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IV.
Des Doctors Gebirgsreise.

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Das Capitel aus dem Leben des Doctors Peter Paul, mit dem wir den Leser ein Stündchen zu unterhalten wünschen, datirt um mehr als ein Menschenalter zurück und spielt, – hebt mindestens an und schließt dann wieder, – in einem Landstädtchen, ein Dutzend Meilen von der Residenz entfernt, auch in der Ebene, aber nicht wie jene über jüngst entdeckten Infusorienlagern aufgerichtet, sondern so weit etwa der Schritt einen mäßigen Spazierliebhaber trägt, zwischen saftigen Gärten und Feldern, die gleich einer Oase in der Wüste das Auge erquicken.

Von Eisenbahnen dämmerte in jener Zeit noch kaum ein blasser Schimmer; aber auch eine Landstraße führte nicht durch unsere Stadt. Der nächste Postanschluß lag drei Stunden fern; der nächste größere Markt um weniges näher; daher denn wir wohlweisen Ackerbürger nicht in die Versuchung geriethen, unsere sämmtlichen Producte mühsam zu Gelde zu machen; die besten lieber selbst genossen, wohl und wohlfeil lebten, ein behäbiges Ansehen trugen und mit Genugthuung bemerkten, daß Einer nach dem Andern ein Corps dem Staate entbehrlich dünkender militairischer Herren herbeizog, um zwischen unseren 180 kleinen Häusern und großen Obstgärten das bescheidene Wartegeld zu verzehren, welches ein Hauptmann oder Major, – die höchste Staffel unserer Würdenträger und auch diese nur titular, – in jenem friedfertigen Menschenalter, nach zwanzigjährigem Avancementsstillstand beanspruchen durfte.

Wir nennen den Namen dieses angenehmen Ruheplatzes nicht, da wir billiges Bedenken tragen, den aus der Mode gekommenen Duft der Romantik über ihn oder einen seiner Bürger auszubreiten. Der romantische Duft ist aber Realität. Denn, daß die Geschichte unseres Doctors Peter Paul diesem oder jenem Auswärtigen einigermaßen unwahrscheinlich klingen mag, das wäre beileibe doch kein Grund, daß sie nicht wahr sein sollte. Wenn aus einem Becher der Pasch der Sechsen auf das Brett rollt, so ist das nicht weniger ein zufälliges Zusammentreffen und doch speculirt jeder Spieler auf diesen oder einen ähnlichen glücklichen Wurf, so gut wie ein Erzähler auf eine Begegnung wie die in dem Capitel von der Gebirgsreise des Doctors Peter Paul. Das Capitel ist wahr, auf Novellistenwort.

So beginnen wir es denn an einem wunderschönen Mainachmittage, als eben der Doctor Peter Paul seinen geschäftlichen Rundgang mit dem Besuch der langensüchtigen Frau des Kreissecretairs zu Ende bringt, der einzigen gefährdeten noch unter seinen Patienten. Noch sagen wir; denn die außerordentlichste Behandlung, welche dem Doctor seit einem Jahre vorgekommen, die Croopoperation an einem Tagelöhnerkinde, ist übel abgelaufen; 181 das arme Würmchen zwar nicht erstickt, aber doch vor einer Stunde an überschüssiger Luft verschieden.

Es mag wohl diesem leidigen Umstande zuzurechnen sein, daß der große, breitschulterige, hagere Doctor noch ein Merkliches grauer und zugeknöpfter als alle Tage einherschreitet und den Kopf womöglich noch steifnackiger in die Höhe richtet.

Unser Doctor glich, so lange wir ihn kannten, einem jener im October häufigen Tage, an welchen wir gar nicht wissen, wie wir das Wetter eigentlich rubriciren sollen. Es ist nicht warm und auch nicht kalt; es windet nicht; die Sonne kommt nicht zum Vorschein, doch bemerken wir auch nichts von Dunst und Nebel. Es hat lange nicht geregnet; die Wege sind so trocken, daß man in Seidenschuhen spazieren könnte, – noch aber ohne lästigen Staub. Gleichgültiges Wetter nennen wir es, wie man im Januar oder August und selber im Mai vorübergehend es auch haben könnte. Wir langweilen uns zu Hause, laufen ohne himmlische Einladung in's Freie und langweilen uns noch ärger. Ein gehöriger Sturm, ein bischen Patschen und Waten wären uns fast lieber als dieser stumme, wolkenlose Horizont. Alles grau in grau: die Stoppeläcker, der Himmel, die spärlichen Herbstblätter an den Bäumen; selber die aufsprießenden Streifen der Wintersaat und der ohne Luftzug und Wellenschlag hinschleichende Fluß. Plötzlich hören wir Glockengeläut aus den Kirchspielen rundum; ein Zeichen, daß Sonnenuntergang im Kalender steht. Wir halten inne und blicken gen Westen. Ei, sieh doch! Ein 182 schrägfallender, glänzender Strahl hat sich durch den grauen Schleier gerungen und wie mit Zauberschlag ist die Landschaft verwandelt. Ein Rosenhauch breitet sich über das Gewölk, die Stoppeln blicken wie vergoldet, die fahlen Weiden mit einem Silberschimmer; die Saaten sprießen grün, als wär' es Lenz, das Wasser schillert blau gleich einem Alpensee. Die gleichmüthige Gegend hat eine Physiognomie angenommen, als ob sie an lebensvollere Tage zurückdenke, Blumentage und Wettertage; als ob sie gar nicht Lust habe, mit diesen Tagen abzuschließen, als ob Blüthe, Sturm und Frucht noch oftmals über ihr wiederkehren sollten. »Unser Spaziergang ist doch noch angenehm gewesen,« sagen wir, wenn wir am Abend in unsere warme Stube zurückkehren. »Die Sterne funkeln; wir werden morgen klares Wetter haben.«

Doctor Peter Paul prakticirte in unserer Stadt seit fast zwanzig Jahren mit außerordentlichem Erfolg: »Dank der gesunden Luft und reichlichen Nahrung, die wir zu schlucken hatten,« wie er selber es erklärte. Wir, seine Clienten, nahmen es weniger naturalistisch; wir priesen unseren Doctor schier als einen wunderthätigen Mann; denn er half uns bei jeder schlimmen Anwandlung und quälte dabei wenig mit eklen Mixturen und schmerzhaften Vesicatorien. Kaltes Wasser, lauwarmes Wasser, heißes Wasser, je nachdem; ein Breiaufschlag und ein gutes Bett, das waren so seine Alltagsmittel; Milch, die bei uns wohlfeil war, Brühe, die wir uns kochen konnten, ein Häschen oder Hühnchen, das just auch den Hals nicht 183 kostete, das, für gewöhnlich, seine Corroborativen. Der Apotheker wäre bei den mageren Recepten ein armer Mann geworden, wenn er nicht neben der Apotheke den florirenden Würz- und Weinladen gehalten hätte und das, worin die erstere zu kurz kam, dem letzteren zu Gute gekommen wäre. Denn unser Aeskulap war, – für die Gesunden nämlich, – beileibe kein würz- und weinschmähender Jünger Hahnemanns, wie sie seiner Zeit in Schwang geriethen und der Apotheker würde bona fide sein Freund gewesen sein, auch wenn er ihm nicht eine pausbäckige kleine Schaar auf beschwerlicher Passage zum Tageslicht verholfen hätte. Auf diese Kunst verstand sich Doctor Peter Paul ganz besonders; scheute auch, galt es, sonst nicht einen herzhaften Schnitt und verunglückte Operationen wie die heutige, hat er selten zu beklagen gehabt. Freilich das arme Kind wäre auch ohne selbige verloren gewesen.

Der Fall schien dem Manne indessen doch im Kopfe herum zu gehen. »Auch die stirbt heute noch,« sagte er, die Treppe zu der lungensüchtigen Patientin in die Höhe steigend. »Heute, heute – der fünfte Mai! Hum, hum! ein Unglückstag!« –

Der Todtengräber hatte freilich Ursache, den Tag für einen außerordentlichen Glückstag zu erklären, denn der Mann hätte faullenzen und ein hungerleidender Widerpart des Stadtphysikus werden müssen, wenn ihm nicht, wie dem Apotheker das Materialgeschäft, gedeihliche Obst- und Gemüsepflanzungen auf den ungefüllten Feldern des Gottesackers einen erklecklichen Nebenverdienst ab 184geworfen hätten. So ist nun einmal das Leben: Verlust und Gewinn springen harsch nebeneinander aus dem nämlichen Quell.

Der letzte Besuch war absolvirt, der Sekretair dem Doctor bis an die Treppe nachgewankt. »Ist keine Rettung möglich, Doctor, – keine?« flüsterte der gute Mann und dicke Thränen flossen über seine Backen. Der Andere zuckte schweigend die Achseln.

»Nur noch ein paar Wochen, ein paar Tage, lieber Doctor.«

»Warum ihre Qual in die Länge ziehen, Freund? und die Ihrige obendrein,« versetzte der Doctor. »Sie sind lange genug ein Kreuzträger in Ihrem Ehestande gewesen. Keine Kinder, und die Frau nicht eine Stunde gesund.«

»Aber – mein ganzes Glück!« schluchzte der gute Mann, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend.

Doctor Peter Paul kehrte ihm hastig den Rücken und wäre um ein Haar die Treppe hinuntergestürzt, obgleich er an weit dunklere Stiegen gewöhnt war. »Hum, hum!« murrte er in sich hinein. »Hum, hum!« Es lautete wohl ein wenig anders als »hum, hum!« Aber unser mangelhaftes Alphabet gewährt nun einmal nicht die Mittel, um den Klang wiederzugeben, durch welchen Doctor Peter Paul seinen Aerger, oder seine Verwunderung, oder auch seine Theilnahme auszudrücken pflegte. »Hum, hum! ein schwindsüchtiges Weib sein ganzes Glück!«

185 Doctor Peter Paul war Junggesell. Hagestolz bezeichnet ihn treffender; denn mit eifersüchtigem Stolze hegte er seine Herzens- und Leibesledigkeit. Hätte er nicht Peter geheißen, Joseph würde sein Name haben lauten müssen, so standhaft hatte er den leisesten Angriffsversuch auf seine Freiheit abzuwehren gewußt. Wurde doch vor Jahren von mehr als einem wohl ansehnlichen Jungfräulein, wurde heutigen Tages doch noch von mehr als einer gar nicht unansehnlichen Wittib gemunkelt, die keineswegs unliebsam, die Frau Doctorin unserer einträglichen Pflege geworden wäre. Aber die Gesunden gelangten nicht einmal dazu, ihre Fädchen nur einzufädeln, da der Doctor ihnen niemals vor Augen kam und die Kranken mußten es harsch wieder abreißen, da der Doctor sie nicht so weit wieder gesund gemacht haben würde, um fernerhin überhaupt an ein zweidrähtiges Gespenst zu denken.

So geschickt man ihn einladen mochte, der Doctor erschien bei keinem Kränzchen oder Theevergnügen; in einen Tanzsaal hatte er niemals einen Blick geworfen; er verschmähte selber Hochzeits- und Kindtaufsschmause, bei denen in der gesammten civilisirten Welt der leibliche Sorger neben dem geistlichen doch eine Rolle spielt. Doctor Peter Paul war zwar nicht grob, aber er machte auch keine Umstände mit Entschuldigungen. Er kam einfach nicht und mit der Zeit gab man es auf, ihn einzuladen. Die Damen hielten ihn für einen Menschenfeind; die Männer, und mit Recht, nicht einmal für einen Hypochonder. Im »großen König« war kein abend 186licher Stammgast willkommener als unser Doctor Peter Paul.

Zwar redete der Doctor nicht viel; aber er wußte zu reden und wenn er redete, hatte es Hand und Fuß. Wo Einer bei ihm antippte, gab es einen Klang; sein Ausspruch traf den Nagel auf den Kopf und galt uns männiglich für ein Urtheil Salomonis. Der Apotheker entwickelt eine Lehre von Säuren und Basen: Doctor Peter Paul ist in seinem Element; freilich, es schlägt in sein Fach. Die militairischen Herren erzählen von alten und neuen Kriegsgeschichten: Doctor Peter Paul versteht einen Operationsplan zu kritisiren wie ein Gneisenau. Allerdings er hat die Freiheitskriege mitgemacht, – so viel weiß man von ihm – er ist sogar Inhaber des eisernen Kreuzes, wenn er es auch nicht zu tragen pflegt.

Aber seine Wissenschaft ist mit den beiden Künsten, die Wunden schlagen und heilen längst nicht zu Ende. Citirt unser Herr Oberprediger einen Kirchenvater: der Doctor ist darin zu Hause, als käme er warm von Wittenberg; entschlüpft dem feinsinnigen Rector, der ein Dichter ist, eine Glosse über Aeschylos oder Dante: kein unterrichtenderer Commentator als Doctor Peter Paul. Disputiren der Bürgermeister und Stadtrichter über administrative Rescripte, Gesetze oder gar über auswärtige Politik, da finden sie den Doctor erst recht auf seinem Felde, wenngleich er über derlei Gegenstände sich am knappsten auszulassen beliebt. Der Doctor galt bei Diesem und Jenem für einen Mißvergnügten; der Land 187rath soll sogar einmal ihn steifgewordener Tugendbunds- und Burschenschaftsphantome bezüchtigt haben. Eine heikle Gemüthsverfassung in jener Zeit, – man vergesse nicht, wir sprechen von den ersten zwanzig Jahren nach den Friedensschlüssen von Paris – und eine Verfassung obendrein, die in unserer loyalen Stadt den magersten Boden gefunden haben würde. Wie dem nun aber auch sei, der Doctor bringt Zeit- und Welthändel niemals freiwillig auf's Tapet und giebt nur, wenn er nicht anders kann, einen gewichtigen Brocken.

Kurz und gut: Doctor Peter Paul war ein stilles Universalgenie; er hätte nach unserer gelehrtesten Mitbürger Dafürhalten, ein zweiter Humboldt, oder Scharnhorst, oder Schleiermacher, oder Stein oder noch mancher andere Zweite von den Ersten werden können, warum er just Stadtphysikus von X geworden war, darnach fragte man zwar nicht, denn man wußte den einträglichen und angenehmen Posten zu schätzen, aber man hätte doch allenfalls darnach fragen können, wenn man voraussichtlich auch keine Antwort darauf erhalten haben würde.

Einige Grübelfänge meinten, daß lediglich die Ebenheit unserer Landschaft ihn angelockt und festgehalten habe. Denn dem Doctor, so schien es, – und das war neben seinen vielen Außerordentlichkeiten die einzige Absonderlichkeit, – dem Doctor waren Terrainerhöhungen zuwider. Diskursen über Mineralogie und Bergwesen, Alpenbesteigungen und Höhlendurchsuchungen ging er aus dem Wege; so oft der Apotheker, der ein Steinsammler 188 war, – vielleicht weil die Gegenstände seiner Liebhaberei bei uns zu den Curiositäten gehören, – ihn auf einen neuentdeckten Findling aufmerksam machte, zog er schon bei dem Namen die Brauen zusammen und antwortete gar nicht oder zerstreut. Wenn im Sommer die armen westlichen Gebirgler bis in unsere Niederung drangen, mit ihren Holzarbeiten und abgerichteten Vögeln hausirend, musicirend, Feldarbeit suchend und nur allzuoft bettelnd, da sahen wir den Doctor immer ein gutes Theil bleicher, steifer und schweigsamer noch als sonst; er fertigte sie ab mit voller Hand, noch ehe sie ihre Heimathsklage angestimmt. Einmal zu Pfingsten, als der Rector ihn zu einer Fahrt in die Berge aufforderte, da leuchteten einen Moment seine grauen, großen, aber wie die eines Ermüdeten halb bedeckten Augen begierig auf, »als ob sie die blaue Blume der Romantik in der Ferne blühen sähen,« – unseres Rectors Deutung, – dann jählings überfiel es ihn wie ein Schauder und schließlich lehnte er ab.

Ein provinzieller Eingeborener war er nicht. So hätte er ein Holländer sein können, mit seiner Idiosynkrasie gegen Berg und Thal. Wo aber war das Meer, das er dafür hätte lieben können? Niemand kannte seine Abstammung; nicht einmal der Accent seiner leise bedeckten »von Schweigen heiseren« Stimme verrieth seinen heimischen Winkel. Kurz nach dem Frieden, als Schlachten und Typhus unserer schwer heimgesuchten Gegend allen heilkundigen Beistand entrissen hatten, war er auf einmal unter uns und mit Hülfesuchenden um 189ringt. Er half und blieb. Von seiner Vergangenheit jenseit der Befreiungskriege sprach er nicht; auf neugierige Insinuationen antwortete er nicht. Seitdem er unser Weichbild betreten, hatte er sich nicht weiter von demselben entfernt, als sein altgewordener Schimmel ihn zu den Patienten der Pflege trug, hatte er nie einen auswärtigen Besuch außer dem eines Consultanten erhalten; er wechselte keine anderen als geschäftliche Briefe, verkehrte mit Keinem wie mit einem Freund, war aber trotzdem oder eben darum nichtsweniger als ein heimlicher oder gar unheimlicher Mann, der eine geheimnißvolle Neugier gestachelt hätte.

In der Dämmerstunde jenes Maientages, wo der Doctor zwei seiner Patienten hatte aufgeben müssen, ging er nun heim. Das heißt in die Wohnung, welche er, seitdem er unser Mitbürger geworden, im Hause des erbangesessenen Rathskämmerers inne hatte. Das Haus hieß das Kloster, weil es als Rudera von einem solchen in vorlutherischer Zeit sich erhalten hatte. Der Kämmerer war Junggesell wie der Doctor, Beide und sonst Niemand wohnten in dem weitläufigen, grauen, stillen sonnenlosen Bau; ein Aufwärter, der aber nicht darin schlief, bediente Einen und den Andern. Der Doctor benutzte von dem Erdstock nur drei Gemächer: eines zum Wohnen, eines zum Schlafen und das dritte für seine umfängliche Bibliothek. Kein Junggesellensanctuarium hat jemals jüngferlicheren Ordnungssinn zur Schau getragen. Alles war an seinem Platze; nirgend ein Stäubchen, aber auch nirgend eine Zierrath oder ein Zeitvertreib, wie Hage 190stolze sie lieben; um alles in der Welt keine lärmende Vogelhecke oder gar ein unreinlicher, bellender Hund. Doctor Peter Paul mit seinen täglichen frischen Waschungen, mit seiner täglich frischen Wäsche und seiner hohen, weißen steifen Halsbinde saß wie ein Bramine in diesen schattigen, grauen, lautlosen Räumen.

Tags über blieben Haus- und Zimmerthür unverschlossen, Rathsuchende traten ohne zu klingeln bei ihm ein und schrieben, war er nicht zur Stelle ihr Anliegen auf einem ausgebreiteten Bogen. Nachts, wo der vorsichtige Hausherr die Thür eigenhändig abschloß, blieb das niedrige Fenster der doctorlichen Wohnstube angelehnt; etwaige Sendlinge riefen ihr Gesuch herein und der Doctor, der nur wenig Stunden und auch diese leise wie ein Spitzhund schlief, war augenblicklich bei der Hand. Ging der Doctor aus, blieben Pult und Schränke unverschlossen; Skripturen, Bücher, möglicherweise sogar die Baarschaft lagen offen für Jedermanns Auge und Hand, nie jedoch hat der Eigner sich über einen Eingriff zu beklagen gehabt. Doktor Peter Paul zeigte nichts, aber er verbarg auch nichts; er suchte Keinen, aber er scheute auch Keinen, er war und blieb regelrecht wie eine Uhr, unser grauer, stiller, gleichgültiger Doctor Peter Paul.

Nachdem der Doctor sein Zimmer betreten, hätte er nun, der Alltagsordnung gemäß, den schwarzen Visitenfrack mit dem mäusefarbigen Hausrocke vertauschen, hätte unverzüglich Licht zünden und noch ein Stündchen an seinem Pulte arbeiten müssen, ehe er sich zum Abendbrod in den großen König begab. Heute that der Doctor 191 von alledem nichts. Er blieb im Visitenkleid und ging im Dämmerlicht im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken, den Kopf so weit gesenkt, als es der steifgewöhnte Nacken innerhalb der hohen Cravatte gestattete. Augenscheinlich jedoch war er nicht in ein wissenschaftliches Problem vertieft, weit eher von mißlichen Erinnerungen behelligt; der ungleiche Tritt, das wiederholte »hum, hum!« ein Zucken der Achseln, ein Recken der Glieder, so als ob zudringliche Insecten einen ruhigen Menschen belästigen, deuteten es an.

Es war völlig dunkel geworden, als der Doctor endlich Licht zündete und nach seinem Bestellbogen sah. Es hatte Niemand seine Dienste verlangt. Die Stunde schlug, in welcher er in den großen König zu gehen pflegte – er ging nicht; er setzte sich, nahm ein Journal zur Hand und blickte zerstreut darüber hinweg – Seine Augen hafteten auf dem Kalender über dem Pult, an welchem neben der Monatsreihe das Tagesdatum auf einem weißen Papierstreifen angegeben war. Der methodische Herr rückte jeden Morgen, gleich nach dem Aufstehen an diesem Streifen die nächste Nummer hervor, noch ehe er seine Uhr aufzog und die Flamme seiner Kaffeemaschine anzündete. Der fünfte Tag des fünften Monds! Es schien eine Magie in dieser doppelten V zu liegen. Der Doctor riß mit Gewalt die Blicke von ihr los und machte noch einmal einen Gang durchs Zimmer.

Wie andere studirende Herren pflegte auch unser Doctor eines leiblichen Genusses, der ihn während seiner Nachtwachen rege hielt. Kaffee oder Thee? Anfeuernden 192 Rebensaft? Eine Pfeife oder Prise? Nichts von Narkosen! Der Doctor aß Sallat, am liebsten von Gurken. So lange diese Früchte vorhielten, im Sommer grün und frisch, im Winter die gelblichen Salzgurken, stellte der Aufwärter in der Schummerstunde eine Schüssel solchen Geschabsels bereit und der Doctor, kehrte er aus dem König zurück, mischte es zu einem Salat, der sich von der gültigen Regel nur in sofern unterschied, daß ein Verschwender statt des Geizigen den Essig spendete und daß es gewiß kein Narr war, der das Mengen vollzog. Von Stunde zu Stunde erhob der Doctor dann sich von der Arbeit und erfrischte seine Nerven mit einem Happen von dem sauren Leibgericht.

Er fand auch heute den blauen Napf gefüllt, freilich im Mai nicht mit Gurken, sondern mit zarten, rothgesprenkelten Lattichblättern, die er zu einem Salat mischte und eine Gabel voll versuchte. Heute aber schüttelte er sich. »Der Süß,« – so hieß der Todtengräber, – »hat das Zeug zwischen den Gräbern gezogen,« murmelte er und spuckte die Blätter wieder aus. (Der Doctor war noch niemals auf unserem Gottesacker gewesen. Er folgte auch nicht dem stattlichsten Leichenzug und auch diese ärztliche Absonderlichkeit hielten wir ihm zu Gute!)

Er ging an den Schreibtisch zurück. Jetzt wollte er arbeiten und er würde gearbeitet haben. Er hatte aber kaum die Feder eingetunkt, als laute Stimmen und Schritte vom Flure her ihn störten. Die Thür wurde aufgerissen und der Hauptmann von Bärenfell steckte das 193 rothe, glänzende Gesicht in das Zimmer. – »Wir haben ihn! wir haben ihn! –« rief er unter stürmischem Lachen dem nachfolgenden Kämmerer zu. – »Millionenschock! nun soll er uns nicht entwischen! –«

Der Kämmerer zuckte ungläubig die Achseln.

»Wird's bald, Doctor?« fuhr der Hauptmann fort. »Die Kameraden warten. Allons, in den König!«

»Ich danke, heute nicht.« versetzte der Doctor gelassen.

»Heute, heute gerade, Doctor!« rief der Hauptmann.

Der Doctor schüttelte den Kopf und der Kämmerer flüsterte ihm triumphirend in's Ohr: »Sagt ich's nicht gleich, mein Herr Hauptmann: der fünfte Mai!«

»Der fünfte Mai! Eben darum!« schrie Herr von Bärenfell. »Der fünfte Mai, an dem Tage hat unsere Bekanntschaft angehoben, Doctor; soll es der einzige sein, den wir nicht mit einander auf die Neige bringen?«

Der Doctor schüttelte noch einmal schweigend den Kopf.

»Habt Ihr wohl daran gedacht, alter Freund? Fünfundzwanzig Jahre sind's heute, ein Jubiläum, eine Silberhochzeit, hahaha!«

Es war, als ob den Doctor eine Gänsehaut überlief; er machte eine abwehrende Bewegung. »Ein Glas Punsch auf die goldene, Doctor! Noch fünfundzwanzig Jahre wie heute und mit uns bleibt's beim Alten!«

Der Hauptmann erschöpfte alle Mittel der Ueberredung, der Doctor blieb unerschütterlich.

194 »Sagte ich's nicht gleich, mein Herr Hauptmann?« wiederholte der Kämmerer mit wichtiger Miene. »Der fünfte Mai! Ich habe mir das Datum im Kalender angestrichen. Länger als ein Mandel Jahre kann ich's nachrechnen, daß der Doctor an dem Abend nicht im König gewesen ist. Wir hätten einen anderen wählen sollen. Zum Exempel morgen. Nun ist alles parat und er macht uns die ganze Geschichte zu Wasser!«

»Millionenschock, das soll er nicht! Kommt Ihr gutwillig, Doctor.«

»Nein, heute nicht.«

»Nun denn: Gewalt! Mit muß er. An Euren Posten, Kämmerer!«

Der Kämmerer hatte schon verstohlen den Hut des Hausgenossen herbeigeholt. Jetzt stülpte er ihm denselben von hinten auf den Kopf, der Hauptmann schlug mit der Hand auf den Deckel, daß er bis über die Stirn herunterrutschte; er packte den Widerspenstigen unter den rechten Arm, der Andere ihn unter den linken und so zogen ihn die beiden stämmigen Kumpane lachend aus der Thür.

Der Doctor lacht nicht mit, aber er widerstrebt auch nicht länger. Er ist kein Spaßverderber, wenn er auch selber nicht spaßt. Am Ende mag es ihm nicht unlieb sein, seinen leidigen Erinnerungen, oder was ihn sonst behelligt mit Gewalt entrissen zu werden und den Tag wie alle zu beschließen.

*

195 Der Doctor hatte seinen Hut zurecht gerückt und ging schweigend an der Seite seiner beiden frohlockenden Ueberwinder. Er hielt es nicht einmal der Mühe werth zu fragen, warum man nicht wie alle Abende unten in die allgemeine Bier- und Gaststube des großen Königs einlenke oder was man in dem reservirten Zimmer eine Treppe höher im Schilde führe? Er folgte gelassen wie ein Lamm.

»Wir bringen ihn, wir bringen ihn!« triumphirte noch unter der Thür die Stentorstimme des tapferen Bärenfell. Ein einmüthiges »Hurrah!« aus ein Dutzend Kehlen donnerte als Dank und Gegengruß.

Die versammelten Honoratiores waren sämmtlich keine Jünglinge mehr. Der Major Bock – zugleich der jüngste und vornehmste – indessen wohl nur wenig über vierzig; der Lieutenant Ziege dahingegen, der älteste und geringste der Gesellschaft, – er hatte noch unter dem großen Friedrich zur Fahne geschworen, von der Pike auf gedient und als Rechnungsführer seine Carrière beendet, – schwerlich unter siebenzig. Alle mit Ausnahme des glatt rasirten Majors, waren schnauzbärtig, uniformirt, gespornt, mit Wunden gezeichnet, mit Orden und Medaillen behangen; mehrere, darunter der Lieutenant und der Hauptmann von Bärenfell, mit dem eisernen Kreuz; keiner ohne das fünfundzwanzigzährige Dienstzeichen, die sogenannte »Pflaume.«

Inmitten dieses kriegerischen Corps nehmen, außer unserem Doctor und seinem Hauswirth, noch zwei Herrn in bürgerlichem Habit, der Rector und ein lustiger alter 196 Kauz von Kürschnermeister, der reich war und den Spitznamen »der Rasselbock« führte, – warum wäre uns heute zu weitläufig zu erklären, – sich aus wie verlorene Posten.

Die Tafel stand gedeckt, ein kräftiger Schmorbraten mit Rührkartoffeln entsendete einladende Düfte; die Punschbowle dampfte vor dem Platz des Bärenfell, der wacker einschenkte. Man schmauste und zechte, der Doctor auch, wenn auch wenig und mit sichtlichem Widerwillen. Man kannegießerte, erzählte Krieg- und Jagdgeschichten, man lachte. Der Doctor verzog keine Miene; aber das war man an ihm gewohnt. Die Tafel wurde geräumt, die Bowle frisch gebraut, die Herren stopften ihre Pfeifen: langspitzige, kurze Hornrohre; kurzspitzige, lange Weichselrohre und vice versa, dicke Meerschaumköpfe, schlanke Porzellanköpfe mit gemaltem Wappen, oder einem Quodlibet von Säbel, Tschako und Tornister, der des Rasselbocks mit einer gehörnten Phantasiebestie, die seinem Namen Ehre machte. Auch dem Doctor, der den Qualm im Grunde verabscheute, zündete der Königswirth wie alle Abende eine frische Thonpfeife an, deren Inhalt er in langsamen Zügen, ohne zu dampfen vor sich hinzublasen, das Gefäß aber beim Schlusse der Sitzung aus dem Fenster zu spucken und den rauchigen Nachgeschmack mit einem Glas frischen Wassers hinunterzuspülen pflegte. Sobald man wieder in Ruhe und Ordnung um den Tisch Platz genommen hatte, füllte Herr von Bärenfell die Gläser der Reihe rund; Major Bock, der sich den ganzen Abend nur leise mit seinem Nachbar, dem Rector, 197 unterhalten hatte, ließ das seinige erklingen, zog ein beschriebenes Blatt aus seiner Tasche, um eventuell dem stockenden Redefluß zu Hülfe zu kommen, richtete sich stramm in die Höhe und hob folgendermaßen an:

»Meine Herren! wir alle, die wir uns zu dieser gemüthlichen Tafelrunde versammelt haben, wir sind, mit Ausnahme einiger würdigen Eingeborenen, durch Zufall in den Mauern dieses Landstädtchens zusammengewürfelt worden. Keiner hat vor dieser Zeit den Anderen mit Augen gesehen, kaum Einer von dem Anderen gelegentlich eine Silbe gehört. Nur zwei unter uns, ein braver Kriegskamerad, der Hauptmann von Bärenfell, und unser gelehrter Freund, der Herr Doctor Paul,« – der Major verbeugte sich gegen den letzteren, – »sie haben die Erinnerung an ein gemeinsames, kurz wiederabgerissenes Stück Jugendleben bewahrt. Heute vor fünfundzwanzig Jahren sind sie aufeinandergestoßen an einem Tage glorreichen Andenkens, wie jammervoll auch immer des kurzen Waffenspieles Ende. Ein Ende mit Schrecken, meine Herren, das sein heroischer, – vor einer heutigen Kritik allerdings nicht zu rechtfertigenden Führer« – (der Hauptmann von Bärenfell murrte laut, kam aber nicht mit einem Einwande zu Worte) – »sich einem Schrecken ohne Ende vorzuziehen vermaß. Ich habe mir erlaubt, diesen Tag für die Proposition eines Verbrüderungsbundes auszuerlesen und nur diejenigen Mitglieder unserer abendlichen Versammlungen zu demselben einzuladen, welche ein gleichartiges Interesse, – oder soll ich sagen Nichtinteresse? – zu einander führt. Die 198 ursprüngliche Idee demnach, meine Herren, stammt von mir; ein unerschrockener Propagandist unserer Sache hat sie weiter geführt. Ihm, dem Herrn Hauptmann von Bärenfell, überlasse ich jetzt das Wort zur weiteren Auseinandersetzung meines unmaßgeblichen Entwurfs, indem ich mir eventuell eine Motivirung aus divergirenden Gesichtspunkten vorbehalten und einen Jeden von Ihnen im Voraus zu einer Prüfung und Bereicherung dieser meiner speciellen Gesichtspunkte auffordere.«

Der Major Bock setzte, der Hauptmann von Bärenfell erhob sich. »Tapfere, liebwerthe Kameraden im schwarzen und bunten Rock!« so ließ er sich vernehmen, nachdem er ausgelacht und ausgetrunken hatte, »unser Major hat Recht: Wir alle, die wir so gemüthlich um diese dampfende Bowle bei einandersitzen, was sind wir? Ich frage, was sind wir? Ehekrüppel etwa? Kreuzträger, Pantoffelhelden, Ring- und Kettenschlepper? Gardinenschulbuben, unglückliche Väter? Millionenschock! ledige Männer sind wir; Junggesellen, Hagestolze! Hurrah! dreimal Hurrah! Herz und Gebein, Zeit und Beutel frei unser eigen, hurrah! dreimal Hurrah! Wir sind ledige Männer, wir wollen es bleiben! Kameraden, wir, – wir – das Freiheitsgefühl übermannt mich Hahaha! Ich bitte einen Anderen fortzufahren!«

Der Hauptmann füllte und leerte sein Glas bis auf die Nagelprobe, er verschnaufte, setzte sich und es entstand eine Pause. Keiner der Versammelten, wenngleich hinlänglich (den unnahbaren Doctor und etwa den sinnigen Rector ausgenommen;) schien zu seiner dis 199cussiven Befürwortung vorbereitet. Der Major allerdings vorbereitet, mochte seine Rede als rhetorische Krone für das Werk verzögern wollen.

So erhob sich denn endlich der Kämmerer, nippte aus seinem Glase, räusperte sich, machte eine zaghafte Verbeugung und begann mit schüchterner Stimme:

»Meine hochzuverehrenden Herrschaften! Obgleich, wiewohl, sozusagen, nach Gelegenheit von der Natur nicht zum Redekünstler auserkohren; werde ich in aller Kürze mir erlauben, den unterbrochenen Faden wieder anzuknüpfen. Was unser allverehrter Herr Hauptmann in Ihrer Gemüthsbewegung auszuführen behindert worden sind, das scheint nach meinem bescheidenen Dafürhalten in Summa, – unmaßgeblich, – das Folgende: Wir sind ledige Männer; wir haben andere Ansichten als die Ehelichen; wir möchten über abweichende Gegenstände discuriren, zum Exempel –zum Exempel – –«

»Zum Exempel,« so half dem Stockenden vom unteren Ende der Tafel der siebenzigjährige Lieutenant mit der Miene eines Leichenbitters und einer grabestiefen Stimme zurecht, – zum Exempel: Seine Majestät unser König und Herr,« – er salutirte mit der Hand an der Stirn, »Seine Majestät wollen Krieg. Meinethalben gegen den Franzosen, den Jacobiner, oder gegen den Oesterreicher, den Pfaffenknecht, der keinen Pfifferling besser ist; oder meinethalben gegen den Türken; aber Krieg. Da schreit der Familienvater Zeter und heult und spricht: ›Was geht der Franzose uns an, oder der Oesterreicher, oder der Türke? Wir sind eine friedliche Nation, wir haben 200 Haus und Hof und Weib und Kind!‹ Wir aber, wir Junggesellen, wir haben nichts. Wir schnallen unsern Pallasch um und schreien: ›drauf!‹«

»Richtig, mein Herr Lieutenant!« versetzte der Kämmerer Beifall nickend. »Richtig! Sie schnallen Ihren Pallasch um und schreien: ›drauf!‹ Ich setze nun aber auch einen Fall aus dem bürgerlichen Leben, meine Herren, zum Exempel –zum Exempel – –« «

»Zum Exempel einen Jocus, Kämmerer!« –rief der Rasselbock lachend. »Wer hat Batzen für einen Jocus? Die Ledigen, wir, die wir uns nicht vor einer Schürze oder einem alten Weibsgesichte zu verkriechen und nicht für die lieben Enkelchen zu sparen brauchen!«

»Richtig, Rasselbock, die wir nicht zu sparen brauchen, richtig! – So ließen sich der Beispiele von Exempeln noch mancherlei anführen, zum Beweise, daß die Ehelichen und die Ledigen nicht unter eine Kappe zu bringen sind. Was nun uns Ledige anbelangt, so rühmen wir es justemente als unseren Vorzug, daß wir unsere Zeit für uns haben und unsere eignen Wege gehen dürfen, so zu sagen: ad libitum. Zum Exempel – –«

»Zum Exempel,« fiel Herr von Bärenfell ein, »ich bin schon bei Sonnenaufgang auf den Beinen und draußen in freier Luft, wenn der Herr Kämmerer sich noch vier Stunden in den Federn dehnt.«

»Richtig, richtig, mein Herr Hauptmann, in den Federn dehnt! Oder aber, die Herren vom Kriegshandwerke finden sich Puncto zwölfe an der Mittagstafel unten im König ein, weil – weil –«

201 »Weil,« erklärte der alte Lieutenant, »weil Pünktlichkeit beim Abkochen Leib und Seele der Truppe zusammenhält.«

»Richtig, richtig zusammenhält! Dahingegen der Herr Rector erst den Magen in Betracht ziehen, sobald Sie Ihr Buch zugeklappt, und der Herr Doctor, wenn Sie Ihre Praxis absolvirt – –«

»Und ich,« lachte der Rasselbock, »sobald ich meinen Schoppen in der Apotheke wieder ausgedampft habe. Jeder ad libitum, Hahaha!«

»Jeder ad lib –« hob der Kämmerer an; brach die junggesellische Parole aber in der Mitte ab, da der Major mit sichtlich verstimmter Miene die Mahnung ergehen ließ, den Herrn Redner nicht ferner zu unterbrechen, bis er sein Resumé gezogen haben werde.«

»Mein Resümé, richtig mein Resümé, hochverehrtester Herr Oberstwachtmeister,« fuhr demnach der Kämmerer fort. »Mein Resümé mit gütigster Erlaubniß, das wäre also, so zu sagen, nach Gelegenheit, daß wir als ledige Männer bei Tage ad libitum unsere Wege gehen und uns nur am Abend zu bestimmter Stunde zusammenfinden. Da sitzen wir nun Tag für Tag in der Schenkstube unten zwischen einem Troß von Hauswirthen und Familienvätern und hören, was die Butter kostet und was die Jungen für eine Censur mit aus der Schule gebracht, und wie Der seine neue Magd fortgejagt hat und Jener seiner Tochter die Hochzeit auszurichten gedenkt: lauter Beispiele von Exempeln, meine Herren, die uns Ledigen mit unsern Angelegenheiten nicht zu Worte 202 kommen lassen oder von der ehelichen Mehrheit überstimmt werden, wenn es gilt, das was uns am meisten am Herzen liegt gemeinschaftlich zu berathen. Zum Exempel – Zum Exempel –«

»Zum Exempel,« führte der alte Lieutenant, unerschrocken dem Stirnrunzeln des Majors Trotz bietend, an, »zum Exempel, da hat der Magistrat die Hundesteuer durchgesetzt. Meine Herren, was hat der Pensionär als seinen Hund? Heute im Dienst – da haben wir unsere Truppe, wir haben Ehre, Pferde, Kameraden, – morgen den Abschied – und uns bleibt unser Hund. Meine Herren, ich könnte Ihnen Geschichten von meinem Saufang erzählen – –«

»Ich bitte bei der Sache zu bleiben, Herr Lieutenant,« unterbrach ihn der Major mit schnödem Lächeln; der Alte aber entgegnete störrisch: »Ich glaubte bei der Sache zu sein, Herr Oberstwachtmeister. Denn, wären wir Junggesellen dazumal einig gewesen, wer weiß, die Steuer wäre nicht durchgegangen, und – –« des Alten Stimme zitterte, – »und ich hätte mich nicht von meinem Saufang zu trennen brauchen.«

»Und wenn es noch bei den Hunden sein Bewenden hätte!« fiel der lachende Rasselbock ein, – »aber, weiß Gott, wir eignen, leibhaftigen Mannspersonen stehen auf dem Spiel! Neulich ein Kränzchen bei der Frau Stadtrichterin, – die aufwartende Köchin hat es mit ihren eignen Ohren gehört und es brühwarm meiner Wirthschaftsmamsell wiedererzählt, – denken Sie, meine Herren, Hahaha, da hat die Frau Bürgermeisterin gelegentlich 203 des projectirten Steuerzuschlags von wegen unserer Straßenbeleuchtung bei abnehmendem Mond, den Rath fallen lassen, statt des nützlichen Wildprets lieber die der Commune unnützen Junggesellen mit einer Last zu belegen; uns, meine Herren, statt des Wildprets; uns Junggesellen, Hahaha!«

»Gönnen wir der Dame ihren scherzhaften Humor,« versetzte achselzuckend der Major Bock und die Gesellschaft lachte überlaut.

Der schüchterne Kämmerer aber war jählings Feuer und Flamme geworden: »Scherz, mein Herr Major,« fuhr er auf, »scherzhafter Humor? Mein Herr Major, Sie kennen den bitteren Ernst einer Mutter nicht, die den Besitzstand von fünf mannbaren Töchtern zu beklagen hat. Und wenn sie noch obendrein die Ehefrau des regierenden Bürgermeisters ist, – einer solchen Frau, weiß es Gott! ist Alles zuzutrauen. Sie setzt ihre Motion durch, meine Herren, denken Sie an mich, sie setzt sie durch. Ich könnte Exempel von Beispielen anführen, – der Kämmerer gehört quasi zum Rathe, meine Herren, – aber Amtsverschwiegenheit, meine Herren! Alles, was ich mir im Allgemeinen noch zu bemerken erlauben werde, sub rosa meine Herren, sub rosa, sage ich, ist das Folgende: Die Weiber, die leichtfüßig wie die Fliegen sich von einer Person auf die andere setzen, wenn sich's handelt, ihr das Blut aus dem Leibe zu saugen, die selbigen Weiber sind hartnäckig wie die Kletten, sobald sie sich einmal an einen Einfall gehängt haben. Der Leibhaftige selber bringt sie nicht wieder davon los!«

204 Die alten Hagestolze brachen in ein schallendes Gelächter aus; der giftige Kämmerer hatte Oel in die Flammen ihres Abscheus gegossen. »Wie die Fliegen und wie die Kletten! ja, die Weiber, die Weiber!« so rumorte es durch den Saal; ein Jeder beeiferte sich ein »Exempel von Beispielen« über diesen Canon aus seiner Erfahrung zum Besten zu geben. Des Majors parlamentarischer Ordnungsruf verhallte wirkungslos und erst der Stentorstimme des tapferen Bärenfell gelang es endlich das Feld zu behaupten. »Hollah ho!« rief er, indem er sein Glas mit dem des Doctors erklingen ließ und es in Einem Zuge hinuntergoß, »gegen unser Weiberstückchen, Doctor, da kommt doch keine von all diesen Schnurrpfeifereien auf!«

»Es würde uns zu weit von unserem ursprünglichen Zwecke abführen, Herr Hauptmann,« sagte der Major geschraubt.

»Au contraire, Majörchen, geradenwegs in die Geschichte dieses Tages hinein,« versetzte Herr von Bärenfell. »Denn bei Gelegenheit dieses Weiberstückchens, da haben wir Beide, unser Doctor und ich, Bekanntschaft mit einander gemacht, heute vor fünfundzwanzig Jahren am fünften Mai eintausendachthundertundneun!«

Der Doctor, der während der bisherigen wüsten Verhandlung gleichgültig vor sich hingeschaut hatte, schreckte bei der letzten Erwähnung unwillkürlich zusammen. »Wollt Ihr's zum Besten geben, Doctor?« fragte Herr von Bärenfell. Der Doctor schüttelte sich.

205 »Na, denn ich!« rief der Hauptmann; der Major schnitt ein Gesicht, die Versammlung aber, die sich seltsamer Weise dieses Stückleins aus ihres Kumpans jederzeit offenem kriegerischen Erinnerungsschatze nicht zu entsinnen schien, setzte sich lauschend in Positur. Doctor Peter Paul machte eine unruhige Bewegung, als ob er der Erzählung aus dem Wege gehen möchte; indessen seine gelassene Gewöhnung würde ihn wahrscheinlich fest gehalten haben, auch wenn der vortragende Kamerad ihm nicht die Faust auf die Schulter gelegt und zugeschrieen hätte: »Halt da, nicht gerührt!«

So blieb denn der Doctor und der Hauptmann hob die Mittheilung seines Weiberstückchens an:

»Wir hatten das Feld behauptet; keines braver, Kameraden, wenn's später auch mächtigere gewesen sind, als das von Dodendorf. Kaum unserer fünfhundert, und hundert und siebzig Gefangene, die Beute und die Todten gar nicht gerechnet. Aber gekostet hatte es uns was! Mein Kaltenburg, mein Stock! – Kameraden, sie hätten's verdient, ein fünf, sechs Jahre älter zu werden – da lagen sie – –« Der Erzähler fuhr mit der Hand über seine Augen und leerte sein Glas auf Einen Zug. »Na, was ich jetzunder erzählen will,« fuhr er nach einer Pause fort, »Millionenschock! das ist was anderes. Nämlich das: Nicht weit von dem Kaltenburg und dem Stock und den anderen Fünfen, da liegt auch ein Tambour, – ja die Namen, die Namen! na, ich habe den Namen des braven Kerls vergessen und sein Weibsen, das liegt über ihm und heult und schreit, 206 daß die Lüfte gellen. Sie war ihm erst vor ein paar Tagen in Potsdam angetraut worden, um den Zug als Marketenderin mitmachen zu dürfen. Der Major kommt auf sie losgeritten. Das war ein Junggeselle, Kameraden, der Schill! Die Schürzen wie toll, wenn sie nur von weitem seiner ansichtig wurden. Patriotismus titulirten sie's zu der Zeit! Ihr wißt's, kein Wort ist einem Weibermundstück all zu groß! Aber der Schill, der verstand sich auf Männerzucht. ›Sie muß hier umkehren, Marketenderin,‹ herrschte er. ›Ich dulde kein lediges Frauenzimmer bei meiner Truppe!‹ Das Weibsen heult und jammert noch einmal so laut, taumelt von dem Tambour auf ihr Faß und von ihrem Fasse auf den Tambour. Aber mit dem Major ist nicht zu spaßen; er wiederholt das Commando; basta! ›Erbarmen, Herr Major, Erbarmen!‹ schreit die Wittwe. Der Major wird puterroth, eines seiner Sturmwetter ist im Anzuge. ›Nehm' Sie fix einen Anderen, Lowise!‹ raunt ein Trompeter lachend der Marketenderin zu. Wir verloren sie ungern, sie war eine rechtschaffene Marketenderin. Der Major hat schon sein Pferd gewendet. ›Herr Major!‹ schreit ihm die Lowise nach, die ihre Thränen mit der Schürze getrocknet hat und ihn am Pferdeschwanze zurückzuhalten sucht, ›Herr Major, – ich nehme den Stoffen.‹ Und richtig. Nicht zwei Stunden, nachdem der Erste kalt geworden ist, wird die Lowise vor seiner Trommel vom Feldprediger dem Zweiten angetraut. Das war ein Weibsen, hahaha!«

207 Der Hauptmann hatte den Vogel abgeschossen. »Der Schill und die Lowise!« jubelte der Chor der Junggesellen. »Die Weiber, ja, die Weiber! Wie die Fliegen, von Einem zum Anderen, und wie die Kletten, wenn das Proviantfaß auf dem Spiele steht.«

Major Bock blickte auf's Aeußerste verstimmt. »Ein kleines Genrebild aus dem Lagerleben!« sagte er, die Achseln zuckend, »nur sehe ich nicht, wie unser verehrter Doctor Paul damit in Verbindung steht.

»Jetzt kommt's, Majörchen, jetzt kommt's!« rief Herr von Bärenfell, der durch etliche Gläser gestärkt, seine Erzählung mit frischen Kräften wieder aufnahm. »Also weiter, Kameraden. Unter der Schaar, die sich nach dem Abzuge des Feindes auf dem Gottesacker, wo wir uns behauptet hatten, eingefunden, werde ich einen Reitersmann gewahr. Ein junges Blut, lang aufgeschossen, aber schmalschulterig zu der Zeit, schwachbeinig, das Haar verwirrt, bestaubt, leichenblaß und zitternd, als hätte er in zweimal vierundzwanzig Stunden keinen Schluck genommen; so starrt er auf die Scene mit der Marketenderin und dem Schill. Das Bürschchen, weiß es Gott, sah nicht aus wie Einer, der zu unseren Husaren gepaßt hätte, aber die Stute war kernkräftig wie eine, und wir hatten Mangel. Ich reite heran und mache den Werber, zunächst um's Pferd. Der Reiter schlottert wie vor einer Ohnmacht, er hört kein Wort von meiner Rede. ›Entsetzlich!‹ höre ich ihn stöhnen, als jetzt die Lowise mit dem Stoffel vor die Trommel tritt. Ich lache. ›Ja, ja, Herr studiosus theologiae, – dafür 208 mußte ich ihn halten nach seinem schwarzen Habit und schulmeisterlichen Gesicht, – ›ja, ja,‹ sage ich, ›hinter den Kanonen geht's ein Bischen bunter zu, als Ihr es Euch hinter Euren canones, so heißen ja wohl Eure gelehrten Scharteken, träumen laßt. Was aber das Weibsvolk anbetrifft, da ist es bei Euch wie bei uns vom nämlichen Kaliber. Sammt und sonders sind sie – –«

»Fliegen!« unterbrach den Erzähler der Chor der Hörer.

»Flotte Fliegen! Millionenschock! ja, so meint ich's ungefähr, wenn's mir auch in der Kehle stecken blieb. Denn der Major, der eben des Weges kam und meine Werbung mit angehört hatte, fiel mir in's Wort. ›Ein Evchen wie Alle!‹ sprach er lächelnd. Kameraden, so sprach und lächelte nur der Schill! Mein Student aber fuhr in die Höhe, schier als hätte ihn eine Natter gestochen. ›Evchen!‹ schrie er auf und wurde roth und wieder weiß, wie, – na, accurat wie in diesem Augenblicke unser Doctor da. Der Schill aber, der faßte seine Hand und sprach: ›Schlagen Sie sich die Weibergedanken aus dem Kopfe, junger Mann. Heute gilt's Männer und wieder Männer und noch einmal Männer! Es gilt das Vaterland und die Freiheit. Wir sind ausgezogen, unserem König die geraubten Provinzen zurückzuerobern. Erst wenn das letzte Dorf wieder in seinen Händen, wenn unsere Ehre rein gewaschen ist, dann und nicht eher zurück zu dem, was sonst das Herz noch Theueres auf Erden hat, dann und nicht eher heim und zur Ruh'! Folgen Sie uns, junger Mann. Wir werden 209 siegen! Und unterliegen wir, so haben wir die Bahn gebrochen und besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende!‹ ›Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende! Ich folge Ihnen, Herr Major!‹ rief Feuer und Flamme jählings der blasse Student und – wir hatten ihn! unseren Doctor nämlich und ein halbes Dutzend Freiwillige, welche die Rede des Schill mit angehört, obendrein.«

Der Erzähler machte verschnaufend eine Pause, während welcher alle Blicke sich auf den Doctor richteten, der zum ersten Male, seit man ihn kannte, einen Aufruhr nicht zu bewältigen vermochte. Eine Aussprache von irgend welcher Seite ließ aber der mundfeste Veteran nicht zum Durchbruch kommen. »Wir hatten ihn!« fuhr er fort, »und wir hatten ihn im Grunde auch wieder nicht, denn den ganzen Abend turkelte der Mensch, als hätte er einen Stich! und Millionenkreuz! fehlen ließ er es auch freilich nicht, so oft ihm Einer zum Willkomm einen Schluck aus der Feldflasche entgegenbrachte. Nur vor der Lowise und ihrem Faß, da schüttelte ihn gleichsam ein Fieber und er schlug jedes Mal einen Bogen, so oft er von Ungefähr in ihre Nachbarschaft gerieth. Ja, ein Kamerad! Ein Matador von einem Junggesellen schon Anno Neun, unser Doctor, hahaha! Schon Anno Neun! Am anderen Morgen aber, da wäre er uns um ein Haar wieder entwischt und um den einzigen lustigen Streich gekommen, den unsere klägliche Compagnie vom fünften Mai ab aufzuweisen hat.«

210 »Ich glaube, wir Alle kennen den Streich,« bemerkte vor Ungeduld zitternd Major Bock, da aber die Versammlung darauf bestand, das oft gehörte Husarenstück noch einmal vortragen zu hören, ließ sich der Hauptmann durch Jenes Einrede nicht irre machen und fuhr folgendermaßen fort:

»Mein Lieutenant, – denn ich selber war nur erst frisch vom Pfluge weg als Freiwilliger zu der Truppe gestoßen, – mein Lieutenant wurde commandirt mit einem Unterofficier und zwölf Husaren, – ich darunter, – in die Gegend von, von – die Namen, die Namen! Na, wie heißt denn das Dings mit dem alten, wackligen Dom? – na, nach Dings zuzureiten. Proclamationen auszustreuen, Rekruten anzuwerben und dergleichen mehr. Fiel bei Gelegenheit eine Kasse in unsere Hände, Millionenschock, die konnten wir brauchen! Unser Student sollte mit und sich die Sporen verdienen, da er der Gegend kundig schien, Der Bursche schnitt ein Gesicht, Gott sei's geklagt, wie ein Hasenfuß. Nichts für ungut, Doctorchen, wer weiß es besser als ich, wie brav Ihr Euch gehalten bei Stralsund, bis Alles zu Ende war? Daß ich nach zwanzig Jahren Euch in diesem Neste als Pflasterkasten wiederfinden sollte, – Himmelseinfall hätte mir dazumal eher geschwant. Und später Euer Kreuz, – eine Schande, alter Kamerad, daß Ihr es im Kommodenkasten liegen habt, anstatt auf dem Herzkasten, wo es hingehört, – na, was ich sagen wollte, ein Kreuz wie unser eisernes, das wird auch nicht mit Federlesen verdient. Aber apropos, Doctor, Eines, woraus ich mir nie einen Vers 211 habe machen können: die Jahre zwischen dem Schill und York, wo zum Teufel habt Ihr da Euch 'rumgetrieben?«

Der Doctor verzog keine Miene, um dem Frager Rede zu stehen.

»Gefangen, he?« fuhr derselbige fort.

Der Doctor schüttelte kaum merklich den Kopf.

»In der Legion? mit in Rußland, Freund?«

Der Doctor schüttelte von Neuem. s

»Zum Henker, aber wo denn, wo, wo?«

Doctor Peter Paul, als er von allen Seiten gedrängt, sich zu einer Antwort entschließen mußte, schnitt ein Gesicht »wie die Bauern, wenn sie in den Thurm kriechen,« – sagen wir bei uns zu Lande. – Er faßte sich so kurz er vermochte. »Studirt,« murmelte er.

»Studirt, aber wo, wo?«

»Hier und dort.«

»Nun, zum Exempel, Doctor.«

»In Edinburg.«

»Außer Land's also. Desto besser für Euch in der gottverdammten Zeit. Und über den Scharteken? – na freilich, – hätte es mir denken können. Die Katze läßt das Mausen nicht und wie wäret Ihr auch sonst zu Eurer Wissenschaft gekommen? Jetzunder aber retour zu dem Morgen, da es hieß: ›nach Dings!‹ und unser Musensohn sich geberdete wie ein Muttersöhnchen, oder wie ein Hansnarr. Er sprach den Major darum an, bei dem Gros verbleiben zu dürfen. Aber was der Major gesagt, das hatte er gesagt. Er maß den Patron mit einem Blick, einem Blick, wie nur der Schill Einen zu 212 messen verstand und wie ein Wetter ging's dahin auf der geraden pappellinigen Chaussee. Glänzende Gesichter überall, wo es heißt: die Avantgarde des Schill! Auf der Station halben Wegs, schleppen die Leute das Beste aus ihren Kellern und Küchen herbei. ›Hinüber nach – Dings!‹ rufen sie uns zu, ›die fünfzig Mann Präfectengarde werden es Euch nicht sauer machen und alles lauert auf den Schill wie auf den heiligen Christ. An Finten hat's wahrhaftig nicht gefehlt, um vor den spitzbübischen Raben die Kassen zurückzuhalten. Alles, alles für den Retter, den Schill!‹ ›Vorwärts denn! vorwärts nach Dings!‹ – schreit der Lieutenant, ein Brausekopf, wenn es je Einen gegeben, wie gemacht für einen tollen Streich. Kameraden, Ihr wißt die Geschichte; wer auf dem Aßberg durchgebrochen ist, der nimmt so eine Ueberrumpelung für einen Spaß. Aufgesessen also und vorwärts nach Dings. Da in der Plaine, da liegt's; hinter ihm der alte Hexenberg, die weiße Schlafmütze noch auf dem Kopfe. ›Scharf zureiten!‹ commandirt der Lieutenant. ›Staub, mehr Staub! Eine Wolke, als käme ein Regiment!‹ Vor dem Thore wimmelt's Kopf bei Kopf. ›Hurrah!‹ brüllt's aus Einem Munde, ›hurrah der Schill!‹ Wie ein Wetter das Thor passirt. Die Bürgerwache präsentirt. Im Galopp durch die Straßen und auf den Markt. Vor der Hauptwache ein Officier und fünfzig Mann von der Garde. ›Marsch, marsch, hurrah!‹ Sie strecken's Gewehr. Im Nu sind sie entwaffnet, die Gutgesinnten entlassen, die Murrköpfe in der Wachtstube eingesperrt. 213 Vorwärts zum Commandanten! Das Haus ist verschlossen. Wir fordern Einlaß. Kein Mucks! Der Lieutenant feuert sein Pistol durch die Scheiben. Auf war's! Aber Millionenschock! das hatten wir nicht erwartet: fünfzig Gardisten in Waffen und Wehr! ›Ergebt Euch, die Stadt ist dem Schill!‹ herrscht der Lieutenant sie an. ›Pardon!‹ murmeln sie und setzen die Gewehre zusammen. Im Umsehen sind sie unten in den Kellern zusammengesperrt. Einer von den Unseren bringt den Obersten am Collet geschleppt, der über die Gartenmauer hat entwischen wollen. Der alte Hasenfuß meldet sich krank und giebt sein Ehrenwort, sich nicht aus seiner Stube zu rühren und zu regen. Auch gut das! Alles geht uns glatt ab wie geleckt. Hinüber auf's Rathhaus jetzund, da, wo der steinerne Roland, Gott weiß wie viel hundert Jahre, Wache lehnt. Der Lieutenant steht oben auf dem Söller, unten drängt sich's zu Tausenden Kopf bei Kopf. ›Preußen!‹ ruft der Lieutenant hinunter, ›Treue Bürger von Dings! die Avantgarde des heldenmüthigen Schill hat Euch befreit; das Haus Westphalen hat aufgehört zu regieren! Das Joch der Schande ist gebrochen; Ihr seid wieder Preußen, die Treue findet ihren Lohn. Im Namen Seiner Majestät unseres allergnädigsten Königs, erlaß ich Euch in Betracht des schweren Drangsals, das Ihr erduldet, Steuern und Abgaben auf fünf Jahre vom heutigen Tage ab!‹

›Hurrah, hurrah!‹ brüllt das Volk. Wir sind Herren der Stadt.«

214 Der brave Bärenfell mußte einen Zug thun, um nach seiner kräftigen Erzählung die heisergewordene Kehle zu netzen. Der Major benutzte die Pause zu einer Unterbrechung. – »Der kecke Husarenstreich ist sattsam bekannt,« – sagte er geschraubt. »Nur daß unser Doctor Paul als Beiläufer darin figurirt – –«

»Als Beiläufer?« fiel ihm der Hauptmann in's Wort; »zum Teufel, als Haupthahn, Kameraden, als Matador! Das langstielige Bürschchen, das noch kurz vor dem Thore so hasenfüßig nach allen Seiten umgelugt hatte! jetzt, da es galt, war es oben drauf. Er schien bekannt in dem Neste, mehr als Einer grüßte und rief ihm zu. Er zuckte und muckte nicht, Keinem stand er Rede; hierhin, dorthin wie Teufels Vorlauf an der Tête. Wild, sage ich Euch, fuchswild schaute er aus. Wär's nach seinem Kopfe gegangen, alle Hagel, ich glaube, wir hätten gesengt und gebrennt! Der den Obersten auf der Gartenmauer erwischt hatte, kein Anderer war's als unser Student. Ich sehe ihn noch, wie er ihn am Collet herbeischleppte. Der alte Krippensetzer hatte vor Schreck alle Contenance verloren; kaum aber, daß er sich mit seinem Ehrenworte ranzionirt, als sein Auge ganz curios auf den Häscher im schwarzen Studentenrocke fällt. Er lacht, Gott weiß, der alte Kerl, er lacht. ›Ah, Monsieur Petèr,‹ ruft er aus, – so viel und nicht viel mehr hatte ich mit der Zeit von dem Kauderwelsch weggekriegt: ›Monsieur Petèr sous les armes! Et qui consolera la belle Eve?‹«

215 Doctor Peter Paul schnellte bei diesem Citat in die Höhe, eben so rasch aber sank er auf seinen Platz zurück. Den Kopf vorgebeugt, die kaltgewordene Pfeife mechanisch zwischen die Lippen geklemmt, so saß er regungslos, als wäre er selber aus Thon geformt.

*

Major Bock war entschlossen, keine neue Reminiscenz im Kreise der Freunde aufkommen zu lassen und die sich verschleppende wichtige Angelegenheit zum Abschluß in seine Hand zu nehmen. –

Ein Bürgerlicher und zum Studiren bestimmt, war er als Abiturient erst im Jahre Vierzehn eingetreten, hatte beim Festungsdienst stationirt, wenig kriegerische Erinnerungen und keine Trophäen und Ehrenzeichen geerntet, nach der Campagne aber, im großen Generalstabe beschäftigt, ein schnelleres Avancement gehabt als mancher im Pulverdampf ergraute Kamerad. Vor kurzem in Folge einer Hintenansetzung disgustirt, hatte er seinen Abschied gefordert und sich mit dem Majorstitel und einer bei noch nicht zwanzigjähriger Dienstzeit sehr mäßigen Pension in unsere stille Stadt und hinter den Büchertisch zurückgezogen. Ein behendes, blasses, pockennarbiges Männchen, kaum über das Schwabenalter hinaus, galt er unter den kriegerischen Gesellen für einen Querkopf und Federfuchser; er erfreute sich daher bei Weitem nicht eines Ansehens wie der handfeste Hauptmann von Bärenfell oder der leise, unwiderlegliche Doctor Peter Paul. Jetzt erhob er sich – nur selten durch einen 216 Blick auf das Papier dem Gedächtnisse zu Hülfe kommend – zu der sorgfältig ausgearbeiteten parlamentarischen Stylübung über das Cölibat, die wir in größerer Berücksichtigung der Geduld unserer Leser als er derjenigen seiner Hörer hier nur im Auszuge folgen lassen.

»Das Resumé aller bisherigen Auslassungen, meine Herren,« so hob er mit geläufiger, hin und wieder überschnappender Discantstimme an, »das Resumé unserer Wünsche ist ein Bund, eine Vereinigung zum Zweck der Erörterung persönlicher wie universeller Interessen, welche nicht auf der Basis des Familienlebens beruhen. Es sind mannichfaltige Gesichtspunkte zu diesem Zwecke unter uns angedeutet worden: gemüthliche, gesellige, practische; ich werde mir erlauben, ihn noch von einer anderen Seite zu behaupten: von der politischen, meine Herren! – Meine Herren! ich setze den Fall, unserem Staatsleben stünde eine Aenderung bevor. Ich will den Fall nicht deutlicher bezeichnen, verwahre mich auch im Voraus dagegen, irgend einer divergirenden Ansicht meiner verehrten Freunde nahe zu treten, – aber die Stein und Gneisenau haben nicht vergeblich uns vorgearbeitet und unser König und Herr sind ein Greis. Die widerstrebendsten Anschauungen über die Grundlagen eines unvermeidlichen Umschwungs circuliren schon jetzt, wenn auch nur in der Stille. Wir haben es an dieser Stelle mit einer einzigen zu thun. Der Satz ist aufgestellt und von gewichtiger Seite vertheidigt worden, daß die ständische Vertretung auf der Basis des Familien 217rechtes beruhen müsse. Nur verheirathete, oder einen eigenen Hausstand bildende Männer sollen zur Gesetzgebung, Steuerbewilligung, zur parlamentarischen Wirksamkeit berufen sein. Welche sinnlose Extreme in unserer Zeit, meine Herren! Jenseit des Rheins zur Bewältigung einer herkulischen Last die Emancipation einer kaum bärtigen Jugend, wohl gar des Geschlechts in Schürze und Unterrock; diesseit: die Familie an Stelle der Capacität, ja, dreist heraus! die Familie mit Ausschluß der Capacität! Denn der Beweis würde unschwer zu führen sein, daß die Familie mit ihren beschränkenden Sorgen und Pflichten die Vertiefung und dann wieder die Ausstrahlung, mit einem Worte das Genie für das Allgemeine abschwächt und schließlich annullirt. Denken Sie sich, meine Herren, die katholische Kirche ohne Cölibat, vergleichen Sie ihren Clerus mit dem unserer Protestanten, – keinen Einwand, meine Herren, wir sind protestantische Männer, sind ein protestantischer Staat und wollen es bleiben; aber Luther wäre unser Luther auch ohne seine Käthe, Hildebrand aber nimmermehr ein Hildebrand mit einer Käthe gewesen. Und blicken wir weiter auf die Heroen von Scepter und Schwert: die größten unter ihnen waren ledige Männer, oder mindestens: besser für sie und die Welt, wären sie es gewesen. Ich berufe mich nicht auf die Alten, nicht auf einen Alexander, nicht auf Neuere wie Eugen von Savoyen und den Helden von Trafalgar, bleiben wir bei unserem Friederich! Das Schicksal hatte ihm eine Gemahlin zugeführt, aber nicht sie ihm angeeignet: 218 Friedrich der Einzige machte Preußen zu Preußen als ein Junggesell!«

»Er machte Preußen zu Preußen als ein Junggesell!« wiederholte jubelnd die Gesellschaft im Chor.

»Und fragen Sie sich, meine Herren,« fuhr der Major mit erhobener Stimme fort, »fragen Sie sich, wie stünde es um Europa, ja um die heutige Welt, wenn der feindliche Heros, an dessen Sterbestunde der fünfte Mai uns mahnt, wenn er statt der Napoleoniden Frankreich als Kind an seinem Herzen gehalten hätte?«

Den preußischen Junggesellen lag diese Folgerung außer dem Geleis. Sie schwiegen; der Redner lenkte seine Beweisführung in eine andere Bahn.

»Blicken wir nun hinüber zu den Weisen aller Zeiten,« – – rief er aus.

»Zum Exempel: Sokrates und seine Xantippe,« – unterbrach ihn der Kämmerer flüsternd und sich behaglich die Hände reibend.

»Die Tausend Stück des weisen Salomo hätte ich mir eher gefallen lassen!« – fügte der Rasselbock lachend hinzu.

»Wir brauchen nicht so weit zurückzugreifen,« versetzte der Major roth vor Aerger über diese cynische Unterbrechung. Den Schluß seiner Rede nur noch an die beiden Einzigen richtend, die er ihres Verständnisses fähig und würdig achtete: den zartfühlenden Rector und den gelehrten Doctor, der ihm schweigend gegenüber saß, fuhr er also fort: »Lassen Sie uns in der Nähe bleiben, blicken wir auf den Wissendsten aller Zeiten, auf unseren 219 Humboldt, meine Herren; vergleichen wir mit seiner Forscherstille die häusliche Misère eines Shakespeare, eines Byron und Göthe – –«

»Göthe, Göthe!« – unterbrach ihn, von keinem Drohblicke eingeschüchtert, der Hauptmann von Bärenfell. »Millionenschock! Göthe! richtig, so nannten sie den Scribenten, den sie vor ein paar Jahren zu Grabe trugen, als ich just durch das Nest, – durch das Dings da hinten – –«

»Weimar,« half der Rector lächelnd ein.

»Weimar, ganz recht, als ich durch Weimar kam. Es war ein Aufhebens um den Federfuchs, – straf' mich Gott, Rector, wenn ein preußischer Stabsofficier stirbt, nicht halb so viel Umstände werden. mit seiner Leiche gemacht.«

»Dürften mit spärlichen Ausnahmen auch weniger an ihrem Platze sein,« entgegnete der Major gereizt; doch fühlte er, daß Kürze immer dringender geboten werde. »Ich komme zum Schlusse, meine Herren,« fuhr er fort. »Ich sage: der Genius dampft sich ab am häuslichen Heerd. Künstler selber, von Natur erregbaren Gemüths, die größten unter ihnen: ein Raphael, Beethoven, Thorwaldsen haben sich nicht, andere, ungezählte nur zu ihrem Unheil gebunden. Wir kennen die Mythe vom Herkules am Rocken, vom Simson, dem ein Weib die kraftspendenden Locken beschnitt; ein Curtius stürzte sich für das Vaterland nicht in den Abgrund, wenn ein Weib ihn am Zipfel der Toga zurückhielt. Eine Armee mit Weib und Kind ist keine Armee; der 220 Arzt wird nur zögernd an das Bett des Pestkranken treten, wenn er das ansteckende Gift in seine Familie zu tragen, der Staatsmann nicht unerschrocken seine Meinung vertheidigen, wenn er einen mißliebigen Rückschlag auf seine Nachkommen fürchten muß. Die Opferbereiten sind die Ledigen! Darum gönnen wir der Menge ihren Heerd; aber behaupten wir, behaupten wir standhaft, meine Herren, den Gesichtspunkt der Capacität, wie nur das ungebundene Leben sie auszuprägen im Stande ist; suchen wir von kleinen Sammelplätzen aus diesen Gesichtspunkt aufzuklären; uns selber zu befestigen; – erhebend und kräftigend allen stagnirenden, verweichlichenden und beschränkenden Einflüssen gegenüber zu treten. Die Basis unseres politischen Lebens sei nicht der Heerd, aber der Muth und der Geist! Ich bin zu Ende, meine Herren.«

Die Gesellschaft athmete auf wie erlöst, die Debatte schien beendet. Herr von Bärenfell füllte die Gläser, Streiche und Schwänke aus guter, alter Zeit brannten auf allen Lippen, als – o des allseitigen Verdrusses! – als der Rector sich erhob und sich das Wort zu einer principiellen Entgegnung erbat.

Der Rector war nicht nur ein tüchtiger Humanist, er war, wir sagten es schon, auch ein deutscher Dichter auf sentimentalem Gebiet. Fünf Bände lyrischer Versuche – aber nein, wir nennen ihre klangvollen Namen nicht, um mit dem Incognito des Autors das unserer Stadt und unseres Helden, des Doctors, nicht aufzuheben.

»Wir haben,« so hob er mit feinsinnigem Lächeln an, »verehrte Herren, wir haben so eben ein zukunft 221verheißendes rhetorisches Talent zu bewundern gehabt. Indessen, so sehr ich mir meiner ungleichen Waffen und des ungünstigsten Terrains bewußt bin, glaube ich einer Vertheidigung meines entgegengesetzten Standpunktes im Allgemeinen, wie im gegenwärtigen concreten Falle nicht aus dem Wege gehen zu dürfen.«

»Er ist ein Wittwer!« flüsterte der Kämmerer

»Ein Wittwer, ein Wittwer!« wiederholte der murrende Chor.

»Ich sagte es gleich,« – donnerte Herr von Bärenfell, –»den laßt aus unserem Spiel. Wer einmal von einem Weibe besessen worden ist, der wird im Leben nicht wieder ein lediger Mann.« –

»Aus dem Grabe heraus lassen sie einem armen Teufel keine Ruhe!« lachte der Rasselbock.

Der Redner schien weder verletzt, noch aus der Fassung gebracht, er lächelte nur noch feiner und sinniger als zuvor.

»Ja, ich bin ein Wittwer,« sagte er, »und ich werde es bleiben. Kein rechter Mann vergißt des Weibes, das er sein genannt. Warum– so unruhig, lieber Doctor? Sie sind, wir wissen es, ein Exoterischer in den Geheimnissen des Herzens. Die Geliebte des Jünglings war das Vaterland, die Gefährtin des Mannes ist die Wissenschaft. Ich aber, ich habe eine Dora in meinen Armen gehalten und weil ihre Erinnerung mir heilig ist, rede ich zur Stunde, wie das Herz mich zu reden treibt. Nein, Herr Major, die Liebe zum Weibe, sie erschlafft nicht, sie ergänzt die Manneskraft. Sie erweitert sich 222 zur Familientreue und nach den progressiven Gesetzen der körperlichen wie der geistigen Natur von diesem Kerne aus zu immer größeren und das Höchste umfassenden Kreisen. Geist ohne Pietät, Freiheit ohne Neigung, Beides führt nur zur Negation. Der Held stürzt zusammen, raubt Ihr ihm das Herz. Es dürfte mir daher ohne großen dialectischen Aufwand nicht schwer fallen, aus den angeführten Beweisen einen Gegenbeweis zu ziehen, oder Namen mit Namen zu schlagen, bei deren Klange das erfüllteste Leben des Herzens, verwoben mit unvergänglichen Thaten in die Augen springt, und weder an Zahl noch an Kraft würden meine Helden den Ihrigen weichen dürfen. – Beruhigen Sie sich, meine Herren, ich werde Ihnen nicht mit Citaten beschwerlich fallen. Eine Frage nur sei mir gestattet: die harten Consequenzen in dem Mechanismus unseres Einzigen, sollten sie nicht weniger schroff aus dem Werke, das er schwächeren Händen hinterlassen mußte, hervorgesprungen sein, wenn dem nimmermüden Wächter auf Sanssouci ein geliebtes Weib und gleichgeartete Kinder am Herzen gelegen hätten?«

»Das ist zu toll! Aber das ist zu toll!« unterbrachen ihn tobend die gelangweilten Junggesellen. »Der alte Fritz ein tändelnder Familienvater! Gutmann, der Kinderfreund, unser alter Fritz!«

»Ich werde dieses Thema nicht des Weiteren berühren,« fuhr der Redner fort, nachdem es seinem unparteilichen Gegner, dem Major, noch einmal gelungen war, Ruhe zu stiften; »aber von den Spitzen zu den 223 Breiten dem Vorredner folgend, frage ich nur: haben Weib und Kind unsere Brüder gehindert für das Vaterland einzutreten mit größerer Freudigkeit als ein Prätorianercorps? Und der Mann, der zur Gesetzgebung miterkoren ist, wird er nicht standhafter seinen Glauben behaupten, wenn er diesen Glauben eines Tages als Recht seine Kinder beschützen sieht? Oder betrachten Sie hier unseren Doctor, meine Herren, würde er, als er zum ersten Male, ein Retter in höchster Noth, unter uns erschien, oder später, da die schwarze Seuche in unserem Heimwesen wüthete, würde er nicht ebenso opferwillig dem Gifte der Ansteckung getrotzt haben, wenn die Geliebte seiner Jugend –«

Der Doctor zuckte zusammen, der Redner, der es bemerkte, sagte lächelnd: »Auch diese Position gebe ich auf. Kann ich doch im Voraus Ihren Schluß auf die höchste Gültigkeit des Gewissens unter allen Verhältnissen ziehen, werthester Freund. Ich beschränke mich auf die Widerlegung gewisser Andeutungen unseres vielbelesenen Herrn Majors, die mein specielles Interesse als Freund und Dolmetscher unserer Dichter berühren, und auch auf diesem Gebiete will ich nicht die sich aufdrängende Fülle des häuslichen Glücks, nein, nur die citirten unharmonischeren Verbindungen will ich herbeiziehen zum Protest dagegen, daß die göttliche Ordnung des Herzens dem Genius die Schwingen fessele. Der große Brite, für dessen Pinsel kein Farbenton der Liebe allzu mächtig war oder allzu zart, – ohne Zweifel, nicht die alternde Hausfrau hat ihm die Hand zum Entwurfe einer Julia und Imogen 224 geführt, er selber schildert ihre Reize mit gutem Humor, aber nicht eben verführerisch und dennoch liebt er sie und besingt sie in ergreifenden Sonetten, denn die unschöne Wirthin, sie ist sein Weib! Der edle Lord, der spätere Sohn jener Insel, nie stimmt sich seine Leier zu herzbewegenden Accorden als bei den schlichtesten Empfindungen der menschlichen Natur und nur die Vaterliebe hält Stand unter den nächtigen Schatten seiner Sterbestunde. Nicht seine stolze Muse, nicht das Bild des Ruhmes und der Freiheit, nicht das der Schönheit, die, dem Gesetze trotzend, seine Leidenschaft gestillt, nicht die große Sache, der er sein Leben anheimgegeben, – seine Tochter ist es, nach der die Sehnsucht sein brechendes Herz erfüllt und die Liebe, – ich wage es zu behaupten, – die Liebe zu dem Kinde, ›in Gram geboren, in Krampf gesäugt,‹ das er, kaum gekannt, seinem schmähenden Vaterlande hinterlassen mußte, dieser stärkste, unveräußerliche Trieb, würde, hätte er gelebt, die Irrungen seiner Seele gesühnt, die Leere seines Herzens gefüllt, die Mängel seiner Muse selber ausgeglichen, erst die Natur würde ihn zum großen Bürger, zum Dichter neben die größten aller Zeiten emporgetragen haben.«

Die Langeweile der Zuhörer verbarg sich nicht länger hinter dem Damme des Schweigens. Der Eine gähnte, der Andere flüsterte mit dem Nachbar, der Hauptmann murrte verständlich; der Major blickte, über eine Gegenrede sinnend, auf sein Concept; Doctor Peter Paul saß mit starren Augen wie ein Nachtwandler bleich und steif.

Der Anwalt der Liebe hütete sich, eine Pause zu machen, 225 die ihm das Wort unwiederbringlich abgeschnitten haben würde.

»Und endlich unser herrlicher Poet an der Ilm,« fuhr er fort, »dessen fürstlicher Conduct in dem Erinnerungsschatze des tapferen Herrn von Bärenfell eine Rolle spielt, – nicht nur, daß er in seinen erhabensten Werken und in seinen Privatgesprächen das Heiligthum der Ehe als ein unantastbares preist und wahrt, er klagt beim Scheiden des Weibes, dessen Seele wahrlich so wenig einem Dichterideale glich als die verfallende Gestalt von William Shakespeare's alter Hanne, er klagt: ›Der ganze Gewinn meines Lebens ist, Deinen Verlust zu beweinen;‹ und fast am Grabesrande giebt der greise Dichter mit dem Jünglingsherzen jenes unvergleichliche Zeugniß, – nicht einer lächerlichen, erotischen Verirrung, nein, von dem urewigen Bedeuten der Einigung des Mannes in dem Weib, in dem kleinen Liede, wo er Jehovah sich selber zum Meister seines Werkes sprechen läßt, als er am letzten Schöpfungstage in die Arme des ersten Mannes das erste Weib, sein Evchen – –«

»Evchen!« rief Doctor Peter Paul, wie aus einem Traum erwachend; die längst erkaltete Thonpfeife entglitt seinen Lippen und zerklirrte in Scherben; er sprang in die Höhe und schaute um sich wirr wie aus einer anderen Welt.

Das Signal zu einem allgemeinen Aufruhr war gegeben. Der Rector machte keinen Versuch, seine Rede zu vollenden. Der Major drückte ihm die Hand. »Sie werfen Ihre Perle vor die Säue,« sagte er mit einem 226 verächtlichen Blicke auf die Versammlung und zog sich in leisem Zwiegespräch mit ihm in eine Fenstervertiefung zurück.

Alle Uebrigen umdrängten und bestürmten unseren Doctor, der gleichsam kopfscheu, einem Wahnwitzigen nicht unähnlich, mit den deutlichsten Zeichen der Angst, eine Ausflucht nach der Thür erspähte. War es ein Traum, der ihn vorhin umfangen hatte, so fehlte es in der That dem Erwachen nicht an Turbulenz!

»Die Sache ist also die, Doctor: wir stiften einen Bund.« –

»Eine Loge.« –

»Die Loge der Ledigen.« –

»Wir versammeln uns alle Abende.« –

»Nicht alle Abende, das hieße Ruin; alle Monate.« –

»Alle Wochen, am Freitag.« –

»Nein, am Sonntag.« –

»Hier oben.« –

»Nichts da hier oben, bei einem von uns.« –

»Wir machen eine Bowle.« –

»Keine Bowle, eine Stange Bier.« –

»Jeder ad libitum. Wer Bier will, trinkt Bier.« –

»Jedes Jahr am fünften Mai, da feiern wir unser Stiftungsfest.«

»Mit einem Jocus, einem Schmaus!« –

»Wir gründen einen Orden.«

»Den Junggesellenorden, den hängen wir uns um, wenn wir zusammenkommen.« –

»Ein Kreuz!« –

»Kein Kreuz, das lassen wir den Eheherren!« –

»Einen Stern!« –

»Richtig, einen Stern, blau von Emaille.« –

»Zu kostbar Emaille, Pappe thut's auch!«

»Von Blech und die Devise: ad libitum!« –

»Wir geben uns den Handschlag: ledige Männer bis in den Tod!« –

»Keine Wittwer!« –

»Wittwer nur, wenn sie kinderlos!«

»Wir ernennen einen Präsidenten.« –

»Wir haben ihn ernannt.« –

»Der jeder Schürze den Rücken weist.« –

227 »Dem Eine kommen sollte, die ihn fangen will!« –

»Den Matador aller Hagestolzen!« –

»Unseren Ersten!« –

»Unseren Doctor Peter Paul!«

So gingen zwischen Gelächter und Kernsprüchen die Stimmen durcheinander. Jeder suchte den Andern zu überbieten, keiner verstand mehr sein eigenes Wort. Dem Doctor drohten Brust und Trommelfell zu zerspringen. Sein Gesicht glühte wie Scharlach, in den Augen zuckten Blitze. Er warf den Kopf nach hinten und nach vorn, er schleuderte die Hände nach rechts und nach links, er schnappte nach Luft.

Dem kräftigen Worte des Herrn von Bärenfell gelang es endlich durchzudringen. Er breitete einen Bogen auf den Tisch, legte die Bleifeder daneben und rief befehlerisch: »Die Statuten Ihre Sache, Doctor! Hier die Liste! Da obenan Ihren Namen: Peter Paul, Präsident. Hurrah, Peter Paul Präsident!«

»Hurrah, Peter Paul Präsident!« donnerte der Chor.

Man packt den sich Sträubenden unter beide Arme, man schleppt ihn an den Tisch, man klemmt den Griffel zwischen seine geballte, zitternde Faust – da, mit einem energischen Ruck reißt sich der Bedrängte los. »Meine Herren – das ist – abgeschmackt!« – stößt er keuchend hervor und stürzt aus der Thür.

»Meine Herren, ich ziehe meinen Antrag zurück,« sagt der Major mit kurzer Verbeugung und verläßt in Begleitung des Rectors den Saal.

228 Die Zurückbleibenden starren ihnen nach und dann sich unter einander mit offenem Munde an.

»Was war das?«

»Abgeschmackt, Kreuzmillion, abgeschmackt! eine Injurie!«

»Eine Injurie – unser Doctor?« –

»Ein Jocus, ein Jocus!« –

»Aber abgeschmackt, abgeschmackt!« –

»Und diese Blicke, diese Geberden!« –

»Wie ein Verrückter!« –

»Wie ein Feuerschlund!« –

»Wie ein Verliebter.« –

»Wie ein eifersüchtiger Ehemann.« –

»Wie ein Ehemann! Kostbarer Jocus! Doctor Paul ein Ehemann! Hahaha!«

Mit diesem tobenden, lachenden Durcheinander endete, leider ohne Resultat, das denkwürdige Vorparlament der Junggesellen im großen König. Die alten Herren trennten sich, um auf dem Heimwege in einzelnen Gruppen oder in ihren Bart über den federfuchserigen Major, den Jammerwurm von Rector, und den tollgewordenen Doctor Paul zu raisonniren und zu lachen, dann sich aufs Ohr zu legen, die Dämpfe der Bowle zu verschlafen und am andern Morgen, ad libitum sich erhebend, den gescheiterten großen Entwurf von Neuem aufzunehmen.

Der Doctor war während dessen in unaussprechlicher Aufregung die Treppe hinunter und an dem kopfschüttelnden Königswirth vorüber gerannt. Auf dem Markte, in freier Luft, allein, vor seinen Verfolgern sicher, that er einen tiefen, stöhnenden Athemzug. Es klang wie aus einer kochenden Maschine, deren Ventil man geöffnet hat. »Die Narren!« preßte er heraus. 229 »O Gott, die Narren! Und das heißt leben – zwanzig Jahre leben!«

Mit Sturmschritten ging er eine lange Weile die Gassen auf und ab, ehe er sich, zur Noth beschwichtigt, seinem Hause zuwendete. Sein Weg führte ihn an der Wohnung der lungensüchtigen Patientin vorüber. »Sollte ihre Qual noch so lange gewährt haben?« fragte er sich, als er Licht in ihrem Zimmer sah. Er zog die, Klingel, ein Druck von oben öffnete die Thür.

Leise betrat er das Gemach, in welchem, so lange er im Orte weilte, er unheilbares Leiden nur hatte lindern und ein qualvolles Ende nur verzögern können. Da saß in Thränen gebadet der gute Mann auf dem Bette seiner todten Frau und hielt ihre Hand in der seinen fest gepreßt.

»Es war eine Erlösung, Freund,« sagte nach einer langen Pause der Doctor mit kaum hörbarer Stimme.

Der Mann warf einen zärtlichen Blick auf das stille, verklärte Gesicht. »Die Liebe sieht es anders,« schluchzte er. »Jung miteinander – fünfundzwanzig Jahre – und mein ganzes Glück.«

Der Doctor drückt ihm die Hand und entfernt sich langsam. Er steht vor seinem Hause, aber ihn graut es, einzutreten. Er wendet sich rasch und geht aus dem Thor. Der Mond scheint hell, die Luft weht weich; ein Maienzauber von Duft und Blüthe ruht selber über dieser reizlosen Ebene. Der stille Mann athmet voll und frei, sein Schritt wird rasch, elastisch, die Bande 230 seiner Seele lösen, sein ganzes Wesen dehnt sich in's Weite.

Mitternacht mochte längst vorüber sein, als er in seine Wohnung zurückkehrte. Er zündete hastig Licht an und blickte nach dem ausgelegten Bogen: auch jetzt keine Nachfrage. Er setzte sich und schrieb mit eiliger Hand, adressirte die wenigen Zeilen an einen medicinischen Anfänger, der sich seit etlichen Wochen in unserer Stadt niedergelassen, aber noch keinen Patienten gefunden hatte, und legte sie an die Stelle, wo der Aufwärter Morgens, wenn er selber schon ausgegangen, seine schriftlichen Bestellungen zu finden gewohnt war.

Eine unglaubliche Neuigkeit verbreitet sich am andern Morgen gleich einem Lauffeuer durch unsere Stadt.

»Wißt Ihr's, Lieutenant?« fragt Herr von Bärenfell den alten Kameraden, dem er auf dem Marktplatze begegnet. Der Lieutenant weiß es. Ein halbes Dutzend der ledigen Freunde findet sich zusammen, sie Alle wissen es. Der Kämmerer keucht athemlos einher. »Wissen Sie's, meine Herren? Ich komme eben von der Post. Richtig, er ist fort. Und rathen Sie wohin, rathen Sie wohin? Ich war gleich drüben beim neuen Doctor, dem er seine Praxis für die Zeit übergeben hat. Es ist nichts Gefährliches darunter. Für einen dringenden Fall soll ihm geschrieben werden poste restante, rathen Sie wohin, zum Exempel, rathen Sie, meine Herren.«

Die Herren riethen hin und her: nach einer Stadt der Provinz, wo eben Messe gehalten wurde; nach der 231 Residenz; nach dieser und jener Universität, nach Hamburg und selber über's Meer, – sie hatten allemal fehlgeschossen.

»Nach Xrode, in's Gebirge, meine Herren.«

»Unglaublich, unerhört!«

»Unerhört, aber wahr! Unser Doctor Paul in die Berge! Jetzunder ist alles möglich. Denken Sie an meine Prophezeihung, meine Herren: – Unser Doctor kommt zurück mit einer Frau!«

*

Ein Mann, ein gebildeter Mann, ein Mann mit gutem Auskommen, ein lediger Mann obendrein, und der in zwanzig Jahren seinen städtischen Umkreis nicht verläßt, lieber Leser, erscheint er uns heute nicht beinahe wie eine vorsündfluthliche Gestalt? Und doch, wenn wir nicht so glücklich sind, noch sehr grün in die Welt zu schauen, so haben wir es sammt und sonders noch erlebt, daß solch ein Mann so ziemlich in der Regel und nur der eine Ausnahme war, welcher gelegentlich eine Erholungsreise unternahm. So viel und hastig hat in fünfundzwanzig Jahren die Welt sich bewegen lernen!

Ob sie damit in der That eine erhebliche Strecke vorwärts gekommen ist? Ein späteres Vierteljahrhundert wird darüber seinen Spruch abgeben.

Dafür war zu jener Zeit eine Reise aber auch wirklich noch ein Wechsel. Selber die Postfahrt durch eine vierzig Meilen breite, sandige Ebene, die wir heute mit abgewendetem Auge, will's Gott, in Schlafes Arm in 232 wenigen Stunden durchbrausen, gewährte Nacht und Tag im Kommen und Gehen der Passagiere, beim Aufenthalt vor den Posthäusern, beim gemächlich genossenen, gemeinschaftlichen Mahl, beim neugierigen Blick auf die geringste kleinstädtische Curiosität, auf einen Jahrmarkt oder ein Schützenfest unserem bescheidenen Sinn unterhaltende Befriedigung.

Ob der Doctor zu diesen genügsamen Wandervögeln gehörte, ob er sich langweilte? – wir wissen es nicht. Er hatte, weil er sich es einmal vorgenommen, bei den wissenschaftlichen und künstlerischen Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt geweilt, gewiß nicht ohne Verständniß und vielleicht nicht ohne Antheil, aber stets ohne Austausch, ohne das geringste anregende Begegnen und von einer unwiderstehlichen Unruhe vorwärts getrieben. Jetzt saß er wieder unbeweglich, den Kopf steif in die Höhe, den Blick vor sich hin gerichtet, auf seinem Eckplatze im Coupé und wechselte keinen Gruß, keinen Laut, weder mit dem Schaffner in der Mitte, noch mit den verschiedentlichen Reisegenossen in der anderen Ecke, oder einem der Tafelgäste in den Passagierstuben. Er war wieder ganz der Oktobermann, über dessen innerliche Temperatur ein Mensch nicht klug zu werden vermag.

Jemehr er sich dem großen Flußgebiete näherte, wandelte sich die unfruchtbare Ebene in eine fruchtbare um; in eine aber immer baumlosere, aller landschaftlichen Reize baar. Die dunkeln Kieferwälder, unter deren würzigen Harzdüften er bis dahin gerollt, hörten auf, aber kein Eichen- und Buchenforst gewährte Schatten an 233 ihrer Statt. Nur unübersehbare Weizenfelder und die zur Zeit neueste Cultur der Zuckerrübe breiteten sich aus zu beiden Seiten der mit Pappeln gesäumten, wie mit dem Lineal gezogenen Chaussee. Im Mai ist freilich alles schön, selber ein Rübenfeld.

In dieser Ebene, nur weniges südwärts von unseres Reisenden gegenwärtiger Straße, lag das Schlachtfeld, auf welchem er vor fünfundzwanzig Jahren als Zeuge der Marketenderinhochzeit seine kriegerische Laufbahn begonnen hatte. Jetzt vergoldete die aufsteigende Sonne die Thürme der alten Dom- und Festungsstadt am Strom, in welcher die Poststraßen nach den verschiedenen Himmelsrichtungen sich kreuzten. Der Doctor schlenderte durch die winkligen Gassen, bis die Fahrt nach dem südwestlichen Gebirge hin weiter ging Die Stille des Morgens, das blanke Ansehen der Häuser, der Maienschmuck vor den Thüren erinnerten ihn daran, daß Pfingsten angebrochen war, das Freudenfest des Sommers.

Auf dem Markte begegnete ihm ein Trupp junger Studenten, die sich auf der Fahrt zum Rendezvous in der Ruine hoch über dem Thüringischen Flüßchen verspätet haben mochten. Peter Paul dachte daran, daß er auch einmal, ein einziges Mal, am Pfingstfeste auf einer Saalruine getagt hatte, aber nicht mit Jubel und Lachen wie diese Kinder einer friedlicheren Zeit: heimlich, feierlich, in bitterem Groll und Zorn in den Erstlingsstunden des Tugendbundes eintausendachthundert und acht.

So drängte sich Erinnerung an Erinnerung. Unwillkürlich folgte der einsame Mann dem fröhlichen 234 Schwarme und hielt etliche Schritte hinter ihm still, als er ihn vor einem Laden Halt machen sah, in welchem eine Händlerin Kränze und Blumen zum festlichen Schmucke auslegte. Die Burschen feilschten und schäkerten mit der hübschen Dirne. Einer von ihnen, der schlankste und frischeste von allen, in schwarzer Pekesche und buntem Käppchen über dem lockigen Haar, erhandelte einen Rosenstrauß, steckte ihn aber nicht an die Mütze, oder in's Knopfloch wie die Anderen ihre Aurikel und Maiblumen, sondern zog ein Papier aus der Tasche und barg ihn sorgfältig in einer Tüte, die er aus demselben drehte; den Rest des Blattes riß er ab und warf ihn an die Erde.

Singend schlendern sie weiter, der Doctor hinter ihnen, er weiß wohl selber nicht warum. Vor dem Laden fällt sein Blick auf den beschriebenen Schnitzel am Boden. Er stutzt, er erschrickt beinah. Hastig wendet er sich nach der Händlerin, kauft den ersten besten Strauß und bückt sich nach dem Blatte. Ein paar unzusammenhängende Worte von »Nerven, Ganglien, Pankreas, u. s. w.,« ein Concept offenbar, in welches eine Semmel, Knasterrolle, oder sonst etwas eingewickelt gewesen ist. Dennoch zittert das Blatt in des Doctors Hand und sein Auge haftet auf den wenigen Zügen; ihm schwindelt fast: er hätte darauf schwören mögen, sie wären von seiner eigenen Hand; nicht aus jetziger Zeit, wo er kleiner, enger, rascher und undeutlicher über den Bogen fährt; nein: keck, groß und klar wie in den Tagen, da er jung war gleich Jenem, der das Blatt 235 hatte fallen lassen, in den Stunden des Tugendbundes eintausendundachthundert und acht. Freilich an Nerven und Ganglien hatte er in jenen Tagen nicht gedacht.

Der kleine Papierschnitzel war des Doctors erstes Reiseabenteuer; er barg ihn in seiner Brusttasche; den Strauß, den warf er fort, sobald er um eine Ecke gebogen. Er schaute sich nach den Studenten um; sie waren in dem Gassengewirr verschwunden. Der Doctor seufzte unwillkürlich. Die Domglocke schlug an, es war Zeit nach der Post zu gehen.

Er saß schon wieder auf seinem Eckplatze im Coupé; der Postillon hatte das letzte Signal geblasen, als der Studententrupp lärmend in den Posthof stürmte. Einer schied aus dem Knäuel, der schlankeste, frischeste, in schnurenbesetzter Pekesche und buntem Käppchen, der mit dem verhüllten Rosenstrauß in seiner Hand. Er sprang leichtfüßig neben den Schaffner in die andere Ecke des Coupés, der Schlag ward zugeworfen, der Wagen setzte sich in Bewegung.

Bis zum Hofthore liefen die Zurückbleibenden neben dem Wagen her, schwenkten ihre Mützen, grüßten zum Abschied mit Mund und Hand. »Schade, daß Du zu spät kommst zum Tanz mit den Hexen, Paul! Glück auf, Paul!« riefen sie ihm nach.

Der Doctor stutzte schon wieder. Er beugte sich über den dicken Schirrmeister, um den Namens »Paul« deutlicher in's Auge zu fassen. Schnell aber ließ er sich zurück fallen. »Warum nicht Paul?« dachte er. »Ein Vorname wie Kunz und Michel; Paul!«

236 Sie rollten durch das dunkle Festungsthor; sie waren im Freien. Feierlich erschallte von allen Thürmen das Geläute der Glocken zum Festgruße des heiligen Geistes. Dem Doctor wurde es wunderbar um's Herz, so, als ob in seinem Inwendigen auch ein Pfingsten einläute, als ob lange verklungene Stimmen wieder wach werden, nie gehörte Stimmen sich lösen wollten. Auch diese Straße war er schon einmal gezogen, an jenem Morgen, wo er zur Theilnahme an dem unblutigen Husarenstreiche, inmitten des so blutig endenden kurzen Vorspiels der Freiheit gezwungen ward, ein Jüngling wie jener in der Ecke dort, aber nicht so fröhlichen, schuldlosen Herzens wie jener es schien: verzweifelnd, sich selber ächtend und dem Tode weihend war er dahin gestürmt.

Er wird immer beweglicher, ruheloser. Wirken es die Erinnerungen, das Nahen der Berge, der jugendliche Genosse? Er weiß es selber nicht; er beugt sich rückwärts, vorwärts, nach dem Studenten in der Ecke schielend, und seltsam! bei jedem Blicke begegnet er einem keck und neugierig auf ihm ruhenden Auge. Verlegen schweift hastig das seine nach einer anderen Richtung und kehrt doch immer von Neuem nach dem Jüngling zurück. Seine Züge sind ihm bekannt, ja vertraut wie die der Hand auf dem Papierschnitzel auf seiner Brust; er hat sie schon einmal gesehen, oftmals, täglich, vor langen Jahren und – in seinem eigenen Spiegel. Ein Fata Morgana seiner Jugend, ein neckender Spuk! Sie kommen ja immer näher der Heimath der narrenden Kobolde und Hexen!

237 Als auf einer Zwischenstation der Schaffner aus dem Wagen stieg, drückte der Doctor ein Geldstück in seine Hand, murmelte: »die Sonne blende ihn« und rückte auf den Platz in der Mitte. Nun konnte er den Genossen nach Herzenslust betrachten. Ein junges, frisches Blut, heitere Augen, feine, rührige Glieder. So froh und zuversichtlich mochte Peter Paul, auch vor seiner bösen Stunde, wohl nimmer in das Leben geschaut haben. Zeit und Erziehung waren leichter heute als damals; diesem jungen Herzen hatten Freiheit und Freude nicht gefehlt. Immer von Neuem vergleichend mußte der Aeltere in sich selber zurück, immer von Neuem forschend zu dem Jüngeren hinüber blicken.

Dazu die Scenerie: die Straße, auf welcher er einst mit Schills Avantgarde »Staub« gemacht; die sich von Viertelstunde zu Viertelstunde belebendere Landschaft. Das Rauschen der Bäche und Flüßchen entquellend dem Gebirge, dessen Umrisse sich immer deutlicher abzeichneten; fern am Horizonte ragte der alte Hexenkegel, seine weiße Winterkappe noch immer auf dem Haupt; in allen Kirchspielen läuteten die Pfingstglocken, waren die Häuser mit Maien geschmückt, die Straßen belebt von Fußgängern, Reitern, und Fahrenden aller Art, die in den Bergen ein Festplaisir suchten. Immer wärmer thaute es in des Mannes Herzen auf; immer deutlicher regte es sich wie Hauch und Flüstern der Heimath.

Er spürte ein drängendes Begehren, mit seinem jungen Nachbar in Berührung zu kommen und wenn er um eine Einleitung verlegen war, so wird sein seelen 238kundiger Leser nicht den Schluß auf einen blöden oder eingeschüchterten Charakter unseres schweigseligen Freundes ziehen. Kinder, junge wie alte, scheuen sich vor Menschen und Dingen, weil sie groß sind. Peter Paul mied sie aus dem Gegengrunde. Die Wetterwende nach den Stürmen der Freiheitskriege; die Einschränkung seines Außenlebens auf einen flachen, stillen Winkel, die Neigung zum Studium und zum Genusse des schmackhaften, dauerhaften Kerns erst nachdem die herbe vergängliche Hülfe abgefallen war, vielleicht auch niederschlagende Erfahrungen im eigenen innerlichsten Ich, – denn wer mäße nicht, bewußt oder unbewußt, die Anderen nach der Schätzung seiner selbst? – diese Wechselwirkung hatte Peter Paul herabgestimmt; er war ein gleichgültiger Mann geworden und just, weil er es in diesem Augenblicke nicht war, fühlte er sich befangen.

So brach er denn die erste beste Einführung vom Zaun. »Herrliche Frührosen, junger Herr,« sagte er. »Aber die Sonne fällt darauf und wird sie welken.«

Der Student neigte dankend den Kopf und schützte seinen Strauß in der Wagenecke.

»Ein Angebinde, gelt?« fuhr der Doctor fort.

»Ein Liebeszeichen vielmehr,« versetzte der junge Mann mit einem herzinnigen Klang, der dem älteren durch die Nerven ging.

»Sie reisen auch in das Gebirge?« hob er nach einer Pause von Neuem an.

»Ja, mein Herr, zu einem heiteren, aber auch ernsten Abschluß meiner freien akademischen Zeit,« ant 239wortete der Student und der Doctor fand diese Vertraulichkeit überaus liebenswürdig.

»Sie haben jung abgeschlossen,« sagte er.

»O nein, leider mehr Zeit gebraucht, als es recht gewesen wäre.«

»Theologe vielleicht?«

»Nein, Medicina.«

»Mediciner, das freut mich.«

»Warum freut es Sie, mein Herr?« fragte lächelnd der Student.

»Hum, hum! Ich weiß nicht recht,« erwiderte der Doctor halb verlegen, »vielleicht weil ich es selber bin, Herr – –?«

»Paul,« fiel der Student ein.

»Paul?« wiederholte der Doctor betroffen; setzte aber alsobald in Gedanken hinzu: »Wird er dem ersten besten zudringlichen Frager seinen Familiennamen auf die Nase binden! Ich hätte es in meiner Jugend nicht anders gemacht.«

»Sie sind Arzt?« fragte während jenes Gedankens verwundert der junge Herr Paul. »Ich habe Sie für geistlichen Standes gehalten, mein Herr.«

»Ich dachte nicht, daß ich so viel von einem Pfarrer an mir hätte,« versetzte nun seinerseits lächelnd unser Doctor Peter Paul.

»Es war auch nicht aus diesem Grunde, sondern seltsam! weil durch Ihren Eindruck, Herr Doctor, die kindliche Vorstellung von einem mir Nahestehenden, 240 der geistlichen Standes ist, gewesen ist, meine ich, in mir aufgeweckt wurde.« –

»Eine kindliche Erinnerung soll das doch wohl heißen, Herr – Paul?«

»Nein, das heißt es leider nicht. Ich habe den Mann nie gesehen, dessen Phantasiebild Ihnen gleicht, Herr Doctor.«

Just bei dieser, unseren Peter Paul geheimnißvoll anmuthenden Gesprächswendung hielt der Wagen in jener schon aus dem Mittelalter berufenen Stadt, hart hinter welcher die Vorläufer des Gebirges sich in die gartenartig cultivirte Ebene senken. Es war die letzte Station; die Post mußte hier verlassen und die Tour in die Berge im besonderen Gefährt, oder zu Fuße zurückgelegt werden. Eines wie das andere war dem Doctor recht, wenn er nur den Namens Paul noch ein paar Stunden zum Begleiter hatte. Während er im Posthofe die Aufbewahrung seines Gepäcks anordnete, war ihm der junge Mann aus den Augen gekommen. Erschrocken sah er sich nach ihm um. Ein freundlicher Mitpassagier aus dem Innern der Postkutsche rief ihm zu: »Sie suchen Ihren Herrn Sohn?« –

Den Doctor durchfuhr's! – »Dort steht er an der Straßenecke!«

»Alter Narr! –« sagte der Doctor zu sich selbst, indem er der erhaltenen Weisung mit raschen Schritten folgte. – Eine ganz natürliche Voraussetzung!« –

Dennoch konnte er nicht wohin, beim Vorüberstreifen einen raschen Blick auf sein Spiegelbild in einer festlich 241 blanken Fensterscheibe zu werfen, um etwa doch noch einen besonderen Grund für die natürliche Voraussetzung seiner Vaterschaft zu entdecken. »Hum, hum!« murmelte er, nachdem er den Blick wieder abgewendet hatte. Er erreichte die Straßenecke, vor welcher der Student aufmerksam ein Plakat betrachtet hatte. Es war ein gestriger Theaterzettel der größeren Nachbarstadt, den Pfingstreisenden zur Anlockung wahrscheinlich auch hier veröffentlicht. Der Doctor las im Vorübereilen nur die beiden unteren Zeilen: »Morgen, am Pfingstsonntag kein Schauspiel. Montag: das Käthchen von Heilbronn.«

»Können Sie mir nicht sagen, ob morgen Frau – – (der Name entging dem Doctor, –) auftreten wird?« – hörte er den Studenten einen Bürger fragen, der vor seiner Hausthür stand.

»Man spricht davon,« lautete der Bescheid. »Es soll nicht nur ihr letztes Gastspiel, sondern auch ihr letztes Auftreten sein.«

»Sie scheinen sich sehr für das Theater zu interessiren,« sagte der Doctor spöttisch zu dem jungen Mann, den er jetzt überholte.

»Für die morgende Vorstellung wenigstens,« antwortete derselbe.

Der Doctor ging an seiner Seite die Gasse entlang durch das alte Thor. »Es scheint, wir nehmen einen Weg,« sagte er. »Sie wollen auch nach Xrode, Herr Paul?«

»Ueber Xrode; dann noch weiter, Herr Doctor,« antwortete der Student.

242 So traten sie denn mitsammen die Fußwanderung an. Der Doctor erlebte heuer den Lenz zum zweiten Male; denn hier mitten im Gebirgsthale waren Grün und Blüthe um mehrere Wochen hinter der Vegetation seiner wenn auch nördlicheren und östlicheren sandigen Ebene zurück. Und welch' ein Grün, welche Blüthe! Diese sprossenden Eichen und Buchen, diese saftigen Matten, in den Gärten diese weiß und röthlich überkleideten Apfelbäume, der Duft der Maikräuter und Blumen! Und dann die weißschäumenden Bergbäche, vom Frühlingswasser geschwellt, sich schlängelnd und krümmend, bald hinter Felsspalten verschwindend, bald keck hervorbrausend, zwischen uralten Riesenfichten über Abhänge niederstürzend. Und die kräftigen Heerden, die fröhlichen Augen und Stimmen allerorten! Unserem Doctor wurde es um's Herz so heimlich wohl wie allen anderen Gottesgeschöpfen ringsumher, wie den schlagenden Waldvögeln, den Eichkätzchen mit den listigen schwarzen Augen, wie den bunten Schmetterlingen in der Luft und den silbernen, rothgesprenkelten Forellen im Bachesgrund, ja wie den glitzernden Eidechsen sogar, die sich zwischen den Felsblöcken sonnten. Er plauderte so frei und munter mit dem jungen Kumpan, wie er seit kaum erinnerlicher Zeit nicht wieder geplaudert hatte. Der gemeinsame Beruf, die Landschaft mit ihren Gebilden, ihrer Geschichte und Cultur wurde zum anregenden, in immer weitere Gebiete führenden Stoff für den gründlich wissenden Mann und der Jüngling hörte und erwiderte 243 mit Antheil, ja mit noch lebhafterem Antheil an dem Sprecher als an den Gegenständen.

Indessen je mehr der Tag sich neigte und sie sich dem Gebirgsstädtchen näherten, in welchem voraussichtlich ihre Wege sich scheiden mußten, um so mehr zeigte der Student eine unruhige Spannung, welche das Interesse an seinem Begleiter bisher gebannt hatte. Er lenkte von einladenden Fußstegen auf die Fahrstraße zurück, spähte vorwärts und rückwärts, seufzte mehr als einmal in heller Sehnsucht auf, antwortete mit zerstreuten Mienen und Worten. »Noch so jung und schon verliebt!« dachte der Doctor und seufzte dabei noch lauter als Jener vorhin. Es packte ihn eine wahrhafte Angst, daß er das junge Blut bald und vielleicht für immer aus den Augen verlieren könne.

»In Ihrem Alter ist die Frage keine Unbescheidenheit,« wendete er sich plötzlich an den stummen Begleiter: »wie alt sind Sie, Herr Paul?«

»Vierundzwanzig Jahre,« antwortete dieser.

»Vierundzwanzig! Ich hätte Sie für jünger geschätzt,« meinte der Doctor mit einem bedenklichen »hum hum!«

»Weil ich mich bis heute in den Hörsälen herumgetrieben? Ei nun, Sie wissen am besten, welch' ein umfängliches Ding die Heilkunde ist und mein Mamachen wollte nun einmal etwas Rechtes aus mir machen. Ueberdies hatte ich einen Umweg genommen. Ich war zuvor Theolog.«

»Sie auch!« rief der Doctor aus.

244 »Meine Mutter wünschte es. Aber die rechte Stimmung wollte im Probejahre nicht kommen und so habe ich der lieben Frau länger als billig auf der Tasche gelegen.«

Dem Doctor brannte die Frage nach dem Vater, dem doch gemeinlich derlei Lasten zuzufallen pflegen, auf den Lippen. Zu rechter Zeit fiel ihm jedoch der Widerwille ein, mit welchem er eine ähnliche Neugier den Mitjunggesellen im großen König so oft zu pariren gehabt hatte; er schluckte die Frage hinunter und lud dahingegen den Gefährten zur verspäteten Mittagsrast in einem freundlichen Wirthshause, an dem sie just vorübergingen, ein.

»Sie dürfen es einem alten Collegen nicht abschlagen, sein Gast zu sein,« sagte er, ihm die Hand reichend.

»Von Herzen gern,« versetzte der Student. »Nur bitte ich, daß wir unser Mahl hier im Freien halten, wo sich die Straße übersehen läßt.«

Der Doctor war einverstanden; bald saßen sie in einer duftenden Jelängerjelieberlaube, vor einem wohlbesetzten, wenn auch ungedeckten Tische. An einem klaren Rheinwein fehlte es in der Touristenzeit nicht; auch einem Producte der Gegend, dem berauschenden Birkenwasser, wurde in Ermangelung fränkischen Schaumweins erquickend Zuspruch gethan; der Doctor erinnerte sich in seinem Leben keines so frohseligen Zechgelags. Der Andere dahingegen blickte je mehr und mehr gedankenvoll in die Ferne oder schnitzte nach Studentenart in den ländlichen Holztisch einen Namen.

245 Ein letzter schräg fallender Sonnenstrahl vergoldete das Laubengrün. Der Student sprang auf. »Ich muß mich jetzt empfehlen und einen rascheren Schritt einschlagen als bisher,« sagte er mit herzlichem Klang, indem er seinem Gastgeber die Hand drückte. »Ich danke Ihnen, Herr Doctor. In meinem Leben werde ich diesen Pfingsttag nicht vergessen.«

Der Doctor blickte sprachlos vor Schreck vor sich nieder. Sein Auge fiel auf die Buchstaben, welche Freund Paul in den Tisch geschnitzt hatte; vielleicht, daß er dessen Familiennamen entdeckte. Aber wie neulich Abend beim Schluß von des Rectors Liebesapologie entrang sich jach ein leiser Schrei seiner Brust. Zwei zierliche Lettern und von der dritten nur der erste Strich. »Ev –Eva?« rief er, als eben der junge Mann durch die Gartenthür entsprang. Er rannte ihm nach, rief seinen Namen »Paul!« aber schon war der Leichtfüßige zwischen Hecken und Häusern verschwunden.

Der Doctor ging traurig nach dem Hause zurück, bezahlte die Zeche, holte aus der Laube seinen Hut und blickte noch einmal auf die beiden Buchstaben im Tisch. »Eva!« seufzte er und setzte seine Wanderung fort.

*

Ach, welch' ein Segen für einen reisenden Junggesellen ist ein junger Gesell! Das Thal in welches unser Doctor einlenkte, wurde immer reizvoll romantischer; immer schroffer und zackiger stiegen die Felsen in die Höhe, immer schäumender stürzte der Bach, immer 246 majestätischer ragten und verästeten sich die Föhren, immer mahnender drängten sich die Sagen aus alter, uralter Zeit; aber immer tiefer sank sein Herz; die Stirn furchte sich immer finsterer, immer schwerer rang der Athem. Hier saß er auf einem Felsblock, dort auf einem Baumstumpf und fand doch keine Ruhe. Das Wegstündchen thalauf bis zu seinem Ziel dehnte sich, – er merkte nicht wie lange. Kein Begegner störte ihn; die Festreisenden hatten ihre Herbergen erreicht. Die Sonne war längst hinter den hohen Gipfeln gesunken, der volle Mond lugte gleich einem Todtenangesicht hinter einer Klippe hervor und beleuchtete tageshell das dunkle Holzkreuz auf der Felsenplatte gegenüber. Kein Reisender durchwandert das Thal, ohne jene Platte, den »Altan«, zu besteigen und zwischen den Porphyrhallen der Grotte, welche darunter ihren Eingang hat, ein weitschallendes Echo aufzurufen. Auch unserer Wanderer betrat den Steg, der über den Bach nach dieser Grotte führt; halben Wegs aber schauderte er, zitterte und lenkte seinen Schritt rückwärts; der Mond ward von der Klippe verdeckt es war plötzlich Nacht geworden, Nacht auch in seiner Seele.

Eine kurze Biegung und der Thalkessel erweitert sich; Lichter flimmerten aus dem kleinen Gebirgsdorf, des Wanderers Schritte wurden munterer. Der Mond hatte wieder Raum gefunden; wie versilbert hoben sich die Häuser gegen die schwarzen Tannenhänge ab. Da lag das Pfarrhaus, weiter in der Höhe die Kirche, dicht neben ihr, nur durch den Garten getrennt, die freund 247liche Schenke. Die Fenster der Unterstube standen geöffnet; lärmende Stimmen drangen heraus. Der Doctor warf einen Blick auf die zechenden Pfingstgäste: junges Volk, Schüler, Studenten mit bunten Kappen und langen Troddelpfeifen; sein Student war nicht bei dem lustigen Commers.

Der Doctor fand nur mit Mühe noch Nachtquartier in einem Kämmerchen des Gartengiebels, bestellte sich ein Abendessen hinaus, er berührte es aber nicht; wie zum Tode erschöpft, sank er auf den einzigen Schemel und saß regungslos lange, lange. Die Knarre des Wächters mahnte nicht zum erstenmale die Zecher zur Ruhe; Einer nach dem Anderen tappte wohl die hölzerne Stiege hinauf in seine Kammer; aber noch immer jubelte unten ein lustiger Chor, und unser Freund saß oben in dumpfer Versunkenheit.

Endlich erhob er sich; die Schwüle des niederen Raumes beklemmte seine Brust. Er öffnete das Fenster; die Gegend lag hell im Mondenlicht; am Horizonte ragten die Kuppen deutlich wie mit dem Griffel gezeichnet, vor ihnen die bewaldeten Geschiebe bis zu den armen Höfen des Dorfes hinab. Des Doctors Auge hing gebannt an der Kirche drüben auf dem Hügel, ringsum der Friedhof, der sich mälig senkte bis zu den Gärten des Pfarrhauses und der Schenke. So nahe grenzen Ernst und Lust auch auf den Aeckern aneinander. Als er endlich aufblickte, waren unten die Stimmen verklungen auf der gemeinschaftlichen Streu; die Lichter verlöscht. Rings 248 nicht ein störender Hauch in der feierlichen Stille der Berge.

Da plötzlich regt sich's. In der Gartenlaube zu seinen Füßen gleitet es wie Schatten. Flüsternde Stimmen, ein leises Schluchzen, dann wieder ein frohes, goldhelles Lachen! Dem Lauscher am Fenster rieselt's bei dem Klang über den Leib; ihn schwindelt; auf seiner Stirn tropft kalter Schweiß; er stützt den Kopf gegen die Brüstung.

Aus der Laube treten zwei Gestalten; ein Mann in hellem Käppchen und kurzer Pekesche, schlank der Wuchs, elastisch der Gang und an seiner Seite ein kleines elfenartiges Weib; sein Arm ist um ihren Leib geschlungen, ihr Kopf an seine Schulter geschmiegt, ihre beiden Hände ruhen in den seinen; das weiße Gewand flattert leicht bei der schwebenden, vogelleichten Bewegung. So schreiten sie langsam den Gang zwischen den blühenden Fruchtspalieren hinunter und verschwinden im Hintergrunde der Hecken.

Aber das ist Hallucination; Täuschung des Bluts, der Nerven, grübelnder Erinnerung; Wirkung des Birkensafts, ein Spuk dieser Hexengegend! Peter Paul ist kein Phantast, er ist Arzt. Er reibt sich die Stirn, geht zum Tische, trinkt ein Glas Wasser und geht an das Fenster zurück. Keine Spur im Garten unten; alles still wie vor zehn Minuten. Er späht und starrt – vergeblich, keine Spur!

Sein Blick kehrt zurück zum Kirchenhügel und da, da, – ist es auch ein Spuk? da tauchen sie wieder auf, die beiden behelligenden Gestalten. Der Doctor, ohne Hut, 249 fliegt wie ein Pfeil aus der Kammer und die Treppe hinab in den Flur; die Thür zum Garten ist nur angelehnt; er wirft einen Blick in die Laube; eilt den Spaliergang hinunter bis zur Hecke; auch hier eine offene Thür; er späht rückwärts, vorwärts, soll er noch weiter?

Zagend steht er eine Weile auf dem Wege zwischen Garten und Friedhof. Der Hollunderzaun ist verwildert; von keiner Pforte geschlossen; endlich tritt er ein, geht scheu den einzigen, schmalen, von Gras und Ranken überwucherten Pfad entlang bis zur Kirche, er preßt den Athem ein, er hätte seine Schritte dämpfen mögen; er lugt und lauscht nach allen Seiten: keine Spur, kein Laut, keine Regung!

Er war ein Narr, das Gesicht in der Laube wirklich nur eine Hallucination! jetzt wußte er's; er dachte umzukehren, denn was er sonst wohl noch auf diesem Hügel zu suchen hätte, wer soll ihn führen, wo soll er's finden mitten in der Nacht? Morgen, morgen!

Schon hat er sich gewendet, als sein Blick dicht an der Kirchenthür auf eine Grabplatte fällt; das einzige Gedenkzeichen in dem ärmlichen Gehege, im Monde glänzend, wie geschliffener Stahl. Zögernd nähert er sich Schritt für Schritt, mit goldenen Lettern springt es in seine Augen: »Doctor Peter Paul,« und über dem Namen liegt auf der Platte ein frisch duftender Rosenstrauß. Der, welcher auch Peter Paul heißt, sinkt wie vernichtet zusammen und mit dem Gesicht auf den duftenden Strauß.

250 Was mögen das für Schatten gewesen sein, alte, mühsam gebannte Schatten, die in diesen Minuten, auf diesem Grabe an seiner Seele vorüberziehen! Der stilllässige alternde Mann, er stöhnt wie ein Kind und als er sich endlich beim Rufe des Wächters von seinen Knieen erhebt, da gleiten Zähren über die kalten, grauen Wangen. Dennoch, dennoch: der herbste Krampf des Herzens, er zitterte nicht nach dem Manne, der unter diesem Steine schlief, er zitterte nach der Hand, die diesen Stein in der nämlichen Stunde mit Rosen geschmückt hatte.

Der Wächter kam heran, vor der Kirche die letzte Nachtstunde abzusingen. Der seltsame Gast auf dieser Stelle befremdete ihn nicht; er war an weit wunderlichere Touristenlaunen, als an einen Spaziergang im Vollmond nach dem malerischen Kirchlein im Gebirgsdorfe gewöhnt. Als der Doctor ihn mit mühsamer Fassung anredete:

»Wer hat den Stein dort oben vor der Kirchenthür errichten lassen, Freund?« da antwortete er gleichmüthig: »der Stein da oben, je nun, der stammt noch von Pastors Evchen, lieber Herr.«

Der Doctor fuhr bei den Worten zusammen, als hätte ihm Einer ein Messer in die Brust gestoßen. »Eva! wo ist Eva?« schrie er auf und packte des Alten Arm.

Der schüttelte verwundert den Kopf. – »Wo die ist?« sagte er dann. – »Wo die ist? Gestorben, verdorben, Gott weiß es, Herr. –«

»Aber der Stein und der Strauß darauf, Mann?«

251 »So, liegt ein Strauß darauf? Nun, vielleicht von Einem der Schenkgäste drüben. So was kommt vor in Sommerszeiten, oder auch vom Herrn Pastor, weil's eben Pfingstfest ist und er den Stein ja auch seinem Amtsbruder hat setzen lassen. Das Evchen hatte das Geld dazu geschickt aus fremden Landen, keine Seele weiß woher. Aber aus einem Blocke aus der Grotte unten sollte er gehauen werden, und das ist geschehen, Herr, es ist wohl schon an die fünfundzwanzig Jahre. Und keine Seele hat wieder etwas von dem Evchen gehört und gesehen. Ganz natürlich, Herr. Unsere Leute sagten, sie wäre zu den Hexen zurückgekehrt, von denen sie gestammt. Aber dummes Zeug, Herr! Man spricht's nicht gerne nach, aber wem schadet's heute noch? Sie ist mit den Franzosen durchgegangen, Herr. Eine curiose Geschichte, Herr!«

Der Doctor hatte keine Lust, sich die curiose Geschichte, zu welcher der Alte schon aushob, erzählen zu lassen; er drückte ein Geldstück in seine Hand, schlug einen Seitenweg ein und rannte querwaldein in die Berge.

Als er nach länger als einer Stunde zurückkehrte, glaubte er sich gründlich zu Ruhe und Vernunft zurückgebracht zu haben. »Ich hätte es mir denken können, ehe ich die Reise unternahm,« sagte er zu sich selbst. »Es geht Einem mit bösen Erinnerungen, wie dem Zauberlehrling mit den Besen. Man bindet schlummernde Geister los und kann sie nicht wieder bändigen.«

Er schritt während dieser Gedanken die Dorfstraße abwärts längs des Gartenzauns seiner Schenke zu: Noch 252 zwanzig Schritte und er hätte die Thür erreicht und sich auf's Ohr gelegt, wie alle Tage. Ja, er hätte!

Aber alter, zur Ruhe geredeter Knabe, warum schreckst Du denn so jach wieder zusammen, blos weil längs der Gartenseite des Zaunes ein rascher, elastischer Schritt, dem Deinen parallel sich dem Hause zubewegt? Ein verspäteter Wanderer wie Du selbst, was ist da zu starren? Warum fliegt es Dir denn durch das Herz wie ein Brand, blos weil eine jugendliche Stimme drüben am Zaun ein Liedchen zwischen den Lippen summt? Warum stehst Du still und horchst und hörst in der klaren Luft jeden Laut?

»Was schiert mich doch der Vater mein, der Vater mein?
Ich habe ja ein Mütterlein, ein Mütterlein so traut und fein,
Mein Mütterlein!«

»Ein albernes Volkslied! was denn sonst? Wenn ein altes Weib in dieser Nacht gemeckert hätte: ›Gestern Abend war Vetter Michel da,‹ es würde Dir nicht weniger apprehensiv geklungen haben.«

Und doch, Narrethei und kein Ende! und doch lugst Du an einer Lücke des Zaunes und siehst hinüber nach dem Sänger. Wunderlicher Doctor, was kannst Du denn noch deutlich erspähen? Der Mond verschwindet hinter den Bergen früher und der Tag graut später als bei Dir im flachen Land. Das, was Du für eine Pekesche hältst, kann ebenso gut ein Kittel und das helle Käppchen eine Zipfelmütze sein. Was rennst Du denn wie ein Besessener dem fremden Menschen nach? Athemlos langst Du im Hause ja doch nur an, als von der anderen Seite 253 ein flinker Schritt die dunkle Stiege in die Höhe springt. Warum setzest Du wie der Hund dem Hasen hinterdrein? Nun bist Du oben, Du streckst Deine Arme aus – die Thür neben Deiner Kammer wird zugeschlagen, der Riegel von innen vorgeschoben. Da stehst Du! Es ist Dir schon recht. Wie viele in kurzer Pekesche und hellem Käppchen schlafen da unten auf der Streu. Warum soll's just der sein? Oder warum der nicht?

Der Doctor wollte Ruhe haben, wollte sich von keinen Hallucinationen, von keinen Erinnerungen und Erwartungen mehr narren lassen; er stürzte hastig ein Paar Gläser Wasser hinunter, zog sich aus und legte sich regelrecht zu Bett.

Er drückte die Augen zu und rückte den Kopf von der Wand, um nur ja kein Geräusch in der Nachbarkammer zu vernehmen, er würde die Ohren zugestopft haben, wenn sich drin etwas Lautes geregt. Ja, hätte er nur nicht gerade um so ängstlicher gespannt und gespürt, weil eben Nichts sich darin regte, hätte ihm nur nicht um so neckischer das alberne Volkslied vor den Ohren gestimmt, wäre er nicht alle Augenblicke in die Höhe gefahren nach einem Flüstern und goldhellen Lachen. Verlorner Ruhe Müh'! Je stiller es in der Kammer blieb, desto geschäftiger schwirrten unter den geschlossenen Lidern die Phantome, die kein Meisterspruch bannt. Erst als die Sonne längst schon hell in die Scheiben fiel, behauptete die gesunde Natur ihr Recht und so gründlich, daß bei aller Unruhe im Haus der Schläfer nicht früher 254 erwachte, bis die Glocken zur Feier des zweiten Pfingsttages riefen.

Er sprang auf, vergaß zum erstenmale seit fünfundzwanzig Jahren die kühlende Braminenwaschung, warf die Kleider über und eilte aus der Kammer. Die Nachbarthür stand offen, der Vogel war ausgeflogen. Er fragte die das Bett machende Wirthin, wer die Nacht darin geschlafen habe?

»Ein Student;« lautete die Antwort.

»Und nicht – eine Dame?« – der alte Junggesell hatte wahrhaftig alle Scham und Schande verloren, aber er wurde doch wenigstens roth über das ganze Gesicht.

»Eine Dame im ganzen Hause nicht.«

»Und wohin ist der Student?«

»Lange schon fort wie die andern in die Berge.«

Der Doctor stieg seufzend die Treppe hinunter; als die Glocke zum zweitenmale läutete, stand er schon, von einer uralten Linde verborgen, hinter der Grabplatte des Doctor Peter Paul und musterte die Kirchgänger, die mit der Andacht von Bergleuten sich weither zum Gottesdienste sammelten. Kein altbekanntes Gesicht! Der Prediger kam, ein Greis, der Schulmeister hinter ihm drein, fast noch ein Jüngling, – beide ihm fremd. »O heil'ger Geist, Du Tröster mein!« hob es drinnen an. Der Doctor wollte auch in die Kirche gehen. Er trat unter die Pforte; ihm gegenüber stand der kleine Altar, zur Seite die alte Kanzel; sein Fuß stockte wie von einem heimlichen Banne gehemmt, ein Frösteln rieselte über seinen Leib, er kehrte um und ging in die Berge.

255 Hoch oben auf den Kuppen, da wurde ihm wieder frei und wacker um's Herz; er frühstückte in der ersten besten Bauernhütte: Schwarzbrod und Ziegenmilch, heute hatte er keine Congestionen zu befürchten. Als die Sonne Mittag wies, betrat er, ganz der alte, gelassene Doctor Peter Paul, von steilen Felsenpfaden abwärts klimmend, den Altan über der Echogrotte, vor deren Eingang sein Fuß diese Nacht gestrauchelt hatte. Er nahte sich dem Kreuz, auf welches gestern der Mond »gleich einem Todtenangesicht« geblickt; heute brannte die Mittagssonne darauf nieder. Es war ein niedriges, rohes Holzkreuz, wie es in allen Gebirgen zur Erinnerung und Warnung aufgerichtet wird; die eingegrabenen Lettern bezeichneten noch deutlich den Unfall des Doctor Peter Paul: † den fünften Mai 1809.

Der gegenwärtige Doctor Peter Paul hatte diese Erinnerung nicht gescheut, sondern gesucht; er saß sinnend auf der Schwelle des Kreuzes, von Schatten umweht, die er lange Jahre in der Fläche des Alltagslebens eingedämmt hatte. Rings war es seelenstill; der Schwarm der Pfingstgäste hatte, recht ihm zu Gefallen, heute Morgen einen andern Zug gewählt als nach der Echogrotte. Der einsame Grübelfang schien mit sich in's Reine und zur Ruhe gekommen.

Aber jählings prallt er in die Höhe. Was ist das? Unter seinen Füßen, aus den Eingeweiden der Erde wie aus Geistermunde rollt ein Name und hallt zurück von allen Felsenklippen des Thales.

»Eva, Eva, Eva, va, a, a!«

256 Der Mann auf der Platte stand wie vernichtet; das heißt einen Moment; im nächsten lächelte er, aber mit einem bitteren Lächeln, das seinen Lippen sonst nicht eigenthümlich war. »Das Echo!« sagte er. »Der Name ist zur Fabel der Führer geworden. Sie lassen ihn schallen wie einen Pistolenschuß. Das Volk hat Hunger auf derlei Historien. Ein Wunder, daß die Höhle nicht längst die Evahöhle heißt. Alle Sagen sind auf diese Weise entstanden.«

Diesem Vernunftschluß zum Trotz ging der Doctor mit ziemlich unsicheren Schritten bis zum Rand der Platte und beugte sich über das Geländer, welches seit dem auf dem Kreuz bezeichneten Unfall den schwindelnden Wanderer vor einem Sturz in die Tiefe schützt. Mit halbem Leibe hing er sich hinüber, um den Eingang der Grotte zu erspähen – und mit aller Vernunft unseres Doctors war es nach diesem Blicke wieder vorbei.

Dicht vor der Wölbung der Grotte saß auf einem rohen Blocke eine weißgekleidete Frau, das Gesicht von einem breitrandigen Strohhute beschattet, die Hände im Schooß gefaltet und den Kopf tief auf die Brust gesenkt; aus der Grotte aber trat mit munterem Schritt ein junger Mann in Käppchen und Pekesche, – sein Student! Er war es, der das Echo hatte erschallen lassen. Jetzt blickte er mit liebreicher Miene auf die sitzende Frau, kniete vor ihr nieder, schlang seinen Arm um ihren Leib und schmiegte den Kopf an ihre Brust. Sie streichelte mit feiner Hand seine blühenden Wangen, sein lockiges Haar, sie flüsterten mit einander; der heimliche Lauscher 257 auf der Platte, dem keine Geberde entging, der seinen Athem in sich preßte und die rasch klopfenden Pulse hätte unterdrücken mögen, o, daß er dieses Flüstern verstehen könnte!

Nach kurzer Weile wand sich die Frau aus des Jünglings Armen, erhob sich rasch und wendete sich thalab; die kleine elfenartige Gestalt aus der nächtlichen Laube, derselbe schwebende vogelleichte Gang. Der Student ging an ihrer Seite; sie reichte ihm die Hand und deutete mit der anderen nach der Richtung des Dorfes; dann riß sie sich los; er ihr nach; sie flog in des Jünglings ausgebreitete Arme, schlang die ihren um seinen Hals, riß sich dann von Neuem von ihm los und eilte leicht wie eine Gazelle vorwärts; beide verschwanden hinter Gestrüpp und Klippen.

»Eva!« schrie der Doctor, der regungslos, wie in den Boden gewurzelt, gestanden hatte. Keine Antwort, nickt einmal das Echo. Erst ein Peitschenknall und das Rollen eines sich entfernenden Wagens weckten ihn aus seinem Traume, der ihm ein Stück versteinerter Vergangenheit belebt hatte.

Ja, er erwachte; er rieb sich die Augen; es war Mittag; er hatte nur Ziegenmilch getrunken. Noch einmal warf er den Blick über die Brüstung; auf dem Stein vor der Grotte saß der Student allein und schlug sich Feuer, um ein Pfeifchen anzuzünden. Der Doctor lachte hell auf. Des Studenten verfängliches Gebahren während der Wanderung fiel ihm ein. »Ein Rendezvous, eine Liebschaft!« murmelte er. »Die Nacht in der 258 Laube und jetzt am hellen Mittag – –« Eine dunkle Röthe flammte über sein Gesicht; eine Zornesader schwoll auf der Stirn, die Augen funkelten. »In den Stricken eines Weibes und noch Student,« knirschte er, indem er so unvorsichtig als möglich die steilen Stufen, die seitwärts vom Altane in das Thal führen, niedersprang.

Die junggesellische Anwandlung kühlte sich zwar auf der halsbrecherischen Treppe ein Merkliches ab; dennoch lenkte er nicht stracks nach dem Dorfwege ein, sondern bog um den Vorsprung und stand plötzlich vor dem Gesellen, der bei der unerwarteten Begegnung erröthend in die Höhe fuhr. »Warum erschrecken Sie, junger Mann?« fragte er mit gerunzelter Stirn.

»Weil Sie wie aus der Erde wachsen, Herr Doctor, just als ich so herzlich an Sie dachte,« antwortete der Student, ihm die Hand bietend.

Der Doctor schlug nicht ein; er machte eine abwehrende Bewegung, ein schier beleidigtes Gesicht und versetzte herbe: »An mich dachten Sie, Herr Studiosus? Warum diese Unwahrheit? Sie dachten an eine ganz andere Person.«

Der Student hatte ihn mit großen verwunderten Augen angesehen; nun lächelte er und sagte: »Aha! Sie haben gelauscht, Herr Doctor? – Nun ja, ich dachte an eine Andere, aber wahrlich! gleichzeitig auch an Sie. Wie Sie Beide sich so auf einmal zu einander fanden, weiß der Himmel!«

259 Der Doctor stand eine Weile gedankenvoll im Anschauen des Jünglings verloren, dann ergriff er seine Hand und sprach milder als zuvor, aber mit großem Ernst: »Nun denn, junger Freund, wenn Sie des fremden Mannes gedachten, dem Sie bei flüchtigem Zusammentreffen eine aufrichtige Theilnahme eingeflößt haben, so nehmen Sie sein Wiederbegegnen hier an dieser Stelle – –« der Sprecher schauerte leise zusammen, der Hörer schüttelte den Kopf, als vernähme er Räthsel, »an dieser Stelle für eine warnende Fügung. Sie scheinen über gewisse Dinge sehr leichtfertig hinwegzugehen, junger Mann; die Person, die Sie, eben verließ, schien Ihnen sehr – sehr nahe zu stehen – –«

»Einzig nahe!« unterbrach ihn der Student mit innigem Ton.

»Ihnen sehr – sehr werth zu sein – –«

»Lieb über Alles,« rief Jener aus.

Der Doctor seufzte, er stockte, dann fuhr er kaum hörbar, stammelnd oder zitternd fort: »Diese Nacht in der Laube – antworten Sie mir, – waren Sie es – war es sie

»Warum soll ich es läugnen?« antwortete immer verwunderter der Student. »Ich war es, sie war es, ja, Herr Doctor.«

»Und Sie erröthen nicht?« brauste der Doctor auf. »Sie lächeln darüber, Paul, – so heißen Sie ja wohl? Sie sind noch so jung, Sie sind noch Student und Sie – verführen ein Weib!«

260 In des Studenten Zügen hatten bei dieser unerwarteten Strafrede, Aerger, Rührung und Heiterkeit mit einander gekämpft. Aber die gute Laune siegte. Er lachte hellauf. »Beruhigen Sie sich, Herr Doctor,« versetzte er, »das Weib, das ich verführt haben soll, hahaha! es ist« – – des Doctors Augen hingen wie in Todesangst an seinen Lippen – – »es ist – mein Geheimniß vor der Hand.«

Damit lüftete er das Mützchen und wendete sich, noch immer lachend, leichten Schrittes dem Dorfe zu. Der Doctor schlug sich mit der geballten Faust vor die Stirn. »Läppischer Pedant!« murmelte er. »Er lacht Dich aus wie den Hofmeister in der Komödie. Der Spuk dieser Erinnerungen hat Dich auch noch um das Restchen leidlicher Lebensart gebracht!«

Er warf einen scheuen Blick in die Grotte, setzte sich einen Augenblick auf den Block davor; sprang aber rasch wieder auf und ging geflissentlich langsam nach seiner Schenke zurück.

Auf dem Wege begegneten ihm die Kirchleute, schon vom Nachmittagsgottesdienst heimkehrend; in der Wirthsstube hatten die Gäste abgetafelt und waren wieder ausgeflogen. Er saß allein und aß; ohne Appetit, aber er saß und überflog dabei die letzten Blätter des Fremdenbuches, in welchem die gestrigen Herberger ihre Namen mit obligaten Sinnsprüchen verewigt hatten. Einer, der Paul hieß, stand nicht in der Reihe; freilich, der, welcher Paul hieß, hatte Anderes zu thun gehabt, als Studentenwitze zu machen.

261 Der Doctor warf das Buch bei Seite, schlang den letzten Bissen hinunter und sprang auf. Er war nicht wie ein Hansnarr in die Berge gerannt, um sich über einen wildfremden Studenten zu Schanden zu ärgern und obendrein ausgelacht zu werden; auch nicht, um sich durch sentimentale Reminiscenzen toll und mürbe machen zu lassen. Um eines positiven Zweckes willen hatte er wohlüberlegt die Reise in das Gebirgsdorf angetreten. Die Sache ein für alle Mal abzuschließen und noch heute Abend nach seiner ruhigen Heimath aufzubrechen, ging er hinüber in die Pfarre.

Das Haus stand offen; der Doctor blickte sich mit einer scheuen Neugier nach allen Seiten um; war ihm doch, als ob aus jedem Fenster, jeder Thür er einem bekannten Gesichte begegnen müsse. Aber Niemand begegnete ihm; er trat über die Schwelle, klopfte leise an die Thür, die er in das Wohnzimmer führend glaubte; kein Herein; er öffnete die der Küche; Niemand drin; nirgend ein Dienstbote, der ihn anmelden konnte. Der Pfarrer war, nach der kahlen Einrichtung zu schließen, ohne Familie. Dem Doctor fiel ein, daß er vergessen hatte, nach seinem Namen zu fragen. Er hätte umkehren mögen. »Aber was thut der Name?« dachte er, »je fremder, je besser.«

Er stieg die Treppe hinan; Stufe für Stufe pausirte er, griff mit der Hand nach dem Herzen, wie um einen Krampf oder gewaltsamen Schlag zu hemmen. Oben klopfte er entschlossen an die erste beste Thür. Erst jetzt hörte er drinnen unterredende Stimmen; er will ent 262fliehen, da, rasch wird die Thür geöffnet. »Auf morgen denn!« sagt eine wohlbekannte Stimme und ihm gegenüber steht der – Namens Paul.

Die beiden Männer prallten verlegen, fast erschrocken vor einander zurück, dann grüßt der jüngere und springt leicht die Treppe hinunter.

*

Der alte Pfarrer hatte unter der Thür die kleine Scene beobachtet und mit sichtlicher Ueberraschung die Züge der beiden sich Begegnenden verglichen. Jetzt lud er den Neuangekommenen freundlich zum Eintritt ein. Der seltsame Blick, den derselbe durch sein einfaches Studirzimmer schweifen ließ, entging ihm nicht; er wartete ruhig, bis sein Gast sich zu einer Einführung gesammelt hatte.

»Die Eindrücke dieser Gegend,« so hob der Doctor endlich mit mühsam bewältigter Erregung an, »haben die Erinnerung an eine nahestehende Person in mir aufgefrischt, die einst hier heimisch war und über deren ferneres Schicksal ich möglicher Weise durch Sie, Herr Prediger; Auskunft erhalten könnte.«

»Ich stehe zu Diensten, mein Herr,« versetzte der Pfarrer, indem er seinen Besucher auf einen Platz am Fenster nöthigte und sich selber ihm gegenüber setzte. Der Doctor fuhr fort:

»In Halle studirte meiner Zeit ein junger Theologe, der Sohn eines Vorgängers in Ihrem Amte – –«

263 Der Pfarrer unterbrach ihn mit dem Ausruf: »Curios!«

»Sie wundern sich« über diese Nachfrage, Herr Prediger?« sagte lächelnd der Doctor. »Es ist freilich eine Weile her. Länger als ein Vierteljahrhundert.«

»Sie irren, lieber Herr,« versetzte der Greis. »Die Nachfrage nach einem Zeitgenossen nimmt mich keineswegs Wunder. Wollte Gott, ich wüßte Einen oder den Anderen, nach dem ich mich hienieden noch umthun dürfte. Je einsamer wir werden, desto sehnsüchtiger greifen wir in die Erinnerung zurück. Nur, daß diese längst erwartete Nachfrage nach fünfundzwanzig Jahren zum ersten Male an mich gerichtet wird, und in der nämlichen Stunde noch von einer anderen Seite – –«

»Noch von einer anderen Seite?« rief der Doctor betroffen.

Der Prediger, die gutmüthigen blauen Augen durchdringend auf sein Gegenüber geheftet, fuhr fort: »Leider habe ich dem jungen Manne, der mich eben verließ – Sie kannten ihn wohl, mein Herr?«

»Eine flüchtige Reisebegegnung,« stammelte der Doctor.

»Ein warmherziges junges Blut, um das ein Vater zu beneiden wäre,« warf der Andere hin. »Leider wie gesagt, habe ich Ihnen, wie ihm keine tröstlichere Auskunft zu geben, als daß der Studiosus Peter Paul seit Ende Junius 1809 ohne jegliche Spur für seine Heimathsgenossen verschollen ist. Ich selber, erst im Mai des darauffolgenden Jahres in die Pfarrstelle seines Vaters, des 264 Doctor Peter Paul, eingeführt, habe den jungen Mann nicht gekannt.«

Die Anfrage wäre damit erledigt gewesen, da der Fragesteller aber zögerte, als ob er sich auf eine neue Wendung besänne, kam ihm der Greis nach einer Pause mit warmer Herzlichkeit zu Hülfe.

»Wenn ich indessen sage, ich habe ihn nicht gekannt, mein lieber Herr, so meine ich damit nur, daß ich ihn niemals von Angesicht gesehen. Von ihm gehört, gesprochen habe ich um so mehr; sein Bild mir ausgemalt und sein Schicksal im Herzen getragen, wie das eines leiblichen Kindes.«

»Ich danke Ihnen,« sagte der Doctor bewegt, indem er seine Hand über den Tisch reichte; der alte Herr drückte sie und schien die Verlegenheit nicht zu bemerken, die nach diesem verrätherischen Ausfall sich seines Gastes bemächtigte.

»Ich hatte einen Sohn, einen einzigen Sohn,« fuhr jener fort, »der schon von den Alumnenjahren her der brüderliche Freund des erwähnten jungen Mannes gewesen war – –«

»Sein Name – Ihr Name, Herr Pfarrer?« stammelte der Doctor.

»Mein Name ist Kaiser,« antwortete ruhig der alte Mann.

Der Doctor fuhr von seinem Sitze in die Höhe und rief: »Leonhard Kaiser!«

»Leonhard, ja so hieß mein lieber Sohn,« versetzte 265 der Prediger. »Da Sie ein Universitätsfreund des jungen Paul gewesen sind, Herr – –«

»Doctor – Peter – aus X.,« sagte leise der Doctor mit niedergeschlagenen Augen.

Der Pfarrer verbeugte sich. »Doctor medicinae vermuthlich?«

Der Andere neigte schweigend den Kopf.

»Nun, ich wollte sagen, da Sie ein Universitätsbekannter des jungen Paul gewesen sind, wird Ihnen dessen Special, mein Sohn, nicht unbekannt geblieben sein.«

»Er war mein Freund,« flüsterte der Doctor.

»Und so wissen Sie wohl auch, wie früh seinem Vater in ihm das höchste Lebensglück entrissen worden ist? Noch vor Ablauf des herben Enttäuschungsjahres 1809.«

Der Doctor neigte noch einmal schweigend das Haupt. Eine lange Weile schien ihm die Kraft zu fehlen, es wieder in die Höhe zu heben. Vor seinen Augen schwamm es wie ein Flor. Der alte Beobachter ihm gegenüber blickte mit einem Ausdruck von Lust auf jedes Zeichen seiner tiefen Bewegung.

»Nun, Herr Doctor,« fuhr er nach einer kleinen Stille fort, »mein lieber Leonhard war der Vertraute, der einzige Vertraute des Verhängnisses, welches die Familie seines Freundes an einem und dem nämlichen Tage, am fünften Mai des Jahres 1809, aus ihrer Heimath getrieben hat, in Irrung und Irre, – in den Tod; dieses Verhängniß erfüllte sein Herz noch zwischen den Wahngebilden des Fiebers; 266 der Name Peter Paul war der letzte Hauch auf seinen sterbenden Lippen.«

Der Doctor griff noch einmal hastig, diesmal ohne Scheu, nach des Greises Hand und neigte seine feuchtschimmernden Augen darauf nieder. In denen des Pfarrers strahlte eine sieghafte Gewißheit. Nachdem der Andere seine Hand wieder frei gelassen hatte, stand er auf, machte einen raschen Gang durch das Zimmer, nahm dann entschlossen eine Brieftasche zur Hand, die auf seinem Pulte bereit lag und sagte, zu seinem Platze zurückkehrend:

»Ich habe die Correspondenz des jungen Paul mit meinem Sohn bewahrt, zugleich als eine theure Hinterlassenschaft und als Document für eine lange vergeblich ersehnte Aufklärung, und wenn ich billiges Bedenken tragen müßte, dem jüngeren Nachfrager vorhin, den Inhalt dieser Briefe mitzutheilen, Ihnen, Herr Doctor, einem Zeitgenossen, einem Freunde, glaube ich ihn nicht vorenthalten zu dürfen.«

Der Doctor machte mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung; er sprang in die Höhe, als wolle er diesen Erinnerungen entfliehen. Der alte Pfarrer legte die Hand auf seine Schulter und führte ihn nach seinem Platze zurück:

»Ueben Sie Geduld, lieber Herr,« sagte er lächelnd. »Gönnen Sie einem Greise die seltene Wohlthat mit Einem und von Einem zu sprechen, den sein einziges Kind lieb gehabt hat. Lassen Sie sich von mir in einen Zusammenhang zurückversetzen, der Ihnen vielleicht unklar geblieben oder mißdeutet, oder unter neueren Eindrücken entschwunden ist. Dem einsamen 267 Bewohner dieser Berge, dieses Hauses steht jenes Zusammenhang vor der Seele, als hätte er lebendig in demselben eingegriffen, ja, – als griffe er zur Stunde in ein Lebendiges hinein.«

Was sollte der Doctor thun? Er, der sich in seinem Berufe und in den Abendversammlungen des großen Königs an gelassenes Zuhören gewöhnt hatte und dem der eigentliche Zweck seiner Reise ja noch unerledigt auf dem Herzen lag? So gern er über alle Berge entwichen wäre, er setzte sich nieder und horchte auf die Geschichte des Studiosus Peter Paul und auf die Katastrophe vom fünften Mai 1809.

 

(Die Fortsetzung dieser Erzählung folgt im dritten Bande.)

 

 

Dritter Band.

1

IV.
Des Doctors Gebirgsreise.

(Fortsetzung.)

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»Mein Vorgänger im Amte,« so hob der Prediger an, »stammte aus dem engen Umkreise dieser Berge. Großvater und Vater hatten, mit der deutschen Stetigkeit früherer Jahrhunderte, auf den einzigen Sohn den gleichen Namen und die Pfarrstelle des nämlichen Dorfes vererbt. Weit über dessen Umschränkung hinaus jedoch, hat der Doctor Peter Paul den Ruf eines ungewöhnlichen Mannes hinterlassen, nicht nur als Prediger urkernigen Gehalts, sondern mehr noch als Seelsorger von altbiblischer Zucht, als Character von unbeugsamen Energie und rascher, unerschütterlicher Reife des Willens. Es leben unter den zerstreuten Waldbauern seines Sprengels heute noch, halb sagenhaft, mancherlei Züge seiner lauteren, starken, wohl auch starren Art. Die tiefschneidendsten werden Sie aus seinem Verhalten in einem Conflicte kennen lernen, der mit seinem jähen Tode zum Abschluß kam. Mir, dem so viel biegsamer Gebildeten, ist es schwer geworden, mich als sein Nachfolger zu behaupten in einem Amte, das ich nach meinem großen Verluste nur übernahm, von seiner Weltabgeschiedenheit gelockt und von dem weiten Nachhall des Namens Peter Paul.

4 Ernst, feierlich, ein Wall nach Außen trug er etwas in sich von dem Granit des Bodens, in dem er mit eiserner Liebe wurzelte, in dessen Klüften er den Proceß seiner Bildungen erforschte, die Erzeugnisse von dessen organischer Natur er ordnend sammelte. Sein Ruf als Ornitholog und Entomolog, als Botaniker und vornehmlich als Steinkundiger erstreckte sich weit über die Grenzen seines Forschungsgebiets, führte ihm Titel und Würden, Schüler und Gäste aus weiter Ferne zu; hartnäckig aber verschmähte er jeden erweiternden Kreis für seine rastlose Thätigkeit, so daß ohne Uebertreibung von ihm gesagt werden durfte, er habe seit seiner Heimkehr von der Universität den Bann dieses Gebirges nicht einen Fuß breit überschritten.

Er heirathete spät, von mehreren Kindern blieb ihm nur ein Sohn und mag es wohl kaum der Erwähnung bedürfen, daß eine Natur wie die seine, ruhelos und starr zu gleicher Zeit, am häuslichen Herde nicht die wärmende Gemüthlichkeit zu verbreiten wußte, auf welche in dieser abgeschlossenen Umgebung das Behagen von Weib und Kind so dringend angewiesen sind.

Der kleine Peter zählte etwa drei Jahre und seine zärtliche Mutter weinte im Stillen noch um den Verlust eines nach ihm geborenen Töchterchens, als eines Abends der Vater, zurückkehrend von einer Untersuchung in den Porphyrbrüchen, der Grotte unter dem Altan, auf dem Block vor ihrer Eingangswölbung nackt und halb erstarrt, zwischen Moos und Laub gebettet, ein neugeborenes Mägdlein fand, das er seiner Gattin als Er 5satz für das heimgegangene in die Arme legte. Wie es an jene Stelle gekommen ist, hat nie ein Mensch erfahren und Doctor Peter Paul auch keinen Schritt zur Entdeckung einer Mutter gethan, die ihr Kind in der ersten Stunde dem Zufall oder dem Tode preis geben konnte. Es war sein Kind geworden und er taufte es auf den Namen Eva Findling.

Unter den Eingepfarrten dahingegen gab man sich nicht so leicht über den räthselhaften Ursprung des neuen Gemeindegliedes zufrieden. Die Aufgeklärteren – und sie mögen der Wahrheit nahe gekommen sein, – bezüchtigten des Frevels eine Seiltänzergesellschaft, die im Nachbarstädtchen ihr Wesen trieb; Andere sprachen von Zigeunern, die von einer Niederlassung jenseit der Berge sich einzeln oder gruppenweise bis in unsere Thäler zu verirren pflegen. Die Mehrzahl aber, deren Herzen die Aussetzung eines von Menschen gezeugten Kindes, Gottlob! heute noch eine Unfaßbarkeit sein würde, sie zweifelte nicht an einer außerweltlichen Abstammung. Der Findling war ein Koboldswesen, das ein Hexchen auf dem Wege zum Maisabbath aus seinem Schoße hatte fallen lassen. Denn Reste heidnisch und christlich untermengten Aberglaubens lebten und leben dieses Tages nicht etwa als Sagen, sondern als Glaubensartikel im Gemüthe eines Volkes, das entweder im geheimnißvollen Innern der Erde oder in einsamen Bergwäldern seine Werkstatt hat. Selber ein Peter Paul ist gescheitert an der Austilgung dieser Spuren, die erst beweglicheren Lebensgestaltungen weichen werden. Dazumal betrachteten fast 6 ohne Ausnahme Alle das Kind mit scheuen Mienen, schüttelten die Köpfe und prophezeiten, daß ihrem Pfarrer, ein Ei in's Nest gelegt worden sei, aus welchem ein kleiner Teufelsbraten sich entwickeln werde.

Und die seltsame, dem hiesigen Typus widerstrebende Bildung des Kindes leistete der vorgefaßten Meinung mächtigen Vorschub. Es war klein, von zartestem Gliederbau und behenden Gelenken wie ein Elf; es zappelte nicht nur, nein es bewegte sich bewußt und geschickt, wo unser kleiner Nachwuchs kaum aus seinem Pflanzenschlummer erwacht; es lief wie ein Wieselchen, wo die Anderen noch lange getragen werden oder mühselig kriechen, es plapperte zusammenhängend, wo jene kaum stammeln. Dabei hatte es langes, schwarzlockiges Haar und große, eindringende, dunkle Augen. Die Haut war bräunlich und nur auf den Wangen sanft wie von Innen durchglüht: Alles anders wie bei unseren flachshaarigen, blauäugigen, rothbäckigen Dirnchen und Bübchen. An dem Findling lauter Licht und Leben; dort lauter Ruhe und unbewußte Kraft.

Jemehr das Evchen nun aber sich selbstständig bewegen lernte, um so auffälliger trat das eigenartige Wesen an den Tag. Es schritt nicht, es schwebte mit ausgebreiteten Aermchen wie ein Vogel oder wie eine Libelle; bald kletterte es den Eichkätzchen nach an den Bäumen in die Höhe, bald plätscherte und schwamm es im leichten Kleidchen mit den Schmerlen im Bach um die Wette. Wo unser Waldvolk auch im Sommer die Pudelmütze nur ungern ablegt, warf Evchen selber im 7 Winter schwerfällige Umhüllungen, oft sogar Schuhe und Strümpfe von sich, ohne sich zu erkälten oder zu frieren, ohne aber auch im heißesten Sommer sich merklich zu erhitzen. Sie ermüdete nach keiner Bewegung, blickte ungeblendet in das Sonnenlicht, war niemals krank, mißlaunig oder mürrisch.

Ich berichte Ihnen, lieber Herr Doctor, was unsere Alten sich heute noch von dem unheimlichen kleinen Nixchen oder Hexchen im Pastorhause erzählen. Manches mag Uebertreibung sein, im Wesentlichen aber stimmt es überein mit den Schilderungen ihres Pflegebruders an meinen Sohn und ist es mir nach längerem Nachdenken über Ursprung, Grundwesen und Erziehung des wunderlichen Findlings gelungen, mir ein greifbares Bild von ihm zusammenzusetzen. Was mir aber niemals hat gelingen wollen, – ein jeder Landpastor hat seine Liebhaberei, werther Herr, die zu guter Letzt gewöhnlich auf einen leidigen Schematismus hinausläuft: mein Vorgänger hatte seine Erze und Kiesel, ich habe die Ergründung der häufig nicht minder spröden Herzen meiner Nebencreaturen und ihre weit widerspruchsvollere Verschichtung und Durchäderung; – was also meine Curiosität immer von Neuem herausgefordert hat, das ist die wunderbare Gabe, mit welcher der kleine Fremdling sich in das starrheimische Gemüth des Vaters einzunisten verstand.

Der Mann verlernte es schier, außer der Nähe seines Evchens zu leben; es flog ihm voran auf den weitesten Wanderungen, kletterte mit ihm hinab in die tiefsten Schachte nach einem Gestein, klomm hinauf zu den steilsten 8 Klippen nach einem Kraut oder Moos; es fing mit freier Hand die Käfer und Schmetterlinge, die des Alten Scheere entschlüpften; auf Weg und Steg, in Wind und Wetter sah man den stämmigen, weißhaarigen Sammler und das elfenartige, braune Kind. Daheim aber lernte es bald die gesammelten Schätze zu pflegen wie aus des Vaters Seele heraus, seine Repositorien zu säubern, ohne Bücher und Species nur eine Linie zu verrücken. Es war ein zugleich praktisches und graziöses Ingenium in allem Thun des Mädchens, das sich auch in einer späteren Zeit, nach dem Tode der Mutter, in der gewandten und geräuschlosen Führung des Hauswesens auf das Wohlthuendste für den Vater bekundete; Alles ging der Fee von Statten wie auf Schwingen; Alles blieb oder wurde sauber unter ihrer Hand; es schien in der That, als könne sie hexen.«

Der Erzähler machte hier athemschöpfend eine Pause. Er hatte mehr als einmal dem Hörer zurückgeblinkt mit dem behaglichen Ausdruck etwa eines Botanikers, der eine seiner Sammlung versagte fremde Blüthe, so wie Phantasie und Wissen sie construirt haben, einem Anderen anschaulich zu machen strebt. Der Andere hatte dann leise geseufzt, gelächelt, den Kopf, wie aus Erfahrung bestätigend geneigt, aber er war stumm geblieben und blieb's auch jetzt. So fuhr denn der gesprächige Herr ohne ermunternde Zwischenrede in seiner Geschichte fort.

»Je unentbehrlicher nun aber das Evchen, wenn auch ohne Worte und Zeichen der Zärtlichkeit, dem Vater ward, desto unverständlicher blieb sein Wesen der weicher 9 gearteten Mutter und desto beschwerlicher, ja widerwärtiger fiel es dem Bruder, der in allem und jedem das Widerspiel des beweglichen Kindes gewesen zu sein scheint; von des Vaters Schlage, aber ohne dessen nachdrückliche Kraft und weil ein Kind von dieser Kraft beengt und bedrückt. Mit dem frühen Ableben der geliebten Mutter hörte überdies die nothwendige Vermittlung auf und eine wohlerklärliche Eifersucht auf das bevorzugte Findlingskind steigerte die angeborene Sprödigkeit.

Der Knabe bewegte sich langsam und gründlich von Innen heraus, das Mädchen wie auf Flügeln von Außen nach Innen; bei dem Unterrichte, den der Vater ihnen gemeinschaftlich gab, hatte die zwei Jahr Jüngere geläufig lesen und schreiben gelernt, während ihr Kamerad kaum noch einzelne Buchstaben nachzumalen und in Silben zusammenzusetzen verstand; später ward ihr vom bloßen Zuhören der Laut der fremden Sprachen spielend geläufig, während er noch an den grammatikalischen Rudimenten klaubte. Stellte der Vater einen Satz, so hatte sie die Folgerung gezogen, ehe er noch dem vollen Sinne auf den Grund gekommen war; wurde eine Leistung verlangt, so hatte sie dieselbe ausgeführt, bevor er noch über die Methode des Angreifens klar geworden. Mit einem Worte, es standen sich gegenüber die Anlagen zu einem tüchtigen Mann und die eines genialen, vielleicht zur Kunst berufenen Weibes. Wie denn aber der Mensch am Menschen vornehmlich schätzt und überschätzt das, was er an sich selbst wesentlich vermißt, so freute sich der Vater an des Mädchens gewandtem Wesen und 10 des Sohnes Entwicklung verdroß ihn, er schalt ihn stöckisch und träge und auch im Volke hießen die Geschwister nicht anders als das wilde Evchen und – verzeihen Sie, Herr Doctor, – und der steife Peter.«

Der Doctor lächelte und der Pastor auch. Der Letztere fuhr fort: »So war die Abneigung des Bruders denn wohl zu erklären; der Findling stand ihm überall im Wege: im Herzen des Vaters, im Hause, in der Schulstube, auf Schritt und Tritt. Ging er, nach seiner Weise, über einer Ausarbeitung sinnend im Walde spazieren, so brachte ihn auf einmal ein Hagel von Bucheckern und Tannzapfen aus dem Concept und das Evchen wiegte sich hoch oben in den Zweigen und lachte wie ein Kobold. Saß er in ein Buch vertieft am Bach, so stand das Evchen, bis an die Knie geschürzt in den plätschernden Wellen und bespritzte ihm Blatt und Gesicht; sie zupfte, neckte, narrte ihn aller Orten und Enden, trieb ihn mehr als einmal zu einem Ausbruch der Wuth und wenn der Vater ihm dann mit harter Gewalt entgegentrat, dann spottete sie seiner Thränen, schlug ein Schnippchen, trällerte ein Liedchen, bot ihm einen Leckerbissen, eine Spielerei, nie aber ein begütigendes Wort, einen herzlichen Blick, nach denen seine junge, einsame Seele vielleicht schmachtete. Sie haben den jungen Peter Paul gekannt, Herr Doctor, Sie können beurtheilen, ob die Voraussetzungen des Unbekannten der Wahrheit Gewalt angethan.«

Der Doctor schüttelte langsam, ohne ein Wort zu sagen, den Kopf; der Pastor äußerte seine Freude, daß 11 er rechtmäßig construirt habe und knüpfte den Faden der Erzählung wieder an:

»Der Knabe betrachtete unter diesen Umständen es wie eine Erlösung, als er endlich das Vaterhaus mit der gelehrten Klosterschule vertauschen durfte; bei jeder Vacanz jedoch erneuerte sich ihm der widerwillige Eindruck des kleinen Kobolds, der ihm das Herz seines Vaters entfremdete. In den beiden letzten Alumnenjahren und in dem ersten der Universität, die er mit den glänzendsten Zeugnissen betrat, kehrte er gar nicht in der Heimath ein. Er hegte keine Neigung zur Theologie; um so lebhafter dahingegen die zur Natur, die nicht in allen Stücken mit unserer Wissenschaft vom Unsichtbaren Hand in Hand zu gehen scheint, – gewiß und wahrhaftig, Herr Doctor, nur scheint, – die Liebe zu gewissen physikalischen Zweigen war ihm vom Vater eingeboren. Aber er hieß Peter Paul; er mußte Pfarrer werden; wenn irgend möglich es in der Gemeinde werden, in deren Amte seine Vorfahren gestanden hatten. Da galt kein Widerstreben, da würde kein Bitten geholfen haben, wäre dem jungen Peter Paul ein Herz zum Bitten gegeben gewesen. Der schöne Sinn der Erhaltung, die Tugend der Treue, gegen das Naturrecht Anderer gerichtet, zeugt Sünde an der Wahrheit, wird zur Herzenshärtigkeit, uns und Anderen zum Unsegen, lieber Herr.«

Der Doctor seufzte aus tiefer Brust; der Erzähler reichte ihm über den Tisch hinüber die Hand und sagte freundlich. »Ich danke Ihnen, Herr Doctor, daß Sie meiner weitschichtigen Einführung so gelassen gefolgt sind. 12 Es ist kein Leichtes um die Geduld mit Greisenliebhabereien. Was ich Ihnen jetzt noch zu bieten habe, wird Sie lebhafter berühren, da es mit den eigenen Worten des Gegenstandes Ihrer Nachforschungen geschehen wird; Sie erlauben, daß ich Ihnen die Briefe vortrage, welche der junge Paul an meinen Sohn geschrieben hat.«

Heftiger noch als vorhin fuhr der Doctor unter abwehrenden Bewegungen in die Höhe; aber eben so milde lächelnd drängte ihn der alte Pfarrer mit einem »bitte, bitte!« wieder nieder auf seinen Sitz. »Halten Sie aus, lieber Herr,« sagte er. – »Die Briefe eines Jugendgenossen führen uns in die eigene Jugend und in entschwundene Stimmungen zurück. Wir sehen das Leben in dem Lichte von damals, da es je weiter und weiter sei's in blauen Fernen verschwindet, sei's von Nebeln und Dünsten verdunkelt erscheint. So dachten wir, so fühlten wir, ehe die Erfahrung das Bett unserer Kräfte eingedämmt hatte; so denken wir, so fühlen wir wieder vor solchem lebendigem Merkzeichen des Einst. Sie werden wieder Studiosus werden, Herr Doctor Peter, wenn Sie die Briefe des Studiosus Paul gehört haben. Zudem sind's nur wenige. Sie sehen, ich wähle nur drei; die letzten von seiner Hand. Mit den früheren verschone ich Sie.

Eines jedoch schicke ich voraus, was in jedem Worte jener früheren Briefe warm pulsirt. Beide Jünglinge waren nicht nur strebsame Studirende, sie waren vor allem begeisterte Patrioten, geschworene Feinde der neu begründeten Fremdherrschaft, welche kaum an 13 einer anderen Stelle der abgerissenen Provinzen so widerwillig ertragen ward als in der alten Universitätsstadt an der Saale. Sie waren heimliche Mitglieder des Tugendbunds der idealsten Verbrüderung, welche seit den Tagen der ersten Christusgläubigen Menschen auf Leben und Tod geeinigt hat. Sie durchlebten eine hohe Zeit unter tiefem Druck.«

Der Pfarrer hatte während dieser Rede das vergilbte Seidenband von der Brieftasche gelöst und drei Briefe ausgesondert, die er einzeln vor sich auf den Tisch legte. Des Doctors Augen hafteten an den Zügen der gleichlautenden Aufschrift: »An den Studiosus Leonhard Kaiser in Baldungen.« Mit merkbarer Verwirrung griff er nach dem kleinen Papierfetzen in seiner Tasche, den er gestern seinem Reisegefährten abgefangen hatte, betrachtete, verstohlen wie er meinte, die Handzüge auf demselben.

»Erlauben Sie,« sagte der Pfarrer, »einen Blick auf das Papier werfend. »Ein jeder Landpastor, ich sagte es schon, reitet ein Steckenpferd. Auch die Handschrift ist ein Stück Physiognomie, ein Stück Character. Meine Autographensammlung möchte in ihrer Art der der Mineralien und Käfer meines gelehrten Vorgängers wenig nachgeben. Sonderbar! diese abgerissenen Worte: ›Nerven, Ganglien, Pancreas« u. s. w. ei, ei! nehmen sie sich auf den ersten Blick doch aus, als ob sie der Schreiber dieser Briefe flüchtig auf das Papier geworfen hätte. Und bei genauerer Prüfung doch auch wieder 14 nicht. Die Züge sind jugendlich hier wie dort; aber die auf dem Zettel beweglicher, freier, heiterer, herzlicher möchte ich sagen. Sie kennen den Schreiber, Herr Doctor?«

»Nein, – ja, – ich weiß es nicht, – ich vermuthe nur,« stotterte der Doctor verwirrt.

Der Prediger wiegte schmunzelnd mit einem: »So, so!« den Kopf und blickte emsig vergleichend auf die Blätter. »Auch an einzelnen Buchstaben,« meinte er, »erkennt man die neuere Zeit. Solche F und S machte man anno neun nicht. Und doch diese auffällige Verwandtschaft! Wenn ich ein Gutachten abgeben sollte, so schlösse ich auf ein Verhältniß wie etwa zwischen – Vater und Sohn.«

Doctor Peter Paul krampfte die Hand über dem Herzen; sein graues Gesicht flammte in Purpur.

»Eine Liebhabergrille, werther Herr Doctor,« sagte lächelnd der Greis. »Ich weiß am besten, wie man sich in derlei Hypothesen irrt. Lassen Sie mich jetzund mit dem ersten Briefe beginnen, den Ihr Jugendbekannter nach einer dreijährigen Abwesenheit aus seinem Vaterhause an meinen Sohn geschrieben hat. Es geschah während eines Osterbesuches 1809, der sich aus irgend welchem Grunde über den üblichen Ferientermin ausgedehnt zu haben scheint. Ich überspringe die Einleitung, die von mir bereits Gesagtes nur wiederholen würde, und beginne mit dem, was zu unserem eigentlichen Zwecke gehört.«

15 Der Doctor war auf den Stuhl zurückgesunken; der Pastor entfaltete das dicke gelbliche Papier und las.

*

»Da hast Du meinen Vater. Er ist ganz der Alte; eisern, unermüdet, groß am meisten da, wo er klein scheint; freilich sag' ich mir auch oft mit ohnmächtigem Grimm: klein dort, wo er am größten zu sein scheint. An den Pfarrer bin ich mit ehernen Klammern gefestet; verantworte er es vor Gott, wenn ich die Seele oder die Postille daran in Fetzen reibe. Aber auch von Königsberg darf ich nicht reden. Die Exegese der Kirchenväter ist die nämliche unter den Hohenzollern wie unter den Bonapartes. Es bleibt bei Halle. Er hat dort studirt, sein Vater, sein Großvater sehr vermuthlich, item der Enkel auch. Verstehe die Logik wer mag. Von der Zeit hat er keine Ahnung.Was zwischen Heimathsgefühl und christlichem Weltbürgerthum mitten inne liegt, existirt nicht für ihn. ›Schuld heischt Opfer, auch schuldlose,‹ oder: ›auch eine Geißel ist Gottes Sendbote; schicket Euch in die Zeit, und in eine böse Zeit, da erst recht.‹ So ist seine Rede und das in einem Moment, wo ein heldenmüthigeres Bergvolk als das unsere seine Ketten abschüttelt, wo an der Donau gekämpft wird und auch in unserem Norden ein Ausbruch zu erwarten ist. Genug von ihm. Ich ächze wie ein Sclave unter seinem Joch und ich liebe und bewundere ihn dennoch wie keinen Zweiten.

16 »Was soll ich Dir nun aber von meiner Schwester, – nein, so werde ich sie nimmer nennen lernen, Gottlob, daß ich sie nicht so nennen muß, sie nicht lieben muß per fas et nefas des Bluts, – was soll ich Dir von Eva, dem kleinen Unhold meiner Knabenjahre, sagen? Du kennst sie, Leonhard; ich habe Dich oft genug mit ihren Koboldsstreichen gelangweilt, armer, guter Junge. Nun, klein ist sie noch, wenn sie auch schwerlich größer werden wird; ich erschrak förmlich, als mir statt des Kindes, das ich verlassen hatte, ein erwachsenes Frauenzimmer unter die Augen trat. Wie alt ist sie denn eigentlich? Ich neunzehn, sie also sechszehn; in den nächsten Tagen muß ihr Findlingsfest sein. Ihr Aeußeres giebt keinen Maßstab für ihr Alter. Diese Minute sieht sie Dich mit großen verwunderten Augen an wie ein Kind, in der nächsten wie ein kluges, determinirtes Weib. Da hat sich eine französische Truppe in's Gebirge verirrt, die im Nachbarstädtchen Halt gemacht und sogar unser Dorf besetzt hat. Die Feinde wittern, was sich im Norden vorbereitet und ich, – o, Gott sitze hier über der Exegese des Markus! Wie ich knirschte, die H....... im Hause meines Vaters als Gäste und Herren honoriren zu müssen, nun – das denkst Du Dir. Mein Vater nahm's ruhig wie all dergleichen. Es waren ihm eben Menschen einer anderen Species als der heimischen, wie fremde Schmetterlinge oder Käfer. Die Geschichte der Völker ist ihm scheint's ein Naturproceß, letztlich bestimmt durch die Norm, welche das einzelne Individuum, auch wieder ein Naturproduct, determinirt. Selber der liebe 17 Herrgott kann an dieser seiner Satzung nichts mehr ändern.

Aber wie das Evchen mit den Wälschen umgesprungen ist, das hättest Du schon sehen müssen, Leonhard! Sie hatten die kleine Hexe ausgespürt gleich am ersten Tag und kamen nun rudelweise aus der Nachbarschaft, unsere romantischen Berge und meines Vaters gelehrte Sammlungen zu bewundern; ein alter Oberst von der Präfectengarde in H. that's in Huldigungen den jüngsten Gecken zuvor. Und die belle sorcière, sie plapperte mit einem Accent, als hätte sie nie eine andere Mundart prakticirt und all' ihre Kenntniß beschränkt sich doch auf die Lectionen, mit denen mich der Vater zur Schule vorbereitete, und die Brocken, die sie bei früheren Bequartierungen und Besuchen aufgeschnappt hatte. Mir für, mein Theil war's ein Gaudium, daß die Herren Gallier die Auskunft, die ich hier und dort geben sollte, so wenig verstanden, als klänge sie chaldäisch. Das Evchen hatte Witzworte und Reparties und Einfälle wie ein richtiges Pariser Kind. Sie spielte Reifchen mit den Hansnarren, tanzte mit ihnen auf einer Waldwiese einen Phantasietanz, als wäre sie vom Corps de ballet und traf beim Pistolenschießen die Scheibe mitten in's Herz. Auf die Scheibe hatte sie eigenhändig mit Kohle ein schnurrbärtiges Gesicht gemalt, in welchem alle Welt lachend den alten Obersten, ihren Anbeter, erkannte.

Heute Morgen stieg sie sogar mit den Männern zu Pferde und trabte auf meines Vaters kräftiger Stute an ihrer Spitze den steilen Bergpfad hinan. Ich kann 18 mir das Schafsgesicht denken, mit welchem ich ihr nachgaffte; die Bauern standen kopfschüttelnd vor den Thüren und mein alter, strenger Vater, der lachte. Das Mädchen hat es ihm angethan; die tollsten Streiche läßt er ihr gelten. ›Es ist Kern in ihr,« sagt er. ›Die hält sich oben, mitten durch die Welt.‹

Die Cavalcade kommt zurück; der Oberst will seine Schöne galant vom Pferde heben; ohne seine Hand zu berühren, springt sie herunter wie eine Bereiterin; er breitet die Arme aus, um sie aufzufangen und hat im Fluge von ihrer Weidengerte einen Hieb über's Gesicht, daß ihm die Backe schwillt. Die Lieutenants klatschen in die Hände und schreien Bravo; die Eva schreitet in's Haus mit dem air einer kleinen Prinzessin. Bei aller Ungebundenheit ist sie, den alten Klatschmäulern zum Trotz, doch ein Kräutchen Rühr mich nicht an. Kein Wunder, denn sie hat kein Herz.«

Einen Tag später.

»Die Franzosen sind wir einstweilen los; im Städtchen ist Schmalhans Küchenmeister geworden; bei uns haben sie sich manierlich genug betragen. Dank der Eva ohne Zweifel; denn Schürzenknechte sind sie Einer wie der Andere. Aber wer dankt's der Eva, wenn sie nach ihrer Weise sorgt? Art hält zu Art und sie ist eben eine Hexe! Keiner traut ihr, keiner kann sie leiden; und doch ist sie nicht stolz; hilfreich sogar, aber nicht gefällig; nicht was wir zuthunlich nennen. Ganz natürlich, denn sie hat kein Herz. Sie neckt und quält mich nicht mehr wie sonst; im Gegentheil, sie sorgt aufs Beste für mich und 19 vertritt meine Neigungen gegen des Vaters Willkür unerschrockener als ich selbst. Wer weiß, sie setzt am Ende Königsberg noch durch. Und doch stört sie mich, ich kann nicht sagen wie; sie sieht mich manchmal an, daß mir's zu Muthe wird, – Haß will ich's nicht nennen, aber Angst; ja, Angst.

Ich habe, meinem Vater zu Gefallen, eine Arbeit über den Markus, seinen Lieblingsevangelisten, begonnen. Aber die Stetigkeit fehlt mir. Eher gelingt mir's mit den Uebersetzungen, die wir zusammen aufgenommen haben, Leonhard. Das Englische muß geübt werden. Kommt uns Hülfe und endlich Freiheit, so ist's über's Meer, wo sie allein noch nicht verloren worden ist. O, dieser Shakespeare! Das Metrum gelingt mir nicht; Du weißt, mir fließen die Verse nicht wie Dir; übrigens genügt ja auch eine wörtliche Uebersetzung für meinen Zweck. Hätte ich nur nicht einen falschen Band aufgegriffen. Dieser verliebte Patron, der Romeo, ist mir in tiefster Seele zuwider. So oft ich nun einen Spaziergang gemacht habe, sehe ich an der Lage meines Heftes, daß Einer darüber gewesen ist. Die Eva, wer sonst? So spionirt sie mich aus und stört mich auf Schritt und Tritt.«

Am Abend.

»Und nun muß ich Dir zum Schluß noch eine That erzählen, die, hätte sie eine Andere vollbracht als die Eva, als ein Heldenstück in die Zeitungen kommen und im Volke zur Legende werden würde. Von dem Hexchen nimmt's keinen Wunder, kaum sagt man: hab' Dank!

20 Vor einer Stunde also jagt sie sich mit der Dorfbrut rund um den Ziehbrunnen, vor unserer Thür. Ein Bube flüchtet, als sie ihn greifen will, auf den Rand, taumelt und stürzt hinunter. Alle stehen dabei, ich auch; alle schreien auf, ich auch wie ein Esel; ehe wir aber noch zur Besinnung gekommen sind, hat Eva schon das Seil erfaßt und gleitet an ihm in die Tiefe. O, des grausenden Blicks, mit welchem wir ihr nachstarrten; mein Vater stand wie eine Leiche; ich war auf den Rand gesprungen, um ihr zu folgen, da dringt der Ruf »hoch!« herauf; das Rad wird gedreht, eine Minute noch und siehe der Knabe sitzt geborgen im Eimer und Eva schwebt über ihm, mit Händen und Füßen an das Seil geklammert, naß, blaß und ruhig wie ein Nix. Und ›es ist ein Nix!‹ sagt das Volk und nicht ein Einziger: ›Gott lohn's!‹

Auch mein Vater sprach kein Wort; aber in seinen Augen blitzte ein Freudenstrahl und auf mich fiel sein Blick wie sonst, wenn er schalt: ›Steifer Peter!‹ und Eva dann echote: ›Steifer Peter!‹ und ich mit dem Kopfe wider die Wand hätte rennen mögen.

Des Vaters Blick kältete meine Aufwallung jach zu Eis; ich hätte mich zu Eva's Füßen stürzen mögen: nun trat ich beschämt wie ein Schulbube zurück und meine ausgestreckten Arme sanken schlaff herab. Eva sah mich an mit einem unergründlichen Blick. ›Hätt' es Dir leid gethan, wenn ich unten bei den Nixen geblieben wäre?‹ fragte sie; als ich aber nicht auf der Stelle eine Antwort fand, kehrte sie mir den Rücken, 21 wusch und verband sich die vom Seile zerrissenen, blutenden Hände und schien nicht zu ahnen, daß sie eine heroische That vollbracht habe. Sie ist ein Nix! sage auch ich! sie hat kein Herz. Und doch brütet etwas in ihr, das mich reizt und stört. Ich möchte fort über alle Berge und wäre es in die Collegia des langweiligen W.«

*

Der Prediger legte den Brief bei Seite und griff nach dem anderen. Der Doctor saß in Gedanken versunken und schien nichts zu hören, noch zu sehen. Jener hob an:

»Ich lache noch immer über Deinen Brief. Mein gefühlvoller Pylades, ich wollte, Du könntest mich lachen hören. ›Ich treibe mit vollen Segeln auf dem Ocean der Liebe,‹ rufst Du mir zu. Ich verliebt, hahaha. ›Man athme nicht unbestraft oder unbelohnt unter den Blicken der Schönheit.‹ Du vielleicht, Leonhard, aber ich? Schon als Schüler maltest Du Dir als Ziel aller Fahrten eine Hütte und ein Herz. Mich schüttelt's heute wie damals beim bloßen Gedanken an dieses Ziel. Und was Du von Schönheit sprichst: ich weiß wahrlich nicht, ob selber Du unser braunes Nixchen schön finden würdest.

Als wir noch Alumnen waren, – denn seitdem hegst auch Du nur eine Schönheit und die heißt Germania und nur ein Traumbild und das heißt Libertas, – damals aber als die Schmach des Vaterlandes unverstanden und kaum beachtet an unseren Klostermauern vorüberzog, wenn wir damals Arm in Arm in den 22 buchenbewaldeten Bergwegen schlenderten und die Rosen unten aus den Gärten ihre Düfte zu uns hinauf sendeten und die Nachtigallen schlugen und der junge Mond leise über den Wipfeln dahinglitt, da redetest Du wie ein Dichter mit feuchtglänzenden Augen von dem Ideale Deiner Phantasie, von einer hohen, stillen, weißen Gestalt, sittig einherschreitend mit gelbem Gelock und ungewendetem Blick. Du nanntest sie Siglinde; und soll es nun einmal ein Weib sein, das angebetet werden muß, ei nun, so möchte auch ich mir kein anderes träumen als Deine weiße Siglinde.

Just das Widerspiel solcher Siglinde, das wäre nun aber unser braunes, bewegliches Nixchen. Meiner Treu, die in eine Hütte und in ein Herz! Mich überläuft ein Schauder bei der Vorstellung. Eva ein Weib, ein Weib! Und doch sagte mein Vater noch eben: ›das ist ein Weib!‹

Heute ist der Tag, wo der Vater sie vor der Grotte gefunden hat. Wir sitzen beim Frühstück, als eine Bauerntruschel eintritt, sich Raths zu erholen. Zu jedem neuen Scheunenthor muß bei uns der Pastor seine Stimme geben. Gottlob, daß es für mich mit dem Amte noch Zeit hat, ein Jahrzehend – oder ewig. Nun die Mieke heult und schreit, weil sie den Toffel nehmen will und den Michel nehmen soll. Der Vater entscheidet natürlich für den Michel und die Mieke heult und schreit noch ärger, aber sagt doch ja.

›Dumme Dirne!‹ ruft Eva spottend. ›Dumme Dirne, die sich vom Pastor sagen läßt, wer ihr Mann 23 werden soll!‹ Die Mieke glotzt sie mit großen Augen an und ich glaube, ich that es auch. Diese Keckheit meinem Vater in's Gesicht und auf seinen Lippen kein strafendes Wort, in seinen Augen kein unwilliger Blick. Wahrlich, er hat seinen Meister an dem Hexchen gefunden!

Die Mieke geht, Eva ihr nach; im Vorüberstreifen sieht sie mich an, – sie sieht mich an, noch schaudert mich, wenn ich daran denke. Mein Vater aber sagt für sich: ›das ist ein Weib!‹ Hätte sie am Ende doch ein Herz? Leonhard, ich möchte mich zu Tode lachen, wenn ich mir den Mann vorstelle, dem dieses Weibes Herz einmal gehören wird.

Da klingelt Eva zum Essen. Der Vater will in die Stadt; auf seinen Bergwanderungen darf sie kaum von seiner Seite, aber in die Stadt oder auf Geschäftswegen über Land nimmt er sie nicht mit. Ein stiller Nachmittag für die Exegese des Markus. Ich wollte, er wäre vorüber. Ich verliebt! Leonhard, es ist zu lächerlich. Verliebt! –«

Der Vorleser wendete das Blatt um und machte eine Pause. »Das Schicksal schreitet rascher als unsere Gedanken, Herr Doctor,« sagte er leise ohne aufzublicken. »Der Schluß dieses Briefes ist nicht aus dem Pfarrhause; er ist aus der Stadt vom andern Tage. – Leonhard, so hebt er an, Leonhard hast Du einen Begriff davon, was es heißt vernichtet sein? Neunzehn Jahre, gestern froh und muthig, eine offene Welt, – heute gebunden, zertreten, vernichtet für's Leben!« –

24 Der Doctor stand rasch von seinem Stuhle auf. »Die Sonne belästigt Sie, werther Herr,« sagte der Prediger. »Nehmen Sie den Platz dort hinter meinem Pult.«

Der Doctor gehorchte; er setzte sich in den dunklen Winkel und vergrub das Gesicht in die Hände. Der alte Herr fuhr in seiner Vorlesung fort, leiser und hastiger als bisher.

»Da sitze ich im Einsiedler in und renne in meiner Dachstube hin und her und stoße mir die Stirne blutig an der Wand und tröste mich, daß ich wahnsinnig bin, daß alles nur ein Traum gewesen ist, ein Fiebertraum und lache, lache, daß ich vor mir selber erschrecke, wenn aus jeder Ecke ein Dämon mir zuschreit: es ist wahr, wahr. Mein Freund, mein einziger Freund; Du sollst es wissen, Du allein auf der Welt alles wissen, alles! Du sollst mir's erklären, was ich mir selber noch nicht erklären kann. O, Leonhard! der Mensch ist eine Bestie; ihm schon recht, wenn er im Joche traben muß. Hüte Dich vor Dir selber, Leonhard, auch in Dir steckt eine Bestie, Leonhard!«

Eine Stunde später.

»Ich habe mich mit Gewalt zur Ruhe gezwungen Ich habe an meine Mutter gedacht; ich habe gebetet, nicht blos mit Worten gebetet, so wie ich, seit sie todt ist, nicht wieder zu beten vermochte. Höre es jetzt, Leonhard, was außer Dir nie ein Mensch von mir hören wird. Beklage mich, wenn Du willst, verdamme mich, wenn Du kannst.

25 Du weißt, daß ihr – ihr – ich kann den Namen nicht niederschreiben, daß ihr Geburtstag war. Wir tranken ihr Wohlsein in Tokaier, welchen ein Freund dem Vater geschenkt. Fluchwürdiger Feuertrank! Aber warum lästere ich das unschuldige Rebenblut? Mein Blut ist das schuldige, dem ich fluchen muß, ewig fluchen werde. Auch sie, sie trank mit Gier, sie die sonst wie ein Schmetterling Speise und Trank nur nippt. Ihre Wangen glühten in Purpur. Den Vater habe ich nie im Leben so froh gesehen. Unglückseliger alter Mann! er nannte den Tag seinen Segenstag. Als er sich zu seinem Stadtgange erhob, zog er sie, gewiß zum ersten Male, in seine Arme und legte sie darauf mit den Worten: ›Sei ihr Schützer, wenn ich nicht mehr bin,‹ an meine Brust. Hastig verließ er das Zimmer. Wir waren allein. Ich stand wie versteinert; der Athem stockte mir; ihr Kopf lag an meinem Herzen, sie muß es gefühlt haben, wie es drinnen hämmerte; ich fühlte es selbst in jeder Fingerspitze. Sie schlug die Augen zu mir auf, – ein Blick, o ein Hexenblick! ›Peter!‹ flüsterte sie; ihre Stimme klang trunken, trunken wie ich selbst es war. Ich schob sie bei Seite und stürzte hinaus in den Garten.

Es war ein glühend heißer Tag, wie sonst in unseren Bergen nur im August. Der Vater hatte auf die Nacht ein Gewitter verkündet In meinen Adern kochte es; ich hielt es draußen nicht aus, ging in mein Zimmer und wollte arbeiten. Aber die Exegese des Markus und dieses Blut! Ich suchte meine Uebersetzung vor. Das 26 Heft war verschwunden. So nehme ich denn das Original und lese, lese laut und mich vollends toll. Bei den Worten: ›Romeo, das trinke ich Dir!‹ schleudere ich den Band in die Ecke. Diese Schwüle, diese Angst!

Es dämmert schon; ich renne Thal auf, Thal ab. Es wird immer nächtiger in mir und rings um mich her; schwere, schwarze Wolken senken sich tief in die Berge hinab. Ich reiße Rock und Weste auf, so schwül ist die Luft, so beklemmt mein Athem. Und doch hetzt mich ein Dämon, eine Gestalt, ein Bild. Sie, – die Hexe? O nein! Julia! Julia aber mit der mohnglühenden Blüthe auf den Wangen, mit dem Blicke, der mich toll gehext.

Ich stehe vor der Grotte. Auf der Höhe meine ich wird mir leichter werden und will hinan. Aber was ist das? narrt mich ein Spuk? Ueber mir an der Kante des Altans schwebt eine weiße Gestalt. ›Komm Nacht! umhülle mit Deinem Mantel mir das wilde Blut, bis scheue Liebe muthig wird und nur die Unschuld in der Liebe sieht,‹ säuselt eine Stimme, eine Seelenmelodie, – in mir oder außer mir? ›Julia!‹ rufe ich und breite meine Arme aus. Eine weiße Gestalt schwebt wie auf Flügeln den Abhang nieder. ›Liebster!‹ säuselt's an mein Ohr und – und – –

Ein Schrei der Vernichtung weckt mich auf, ein eiserner Griff reißt mich in die Höhe. ›Verführer!‹ hallen die Felsen der Grotte den Fluch eines Vaters zurück.

27 Ich will entfliehen. Seine Nägel graben sich blutig in meinen Arm. Lautlos wanken drei elende Menschen den Thalweg entlang unter Donner und Blitz, in tobendem Regen und Sturm. Eine Ewigkeit in einer Viertelstunde.

Endlich sind wir heim. Er stößt mich in mein Zimmer und schließt es von Außen ab. Ich falle zu Boden und winde mich wie ein Wurm. Ich sehe nichts, höre nichts als ab und auf seinen heftigen Schritt über meiner Kammer. Wie lange ich so gelegen, ich weiß es nicht.

Eine leise Berührung giebt mir die Besinnung wieder. Der Spätmond scheint hell durch's offene Fenster. Das Gewitter hat sich rasch entladen. Sie, sie – kniete an meiner Seite. ›Liebster!‹ hauchte sie, lehnte ihren Kopf an meine Brust und schlang die Arme um meinen Hals.

Leonhard, mir war, als sähe ich das Haupt der Meduse. ›Fort, fort!‹ stöhnte ich wie im Wahnwitz, drängte sie von mir und verhüllte mein Gesicht.

Alles war wieder still. Die Frage fiel mir nicht ein, woher sie gekommen und wohin sie gegangen? Ich stand vom Boden auf und blickte um mich. Da sehe ich sie mir gegenüber am Fenster, blaß wie der Tod, die großen Augen starr auf mich geheftet gleich einem Gespenst. ›Fort, fort!‹ schrie ich noch einmal. Ich sage Dir ja, Leonhard, ich raste.

Mit einem jähen Satze ist sie an der Brüstung. Jetzt erst kehrt meine Besinnung zurück, packt mich eine 28 Höllenangst. Ich fasse nach ihrem Kleid; sie reißt sich los, entschlüpft durch das Fenster, klammert sich an die Zweige des alten Birnbaums und windet sich an seinem Spaliere hinab. Ich taumelte zurück. Ich war ohnmächtig geworden.

Wieder war es am Morgen, der Vater, der mich aus der Erstarrung weckte, mir einen Wasserkrug über den Kopf goß, mich in die Höhe zog und wartete, bis ich mich umgekleidet habe, alles lautlos, ohne Zorn, unergründlich. Es war Sonntag; er schon im Ornat; ich folgte ihm in die Wohnstube zu ebner Erde wie ein gebändigtes Thier seinem Wärter. Mein Blick fiel auf sie, sie, die unserer unten schon wartete. Ein einziger Blick!

Schamvernichtet senkte ich den meinen zu Boden. Ihr Auge war fest auf mich gerichtet wie in dieser Nacht; sie sah leichenweiß aus auch im Morgenlicht. Sie schien mir um Kopfeslänge gewachsen.

›Reiche Deiner Braut die Hand,‹ sagte der Vater. Ich that es mechanisch; ich fühlte, daß meine Hand zitterte. Die ihre war ruhig, aber eiseskalt. Der Vater steckte seinen eigenen Trauring und den meiner seligen Mutter an unsere Hand. ›Dies Euer Verlöbniß!‹ sprach er. ›In einer Stunde werde ich das Aufgebot von der Kanzel verkünden. Du folgst mir zur Kirche, Peter.‹

Ich gehorchte wie ein Sklave. Schon läutete die Glocke. Ich schlotterte hinter ihm und ihr drein über den Gottesacker. An der Kirchschwelle schreckte ich zusammen; dennoch ging ich voran. Sie dahingegen kehrte 29 ruhig um und der Vater rief sie nicht zurück. Von der Predigt verstand ich kein Wort. Ich stand wie ein Stecken und hatte nur einen Gedanken, eine einzige Erwartung, die, daß die Berge zusammenstürzen, die Erde sich öffnen müsse, um uns elende Menschen zu begraben.

Endlich ein Wort, das ich verstehe, das lang erwartete: der Name ›Peter Paul.‹ Der Vater stockt. Er preßt die Hand gegen das Herz, ›und‹ der Vater lallt es nur, ›und Eva Findling.‹

Nun auf einmal merke ich das Staunen und Köpfezusammenstecken und Munkeln und Kichern und all die Blicke, die auf mich gerichtet sind. Es fehlte nicht viel, ich hätte laut gelacht, aber gelacht im Leben zum letzten Male.

»Vor der Kirchthüre stand meiner wartend der Vater. ›Du verlässest das Haus in dieser Stunde noch, Peter,‹ sagte er. ›Du gehst in die Stadt und vollendest die Arbeit, die ich Dir aufgegeben habe. Bei Sonnenaufgang am fünften Mai bist Du wieder hier – zur Trauung.‹ Ich werde bis dahin vom Consistorium den Dispens der beiden andern Aufgebote eingeholt haben. Unmittelbar danach kehrst Du nach Halle und hierher nicht früher zurück, bis ich Dir es heiße. Deine – Frau bleibt in meinem Hause. Sei fleißig, mein Sohn, Du hast Eile, ein Mann zu werden.‹

Und da sitze ich nun hier, gebannt wie ein Schulbube, geknebelt wie ein Leibeigener. Gestern noch die Welt ein Paradies; Ruhm, Wissenschaft, Freunde, ein sich erhebendes Vaterland; frei die Hand nach allen 30 Seiten zuzugreifen, leicht und schuldlos das Herz. Heute eine Wüste, Sünde, Schande und Fesseln, die Exegese des Markus und – ein Weib. Hätte ich nicht geschworen, für das Vaterland zu leben, oder zu sterben, beim ew'gen Gott, ich ertrüg es nicht!« –

Der Prediger machte eine lange Pause, ehe er auch diesen Brief bei Seite legte und den dritten entfaltete. Er enthielt nur eine einzige Zeile.

»Am fünften Mai 1809. Vor einer Stunde bin ich getraut.

Dein unglücklicher Peter Paul.«

Der Doctor hatte während der langen Vorlesung, keinen Laut, keine Regung spüren lassen. So oft der Lector verstohlen nach dem Pultwinkel lugte und lauschte, da saß der Zuhörer aufrecht, mit verschränkten Armen, den Blick vor sich hin gerichtet, nur einen Schatten grauer noch als sonst. Auch jetzt wartete er vergeblich auf ein Wort oder Zeichen der Theilnahme; er mußte seine Sache ohne Aufforderung zu Ende führen; simulirte ein Weilchen und hob dann an:

»Daß ich's Ihnen nicht berge, Herr Doctor, mein Sohn Leonhard, so aufrichtig ihm das Schicksal seines Freundes zu Herzen ging: verstanden hat er die Verzweiflung, welche aus diesen Briefen spricht, nicht. Ein bezauberndes, heiß liebendes Weib, wenn es je eines gegeben: der nur oberflächlich Eingeweihte würde über den unglücklichen Peter Paul gelächelt haben.

Wer aber in einem langen Leben sich gewöhnt hat, mit ernstem Blick das Menschengemüth in seinem Zu 31sammenhange zu erfassen, der empfindet die Last des Doppeljochs eines schmachvollen Bewußtseins und der despotisch verhängten Sühne dem Jünglinge nach. Er weiß, daß es das Fatum herausfordern heißt, wenn einer natürlichen Erfahrung gewaltsam vorgegriffen wird. Bei neunzehn Jahren, den Kopf voraus und das Herz zurück, ein Weib besitzen, bevor auch nur die Phantasie danach ausgegriffen, durch Irrung statt durch Neigung gebunden, abhängig wie ein Knabe, zur Selbstständigkeit berufen als ein Mann; von Freiheit und Lorbeeren träumen und erwachen im häuslichen Bann, mit der Aussicht auf einen kümmerlichen Herd; anfangen wo Andere enden, schuldbewußt, von allen Seiten aus den natürlichen Fugen getrieben; ach, da mußte die Fluth ja wohl zerstörend überschäumen, – oder mühselig eingedämmt, versiegen.«

Der Doctor erhob sich nach diesen Worten, um dem Erklärer mit einem tiefen Seufzer die Hand zu drücken. Er nahm darauf den Fensterplatz ihm gegenüber wieder ein.

»Das Wenige,« fuhr der Prediger fort, »das Wenige, was ich über jene unselige Katastrophe Ihnen noch mitzutheilen vermag, entstammt den Erinnerungen eines ergebenen Freundes der Familie Paul, des verstorbenen Schullehrers, welcher der einzige Zeuge der Einsegnung des jungen Paares gewesen war.

Ohne das Vaterhaus zuvor wieder betreten, oder seiner Verlobten ein schriftliches Zeichen gegeben zu haben, stellte pünktlich bei Sonnenaufgang am fünften Mai der 32 Bräutigam sich ein mit der Miene – eines Opferlamms. Anders die Braut, die seit dem Tage des Aufgebots, von keinem Menschen außer ihrem Hause gesehen worden war. Sehr bleich, aber ruhig und fest, im weißen Kleide ohne Kranz, hat sie das Ja, das ihre Treue binden sollte für's Leben und drüber hinaus mit klangvoller Stimme ausgesprochen. Kein Laut war im Dorfe noch rege; keine Seele ahnte die stille Feier. Auf der Schwelle der Kirchenthür beugte die junge Frau ihre Knie vor dem Vater, der ihr Leben bis heute beschützt hatte und drückte ihre Lippen auf seine Hand. Dann erhob sie sich und hing mit einem langen und räthselhaften Blicke an dem, der in Zukunft ihr Leben beschützen sollte. Nie hatte ein Mensch das wunderliche Evchen weinen sehen; dem einfachen Zeugen dünkte es jetzt, als ob eine Thräne in ihren Augen stände. Langsam wendete sie sich von dem schweigenden regungslosen jungen Manne und verschwand hinter der Hecke des Kirchhofs. Weder Vater, noch Sohn folgten ihr. Keiner von ihnen ahnte, daß er sie zum letzten Male gesehen habe.

Vor dem Pfarrhause sattelte der Knecht das Pferd, das der alte Doctor auf seinen Gebirgstouren zu benutzen gewohnt war. Der Vater sagte: ›Du reitest zur Stunde noch, Peter; die Stute hält etwas aus. Schlägst Du die Feldwege ein, kannst Du vor Nacht noch in Halle sein. Dort verkaufst Du das Thier und deckst mit dem Erlös Deine Ausgaben für das laufende Semester. Im Uebrigen wirst Du fortan für Dich allein Sorge tragen.‹ Der Sohn wagte einen Einwand gegen dieses haus 33väterliche Opfer; aber seine Gegenrede verhallte. ›Nimm Abschied von Deiner Frau,‹ sagte der Doctor darauf, als der junge Mann, nachdem er seine Sachen geordnet hatte, zum Lebewohl wieder in das Zimmer trat. Er zuckte zusammen, gehorchte aber und stieg in Eva's Kammer hinaus. Sie war nicht drin; er suchte sie im Garten, auch da war sie nicht; man hielt Nachfrage im Dorfe; Niemand hatte sie gesehen. Der Vater sagte: ›Sie hat Recht, es ist besser so. Geh' ohne Abschied, Peter, und kehre zurück, – nicht früher, aber sobald Du ein Mann geworden bist, der ein Weib wie Eva verdient.‹

Hochaufathmend, so als ob ihm ein Stein von der Brust fiele, schwang sich der junge Peter auf's Pferd und jagte von dannen, als werde er verfolgt. Der Vater blickte ihm nach, bis er hinter der Altanklippe verschwunden war, dann ging er in die Sakristei und trug in das Kirchenregister unter die Reihe der Copulirten die Namen: ›Peter Paul und Eva Findling.‹ Wünschen Sie etwa einen Einblick, werther Herr Doctor?«

Der Doctor machte eine abwehrende Bewegung und der Erzähler fuhr in seiner Aufgabe fort: »Da Eva zu rechter Stunde nicht beim Frühstück erschien, suchte sie auch der Vater vergeblich in Haus und Garten. Noch war er ruhig. Als sie jedoch auch am Mittagstische fehlte, packte ihn die äußerste Sorge. Er lief in die Berge; laut ihren Namen rufend, durchforschte er Höhlen und Klüfte – ohne Spur. Auch die Gemeinde, in welcher sich die Kunde von dem räthselhaften Verschwinden des Findlings wie ein Lauffeuer verbreitet 34 hatte, ließ es an Nachforschungen nicht fehlen. Die Meinung, die sich seitdem im Volke festgesetzt hat, wurde schon an diesem ersten Tage laut. Männiglich nahm man an, daß der Vater das Evchen zur Heirath mit seinem Sohnes habe zwingen wollen. Ihr Betragen in den jüngsten Tagen, die Auslassungen der Mieke leisteten dieser Annahme Vorschub. Die Gegend wimmelte von französischen Truppen, welche der ruchbar gewordenen Schill'schens Expedition entgegen zogen. ›Sie ist zu den Franzosen gelaufen,‹ sagten die Aufgeklärten. ›Sie ist zu den Hexen zurückgekehrt,‹ die – Gläubigen. ›Sie will nicht entdeckt werden und sie wird nicht entdeckt werden,‹ murmelte der unglückliche Vater, als er spät am Abend, gebrochen an Leib und Seele in sein Haus zurückkehrte.

Dennoch gönnte er sich keine Rast. Mitten in stockfinsterer Nacht brach er noch einmal auf, wankend, ganz allein. Am andern Morgen fand man ihn vor der Grotte unter dem Altan – zerschellt.«

Der Erzähler gönnte dem Ausklingen der bittersten Erinnerung eine lange Stille, ehe er seine Mittheilung in einer feierlicheren Weise als bisher wieder aufnahm:

»An dem Morgen, als man den ehrwürdigen Peter Paul zur Ruhe senkte, hart an der Kirchenschwelle, wo das Kind seiner Wahl zum ersten und letzten Male das Knie vor ihm gebeugt und seine väterliche Hand geherzt hatte, an dem nämlichen Morgen verbreitete sich das Gerücht, daß sein Sohn, den Zerfall seiner Heimath nicht ahnend, sich dem Zuge des kühnen Vorkämpfers deutscher Befreiung angeschlossen habe. In verzweifelndem Schmach 35gefühl der Eine, im Stolze unerwiderter Liebe die Andere, so flohen unbewußt zwei Menschen von einander, kaum daß sie sich zu einer ewigen Einigung verbunden hatten. Zum zweiten Male trat das Schicksal mit einem Zufrüh an den unglücklichen Jüngling heran. Wolle es Gott, daß nicht, wie es oft geschieht, ein Zuspät diesen Vorgriff gerächt, daß er, wie die rechte Erhebungsstunde des Vaterlandes erlebt, so auch zu rechter Stunde den Bann des Herzens gebrochen habe, – noch brechen werde! – Ach wie tief mag schon damals der rächende Stachel in seine Brust gedrungen sein, als er nach Monden, wie durch ein Wunder dem Tode oder dem Bagno entronnen, seine Wunden kaum verharscht, vom Nothwendigsten entblößt, dem Zufall verrätherischer Entdeckung preisgegeben, auf Irrpfaden in seine Heimath zurückschlich, bei nächtlicher Weile an die Pforte seines Vaterhauses klopfte und dessen jähe Verödung inne ward. Verwaist, das Band der Zukunft in Irrung und Zweifel gelöst, alles dahin, was er bis dahin gehegt hatte, auch der Freund, der Vertraute, über Nacht in seiner Blüthe geknickt! In diesem Hause fand er Leonhard Kaisers letztes Lebewohl; von diesem Hause aus setzte er starr und stumm seinen Stab in die Weite auf Nimmerwiedersehen. Was in ihm vorging, nur Gott hat es gewußt. Des Armen Pfad wird rauh genug gewesen sein.«

»Er war es,« murmelte Peter Paul und seine Lippe bebte.

Auch diesen Nachklang ließ der alte Herr in einer langen Pause verhallen, gab dann schonend die feierliche 36 Weise auf und fuhr in ruhigem, geschäftsmäßigem Erzählertone fort:

»Der junge Paul schied aus seiner Heimath mit einem großmüthigen Akt. Ohne für sich selbst einen Nothpfennig zurückzubehalten, geächtet und brodlos wie er war, entsagte er vor dem Richter der Amtsstadt, seinem zuverlässigen Freunde zugleich seiner Familie und der deutschen Sache, dem keineswegs unerheblichen väterlichen Nachlaß, den jener geschäftskundige Freund schon bisher verwaltet hatte. Und zwar entsagte er zu Gunsten seiner Ehegattin Eva Findling und deren Erben. Kaum aber daß der gerichtliche Akt seinen Abschluß gefunden hatte, war unter einem aufregenden Ereignisse der junge Mann den Augen des Richters und aus der Gegend verschwunden – für immer.

Ein seltsamer Zufall, wenn wir es so nennen dürfen hat in dem Schicksale des jungen Paul mitgespielt, Herr Doctor. An dem Tage, an welchem er zum ersten Male, verzweifelnd an sich selber, den Wall dieser Berge überschritt, stieß er auf einen Vorfechter seines Vaterlandes, der ihn zu Sieg oder Untergang mit sich fortriß; und an jenem zweiten Morgen, wo er vor dem heimathlichen Richter die Nothbrücke zu seiner Vergangenheit niederriß, am Morgen des neunundzwanzigsten Julius, da stürmte ein anderer rächender Kämpe die Mauern der Stadt, in welche vor wenig Wochen der abtrünnige Student einen unblutigen Einzug gehalten, in welcher er kurz zuvor die bangen Tage seines Brautstandes hingebracht hatte. Zuverlässige Augenzeugen haben es bekundet, daß Peter 37 Paul sich unter der schwarzen Racheschaar des Oels befunden während des Gemetzels jener Juniusnacht. Nach ihr ist seine Spur für uns verloren gewesen bis – heute.

Jenes pflichtgetreue Depositum aber, das er in seiner Heimath zurückgelassen, keine Hand hat sich danach ausgestreckt. Sorgfältig gesichert, Zins auf Zins vermehrt, liegt es heute noch der rechtmäßigen Eigenthümerin harrend. Keine laute, oder öffentliche Nachforschung, welche ich, sobald ich mein hiesiges Amt angetreten, in Verbindung mit dem geschäftskundigen Richter mir angelegen sein ließ, kein Aufruf führten zu einer Entdeckung der jungen Frau. Ein Inserat zu unserem Zwecke finden Sie, Herr Doctor, in diesem Zeitungsblatte, das ich verwahrt habe. Ein ähnlich lautendes in einem andern Organ habe ich vor einer Stunde zu Händen des jüngeren Nachfragers gegeben, der mir versprochen hat, in den nächsten Tagen einen gültigen Nachweis dagegen auszutauschen.« –

Der Erzähler war an dem Punkte angelangt, um dessentwillen der Zuhörer diese wühlenden Erinnerungen so lange ertragen hatte. Mit athemloser Spannung hing er an den Lippen des alten Mannes.

»Ich wiederhole,« fuhr dieser fort: »unsere Bemühungen führten zu keinem Ziel. Eva Findling meldete sich nicht. Und doch lebte sie, war dem Verhängnisse ihres Vaterhauses keine Fremde, rang vielleicht auf schwerer entbehrungsvoller Bahn gleich dem, welcher um ihretwillen seinem Hab und Gut entsagt hatte. Am 38 ersten Jahrestage ihrer Ehe und Flucht, dem Todestage ihres Vaters, erhielt ich, als sein Nachfolger, eine englische Banknote über fünfzig Thaler mit den wenigen begleitenden Worten: ›für den Doctor Peter Paul ein Grabstein aus dem Porphyr der Altangrotte.‹

Hier ist das Blatt, werther Herr. Keine Namensunterschrift; aber unverstellt die klaren, entschiedenen Züge der Eva Findling, übereinstimmend mit allen Zeugnissen, die sich von ihrer Hand im Nachlasse ihres Vaters vorgefunden haben. Der Poststempel war der von Leipzig. Ich brach unverzüglich dahin auf, erfuhr aber nur, daß ein Unbekannter den Postschein in Empfang genommen habe. Ein erneuter öffentlicher Aufruf fand so wenig eine Erwiderung, als unsere Forschungen nach der Person, welche die Note irgendwo eingelöst haben mußte, zu einem Ergebniß führten, als auf der anderen Seite aber auch meine persönlichen Nachfragen nach dem jungen Paul bei vormaligen Lehrern und Studiengenossen, wie unter der Hand auch in den Reihen der britischen Legion, in welchen er zunächst vermuthet werden mußte, mir eine Richtung erschlossen, in der ich ihn an seine nächsten Pflichten hätte mahnen können. Er, so sah ich's an, war todt, oder von seinem Vaterlande weit entfernt. Er konnte, seine Gattin wollte nicht aufgefunden werden. Die Unruhe der Zeit hatte ihr Voneinanderfliehen begünstigt. Ob in einer späteren friedlichen die Erinnerung gelöscht, oder das mahnende Gewissen mit giftigen Zweifeln übertäubt worden ist, – Gott weiß es.

39 Eine Ueberzeugung aber,« lieber Herr,« so schloß der Pfarrer mit mild eindringender Stimme seine Rede, »ein unumstößlicher Glaube hat sich in meiner Seele ausgebildet, gebildet aus diesen reinen, sicheren Zügen, aus den anspruchslosen Worten der dankbaren Darbietung, welche vielleicht das Opfer einer ersten, saueren Ersparniß war, aus dem gesammten Wesen des seltsamen Findlings, der seinen Zeitgenossen für eine Dirne, oder Hexe galt: das Weib, das diese Zeilen schrieb, hat trotz der Verirrung einer Stunde, ein starkes und lauteres Herz in sich getragen. Spröde gebildet von der Natur, seit seinem ersten Schlage verläugnet von dem, an welchem es erwarmen sollte; aufgenommen in einen Kreis, in welchem es selber von dem wahrhaft liebenden Vater gemüthliche Pflege nicht gefunden hat; unverstanden, gemieden, verhöhnt von Jedermann und von dem Einzigen, dem es zum ersten Male, ja von jeher mit warmen Pulsen entgegenschlug, in die Irre geführt und verschmäht zu gleicher Zeit, wird dieses Herz erst in einem späteren Verhältniß sich in eingeborener Fülle entwickelt haben. Denn die Naturbestimmung des Weibes entfaltet sich nicht in allmäliger Steigerung wie die umfassenderen Organe des Mannes, bei welchem das mächtigste und zarteste oft erst auf seiner Lebenshöhe zum Bewußtsein kommt. Ob früh, ob spät, zu jeder Stunde und in jeder Lage, fühlt das weibliche Herz in dem Augenblicke, wo die Jungfrau entschlummert, – die Mutter erwachen. Recht, Pflicht und Ehre für ein zukünftiges Leben gesichert, zog sich die Hand dieses Weibes in Schmerz und 40 Unwillen zurück, als die Fülle, die sie bot, nur wie eine Bürde empfunden wurde; die Hand aber, die diese Zeilen schrieb und dem Grabe eines Vaters ein Denkmal der Dankbarkeit stiftete, o, zweifeln Sie nicht, lieber Herr, es war die starke Hand – einer Mutter!«

Der Doctor war in die Höhe gesprungen; seine Augen glühten, zitternd über den ganzen Leib packte er beide Arme des alten seelensuchenden Freundes. Der Freund ersparte ihm die Frage, für welche seine Brust um Athem rang. Indem er die Blicke des Aufgeregten vermied, wendete er sich nach den Scheiben, nickte grüßend hinaus und sagte heiter, als ob er mit dem vorigen Gegenstand abgeschlossen habe:

»Ei sehen Sie doch, Herr Doctor, wie schmuck da unten das junge Blut zu Pferde sitzt. Erkennen Sie ihn? Ihren Reisecumpan meine ich, der vor Ihnen nach dem Studenten Peter Paul bei mir Nachfrage hielt und mir für morgen den Besuch seiner Mutter in Aussicht stellte.«

»Der – der – der – ist?« stammelte der Doctor.

Der Greis warf einen raschen, prüfenden Blick auf den bebenden Mann, dann grüßte er noch einmal zu dem Vorüberreitenden hinunter und antwortete gelassen: »Seinen Namen wünschen Sie, Herr Doctor? Ja, seltsam! er nennt sich – Peter Paul!«

»Peter Paul!« schrie der Doctor und rannte aus der Thür.

Der alte Mann blickte ihm lächelnd nach. »Gottlob er zweifelt nicht,« sagte er, faltete dann seine Hände zu 41 einem stillen Gebet, und flüsterte, indem er eine Thräne in seinen Augen trocknete:

»Mein Sohn Leonhard, Du würdest nicht fünfundzwanzig – Jahre Dein Weib und Kind verloren haben.«

*

Doctor Peter Paul stürzte aus dem Pfarrhause als just der Student Peter Paul um die Thalecke sprengte. »Wohin reitet der junge Mann?« fragte er in wilder Hast den verwunderten Schenkwirth.

»Das Pferd, das ich ihm geliehen habe, soll morgen im Einsiedler in * abgeholt werden« – lautete der Bescheid.

Der Wirth hat kein zweites Pferd mit Sattel und Zaum zu verleihen. So fordert der Doctor ein leichtes Fuhrwerk so rasch als möglich, um jeden Preis. Er drückt dem anspannenden Knechte ein reichliches Trinkgeld in die Hand, verspricht das Doppelte, wenn der Reiter noch auf dem Wege eingeholt werde. Alles geht ihm zu lässig; die treibenden Thaler fliegen nur so aus der Tasche; er hilft selber beim Anschirren und verzögert's ungeschickt mit seinen zitternden Händen.

Endlich sitzt er im Wagen, zwei rüstige Bergpferde ziehen an. Aber der holperige Thalpfad ist fahrend schwerer als reitend zu passiren. Sie kommen durch's Städtchen, an dem Wirthshause vorüber, in welchem der Doctor gestern mit dem fremden Weggesellen die erste frohe Stunde seit Jahren verzecht hat. Vorbei! Vorbei!

42 Fernab auf der Landstraße da zeigt sich ein Punkt, ein Umriß, Roß und Mann. »Jag' zu, Kutscher, jag' zu!«

Schon sind sie dem Reiter auf den Fersen, da giebt er seinem Gaule die Sporen und trabt voran. »Ihm nach, ihm nach!« Eile mit Weile! höhnt ein Kobold, der nicht mit sich spotten läßt. Vom Wagen löst sich ein Rad, von dem Pferde das Eisen. Der Abend ist angebrochen, als der Doctor die Stadtmauer erreicht, hinter welcher er einst die bangevollste Woche seines Lebens über der Exegese des Markus zugebracht, dann einen kecken Husarenstreich ausgeführt und endlich einen blutigen Rachekampf bestanden hat.

Aber der Doctor denkt nicht an überstandene böse Tage; seine erste, einzige Frage an den Herrn des Gasthofs ist nach dem Studenten, der auf dem Pferde des Gebirgswirths bei ihm eingekehrt ist?

Man weist ihn in das Theater, in welchem eine berühmte Wiener Schauspielerin, bei der Truppe, unter der sie vor Jahren debütirt hat, und in der nämlichen Rolle, in der sie es gethan, an diesem Abend von der Bühne Abschied nimmt.

Der Doctor hört die geläufige Mittheilung nicht zu Ende. Was geht die Schauspielerin ihn an? Sein Herz zittert nach dem Zuschauer. Er stürmt nach dem Komödienhause; es fällt ihm nicht ein, daß dieses Haus zu seiner Zeit eine Kirche war. Mit Gewalt drängt er sich durch den Menschenknäuel in der Seitenreihe. Kopf bei Kopf ist der Raum gefüllt. Dennoch zeigt der erste Blick ihm den, welchen er sucht. Jenseit an der vordersten 43 Säule, das strahlende Auge an die Bühne geheftet, da steht der Student aufrecht wie eine Kerze, aber nicht in Pekesche und Käppchen, sondern im schwarzen Staatshabit, als gälte es eine Promotion, oder akademische Ehrenfeier. Die Aufführung ist auf ihrem Höhenpunkte angelangt; die Zuschauer starren in stummer Angst nach dem brennenden Schlosse von Thurneck. Ohne einen Blick von seinem Gefundenen zu verwenden, schiebt sich der Doctor auf die andere Seite, entlang der Bühnenrampe, vor welcher die Musikanten der Schaulust des Publikums haben weichen müssen. Einen Schritt noch und er hat seinen Mann erreicht, seine Arme greifen nach ihm aus, seine Füße wanken, die Stimme versagt, da – neckendes Schicksals – da verschwindet der Mann zwischen der kleinen, hinter die Coulissen führenden Thür.

Zum ersten Male wirft der Doctor jetzt einen Blick auf die Bühne. Durch den Saal geht kein Athemzug. Hoch oben in der Fensterbrüstung des wankenden Schlosses erscheint unter Rauch und Flammensäulen das Käthchen von Heilbronn. »Eva! Eva!« schallt aus dem Parterre die Stimme eines Rasenden durch den Raum.

Das Käthchen erschrickt zwischen dem schwankenden Rahmen, es strauchelt, es fällt zu Boden; in dem nämlichen Augenblicke, wo aus der Coulisse ein junger Mann, aus dem Parterre über die Lampenreihe setzend, ein älterer auf die Bühne und zu ihren Füßen niederstürzen. Eine Komödie in der Komödie. Der Vorhang fällt.

44 Aber vor und hinter demselben welch' ein Rumor, welch' ein Drängen und Fragen! Lebt die Künstlerin? Hat sie sich beschädigt? Wer ist der wahnwitzige Fremdling, dessen Aufschrei das Unheil verschuldete und der achtlos auf die Neugier um ihn herum das bewußtlose Weib in die Arme preßt, als wäre es sein? Wer ist der Jüngling, der über sie gebeugt ihre Hände mit Küssen und Thränen bedeckt?

Gottlob! die Künstlerin lebt; sie ist nicht verletzt; sie erholt sich von ihrer jähen Betäubung Sie streicht mit der Hand über die Stirn und blickt in rasch aufloderndem Verständniß auf die Beiden, deren Arme sie umfangen halten.

»Eva, mein Weib!« schluchzt der Mann.

»Mutter, meine Mutter!« jubelt der Jüngling.

Sie richtet sich in die Höhe, die zarte, elfenartige Gestalt, an welcher die Zeit ohne Spur vorübergegangen scheint; sie windet sich aus den umstrickenden Armen und drückt das Haupt des Sohnes an das Vaterherz.

»Da nimm ihn und halt ihn fest!« spricht sie mit glockenheller Stimme und ein frohseliges, halb schelmisches Lächeln mildert den feierlichen Ernst des Blicks. »Er war mein Glück bis heute; meines allein. Nun theil' ich ihn mit Dir und sühne durch ihn die Schuld meiner Liebe zu dem – unglücklichen Peter Paul.«

*

Und so in ehrbarem Ehestand wie ein Roman der guten, alten Zeit, schließt unsere Stromfahrt mit dem Doctor Peter Paul. Geduldiger Leser, als wir dich ein 45luden in unseren Kahn, da glitt der Fluß, in der Niederung eingedämmt, ohne Wellenschlag dahin. Hüben und drüben breite, gelbgrüne Wiesen bis an den grauen Horizont. Dann und wann ein Ellernbusch, eine Weide mit geborstenem Stamm; ein käuendes Rind; ein Kiebitz im Röhricht, gravitätisch stolzirend ein Storch; der spitze Kirchthurm in der Ferne. Nur ein Künstlerauge, oder ein Heimathherz kann diese Landschaft lieb gewinnen. Selber das stillnährende Wasser scheint seinen Ursprung in den Bergen vergessen zu haben.

In den Bergen! Denn freilich, der Strom, welcher aus eigener Kraft in weitem Laufe bis zum Ocean antreiben soll, wird zwischen Felsengründen seine Wiege haben, wird sich durch Klüfte gerungen, in Untiefen gestürzt, mag im Drange der Jugend Wehre und Schleusen, Stege und Brücken mit sich fortgerissen, friedliche Hütten in seinem Strudel begraben haben. Alte Stromesart, wer kennt sie nicht? Aber der Leser rechnete auf eine kurze, lustige Fahrt thalab, auf einen bunten Markt, wallende Segel im Hafen, zum Schlusse das Meer. Und wir lenkten zu Berg. In langsamem Zuge wanden und krümmten wir uns bis zu den Quellen. Ja zur Stunde lockt uns die Nymphe des Flüßchens, das sich in unseren Strom ergossen hat, in ein noch weit romantischeres Thal. Aber halt! Nicht der Romantik zu viel in unserer Zeit! Geraden Laufes, mit geschwellten Segeln, kehren wir mit dem glückseligen Peter Paul zurück zu dem Landungsplatz, an welchem 46 wir uns mit dem trübseligen Peter Paul vor acht Tagen eingeschifft.

Ist Revolution in unserer namenlosen Stadt? Brennt's? Hat eine Wasserhose ihre Blüthengärten überschwemmt? Ist ein Meteorstein dem großen König auf's Haupt gefallen? Kleinliche Fragen! Doctor Peter Paul ist aus den Bergen heimgekehrt mit einer Frau und einem mündigen Sohn!

Aber alles Ding will ein Ende haben; auch das Wundern über ein Wunder, auch der Rumor über die Silberhochzeit eines Junggesellen. Der Doctor heilt und schneidet mit so glücklicher Hand, aber mit weit glücklicherem Humor als ehedem und nicht das kritischste Auge merkt es der Doctorin an, daß sie fünfundzwanzig Jahre Komödie gespielt hat. Was aber die Hauptsache ist: Doctor und Doctorin sind reich und haben einen heirathsfähigen Sohn. Willkommen also mit Hand und Mund!

Nicht in des Kämmerers ödem, sonnenlosem Kloster draußen im Freien haben sie ihr Nest gebaut; daheimst das Jubelpaar mit der versäumten Lust der grünen Flitterwochen. Doctor Peter Paul ist unerschöpflich an Schätzen, die er fünfundzwanzig Jahre heimlich im Herzen vergraben hat, der Matador aller Hagestolzen ist zum Matador aller Ehemänner umgewandelt und schier mit Hexenkünsten fängt Frau Eva einen scheuen Vogel nach dem Anderen in dem Netze, welches sie über dem scheusten zusammengezogen hat. An der Seite eines vermöglichen Wittweibchens reformirt Major Bock anjetzo Haus und Staat nach den Grundsätzen nicht der ledigen, aber der 47 ehelichen Capacität. Der Rathskämmerer fühlt sich just nicht unbehaglich unter dem schwiegermütterlichen Pantoffel der regierenden Frau Bürgermeisterin. Die Loge der Hagestolzen ist nicht zu Stande und die Steuer der Junggesellen, in Betracht der täglich sich mindernden Contribuenten, gar nicht in Frage gekommen. Alles schaut fröhlich drein, wie sich's am Schlusse der Erzählung geziemt. Selber der alte Lieutenant hat sich über seinen Saufang mit einem Pudel getröstet, den ihm Frau Evchen geschenkt und der Hauptmann von Bärenfell brummt nur noch selten über die leeren Plätze im großen König, denn Frau Evchen braut einen kräftigen Punsch und hat für tapfere Schwänke das geduldigste Ohr.

Aber der Rector, der Sänger der Liebe? O, der singt! An Dora? Arme Dora! »Eva am Bach, Eva in den Bergen, Eva's Wiegensang!« Gefühlvolle Leserin, die Du dazumal jung warst und jetzt leider es nicht mehr bist, sollten die Lieder der »Herbstminne« nicht manches Mal ein Thränchen aus Deinem Auge gelockt haben? Ein Gottesglück, fügen wir beruhigend hinzu, ein Gottesglück, daß kein Ehemann, jemals weniger eifersüchtig auf einen Hausfreund gewesen ist, als unser Doctor Peter Paul.

Den fünften Mai jeden Frühlings, den feiern sie in den Bergen in dankbarer Rückerinnerung; seit vielen Jahren leider auch an ihren seelensuchenden Freund, den Vater von Leonhard Kaiser. Dort in den Bergen, umgeben von Enkeln und Urenkeln haben sie auch die goldene Hochzeit gefeiert, fröhlicher als die grüne, so rüstig 48 und jugendfrisch, als ob es die silberne gewesen wäre und möge der Schein nicht trügen, der ihnen noch die diamantene in Aussicht stellt.

Du aber mein lieber Leser, willst Du ein glücklicher Ehemann werden, so verliere Dein Evchen am Trauungstage und finde es nach der Silberhochzeit wieder auf. Wenn Du aber kein steifer Peter bist, so laß' es bei der alten Regel.

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