und ihr Blick leuchtete feindselig.

»Sagen Sie das noch einmal!«

»Ich nehme meinen Abschied und fahre nach Warschau.«

»Sie sollten sich schämen, solchen Unsinn zu reden. Was fällt Ihnen ein! Wahrscheinlich hat man Ihnen gesagt, ich sei schwierig. Da kommen Sie hinter die Bühne gelaufen und fahren Ihr gröbstes Geschütz auf. Jawohl, Sie nehmen den Abschied! Sie fahren nach Warschau! Man wird doch noch zustande kommen mit so einer Jüdin vom Tingeltangel. Wahrscheinlich haben Sie Geld drauf gewettet! Oh, wie ekelhaft und wie dumm!«

Sie mußte aufs Blut verwundet sein. Ihre Augen hatten sich mit Zornestränen gefüllt. Sie schwieg. Man hörte in der plötzlichen Stille die Gasflamme singen. Dann kam von unten die Stimme der Tante, die ungeduldig ihren Namen rief.

»Ich liebe Sie«, sagte Pattay. »Sie wissen schon, daß ich nicht lüge. Es zählt sonst nichts mehr für mich.«

 

IX

Der auffallende Familienname kam von weither. Vor Jahrhunderten hatte in der Stadt Lublin ein Doktor Schalom Schachna gewirkt, Großrabbiner und Oberster Judenrichter, hochberühmt als ein erleuchteter Talmudkenner und Wohltäter, vom polnischen König wertgehalten, in den Akten der Zeit nicht anders genannt als »Doctor Judaeorum Lubliniensium«.

So stolz waren seine Nachkommen auf ihn gewesen, daß sie unter wechselnden Formen seinen gelehrten Titel im Namen beibehielten. Schließlich blieb nur der Titel noch übrig. Aber zu dieser Zeit wußten die Urenkel nichts mehr von Schachna.

Es hatte Ärzte, Rechtskundige und viele Rabbiner unter ihnen gegeben, aber auch das lag zurück. Längst brachten sie sich als kleine Geschäftsleute fort, waren Flickschneider, Schuster, Althändler, Hausierer. Vor dem Hause am Markt, wo der Großrabbi einst residiert hatte, riefen sie hinterm Karren im Singsang ihre schäbigen Waren aus.

Die heute übrig waren, wohnten nicht mehr in der Stadt, sondern im Vorort Wieniawa, einer dörflichen Judensiedlung, zu der ein gewundener Pfad zwischen Sümpfen hinausführte.

Straßen gab es hier nicht, nur lehmige Bodenwellen, unordentlich bestanden mit versinkenden Hütten. Seltsam erhob sich auf einem Hügel in schönem, einfachem Umriß die Synagoge, einst Stolz, Trotz und Lebenssinn inmitten schmutziger Armut. Das war dahin. Unterm Alter und unter den Regengüssen war ihr Dach eingebrochen. Man hatte die Thorarollen und silbernen Geräte fortschaffen müssen aus dem durchnäßten Bau. In einer kahlen Betstube nahebei fand die Gemeinde sich zusammen zum Gottesdienst. Die Judenschaft von Wieniawa war zu arm, ihren Tempel zu flicken.

Die Familie Doktor bewohnte ein schiefes, ebenerdiges Haus nahe bei einer kleinen Wassermühle, die Tag und Nacht klapperte. Zwischen dem Hinterhof und der Mühle standen zwei kräftige Eschen, schöne Bäume, rötlich blühend im Frühjahr, breitschattend im Sommer. Es waren die einzigen Bäume in Wieniawa.

An jedem Werktagmorgen, sehr früh, nahm der Händler Abram Doktor den Zugriemen um die Brust und brach auf nach der Stadt mit seinem Karren voll Posamenterie – Borten und Bändern, Flicken und Zwirn, Nadeln und Knöpfen. Seine drei Kinder hatten keine Mutter; sie war an der Geburt des kleinen Efraim gestorben, der nun zehnjährig war. Die Schwester der Verstorbenen, Chana, besorgte den Haushalt.

Der ältere Sohn, Józef geheißen, hatte sich mit seinem siebzehnten Jahr selbständig gemacht. In einem Lädchen nahe beim Krakauer Tor, einem Loch in der Mauer eigentlich nur, saß er, die Brille vor den zwinkernden Augen, und studierte in der feuchten Dämmerung seine hebräischen und jiddischen Schriften, die ihm niemand abkaufen wollte.

Das Mädchen aber, die zweitgeborene Recha, kam fast niemals zur Stadt. Die Tante Chana ließ sie nicht aus ihren wachsamen Augen. Im Sommer rückten sie sich ein Bänkchen unter einen der Bäume und arbeiteten da beim Mühlengeklapper an den Borten und Bändern, schnitten zurecht, säumten und putzten. Sie war ein zartes, empfindliches Kind, noch scheuer geworden durch die rechthaberische Ängstlichkeit, mit der sie behütet wurde. Denn Chana, früh Witwe geworden, tüchtig und eher hart von Natur, wandte alles, was sie an Liebesfähigkeit besaß, auf die kleine Ziehtochter. Ihr teilte sie auch ihr Mißtrauen mit, eine fast besessene Furcht vor allem, was nicht jüdisch war. Der Vater warnte davor, mit Besorgnis und Spott. »Nicht alle Christen sind Teufel, Chana. Das Kind zittert ja, wenn es den Briefträger sieht.«

Aber die Schwägerin gab ihm gar keine Antwort. Sie sollte sich auf furchtbare Art gerechtfertigt sehen.

Damals, in den Jahren vor dem Krieg mit Japan, erzitterte das russische Reich unter den Vorkämpfen einer Revolution. Und die alte Übung trat in ihr Recht: die Zarenregierung leitete den Groll ihrer Völker auf die Fremdlinge ab, die da in unheimlicher Absonderung, aufreizend unterschieden, gedrückt und hochmütig zugleich, unter ihnen wohnten. Alle die alten Blutmärchen sprangen auf. Die Zeitungen schrieben nach empfangenem Geheiß. In den Kasernen gab es Extraschnaps. Es kam ein Tag im November, da auch in Lublin die Händler und Handwerker hinter geschlossenen Läden lauschend im Dunkel saßen, den Gebetsmantel um die Schultern geschlungen. Und dann brach es los in der Stadt.

Die Juden im Vorort hielten sich zu Hause. Hier draußen wohnten sie unter sich, keine christliche Bevölkerung war da, die man aufwiegeln konnte. Aber sie hatten den Unternehmungsgeist der Soldaten selbst unterschätzt.

Eine Abteilung Kosaken kam den gewundenen Pfad zwischen den Sümpfen herangesprengt. Am Ortseingang saßen sie ab.

Das Häuschen der Doktors lag etwas abseits. Aber sie fanden es. Sie fanden es leider spät, nachdem in den anderen Elendshütten ihre Habgier enttäuscht worden war. Deren Bewohner waren mit Fußtritten weggekommen. Aber hier, an den letzten, rächten sie sich. Vielleicht waren die zwei hohen, kahlen Bäume das Unglück. Sie legten den Gedanken zu nahe, die beiden Männer, Vater und Sohn, an ihren waagerechten Ästen aufzuhängen. Und das geschah denn, unter Gebrüll und Gelächter.

Der kleine Efraim war schreiend davongelaufen aufs Feld, und sie ließen ihn laufen. Sie schlossen Chana in einer Kammer ein und fingen an, sich mit dem vierzehnjährigen Mädchen zu beschäftigen, hinten auf dem Hof, im Angesicht der zwei schwarzen Gestalten, die da von den Eschen schwankten. Das Kind war wenig entwickelt für sein Alter. Die Soldaten ließen sich Zeit. Laut stritten sie erst ein wenig um die unreife Beute. Dann losten sie, und der Gewinner machte sich lachend bereit.

Sie wurde gerettet durch eine Stimme, die vom Dorfe russische Worte herüberschrie. Dort hatten sie in der Betstube die silbernen Ritualgeräte entdeckt. Die waren eine stärkere Lockung als das magere Vergnügen hier. Der Hof wurde leer. Die kleine Recha öffnete nicht die Augen und stand nicht auf.

Die Tante Chana pflegte sie während der langen Krankheit. Ein schweres Lähmungssymptom löste das andere ab. Drei Wochen lang schien es, als habe sie ihre Sprache verloren. Als sich ihr Zustand besserte, war sie so leicht, daß Chana sie auf einem Arm trug wie einen Säugling.

Am Tag nach dem Überfall wurde der Pogrom abgeblasen. Die Regierung veranstaltete sogar einen Scheinprozeß gegen einige Schuldige. Es war ein bescheidener Pogrom gewesen, er hatte kaum fünfzig Leben gekostet. Abram Doktor und sein bücherliebender Sohn lagen auf dem verwahrlosten Friedhof von Wieniawa, unter Ziegelscherben und krankem Gras. Der kleine Efraim war auch nicht wiedergekommen. In der Verwirrung der ersten Tage suchte niemand nach ihm. Später fand man ihn nicht.

 

X

Grünbaums bewohnten in der Nähe des Spittelmarkts in Berlin ein dreistöckiges Haus, das etwas schmalbrüstig mit seiner Zweifensterfassade, aber sonst ebenbürtig in der Front der übrigen lag. Das Erdgeschoß, dessen Hinterräume recht dunkel waren, enthielt die Pelzhandlung; in den beiden Oberstöcken war mehr Raum vorhanden, als die vierköpfige Familie in Anspruch nahm.

Fast alle Juden, die aus Polen und Berlin kamen, pflegten am Ostrande der Hauptstadt haltzumachen, so als wären sie von der Reise erschöpft und könnten nun keinen Schritt weiter. So hatten es auch die Grünbaums gehalten, als sie vor einem Menschenalter herwanderten. Zwei Jahrzehnte hatten sie hier unter armen Glaubensgefährten gelebt, nicht viel anders als einst in ihrem polnischen Städtchen. Nun aber, mit wachsendem Wohlstand und Sicherheitsgefühl, waren sie der Stadtmitte nahe gerückt, und schon richtete sich ihr Blick auf die Bezirke im Westen, wo die ganz Arrivierten parkumgebene Villen besaßen, Offiziere und Staatsbeamte bei sich zu Gast sahen und die vorgeschrittenen Künste protegierten. Schon wußten sie es nicht mehr anders, als daß sie vollbürtige Bürger seien im Lande, jetzt und für immer. Selten gingen sie mehr zum Gottesdienst, hielten mechanisch noch fest an einzelnen Bräuchen und Speisevorschriften und hatten so ziemlich vergessen, woher sie kamen.

Sie wurden schreckhaft daran erinnert, als eines Tages die beiden Frauen aus Lublin bei ihnen erschienen, flüchtig und ratlos. Halb ungläubig hörten sie Chanas trocken grausige Erzählung an. Sie hatten Mühe, sich an diese Verwandten überhaupt zu erinnern. Aus dem Dunkel dahinten schien eine Hand in ihr elektrisch erhelltes, emanzipiertes Dasein zu greifen. Diese Frau da, diese Cousine zweiten Grades, sprach offenkundig die Wahrheit. Das traditionelle Familiengefühl stand auf in ihnen, und der rührende Reiz der schweigsamen, kleinen Recha tat ein übriges. Man räumte den Hilfesuchenden Zimmer ein; und dann war nie mehr die Rede davon, daß sie gehen könnten.

Sie waren nicht ganz ohne Mittel. Schon ehe die Kleine völlig genesen war, hatte Chana das Häuschen in Wieniawa zu Geld gemacht – diesen Schauplatz des Gräßlichen, an den zurückzukehren unmöglich war. Sie wollte weit fort. Sie wußte draußen in der Welt von keinem Menschen außer den Grünbaums, und sie hatte nicht anders gedacht, als diese Verwandten auch dort in Berlin in der gewohnten Absonderung unter ihresgleichen zu finden. Nun war sie erschreckt von der unjüdischen Art ihres Daseins. Jeder Ausgang in der riesigen Stadt, mitten hinein unter diese christlichen Menschenmillionen, kostete sie Überwindung. Wagte sich Recha einmal allein in die fremde Flut hinaus, so wartete Chana zitternd, verzagend, auf ihre Wiederkehr. Die im Behagen wohnenden Grünbaums verbargen nicht ganz ihren Spott. Was für Gefahr drohte einem jüdischen Mädchen in dieser Hauptstadt Berlin, wo alles Erleuchtung und Fortsehritt war, die Namen betitelter Israeliten täglich die Gesellschaftsrubrik der Zeitungen füllten, der Kaiser selbst die großen jüdischen Geschäftsleute an seine Tafel zog.

Aber Chana – Hanna, wie man sie hier nun rief – glaubte nicht an die Herrlichkeit. Ganz ähnlich hatte der arme Abram auch schon geredet. Sie wußte es besser in ihrem Herzen.

Von den beiden Söhnen der Grünbaums war der jüngere, Benno, ein gewitzter und ehrgeiziger Geschäftsmann, der zu den Pelzauktionen in Leipzig und London reiste, sich vorgeschrittenerweise ein Automobil hielt und mit Ungeduld dem Tage entgegensah, an dem die Firma ihr bescheidenes Quartier verlassen und Räume an der Leipziger Straße oder am Kurfürstendamm beziehen würde.

Arnold aber war der Künstler in der Familie. Es war beinahe die Regel in dieser Schicht, daß sich mit Geborgenheit und Vermögen in irgendeinem Familienmitglied musische Triebe rührten. Schon in seinem zwölften Jahr hatte der Ältere zu komponieren begonnen, und zwei seiner Musikstücke hatte man sogar öffentlich aufgeführt. Aber es war dann nichts Rechtes daraus geworden. Mit seinen sechsundzwanzig bekleidete er nun eine Stellung an einem Operettentheater, von der er mit Herablassung sprach, an der er aber doch festhielt, weil es ihm widerstrebte, sich müßig erhalten zu lassen. Vor allem scheute er die Ironie seines geschäftstüchtigen Bruders. Hatte nicht auch der große Spinoza für seinen Unterhalt Brillengläser geschliffen? Dabei wußte er wohl tief unten, daß es mit seinem eigenen Talent nicht gar so weit her sei und daß die Natur ihn genau zu dem bestimmt hatte, was er in Wirklichkeit war: Korrepetitor an einem Operettentheater.

Sein sensitives Herz war getroffen beim ersten Anblick der stillen, kleinen Verwandten, die ihnen da ins Haus gekommen war. Das schmale Geschöpf mit den redenden Augen, auf deren Grund ausgestandene Todespein noch zu beben schien, dem feinen Mund und den gebrechlichen Händen, die etwas dunkler waren als ihr Gesicht, mit wüstenhaft bräunlichen Knöcheln – sie erschien ihm wie ein bleiches Juwel, ihm hergereicht aus der Urzeit seines Volkes.

Aber er war so ängstlich zurückhaltend im Umgang mit ihr, daß ein Jahr vergangen war, ehe er entdeckte, daß sie Musik liebte und eine Stimme besaß. Es war eine nicht große, aber sehr anziehende Stimme, von einer gedeckten, etwas scharfen Süße, und mit Behutsamkeit machte er sich daran, sie zu entwickeln. Als das Mädchen zum erstenmal vor der Familie am Flügel stand und zu seiner Begleitung zwei Lieder von Robert Franz sang, fühlten die alten Grünbaums einen geruhigen Stolz auf den Schatz, der da in ihrer Mitte gehoben worden war. Der Tante Hanna liefen Tränen über die harten Wangen herunter, und auch der geschäftsklare Benno wiegte kennerhaft beifällig seinen Kopf.

Danach, obgleich nicht ein Wort der Erklärung gefallen war, betrachtete der junge Musiker die noch nicht Siebzehnjährige als seine Braut. Aber wie sehr dies seine persönliche Illusion war, das erfuhr er, als er beim Studium eines Tages die Kraft der Zurückhaltung verlor, das Mädchen unvermutet in seine Arme schloß und zu küssen versuchte.

Er wußte nicht, wie ihm geschah. Denn was er zu spüren bekam, das war nicht halbkindliches Erschrecken und jungfräuliche Scham – dieses tödliche Entsetzen, dieser instinkthafte, wilde Widerstand brach aus tiefer Quelle hervor. Ihr schlanker Körper erstarrte, versteinerte in seiner ungeschickten Umarmung. Eine feindselige Kraft, ganz außer Verhältnis zu ihrer Zartheit, bäumte sich von ihm weg.

Der junge Mensch fuhr zurück, ließ sie aus den Armen, als sei er geschlagen worden. In ihren aufgerissenen Augen sah er ein Todesgrauen.

Er ging ohne ein Wort. Drüben in seinem Zimmer stellte er sich vor den Spiegel und befragte den, was eigentlich an seinem Äußern sei, um so viel Abscheu zu rechtfertigen. Das schwächlich zurückfliehende Kinn war seit jeher sein Kummer gewesen, aber sonst entdeckte er nichts. Jeder hielt ihn für einen gutaussehenden jungen Mann. Auf einmal wußte er, daß es sich um ihn gar nicht handelte. Recha war krank, war ins Blut getroffen worden dort in dem polnischen Nest, als sie ausgeliefert vor den Kosaken lag. Damals hatte ein Krampf ihr Gefühl wie mit eisernen Riegelbändern verschlossen. Ja, das war es. Er wußte es klar, mit der Einfühlung eines Künstlers, der er seinen Nerven nach war, wenn nicht nach der Fähigkeit.

Er ging hinüber zu ihr. Sie stand noch am Flügel, in derselben Haltung, in der er sie verlassen hatte. Er sagte: »Ich hätte nachdenken sollen, Recha. Bei Gott, es tut mir leid.«

Statt einer Antwort lehnte sie sich an ihn, den blassen Kopf an seiner Schulter. Die steinerne Anspannung gab nach unter dem guten Wort, und lang strömende Tränen wuschen die Qual hinweg.

 

XI

Eines Mittags kam er beschwingt vom Theater nach Hause. Eine neue Operette wurde dort vorbereitet, und die Besetzung einer jugendlichen Frauenrolle machte Schwierigkeiten. Mit einer plötzlichen Eingebung hatte er von Recha gesprochen, und der Direktor war willens, sie vorsingen zu lassen.

Allen, auch Recha selbst, teilte sich seine Aufregung mit. Die Tante Hanna allein fühlte Schrecken. Sie hatte es ja gewußt – das Kind ging verloren. Ihr Begriff vom Theater war äußerst vage. Zwei- oder dreimal war sie in einem gewesen, beängstigt, ihres Atems beraubt von der gedrängten Zuschauermasse, in der sie Feinde sah. Vor dieser kompakten Horde sollte das Kind sich darstellen, ausgeliefert im grellen Licht. Aber sie wußte, daß sie zu schweigen hatte. Zwar waren die Grünbaums freundliche Menschen, niemand, selbst der rechnende Benno nicht, ließ es einen fühlen, daß man, geduldet, geschenktes Brot aß. Allein dies konnte nicht dauern. Ein Lebensunterhalt, der sich bot, konnte nicht abgewiesen werden. Sie zwang sich, zuckenden Mundes, zu einem Dankeswort an den jungen Mann.

Er hatte auch nicht zu viel Hoffnung erregt. Rechas Stimme erwies sich als ausreichend, und was mehr ins Gewicht fiel, ihre unberührte Anmut, dieser fast noch kindliche Liebreiz, waren genau, was die Rolle verlangte. Auch sah der Direktor kein Risiko. Ein Fehlschlag in diesem Nebenpart würde den Erfolg seiner Operette nicht weiter gefährden.

Es war die Geschichte von dem eben erwachsenen Mädchen aus der Kleinstadt, das zu seiner glänzend arrivierten Schwester nach der Metropole kommt, mitten hinein in einen Wirbel von Gesellschafts- und Liebesintrigen. Und die, erst von allen belächelt, durch ihre liebliche Unschuld und naive Klugheit alle Nöte der erfahrenen Mondaine schließlich zum besten wendet.

Recha fiel auf. Sie gefiel. Es wurde hinter der etwas törichten Schalkhaftigkeit dieser Texte eine melancholisch vorzeitige Reife fühlbar, die geheimnisvoll anzog. Sie schien, während sie ihre Liedchen sang, gleichzeitig zu sagen, daß sie dies alles ja besser wisse, nur aus freundlicher Konvention hier die Unbelehrte spiele, lang hinter den Mantel der Dinge geschaut habe. Es war eine Nuance, über die sie selbst nicht hätte Bescheid geben können, die aber aus jenen Erlebnissen stammte, die ihr einst Jugendfrieden und Lebensvertrauen zerstört hatten. O ja, sie hatte hinter den Mantel geschaut, nicht mit ihrem Verstand vielleicht, aber mit ihren Nerven und ihrem Blut; was am andern Morgen die Rezensenten ihre persönliche Note nannten, hatte tragischen Ursprung.

Sie hatte nicht etwa, wie man das nennt, die Hauptstadt im Sturme erobert. Dazu bot schon ihr Part nicht die Möglichkeit. Aber die Leute vom Fach wurden aufmerksam. Und als nach einer mittleren Dauer der Lauf der Operette zu Ende ging, wartete schon ein neues Engagement. Es handelte sich da um eine intime Revue, mehr auf Geist und Witz gestellt als auf Ausstattung, von weltstädtischem Ehrgeiz. Die Chansons, die man für Recha in Aussicht nahm, hatten wenig Naives, sie waren erheblich gewürzt. Man rechnete auf den erregenden Gegensatz zwischen ihrer rührenden Jugend und der skeptischen Überreife dieser Texte.

Diesmal ging es nicht ohne Widerstand ab, und zwar kam er von Arnold. Er kannte wie keiner ihre Verwundbarkeit. Aber sonderbarerweise schien das bedenkliche Zeug, das sie da vortragen sollte, sie gar nicht zu stören. Es war, als verstünde sie seine Einwände nicht. Und seltsamer noch berührte es ihn, daß von Hanna keinerlei Einspruch kam, die ja schließlich entscheiden mußte.

Der Grund war einfach. Der Grund war die Gage. Recha würde viel Geld verdienen. Das aber sollte sie, und so eilig als möglich. Denn dann konnten sie fort.

Das Verlangen danach wuchs in Hanna mit jedem Tag. Fort aus diesem Berlin, ehe dem Schützling und Liebling etwas nicht wieder Gutzumachendes geschah. Fort, dorthin, woher sie gekommen waren.

Sie war in Entsetzen und Schauder geflohen. Nie hätte sie gedacht, daß sie sich dorthin zurückwünschen könnte, wo ihnen das Ungeheure angetan worden war. Und doch war es nun so. Sie begann mit Menschen dahinten zu korrespondieren. Und die Briefe mit den russischen Marken, die sie empfing, bestätigten, was sie zu hören hoffte. Es war dort wie einst. Das Grausige hatte sich nicht wiederholt. Unangefochten wohnten dort wieder die Menschen aus ihrem Blut, kümmerlich wie je, wenig geachtet, doch unter sich. In diese trübe, warme, vertraute Gemeinschaft sehnte sie sich zurück aus der gottlos feindlichen Menschenflut. Heimkehren würden sie, sich niederlassen in einem der vielen jüdischen Städtchen, vielleicht einen kleinen Laden kaufen, und eines nicht fernen Tages dann würde sich Recha mit einem braven und frommen Mann verheiraten. Sie sah ihn schon vor sich, ernsthaft und dunkel, wie er am Feiertag beim Schein der sieben Kerzen am weißgedeckten Tische das Brot brach, den Segen darüber sprach und es austeilte an Recha und sie. Bald würden Kinder mit am Tische stehen.

Als sie zum ersten Mal vorsichtig solche Pläne berührte, kam von Recha kaum eine Antwort. Immer war es, als ließe das Mädchen sich treiben, ohne Zukunftsgedanken und auch ohne besondern Genuß an ihrem Erfolg. Sie lebten beide nicht anders als vormals, obgleich sie längst die Mittel besaßen, sich eine Wohnung selbst einzurichten. Aber aus Großherzigkeit und auch aus Stolz auf die Künstlerin gaben die Grünbaums das keineswegs zu. Jede Nacht, genau eine halbe Stunde nach dem Ende der Vorstellung, fuhr Rechas Droschke vorm Hause an, Hanna hielt eine leichte Mahlzeit bereit, saß bei ihr, während sie sich auskleidete, und löschte das Licht.

Eines Abends kam die Droschke zwanzig Minuten später. In diesen zwanzig Minuten hatte Recha ein Erlebnis gehabt, das jählings über ihre Zukunft entschied.

Eigentlich war es so gut wie gar nichts. An diesem Abend saßen an einem Tischchen in unmittelbarer Nähe der Bühne drei Herren, die sich provinziell fröhlich benahmen. Es sah aus, als feierten die drei miteinander den Abschluß eines vorteilhaften Geschäfts. Mit dem Begriff eines Revuetheaters verbanden sie wohl den von entkleideten Mädchen und Sektkonsum und waren an diesem Ort eines etwas verfeinerten Amüsements mehr aus Irrtum geraten. Sie brachen einer Flasche nach der andern den Hals, stießen an und prosteten zur Bühne hinauf. Es waren Herren mittleren Alters, zwei davon schwer und mächtig von Person, der dritte, der den Ton angab, vom beweglichen Spaßmachertypus. Dieser besaß einen spiegelnden Kahlkopf, während die Schädel seiner Genossen mit kurzem Blondhaar bürstenartig bestanden waren. Wenn Recha auf der Szene erschien, äußerte sich ihre Aufgeräumtheit am lärmendsten.

Diese drei Enthusiasten traten ihr in den Weg, als sie nach der Vorstellung das Theater verließ. Unter schweratmigem Zeremoniell, etwas lallend und schwankend, folgten sie der Abweisenden um zwei Ecken des Häuserblocks zum Droschkenstand. Aber alle Wagen waren mit Theatergästen davongefahren. Sie mußte warten.

In diesen Minuten litt Recha weit über Anlaß und Vernunft. Die drei Bewunderer waren vermutlich ganz harmlos. Doch sie ertrug diese andrängende Männlichkeit nicht. Physische Übelkeit überkam sie. Alles war wieder da, der Ekel- und Todeskrampf und die Ausdünstung des Kosaken, der sich auf sie herunterbog – obwohl der nach Kornschnaps und altem Schmutz gerochen hatte und nicht wie diese nach Haarwässern und nachgemachtem Sekt. Endlich fuhr ein Wagen an. Sie warf sich halb ohnmächtig in den höckrigen Ledersitz, aus dem abgestanden und faul ähnliche Dünste strömten.

Sonderbarer- und eigentlich unlogischerweise machte dieses Abenteuer sie den Heimkehrwünschen ihrer Tante gefügig. Sie sprach zu niemand davon. Ihr Vertrag ging zu Ende. Sie erneuerte ihn nicht. Und zwei Monate darauf, an einem Junivormittag, trat sie mit Hanna aus der Bahnhofshalle von Warschau. Es war der Morgen ihres zwanzigsten Geburtstags.

Hannas bescheidener Traum vom Lädchen in der jüdischen Kleinstadt war nicht zur Erfüllung bestimmt. Das entschied sich sofort an diesem ersten Tag, in ihrem Hotel an der Marszalkowska. Denn der erste Bekannte, der ihnen entgegenkam, war ein Theateragent, der Recha von der Bühne her kannte. Der Mann strahlte auf. Dies sei eine Fügung. Seit Tagen habe er an sie gedacht – und gedacht nicht nur. Seine Telegramme müßten in Berlin im Büro des Theaters liegen. Recha sprach doch Polnisch – aber er wußte es ja! Und in ganz Polen war die Darstellerin nicht zu finden, die man augenblicklich hier suchte. Er nannte ihr die Rolle, das Theater, die Gage. Er hielt das Ganze für abgemacht.

Er fand auch kaum Widersprach. Wichtigkeit hatte nur, daß man wieder zu Hause war. Beim ersten Gang durch die Straßen waren sie zahllosen Menschen begegnet, viele darunter trugen die alte Tracht. Dort in der Ecke der Halle stand einer, im Gespräch mit zwei modern Gekleideten, ein Rabbi dem Aussehen nach, mit grauem Patriarchenbart, im langen seidenen Kaftan. Ja, sie waren zu Hause. Der Laden in der kleinen Stadt konnte warten. Auch Hanna fand es.

Jahre war das nun her. Man kannte Recha in allen Städten und Städtchen des in drei Stücke gerissenen polnischen Landes, das doch eine heimliche Einheit war – von Posen bis Wilno, von Pinsk bis Krakau, von Lemberg bis Łódź. Nur die Stadt Lublin vermieden sie. Allenthalben sprachen die Juden mit entzücktem Kopfwiegen von der berühmten Tochter.

Agenten aus Wien und Berlin meldeten sich und brachten Anträge. Was fiel ihr nur ein, sich eigensinnig in unbehaglicher Provinz zu verschwenden? Sie malten ihr eine Karriere aus wie die der Yvette Guilbert oder der Massary. Und wenn ein Name »draußen« ihr nichts bedeutete, verlockte das viele Geld sie denn nicht, das dort zu verdienen war?

Offenbar nicht. Sie besaß nicht einmal einen Wohnsitz. Sie lebte mit Hanna, die nun wieder Chana hieß, in Gasthöfen, wo die Speisen nach dem alten Ritus zubereitet wurden, und sie hielten die Feste. Und jeden Sommer verbrachten sie zwei Ferienmonate in einem Wiesenort am Abhang der Karpaten, der beinahe nur von jüdischen Kurgästen besucht war. Hier schlossen sie mitunter Bekanntschaften. Sonst aber riegelte die mißtrauische Liebe der älteren Frau die jüngere ganz von Zerstreuung und Umgang ab, und die schien es zufrieden. Sie zog von Theater zu Theater. Sie war für ihr Publikum der Inbegriff großstädtischer Anmut, gewitzter Lebenskenntnis, skeptischer Weltreife. Und führte dabei das Dasein eines verschüchterten Bürgermädchens, das mit seiner wachsamen Gouvernante auf Reisen ist.

 

XII

Es dauerte nicht zwei Tage, ehe sie sich Pattay ergab. Alles aufgestaute Gefühl, all ihre verleugnete Liebesbereitschaft schwoll auf gegen den Panzer um ihre Brust und riß ihn in Stücke. Es lag alles am Boden, ausgestandenes Entsetzen, Schauer der Fremdheit, Hochmut und Angst. Äußere Hindernisse, die unzerbrechbar schienen noch gestern, zerknickten wie Rohr unter einem eisernen Wagen. Sie stand in Flammen vor Glück.

Chanas Wort, das immer gern befolgtes Gesetz für sie gewesen war, sie hörte es auf einmal nicht mehr. Und Chana erkannte, daß es hier keinen Widerspruch gab. Nach einem ersten ungläubigen Aufschrei hatte sie die Stärke und den Verstand, zu verstummen. Aber die Zukunft war schwarz verhängt.

Recha selber wandte keinen Gedanken dorthin. Zum erstenmal hatte sie eine Gegenwart. Es war Pattay, der sprach. Nach einer besinnungslosen Nacht im Hotelzimmer – der vierten seit ihrer Begegnung – erwähnte er mit ein paar simplen Worten ihre Heirat und das künftig gemeinsame Dasein. Ganz unvermutet brach sie in Tränen aus, die lange strömten, leicht und mild. Er hielt sie gegen seine Schulter und atmete den feinen Duft aus ihrem dunklen Haar, der ihn fremdartig erregte, ihm von weither zu kommen schien.

Aber noch während sie weinte, gewann ererbte klare Vernunft in ihr Raum. Sie fuhr sich über die Augen und richtete sich auf. Sie stellte ihm vor, daß er phantasiere. Heirat mit einer Frau aus ihrem Blut und ihrer Sphäre bedeutete das Ende seiner Laufbahn und sicherlich auch den Zerfall mit seiner Familie. Er lachte nur, küßte sie. Und sie spürte, daß für ihn nichts von allem mehr zählte und wog.

Aber es war zu viel. Es konnte nicht sein. Dieses eine, einzige Mal befiel sie der Zweifel. Sie drehte mit zitternden Fingern am Schalter der Lampe, daß sich ihr Licht mit dem Morgenschimmer vermischte, der durch die Stäbe des Rolladens eindrang. Sie nahm Pattays Kopf zwischen ihre Hände und senkte ihm einen Blick in die Augen, der seine innersten Gedanken zu erloten suchte, und hinter diesen Gedanken die, die er selbst noch nicht kannte. Er lachte erst wieder, dann wurde er ernst. Und sie sah die Wahrheit, die unanzweifelbare, volle Wahrhaftigkeit in seinen Augen.

Sie seufzte auf, erlöst und für immer gewiß. »Darüber werden wir reden, wenn wir einmal Zeit haben«, sagte sie und verwies das alles, Ehe, Karriere, Familie, Zukunft, mit einer befreiten Geste ins Wesenlose. Dann zog sie ihn zu sich hernieder auf ihren dürstend geöffneten Mund.

In den Tagen, die folgten, ging alles so rasch und mühelos vor sich, wie manchmal die Dinge sich in glücklichen Träumen vollziehen. Pattay hatte im geheimen selbst Zweifel gehegt und Schwierigkeiten befürchtet, von seiner Seite zwar nicht, wohl aber von ihrer. Wie ließ sich denn überhaupt ein gemeinsames Leben vereinen mit Rechas Beruf, in dem sie erfolgreich war und an dem sie doch sicherlich hing? Pattay wagte die Frage erst nicht zu stellen. Aber in Wirklichkeit war Recha dieses Ganze längst gleichgültig, ja, es war ihr zuwider: dies Umherziehen von Theater zu Theater in Nässe und Kälte, diese Hotelzimmer mit wackelndem Waschtisch und schlecht schließender Tür, dies Herumstehen auf düsterer Probenbühne, die armseligen Neidgespinste und Klatschereien, der Geruch nach Gas, Schminke und umgemalten Kulissen, ihr eigenes Herzklopfen am Premierenabend, der Applaus sogar und die kleinen Mädchen, die sich am Schauspielereingang zusammendrängten. Sie war fast ganz ohne Ehrgeiz; was sollte noch kommen!

Doch da waren Verpflichtungen. Chana wies darauf hin. Die Gastspielverträge mit Warschau, Wilno und Łódź sahen Konventionalstrafen vor, Respekt einflößende Beträge. »Wir haben ja Geld, um das zu bezahlen«, antwortete Recha, und sie schrieb ihre Briefe.

Aber Pattay war ihr zuvorgekommen. Er hatte mit unschuldiger List aus ihr herausgeholt, was zu wissen war. Recha war frei. Und als sie protestierte, ging er darüber hinweg mit einer Art, die die Überzeugung erwecken mußte, daß er ein reicher Mann sei, für den solche Winzigkeiten nicht zählten.

In Wahrheit besaß er nicht einen Heller. Aber da gab es Wege.

Der Mann, an den sich die Ulanenoffiziere in solchen Fällen zu wenden pflegten, war der Besitzer der Zuckerfabrik überm Fluß, Daniel Zweifuß. Er war dafür bekannt, daß er sein Geld mit genauer Unterscheidung verlieh. Seine Kenntnis der Verwandtschafts- und Erbverhältnisse in den großen Häusern der Monarchie mußte umfassend sein. Sehr selten, daß er sich vergriff; er war fast niemals im Stiche gelassen worden. Übrigens war er sehr wohlhabend, und zu warten genierte ihn nicht. Er konnte fünf Jahre warten oder auch zehn. Sehr möglich, daß einige dieser Darlehen erst seinen Söhnen zurückbezahlt würden. Inzwischen multiplizierte sich das Kapital. Und es bereitete ihm ein dauerndes Vergnügen, so unterirdisch mit dem halben Adel des Reiches verbunden zu sein. Dessen historische Namen, die Khevenhüller, Kinsky, Collalto, Lobkowitz, figurierten in seinem Geheimbuch, das von rückwärts zu lesen war und auf dessen letztem und also erstem Blatt in hebräischer Blockschrift ein Segensspruch stand.

Zweifuß empfing ihn in seinem hellen Kontor über einem Seitentrakt der Fabrik. Durch die Frontfenster schaute man über einen langen, schmalen, von Weidenstämmen eingefaßten Grasgarten hinweg auf den Fluß. Jenseits lag die Stadt, spielzeughaft eng beieinander von hier aus, ein hübscher Anblick.

»Zwanzigtausend Kronen, Herr Graf«, wiederholte er langsam, »das ist eher viel.« Er zwinkerte mit seinem linken Auge, das ganz auffallend kleiner war, und umfaßte mit einer häßlichen Hand seinen grauen, gepflegten Rundbart. »An wen haben Sie's denn verloren, wenn ich mir zu fragen erlauben darf?«

»Es sind keine Spielschulden. Überhaupt keine Schulden. Sagen Sie doch bitte einfach ja oder nein.«

Das Zwinkern des kleineren Auges beschleunigte sich.

»Leibowitz in Wien hat einmal Schwierigkeiten mit Ihnen gehabt. Schließlich hat's die Frau Tante ja dann bezahlt.« Er wußte alles, und er genoß es.

»Diese Zwanzigtausend«, sagte Pattay, ohne sich zu ärgern, »müßte ich auf lange Frist haben.«

»Bis zum Erbanfall, meinen Herr Graf. Sind Sie denn sicher, daß Sie erben werden?«

»Durchaus nicht sicher.«

Die Antwort schien Zweifuß zu behagen. Er zwinkerte beifällig.

»Vor drei Monaten wäre ich's auch nicht gewesen. Aber der Neujahrsbericht Ihres Herrn Kommandeurs war seine Million wert. Abgemacht also. Nur teuer wird's werden.«

»Dafür haben Sie Ihr Risiko. Ich kann sterben.«

Der Fabrikant fuhr zusammen. Seltsame Leute waren es doch, diese anderen, so sachlich vom eigenen Tode zu reden.

»Kommen Sie morgen nachmittag, Herr Graf. Scheck auf Lemberg. Hier in der Bankfiliale gäb's nur Gerede.«

Pattay nickte. »Übrigens«, sagte er, schon nahe der Tür, »Sie wissen doch hier Bescheid. Ich suche ein Haus – Kauf oder Miete – eine Art kleine Villa, wenn's so etwas gibt. Vier, fünf Zimmer wären genug. Aber hübsch müßt' es sein.«

Zweifuß trat an das Seitenfenster, vor das der Vorhang gezogen war, und raffte ihn beiseite mit seiner häßlichen Hand. Er deutete flußabwärts. Keine tausend Schritt von der Fabrik entfernt lag dort ein weißgestrichenes Haus.

»Mein Schwager Bachmann hat da gewohnt. Dann ist es ihm zu langweilig geworden bei uns, und er ist nach Krakau gezogen. Dort hat er auch pünktlich Pleite gemacht.«

»Ist es möbliert?«

»Fein möbliert. Mit Silber und Wäsche. Nur ein bißchen weit zur Kaserne wird's sein.«

»Das macht keinen Unterschied.«

»So, nicht?« sagte Zweifuß und sah ihn an.

 

XIII

Im April schwoll der Dnjestr von den Regengüssen gewaltig an und bedeckte die breiten, sandigen Uferstreifen, so daß seine gelbgrauen Wogen bis zum Garten der kleinen Villa hinaufspülten. Der Frühling kam spät dieses Jahr. Die Anthrazitöfen im Hause waren noch alle geheizt. Es war behaglich hier. Dem etwas zu rechtwinkligen, »modernen« Mobiliar hatte Pattay in den wenigen Tagen vor Rechas Einzug eine Menge sänftigender, erwärmender Kleinigkeiten hinzugefügt. Und er brachte es fertig, was hierzulande nicht leicht war, daß an jedem zweiten Morgen frische Blumen ins Haus kamen.

Der ukrainische Bauernjunge, der sie brachte, war der einzige Lieferant, der jemals die Schelle zog. Alle Einkäufe besorgte Chana. In ihren hohen, schweren Schnürstiefeln, ein Wolltuch auf dem künstlichen Scheitel, stapfte sie über die Brücke, an deren Planken die Wasser anschlugen, und kam mit dem beladenen Tragnetz zurück. Sie hielten kein Dienstmädchen. Chana wollte nicht, daß ein fremdes Auge Einblick bekäme in das, was ihrem getroffenen Herzen unverständlich und unannehmbar war.

Das Schweigen zwischen den Frauen dauerte fort. Zwar von Pattays Heiratsvorschlag hatte Recha berichtet; an seinen redlichen, guten Absichten sollte die Tante denn doch nicht zweifeln. Aber sie erhielt keinerlei Reaktion. Unmöglich zu sagen, was Chana sich wünschte; sie wußte es vielleicht selbst nicht. Auf der einen Seite erschien ihr die Vereinigung, so wie sie bestand, als eine häßliche, doppelte Sünde, auf der andern konnte sie keineswegs wünschen, diesen Bund legalisiert und öffentlich gemacht zu sehen. Das Entsetzliche einer Taufe war dann in wahrscheinliche Nähe gerückt.

Oft, wenn sie abends in ihrem Zimmer lag, das sie für seine Behaglichkeit haßte, bewegte sie in sich den Plan, fortzugehen und das verirrte Kind seinem Geschick zu überlassen. Aber wohin hätte sie gehen sollen? Nach Lublin konnte sie nicht zurück, und anderswo waren nur Fremde. Auch war Ausharren ihre Pflicht. Am Tag des Bruchs und Zusammenbruchs, an dem sie nicht zweifelte, mußte jemand da sein für die Verlassene. Was Chana jetzt ertrug, war eben ein Teil ihrer Lebenslast, ihr aufgeladen von ihrem Gott, der ein strenger und unerforschlicher Gott war. So lag sie in ihrem guten Bett und horchte auf die Stimmen der beiden, die, abgedämpft durch drei Wände, zu ihr herüberdrangen. Schlief sie ein und erwachte nach Stunden wieder im Dunkel, so hörte sie die Stimmen immer noch. Viel hatten sie einander zu sagen.

Von realen Zukunftsplänen war selten die Rede da drüben. Recha scheute vor ihnen zurück. Sie fürchtete sich, die Hand zu schließen um den unglaubhaften Traum und dann nichts zu halten als leere Luft. Mit ihrem Vertrauen hatte das nichts zu tun. Es war eine nervöse Heimsuchung. Jeden Abend, wenn die Stunde herankam, in der sie Pattay nach seinem Dienst erwarten konnte, stellte eine vage Angst sich ein, er werde nicht kommen, heute nicht und nie wieder.

Aber kaum war er da, so war alles ganz anders. Alles erschien strahlend selbstverständlich, war vorgezeichnet gewesen von Anfang. Ihr verschlungenes Dasein, Armut und Grauen der Kindheit, die verschlossenen Jahre in Deutschland und ihre fahlen Triumphreisen, alles war nur ein Umweg gewesen zu diesem Glück.

Einmal sprach sie davon, andeutend und zaghaft, so als handle es sich um etwas nicht ganz Vernünftiges. Er nickte. »Mir geht es nicht anders. All meine dummen und schlechten Streiche habe ich machen müssen, damit ich in dieses Nest hier geführt würde und dir in die Arme.« In seinem Munde klang es ganz einfach.

Kein Wunder, daß Chana die beiden hörte bis tief in die Nacht. Sie wurden nicht satt zu erzählen. Ihre Lebensbahnen waren in solchem Abstand verlaufen, daß jede Einzelheit darin, jedes Erlebnis, jede Menschenbegegnung, dem andern neu und nicht unmittelbar verständlich erschien. Dies aufregend Fremde, diese lockende Unvertrautheit, kam weiter her, als sie es sich klarmachten. Nicht einfach zwei Liebende hielten hier ein Gespräch. Aus dem Abgrund der Zeit, über Wüsten der Trennung hinweg unterredeten sich Stimmen, die nie füreinander erklungen waren.

Es konnte nicht ausbleiben, daß ihre Beziehung bekannt wurde. Da half keine Vorsicht Chanas, kein Sichabschließen. Recha Doktors Verschwinden von der polnischen Bühne war eine öffentliche Angelegenheit, und heftig war die Sensation bei den Ulanen, als sie entdeckten, welche Bewandtnis es damit hatte. Aber keiner sprach zu Pattay ein Wort. Nichts ließ erkennen, daß man eingeweiht sei. Er war nicht der Mann, dem gegenüber Anspielungen am Platze waren. Nur der Rittmeister Schaller betrachtete seinen Widersacher aus der Ferne noch finsterer als zuvor. Die beiden Männer wechselten keinen Gruß mehr, sie vermieden einander mit Sorgfalt, so als ob die leichteste Berührung den Zusammenstoß und Ausbruch bringen müsse.

»Zwei Todfeinde habe ich jetzt«, sagte Pattay einmal, »Schaller und Chana. Aber ich glaube, den Schaller könnt' ich noch eher versöhnen als sie.«

Chana hatte eben das Zimmer verlassen, nachdem sie die Abendmahlzeit hereingetragen hatte. Sie war nie zu bewegen gewesen, mit am Tische zu sitzen.

Recha legte ihre adlige Hand mit den bräunlichen Knöcheln auf seine feste und breite. »Es kommt viel zusammen in ihr. Für sie ist das alles Verrat und Verderben. Und dann ist sie eifersüchtig. Sie hat mich immer allein gehabt.«

»Sie tut mir so leid«, sagte Pattay. Dann kam ihm sein Ausdruck anmaßlich vor. »Es tut mir wirklich sehr leid«, verbesserte er.

Eines Abends, wie er hereintrat, bemerkte er am rechten Türpfosten oben eine kleine Metallhülse, schräg in Mannshöhe angebracht. Sie war am Tag zuvor noch nicht dagewesen.

»Darauf hat die Tante bestanden«, sagte Recha. »Solch eine Mesusa gibt es in jedem frommen jüdischen Haus.«

»Was ist denn darin?«

»Ein Zettel mit den Zehn Geboten. Wer hereinkommt, berührt es, und dann küßt er seine Hand.«

»Das ist schön«, sagte Pattay.

Am nächsten Tag tat er, was sie beschrieben. Er lächelte keineswegs dabei. Er führte seine rechte Hand an das fromme Zeichen und dann an die Lippen. In seiner Linken hielt er die Tschapka.

»So ist es nicht richtig«, sagte Recha und umarmte ihn. »Die Kopfbedeckung darfst du erst abnehmen, nachdem du's berührt hast.«

Sie hatten beide nicht bemerkt, daß von der anderen Seite Chana ins Zimmer getreten war. Sie stand und blickte herüber.

»Das ist nichts für Sie, Herr Graf«, sagte sie laut.

 

XIV

Von dem ebenso vehementen wie grotesken Zusammenstoß zwischen Pattay und dem Rittmeister Schaller, der an einem Sommerabend des Jahres 1914 erfolgte, wäre sicherlich in allen Offiziersmessen der österreichisch-ungarischen Armee noch lange die Rede gewesen, hätten nicht Ereignisse von ganz anderer Tragweite den Vorfall mit ihrem schwarzen und blutigen Mantel zugedeckt.

Eine Abschiedsfeier fand statt für den Major Freiherrn von Stöttner, der als Oberstleutnant nach einer mährischen Garnison transferiert worden war und am nächsten Morgen abreisen sollte. Nachdem zu seinen Ehren im Kasino schon reichlich gezecht worden war, beschloß man, die Festivität noch weiter im Freien fortzusetzen, wozu die gewittrig-schwüle Juninacht einlud, und man begab sich in lauten Gruppen zum Ringplatz, nach dem Hotel »Zum Erzherzog Rainer«.

Hier bildeten links und rechts vom Haupteingang gestutzte Taxushecken zwei geräumige Nischen, in deren jeder ein langer, viereckiger Tisch von chinesischen Lampen überhangen war. Die eine Nische war schon besetzt. In der andern etablierten sich unter Geklirr und Gelächter die zwölf Offiziere.

Pattay hatte sich von dieser Fortsetzung des Gelages nicht ausschließen können. Major Stöttner, der ihm stets besondere Sympathien erzeigt hatte, ließ keine Entschuldigung gelten. Mißmutig schloß er sich an. Nicht nur erschien es ihm als ein Raub und Unrecht, Recha einen ganzen Abend allein zu lassen; ihn ärgerte auch der Zwang, noch weiter die Gesellschaft des Rittmeisters Schaller zu erdulden. Schon im Kasino hatte ihn dessen verhaßte Gegenwart irritiert, so daß er mehr trank, als in seiner Gewohnheit lag. Und vor dem »Erzherzog Rainer« nahmen die Dinge von Anfang an einen Verlauf, der ihn veranlaßte, dem ausgezeichneten Gumpoldskirchner des Hoteliers Salomon Löw mit verbissener Konsequenz zuzusprechen.

Das Unheil begann damit, daß der Rittmeister nach einem Blick auf die besetzte Nische mit lauter Stimme ausrief: »Saubere Gesellschaft trifft man hier! Gehn wir woanders hin.«

Dies wurde überhört, einmal aus Taktgründen, dann aber auch, weil die Herren durchaus nicht »woanders« hätten hingehen können. Es gab außer diesen zwei Nischen vor dem »Erzherzog Rainer« keinen Ort, um schicklich im Freien zu zechen.

Sechs oder sieben jüdische Herren saßen dort in der Nische beisammen. Sie hatten sofort ihren Gesprächston gedämpft, als sie die Offiziere über den Platz her sich nähern sahen. Es waren angesehene Leute, Leute von Wohlstand; der Notar Dr. Krasna war dabei, der Warenhausbesitzer Herr Gelbfisch und die beiden Söhne des Fabrikanten Zweifuß.

Schaller hatte sich so am Tische niedergelassen, daß er mit dem Rücken zum Platze saß und schräg in die andere Nische hineinsah. Es waren nicht fünf Minuten vergangen, ehe er sich wieder vernehmen ließ.

»Die könnten vielleicht ihre Hüte abnehmen! Wir sind hier nicht in der Synagoge.«

Wirklich saßen die meisten dort trotz der Nachtschwüle mit bedecktem Haupt. Sie gehorchten sofort. Nur der Notar Krasna, ein weißbärtiger, kahler Mann, tat, als habe er nichts gehört, und behielt seinen Hut auf dem Kopf, einen sonderbar altmodischen Judenhut, der eigentlich nicht zu seiner westlichen Kleidung paßte, flach und breitkrempig, aus braunem Velours und mit Pelz eingefaßt.

Um den Offizierstisch war es still geworden. Pattay goß sich sein Glas bis zum Rande voll, leerte es, füllte es nochmals und trank. Er sah beunruhigend aus. Der obere, hellere Teil seiner Stirn, den sonst die Tschapka bedeckte, war blutig errötet, und die Wangenpartie unter seinen Augen zeigte eine eigentümliche Art von Bewegung, eine zuckende, puckernde Vibration.

Er sagte in das Schweigen hinein: »Ich wäre dir dankbar, Herr Rittmeister, wenn du die Leute in Ruhe ließest. Mir sind deine Äußerungen ganz schauderhaft unangenehm.«

Alle horchten den Sätzen nach. Das familiäre Du, das außer Dienst auch dem Vorgesetzten gegenüber gebräuchlich war, wirkte in Pattays Worten bedrohlich, völlig makaber.

Ehe Schaller antworten konnte, griff der Ehrengast Herr von Stöttner ein, mit einem rührenden Versuch, die Situation noch zu retten. Er brachte auch wirklich einen sorglos väterlichen Ton zustande.

»Aber Pattay, was fällt denn dir ein. Du wirst uns jetzt nicht die Stimmung verpatzen, wenn gleich der Löw kommt mit seinem besten Tokayer!«

Der kostbare Wein wurde auch schon herangetragen. Ein Kellner balancierte drei schmale, bestaubte Flaschen vor sich her, ein zweiter folgte ihm mit einem Tablett voll kleiner Gläser, und Salomon Löw eskortierte den Zug, seinen Blick auf die Flaschen gerichtet. Sie waren der letzte Rest eines berühmten Jahrgangs.

Mit dem gutgewahrten Anschein der Unbefangenheit begann der Hotelier die Gläschen zu füllen. Topasen und samtig schimmerte der Wein unterm Licht der Laternen. Es war gewiß Zufall, daß Herr Löw mit seinem Einschenken bei Schallers rechtem Nachbar begann und von ihm weg rechtshin die Runde machte.

In Gegenwart der Bedienung sprach niemand ein Wort. Auch in der Nische drüben war man verstummt. Manchmal hörte man deutlich die Flasche in Herrn Löws Hand gegen ein Glas klirren. Daran ließ sich erkennen, daß der Mann zitterte.

Im Augenblick, da er bei Schaller anlangte und ihm als dem letzten eingießen wollte, stieß der Rittmeister ihn zurück.

»Erst bring ein Glas!« schrie er ihn an.

»Ein Glas – Sie haben doch eins.«

»Ich will ein Glas, aus dem noch kein Jude getrunken hat. Verstehst du, kein einziger Saujud'!«

Er starrte Pattay ins Gesicht, packte sein Glas und schleuderte es mit Wucht nach der anderen Nische hinüber. Man hörte es drüben auf dem Steinboden zerschellen.

Pattay war schon auf den Füßen. Das Ungeheuerliche stand bevor – ein Handgemenge auf öffentlichem Platz zwischen zwei Offizieren der Kaiserlichen Armee.

Aber Verblüffendes geschah. Pattay kehrte sich um, erreichte mit zwei Sätzen den Eingang und verschwand im Hotel. Herr Löw und seine zwei Kellner, die ebenfalls Juden waren, starrten ihm nach.

Nicht sie allein. Drüben waren die jüdischen Herren in stillem Aufbruch begriffen. Eben traten sie auf den Ringplatz hinaus. Sie alle sahen, was vorging, als Pattay nach einer erschreckend kurzen Zeit wieder im Eingang erschien.

Sie sahen es, aber weder sie noch irgendwer sonst traute sogleich seinen Augen.

Das breite Gefäß aus weißlackiertem Blech, das Pattay da in der Hand trug, es stammte aus einem von Herrn Löws Fremdenzimmern. Pattay schwang es hoch durch die Luft und hieb es krachend nieder auf den Tisch, gerade vor Schaller. Flaschen und Gläser stürzten und ergossen ihren Inhalt.

»So, Herr Rittmeister, da hast du ein Glas, aus dem hat bestimmt noch kein Jude getrunken.«

Schallers Stuhl fiel hinter ihm um. Es sah aus, als wollte er sich mit den Fäusten auf Pattay stürzen. Dann besann er sich und suchte nach seinem Säbel. Aber der lehnte mit anderen zusammen in der Taxushecke. Ehe der Rittmeister dorthin gelangte, hatten die Offiziere Zeit, sich dazwischenzuwerfen. »Um Gottes willen«, hörte man Stöttners Stimme, »um Gottes willen, meine Herren, die Leute!«

Aber es waren keine Leute mehr da. Herr Löw und seine Kellner und die Herren draußen auf dem Pflaster, sie alle waren verschwunden vom Schauplatz des Unmöglichen, dessen Zeugen sie um keinen Preis sein durften.

Man führte die Gegner in entgegengesetzter Richtung davon. Was folgen mußte, war klar. Hier gab es nur Zweikampf auf Leben und Tod. Major Stöttner und die beiden rangnächsten Herren machten sich auf, um dem Regimentskommandeur Meldung zu tun. Es war zwei Uhr am Morgen, aber ihn zu wecken erschien unvermeidlich.

Als sie zu seinem Hause gelangten, fanden sie es von oben bis unten erleuchtet. Alle Türen standen offen, und Ordonnanzen warteten auf der Treppe. Sie fanden den Oberst in seinem Arbeitszimmer, bemüht, eine telefonische Verbindung mit Wien herzustellen.

Er schien gar nicht erstaunt, als sie eintraten. Er nickte ihnen zu, mit zitterndem Kinn und geröteten Augen.

»Ist es nicht grauenvoll, meine Herren«, sagte er nur.

Sie blickten einander an, ohne zu verstehen. Die Verbindung mit Wien schien endlich zustande zu kommen. Aber es war wieder ein Fehlschlag.

Dann erfuhren sie, was geschehen war. An diesem Tage waren im Südosten der Monarchie, in Sarajevo, der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau durch Revolverschüsse eines serbischen Patrioten getötet worden.

 

XV

Der Kommandeur war ein verständiger und entschlossener Herr. Ihm war augenblicklich klar, daß dieses Duell nicht stattfinden durfte. Das ganze Reich in verwirrtem Entsetzen, die Zukunft der Dynastie in Frage gestellt, dunkelste Gewitter am nahen Horizont – es war nicht der Moment, um durch die blutige Austragung eines skurrilen Skandals dem Ansehen der Armee Schaden zuzufügen.

Noch in der Nacht befahl er die beiden Gegner zu sich.

»Ich schiebe Ihr Verhalten auf schwere Betrunkenheit. Es gibt keine andere Erklärung für Ihre Äußerungen, Rittmeister Schaller, und noch weniger, Pattay, für Ihre unverzeihliche Reaktion.«

Die letzten Worte kamen schwach heraus. Der Oberst wandte sich plötzlich ab, man sah seine Schultern zucken, es war offenkundig, daß er sich, selbst in dieser Schreckensnacht, der Komik von Pattays »Reaktion« nicht zu entziehen vermochte. Als er seine Gesichtsmuskeln wieder in Ordnung hatte, fuhr er fort:

»Der Vorfall darf keine Folgen haben. Ich verlange, daß Sie sich versöhnen.«

»Ich bitte bemerken zu dürfen«, sagte Schaller steif, »daß ein Vertuschen unmöglich ist. Die Sache hat Zeugen gehabt.«

»Das lassen Sie meine Sorge sein. Reichen Sie einander die Hände! Es ist Befehl.«

Ein Zögern folgte, dann hoben beide Offiziere gleichzeitig die Hände. Die Hände berührten einander und zuckten sogleich zurück, als hätten sie Feuer gespürt.

»Das wäre alles«, sagte der Oberst, »guten Morgen, meine Herren.«

Schaller ging schnell als der erste. Man hörte ihn die Treppe hinunterklirren. Als Pattay von der Schwelle aus salutierte, hielt ihn der Oberst zurück.

»Mach die Tür zu, Pattay. Du hast dir wirklich die geeignete Nacht ausgesucht, um deinem Affen Zucker zu geben. Bist du denn völlig von Gott verlassen!«

Und er betrachtete seinen Oberleutnant mit innigem Wohlgefallen.

Pattay lächelte nicht zurück. Er verwand den Verzicht nicht so schnell. Er hatte sich glücklich gefühlt in der Aussicht auf dieses Rencontre, leicht und erlöst. Endlich, in wenigen Stunden, sollte er dem Verhaßten gegenüberstehen auf dem morgenfeuchten Rasen – er hörte den Unparteiischen zählen, er faßte eisern in seinen Säbelkorb, fiel aus und spaltete mit einem sausenden Hieb diese niedere, niedrige Stirn.

Er sagte, in zusammengenommener Haltung: »Ich sehe vollkommen ein, Herr Oberst, daß die getroffene Entscheidung unter den Umständen die einzig mögliche war.«

»Dann ist's ja gut, du ganz verrückter Lumpazi«, sagte der Kommandeur. Und endlich lachte er los. Das aufgestaute Lachen brach aus seinem gesunden Körper hervor mit der Gewalt eines Sturzbachs. Es schüttelte ihn, und die Tränen liefen ihm über die Wangen.

Pattay wartete bescheiden, bis der Anfall vorüber war. Der Kommandeur trocknete sich die Augen.

»Du mußt Urlaub nehmen«, sagte er endlich. »Ihr könnt euch nicht jeden Tag hier begegnen. Ich geb' dir sechs Wochen.«

»Zu Befehl. Aber meinen Herr Oberst, daß nach sechs Wochen ein Weiterdienen im gleichen Regiment möglich sein wird?«

Der andere, jetzt wieder ernst, legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Mein lieber Pattay, mir sagt eine Ahnung, daß binnen sechs Wochen die Ereignisse das alles in Ordnung bringen. Grüß dich! Und genieß deinen Urlaub.«

Es war bereits hell. Der Oberst nahm ein Bad, frühstückte und ließ seinen Wagen anspannen. Vor ihm lag eine ziemlich unmögliche Aufgabe. Acht oder zehn Leute zum Schweigen zu bestimmen, in einer Sache, die so zum Weitererzählen einlud – nun, es mußte versucht werden.

Es war noch nicht sechs Uhr, als er vor dem Hotel »Zum Erzherzog Rainer« vorfuhr. Salomon Löw erschien, übernächtig, im Schlafrock.

»Sie kenne ich ja, Löw«, sagte der Kommandeur. »Sie haben schon mehr verschwiegen in Ihrem Leben. Aber Ihre zwei Kellner – für die muß das ja ein Fressen gewesen sein.«

»Es sind vernünftige Leute, Herr Oberst. Familienväter und fromm. Ich hab' ihnen klargemacht, daß schließlich doch nur alles auf uns Juden zurückfällt. Sie haben mir's in die Hand versprochen, daß sie den Mund halten. Aber«, sagte er und blickte den Offizier hilflos an, »ist diese Nachricht denn wahr? Kann so was geschehen! Was liegt denn für ein Fluch auf unserm kaiserlichen Haus. Unser Kronprinz Rudolf zuerst, dann die Kaiserin, und jetzt das. Es schaut ja aus, als wär' es das Ende für unser Habsburgerreich.«

Der Oberst blickte den Mann an und sah, daß seine Augen voll Tränen standen.

»Es ehrt Sie, Herr Löw«, sagte er sonderbar verlegen, »daß Sie das nationale Unglück so mitempfinden.«

»Mitempfinden, Herr Oberst! Wer anders soll das empfinden wenn nicht wir Juden. Ich weiß schon, daß der ermordete Herr Erzherzog persönlich unsere Leute nicht gern gehabt hat. Aber darum handelt sich's nicht. Wann ist es denn unserm Volk so gut ergangen wie seit hundert Jahren in Österreich! Da macht man immer Witze darüber, daß im kaiserlichen Titel auch die Worte ›König von Jerusalem‹ vorkommen. Aber es ist was dran und hat seinen Sinn. Glauben Herr Oberst, daß es bald Krieg gibt?«

»Das kann niemand wissen«, sagte der Oberst, eher reserviert. »Sagen Sie mir jetzt einmal genau, wer die Herren gewesen sind, die da draußen zugeschaut haben!«

Er nickte bei jedem Namen und stieg dann wieder in seinen Wagen. Er war im Waffenrock unter seinem Mantel, sogar zwei Orden hatte er angesteckt. Sein Auftreten in diesen jüdischen Haushalten konnte gar nicht eindrucksvoll genug sein. Er sah auf die Uhr. Es kam darauf an, jeden von diesen Herren zu stellen, ehe auch nur einer beim Frühstück mit seiner Frau sprechen konnte.

Als der Kommandeur gegen acht Uhr nach der Kaserne zurückkehrte, erfüllte ihn das Bewußtsein, er habe zu seinem Teil der Katastrophe entgegengewirkt, von der das Habsburgerreich und die Welt der Vernunft und Ordnung bedroht waren.

 

XVI

Das kleine Logierhaus lag oben an der Berglehne, eine gute Viertelstunde vom Ort. Da es noch früh im Sommer war und die bescheidene Saison erst begann, wurden Recha und Pattay die beiden Frontzimmer im Oberstock eingeräumt, mit dem breiten Balkon davor, den der vorspringende Giebel beschirmte. Das Haus war neu, eben erst fertig geworden; in dem Lärchenholz, aus dem es erbaut war, knackte und krachte es, als atmeten die Bretter noch lebendig im Wald, der rechts hinunter den Abhang bedeckte. Ein Bergwasser blitzte und rauschte dort durch die hohen, licht stehenden Stämme. Nach links hin zogen sich Wiesen und gezirkelte Äcker sanfter bis dicht vor die ersten Häuser des Orts. Es war jener selbe ländliche Kurort am Karpatenabhang, wo Recha mit Chana alljährlich zwei Sommermonate zugebracht hatte.

Die Leute, die sie wiedererkannten, waren vermutlich erstaunt über den Herrn in ihrer Begleitung, der auch in seinem Zufallzivil den Militär und Aristokraten so deutlich verriet. Aber man sah die beiden nicht viel. Im Gasthof, wo sie einmal am Tage einkehrten, hatten sie ihren Tisch am Ende des Gartens, in einer Laube, und dieser Platz blieb ihnen auch, als mit dem Eintritt der Schulferien das Hotel sich mit kinderreichen Familien füllte. Manchmal flatterte ihnen der weiße Wyandottehahn des Hauses auf den Tisch, der sie mit einer Art von persönlicher Zuneigung ehrte, oder ein mächtiger, dunkelgrauer Kater mit gelben Augen strich mit seidener Geschmeidigkeit um ihre Gläser und Teller. Es gab gute, einfache Dinge zu essen hier, Forellen, frisch aus dem Bach, Schinken, der auf der Zunge zerging, aus Böhmen, jenseits der Berge, dazu ein besonders würziges Roggenbrot mit dunkelgoldener Rinde. Aus ihrer Laube schauten sie auf die offenen Wiesen hinaus.

Ohne Ereignis und Störung vergingen ihnen die Tage. Alles – ihre Wege über die Hügel hinauf in die beginnende Wildnis des höhern Gebirgs, das Heimkommen in die zwei kargfreundlichen Stuben, die schon beseelt waren von der Atmosphäre ihres gemeinsamen Lebens, der Gang hinunter zum Mittagsmahl, und später die Stunden auf ihrem Balkon mit dem Ausblick über das Tal, das die tieferen Farben des Nachmittags annahm und langsam gegen den Abend verbleichte – alles war vollkommenes Glück, mit einer tief darunter flutenden Bangigkeit, weil das Vollkommene nicht dauern kann.

Unausschöpfbar schien jedem von ihnen der Genuß der geliebten Gegenwart. Nach einem Gespräch von Stunden war es ihnen, als stünden sie am Beginn. Sie wußten auch längst, was dies war: daß sie einander mehr anzuvertrauen hatten, als was jeder gesehen und empfunden hatte in der kurzen Frist seines Daseins. Pattay, auf seine Art, sprach es aus:

»Wir zwei werden uns nicht miteinander langweilen, Recha, und wenn wir sehr alte Leute werden. Denn jeder von uns kommt tausend Jahre weit her, und jetzt haben wir einander getroffen, zum ersten Mal. Da hat man sich was zu erzählen.«

Aber in den Nächten brannte ihr Feuer im Schweigen, verzehrte sich und flammte empor, wieder und nochmals. Sie maßen den Schlaf zwischen ihren Umarmungen an den Lauten, die der kalte Bergwind durch die Fenster hereintrug. Um Mitternacht noch Gelächter und Rufe vom Ort herauf. Zwei Stunden später nur einsames Wachtgebell. Dann – nichts – die ungeheure Stummheit, die dem neuen Tage voraufgeht. Und endlich Hahnenruf und der früheste Schrei des Hähers, der über die Lärchen dahinstrich. Aber das Rauschen des Bergwassers, so nah und so laut, nahmen sie nicht mehr wahr, es gehörte zur Stille.

Sie waren glücklich. Ihnen war eine Spanne der vollkommenen Erfüllung gegönnt, einer jener elysäischen Windstillen, so selten und so kurz in der Existenz eines Menschen wie in der eines Volkes. Ein paar Friedensjahre sind's hier in einem ganzen Jahrhundert, ein paar selige Wochen sind's dort im ganzen Umlauf des Lebens. Aber Mensch und Nation – sie blicken auf diese glückseligen Pausen zurück, als wären sie die Regel, das eigentlich ihnen Bestimmte, und als wären nicht Kampf, Qual und Irrtum der Grundstoff, aus dem alles Leben gemacht ist.

Recha hatte niemals gefragt, was Pattays unerwarteter Urlaub eigentlich zu bedeuten habe. Sie nahm ihn hin als ein Geschenk. Von seiner Affäre mit Schaller wußte sie nichts. Wohl aber natürlich von dem Unglücksschlag, von dem das Reich nachzitterte in seinen weiten Grenzen. Wo immer man zufällig hinhörte, sprachen die Leute vom kommenden Krieg.

Pattay ging drüber hin, wich aus, schien die Augen zu schließen. Ganz gelegentlich warf er einen Blick auf die Zeitungen aus Krakau und Wien unten im Gasthof. Er las kaum mehr als die Schlagzeilen. Sie spiegelten ein jähes Auf und Nieder zwischen Drohung und Hoffnung. Da hatte der Kaiser in Wien an den in Berlin ein persönliches Schreiben gerichtet und als Antwort von seinem Verbündeten eine offene Ermutigung erhalten. Aber zwei Tage später ging der Verbündete friedlich auf seine alljährliche Nordlandsfahrt. Und aus Belgrad kam der Bericht des Sektionsrats von Wiesner, der die Mitschuld der serbischen Regierung an jener Mordtat ausdrücklich verneinte. An diesem Tag zeigten die jüdischen Familienväter im Wirtshausgarten befreite, festliche Mienen.

Eine Woche darauf krachte der Donnerschlag des Ultimatums. Sie wollten in Wien den Krieg, es war klar. Belgrad formulierte seine Antwort, nachgiebig, unterwürfig über jedes Erwarten. Aber diesmal blieb zum Aufatmen keine Zeit. Österreich prüfte die Antwort kaum. Man brach die Beziehungen ab. Der Gesandte reiste.

Als Pattay und Recha am andern Mittag den Wirtsgarten betraten, war er fast leer. Überall sah man die Hoteldiener das Gepäck der aufgescheuchten Kurgäste zum Bahnhof karren.

Pattay wartete auf den Befehl zum Einrücken. Es war schon beinahe dunkel, als er den Depeschenboten den Hügel heraufkommen sah. Es ging heute kein Zug mehr. Die Nacht, die folgte, war lastend schwül. Sie verbrachten sie ohne Schlaf. Um die zweite Stunde barst ein Wolkenbruch nieder, mit solcher Gewalt, daß vom Balkon das Wasser bis auf ihr Lager hereinsprühte. Als sie in der Morgenfrühe zur Bahn fuhren, regnete es dünn und gleichmäßig auf ein fröstelndes Tal.

Pattay fand sein Regiment mit den Vorbereitungen zum Aufbruch beschäftigt. Niemand glaubte mehr, daß sich der Konflikt auf Serbien werde beschränken lassen. Schon schwirrten Gerüchte über feindliche Flieger, über Grenzverletzungen durch Kosaken.

An dem Nachmittag, da die russische Mobilmachung bekannt wurde, erschien er unvermutet in der Villa. Er war in Paradeuniform.

»Ich hab' einen Wagen da, Recha. Ich möchte ausfahren mit dir.«

Sie öffnete den Mund zu einer erstaunten Frage, unterließ sie dann aber und nickte.

»Ich setze nur meinen Hut auf.«

»Den kleinen dreieckigen, magst du? Und zieh dir dein blaues Tuchkleid an. Ich seh' dich so gern darin.«

Auf dem Bock des Wagens saß Pjotr. Er knallte zum Gruß mit der Peitsche, ohne das Gesicht zur Seite zu wenden, so wie er es an Herrschaftskutschern gesehen hatte.

Als sie über die Brücke fuhren, faßte Pattay nach Rechas Hand.

»Du weißt schon, wohin wir fahren, nicht wahr? Der Bürgermeister wartet auf uns. Kriegstrauung. Früher hätten sie tausend Schwierigkeiten gemacht. Jetzt springt einfach das Tor auf. So hat der Unsinn doch auch sein Gutes.«

»Franz«, sagte sie, »es ist mir nicht recht, daß du dich von den Umständen drängen läßt.«

Er lachte und küßte sie auf offener Brücke.

»Die Umstände seien gesegnet! Ohne die hättest du nur wieder nein gesagt. Aber im Stande der Todsünde kannst du mich nicht gut umkommen lassen.«

Die Worte, so leichtfertig aus dem Vokabular seiner Kirche hervorgeholt, rührten sie schauerlich an.

Der Akt vor dem Bürgermeister verlief trocken, unfeierlich. Der Sekretär und ein Amtsdiener fungierten als Trauzeugen. Nicht zehn Minuten waren vergangen, ehe Pattay vor dem Rathaus Recha wieder in den Wagen half.

»Verzeih, wenn ich dich allein zurückfahren lasse. Es gibt so viel zu besorgen. Ich bin um sieben Uhr bei dir.«

Er stieg die Treppe zum Notar Krasna hinauf, fand ihn an seinem Schreibtisch und stellte sich vor.

»Den Namen werd' ich wohl kennen«, sagte Krasna. Sein weißer Bart zitterte von einem unterdrückten Lachen begeisterter Erinnerung.

»Ich habe mich soeben verheiratet, Herr Notar, und möchte ein Testament aufsetzen, wonach alles, was mir gehört, im Fall meines Todes meiner Frau zufällt.«

»Das ist einfach.«

»Nicht ganz so einfach. Denn ich besitze eigentlich nichts – Junggesellenmöbel, Familienandenken, ein paar alte Bilder. Was aber das eigentliche Vermögen betrifft –« Und er erläuterte mit einigen Sätzen dem Juristen die Situation. Er vergaß auch nicht, das Darlehen zu erwähnen, das ihm von dem Fabrikbesitzer Zweifuß gewährt worden war und das unter allen Umständen getilgt werden müsse.

Herr Krasna nickte. »Was Ihnen nicht gehört, Graf Pattay, können Sie auch nicht vermachen. Da kommt nur eine Anempfehlung in Betracht. Sie empfehlen der Fürstin Weikersthal die Tilgung Ihrer Verbindlichkeiten, und Sie drücken den Wunsch aus, daß Ihre junge Frau aus dem versorgt werde, was Ihnen einmal hätte zufallen sollen. Bindende Kraft hat solch ein Instrument natürlich nicht. Aber ich will es gern für Sie aufsetzen und beglaubigen.«

»Machen Sie's bitte recht feierlich«, sagte Pattay. »Meine Tante wird von Formeln beeindruckt.«

Der Notar legte ein Blatt zurecht. »Wie ist der Mädchenname Ihrer Gattin, Herr Graf?«

Pattay nannte ihn. In Krasnas Hand zuckte die Feder wie unter einem elektrischen Schlag.

»Wie ich mir unsere Fürstinnen vorstelle, wird Ihre Tante da nicht sehr geneigt sein, auf die Anempfehlung zu hören. Hat Ihre Frau denn die Taufe genommen? Sind Sie kirchlich getraut worden?«

Pattay schüttelte langsam den Kopf. Er sah Chana vor sich, er sah die metallene Hülse am Türpfosten, die die Zehn Gebote umschloß, er sah Rechas Augen, dunkel strahlend von einem Licht aus Urväterfernen.

»So etwas wäre nicht möglich«, sagte er.

Eine Stunde darauf, bei Recha, fand er den Tisch zur Abendmahlzeit festlich hergerichtet. Zwei siebenarmige Leuchter brannten. Zum erstenmal war für drei gedeckt. Chana saß mit am Tische, in ihrem schwarzseidenen Sabbatkleid.

»Brechen Sie das Brot«, sagte sie zu Pattay, »und teilen Sie's aus. Ich will den Segen darüber sprechen, da Sie es nicht können.«

Pattay tat, wie sie es verlangte. Und Chana sprach die Segensworte über das Brot, in der Sprache ihres Volkes.

 

XVII

Die Ulanen rückten am fünften August ins Feld, um an der Aktion teilzunehmen, die sich auf der Linie Krasnik-Komarow – östlich von Lemberg gegen die andringenden Russen vorbereitete. Der Frontabschnitt, dem sie zugeteilt wurden, war nur wenige Rittstunden von der Garnison entfernt, und diese Nähe ließ den Zurückbleibenden die Situation minder dramatisch, beinahe harmlos erscheinen. Die täglich einlaufenden Nachrichten klangen günstig, erfolgsgewiß.

Aber Pattays Briefe redeten überhaupt nicht vom Krieg, abgesehen von gelegentlichen Scherzen über mangelnden Komfort der Quartiere. Es waren die zärtlichen und leidenschaftlichen Briefe eines Mannes, der die Frau seines Lebens gefunden hat und der unmutig ist, weil ihn lästige Umstände von ihr entfernt halten. Und noch waren seit dem Ausmarsch nicht zwei Wochen vergangen, da klopfte er mitten in einer Nacht ans Tor der Villa, gab der öffnenden Chana ein hastiges Wort zum Gruß und hielt im nächsten Augenblick die selig Aufgeschreckte in seinen Armen.

Zwischen ihren Küssen hörten sie draußen die Pferde schnauben, die Pjotr am Zügel hielt. Sie hatten nur eine Stunde. Als Pattay dann ging, wollte er nicht, daß sie das Lager verlasse, und schlich auf Zehenspitzen hinaus, um Chana nicht nochmals zu wecken. Aber sie hatte gewartet und stand im hellen Rahmen der Küchentür, in einem langen tuchenen Schlafrock.

»Ich habe Ihnen Kaffee gemacht. Stört es Sie, ihn hier draußen zu trinken?«

»Kann mein Pjotr einen bekommen?«

»Hat schon gehabt.«

Sie setzten sich am Küchentisch einander gegenüber, und sie sah ihm zu, wie er den heißen Trank dankbar hinunterschlürfte.

»Der Kaffee ist wundervoll. Jetzt kommt es mir vor, als hätt' ich ohne den gar nicht zurückreiten können.«

»Dürfen Sie das eigentlich – so nachts davongaloppieren?«

Er lachte. »Nach Lemberg bin ich doch auch immer nachts hinübergekommen. Aber freilich – damals hätten Sie mir keinen Kaffee gemacht.«

»Was würde Ihnen geschehen, wenn Sie einmal nicht da sind und die Russen greifen an?«

»Die schlafen bei Nacht.«

»So etwas nennt man ein Kriegsverbrechen, hab' ich gehört.«

»Sie werden mich ja nicht anzeigen, Chana. Vor ein paar Monaten hätt' ich nicht drauf geschworen.«

Er stand auf und sie mit ihm. Sie trat auf ihn zu und umarmte ihn. Sie war fast ebensogroß wie Pattay, fest wie aus Holz, und er spürte den Griff ihrer rechten Hand an seiner linken Schulter. Er fühlte sich sonderbar stolz, freudig gerührt.

»Gott schütze Sie, Pattay«, sagte sie nahe an seinem Ohr und ließ ihn los. »Ich wünsch' Ihnen Gutes. Es gibt eben Dinge, die sind stärker als Religion und als aller Unterschied zwischen Menschen. Geben Sie auf sich acht! Stellen Sie sich Recha vor, wenn Ihnen was zustößt.«

»Ich werd's den Russen ausrichten, daß sie nicht auf mich schießen.«

Aber eine Woche darauf, am Nachmittag des 24. August, fiel der Oberleutnant Graf Pattay auf einem Erkundungsritt in der Gegend von Złockow.

Die Hast seiner Trauung und die Verwirrung des Aufbruchs trugen Schuld, daß in den Regimentspapieren bei Pattays Namen der Ehevermerk fehlte. So wurde Recha von seinem Tod nicht benachrichtigt. Das Ausbleiben seiner täglichen Briefe machte sie freilich unruhig. Aber als Chana ihr vorstellte, daß ihr Mann schließlich im Felde stehe und wahrscheinlich militärische Gründe den Postverkehr unterbänden, gab sie sich damit zufrieden und dachte an anderes.

An andres zu denken bestand auch Anlaß, an etwas sehr Privates und Geheimes offenbar, denn zweimal in diesen Tagen begab sie sich unter Vorwänden allein nach der Stadt, und als sie vom zweiten dieser Ausflüge zurückkehrte, war sie in einer freudig fieberischen Erregung.

Ein paar Stunden darauf, am späteren Nachmittag, verließ Chana das Haus, um einzukaufen. Recha legte ihr einen Brief in ihr Tragnetz, der an Pattay adressiert war.

»Wirf ihn beim Postamt ein, Chana. Ich fürchte immer, daß sie die Briefkästen nicht ordentlich leeren.«

Es war ein trüber Tag mit Nässe und Wind; Chana beeilte sich, mit ihren Besorgungen fertig zu werden. Zuletzt erinnerte sie sich, daß sie versprochen hatte, braune und dunkelgrüne Seide für Rechas Stickerei mitzubringen, und sie bog in die gekrümmte Kreuzgasse ein, zum Einkauf beim Posamenteriewarenhändler Berges.

Frau Berges plauderte mit einer Kundin über den Ladentisch. Das Gewölbe war schon beinahe dunkel. Chana wartete, sie blickte vor sich nieder auf den Estrich, auf dem ihre Schnürstiefel zwei Lachen verbreiteten. Auf einmal hörte sie Pattays Namen. Frau Berges erwähnte seinen Tod – aber nicht als eine frische Neuigkeit, sondern wie etwas, das aller Welt schon bekannt ist.

Chana trat in den engen Lichtkreis der Lampe. Die Händlerin erkannte sie jetzt und erschrak.

»Ist das ein Gerücht, Frau Berges, oder wirklich die Wahrheit?«

»Das müssen Sie doch am besten wissen.«

»Wenn ich's wüßte, würd' ich nicht fragen. Ich werd' 'gehn und mich in der Kaserne erkundigen.«

»Dort ist ja kein Mensch.«

»Irgendein Mensch wird schon dort sein.«

Sie lehnte sich plötzlich gegen den Ladentisch. Ihr schwerer Oberkörper schwankte vornüber.

»Ich hol' Ihnen Wasser«, schrie Frau Berges und blieb stehn, wo sie war. Die Kundin, ein ganz junges Mädchen, starrte mit weiten Augen auf den Vorgang, den sie nicht begriff.

»Mir fehlt nichts.« Chana nickte irgendwohin und ging durch die scheppernd klingelnde Ladentür hinaus auf die Kreuzgasse, die inzwischen ganz dunkel geworden war.

Es regnete stärker. Dort, wo die Häuser aufhörten, erblickte sie über ein Stück baumloses, strauchloses Land hinweg den langgestreckten Bau der Kaserne. Der zähe Schmutz, durch den sie stapfte, reichte bis zur halben Höhe ihrer schweren Stiefel.

Sie durchschritt die gewölbte Durchfahrt mit dem Muttergottesbild und stand im Hof vor den mächtigen Stalltoren, die alle verrammelt waren. Aber im rechten Seitentrakt, zu ebener Erde, brannte ein Licht. Sie klinkte die Tür auf.

Der Korporal Siebel, der an seinem Tisch mit Papieren beschäftigt gewesen war, erhob sich, als er eine Frau eintreten sah, und kam ihr hinkend entgegen. Er war ein geschniegelter Halb-Herr, im Zivilstande Versicherungsbeamter. Vor einigen Wochen hatte er sich beim Sturz im Gelände den Fuß gebrochen und war darum in der Garnison zurückgelassen worden, zur Erledigung von Verwaltungsgeschäften. Er wußte selbst nicht genau, ob er sich zu diesem Umstand beglückwünschen oder ihn beklagen sollte, denn nach der Art vieler Feiglinge träumte er hitzig von Beförderung und Medaillen.

Er war im Begriff gewesen, Chana einen Stuhl anzubieten, aber als er das dienstbotenhafte Tragnetz an ihrem Arme wahrnahm, erschien ihm dies übertrieben. Chana setzte sich trotzdem.

»Ich will mich erkundigen, ob hier etwas über den angeblichen Tod des Oberleutnants von Pattay bekannt ist. Ich nehme an, daß die Sache nicht stimmt, sonst hätte man uns benachrichtigt. Meine Nichte ist Pattays Frau.«

»O ja, jawohl. Das hätte geschehen müssen. Ja, leider stimmt die traurige Nachricht. Darf ich mir erlauben, ergebenst zu kondolieren.«

»Tot«, sagte Chana, »wahrhaftig tot. Ja, wie um Gottes willen, ist das denn passiert?«

Seltsam klang diese Frage. Als wäre es ein unerklärlicher Unglücksfall, wenn ein Offizier im Feld seinen Tod findet. Aber Korporal Siebel war in der Lage zu antworten. Er fingerte eitel zwischen seinen Papieren.

»Darüber ist ein Bericht vom Regiment eingelaufen, den ich in schickliche Form zu bringen und an die zuständige Kanzlei in Wien weiterzuleiten habe.«

»Nun, also?«

Aus der Darstellung des Schreibers ging hervor, daß Pattay an jenem Tag eine der Patrouillen geführt hatte, die das wellige, teilweise versumpfte Gelände vor der österreichischen Front zu erkunden ausgeschickt wurden. Um den feindlichen Scherenfernrohren ein geringeres Ziel zu bieten, hatte er nach einer Weile seine acht Leute zwischen den Hütten eines Dorfes zurückgelassen und war allein weitergeritten, mit dem Bemerken, er werde binnen einer Stunde zurück sein. Aber er war noch nicht lange hinter der Hügelwelle verschwunden, an die das Dörfchen sich anlehnte, als seine Ulanen in rascher Folge mehrere Schüsse fallen hörten. Als sie zur Stelle kamen, lag Pattay am Boden. Sein Pferd graste unverletzt wenige Schritte entfernt. Von den Russen zeigte sich keine Spur. Die Ulanen hoben den Leichnam auf, und es erwies sich, daß die tödlichen Schüsse am Rücken eingedrungen waren, nahe unter dem linken Schulterblatt. Sie mußten aus geringer Entfernung abgefeuert worden sein, denn das Tuch der Uniform zeigte sich stark verbrannt.

»Das ist jetzt vier Tage her«, sagte Chana. »Wo ist die Leiche?«

»Die Leiche, meine Gnädige, ist nach Wien überführt worden. Der Graf von Pattay hatte ja hohe, allerhöchste Beziehungen.« Er legte eine taktvolle Pause ein. »Übrigens«, fuhr er dann fort, »ist das nicht der einzige schwere Verlust, den das Regiment an jenem Tage erlitten hat. Auch unser Rittmeister Schaller ist zu beklagen.«

»So. Schaller. Auch tot?«

»Gefunden hat man ihn nicht. Vielleicht daß die Russen ihn weggeschleppt haben.«

»Einen toten Menschen, wozu?«

»Natürlich besteht auch die Möglichkeit, daß er lebend gefangen wurde.«

»Darüber müßten doch seine Leute Bescheid wissen.«

»Eben nicht, meine Gnädige. Er hatte sich gleichfalls von ihnen getrennt.«

»War das nah bei der Stelle, wo Pattay gefallen ist?«

»Allerdings.« Siebel schien etwas erstaunt über dieses Interesse am Schicksal des fremden Herrn. »Ganz in der Nähe. Beide Offizierspatrouillen hatten Befehl, engen Kontakt zu halten.«

Schwer saß Chana auf ihrem Strohstuhl. Ihre Finger knüpften mechanisch die Schnüre an ihrem Tragnetz auf und banden sie wieder zu. Sechs Wochen war es jetzt her – Recha und Pattay waren noch im Gebirge –, da hatte der jüngere Sohn des Fabrikanten Zweifuß ihr im tiefsten Geheimnis von Schallers grotesker Demütigung vor dem »Erzherzog Rainer« erzählt. Sie hatte ihr Wort gehalten, nicht einmal Recha wußte etwas. Aber mit Chanas veränderter Stellung zu Pattay hatte die Geschichte sehr viel zu tun. Und nun war dieser Schaller spurlos verschwunden, ganz nahe der Stelle, wo Pattay gefallen war.

Ohne ein überflüssiges Wort stand sie auf. Der Korporal Siebel hinkte hastig zur Tür, um sie vor ihr offenzuhalten.

Der Heimweg durch die regnerische Nacht nahm mehr als eine Stunde in Anspruch. Auf der Dnjestrbrücke machte sie halt, stützte die Ellbogen auf die nasse Brüstung und blickte auf die angeschwollenen gelben Wasser, die ganz nahe unter ihr durchschossen. Noch vermochte sie sich nicht vorzustellen, wie sie Recha diese Botschaft beibringen sollte.

Aber als sie nach Hause kam, brauchte sie nicht viel zu reden. Ihre Nichte erwartete sie unter der Tür.

»Du kommst und kommst nicht. Was ist denn geschehen?«

»Recha – höre –«

»Du weißt etwas. Etwas vom Franz. Mach doch den Mund auf!«

Chana sah sie an, schloß dann die Augen und nickte.

Sie hörte kaum einen Schrei, nur ein hilfloses Piepsen, als wenn jemand einem kleinen Vogel ganz rasch die Kehle zudrückt. Recha griff mit beiden Armen vor sich in die Luft, ihr Körper beschrieb eine Drehung und stürzte steif nieder. Ihr Hinterkopf schlug auf die Steinfliesen auf.

Zwei Stunden später begleitete Chana den Arzt aus dem Krankenzimmer hinaus.

»Sie wird jetzt gleich schlafen auf die Tabletten. Aber die Eiskompressen machen Sie weiter.«

»Ist es gefährlich, Herr Doktor?«

Doktor Adler schüttelte seinen alten Kopf. »Sie ist ein gesunder Mensch, bei all ihrer Zartheit. Ich habe sie ja erst heut in der Frühe noch einmal untersucht.«

»Heut in der Frühe? Wieso denn?«

»Das wissen Sie gar nicht?« Er sah sie an, unter seinen Augengläsern weg, die er vergessen hatte hinunterzuschieben.

»Wahrscheinlich wollte sie, daß es Pattay vor allen andern erführe. Sie erwartet ein Kind. Ja, jetzt erfährt er's nicht mehr.«


 << zurück weiter >>