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Ja, ich mußte ihn noch einmal vor seiner Abreise sehen, ihm die Hand drücken und meine ewige Hochachtung und Freundschaft versichern! War er doch beinah im Aerger von mir geschieden, als er die Angelegenheit zum letzten Male hier unten in Matzendorf mit mir bereden wollte. Zwar zu meinen warnenden Vordersätzen, wie zum Exempel: »Bleibe im Lande und nähre Dich redlich,« oder »Wasser hat keine Balken,« da konnte er wohl lächeln und mir mit gleicher Münze dienen in Prosa wie Poesie. Als ich nun aber in meinem Pflichtgefühl einen tieferen Schnitt wagte und ausrief: »Heinrich, mein Sohn, bedenke, welches Schicksal Du auf Dich ladest! Bedenke: Gott, der Herr, ist ein starker, eifriger Gott, der die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern bis in's dritte und vierte Glied!« da wurde er roth vor Scham und Zorn bis unter die dicken, braunen Locken, die er so schön von seiner seligen Mutter, meiner lieben Muhme, geerbt hat, und antwortete mit zitternder Brust: Herr Vormund, das Wort kam nicht aus Ihrem Herzen und es ist eine Lästerung in diesem Sinne. Gott, der Herr, ist der Unschuld Hort. Er wird die unglückliche Waise beschützen und meine Liebe, meine 102 fleißige Hand, die sollen das Werkzeug seiner Gnade sein. Und mit diesen Worten brach er den vorigen Gegenstand ab, entfernte sich bald, und ließ mich traurig und voller Scham zurück.
Denn, daß ich der Wahrheit die Ehre gebe: der Mensch hatte mit seiner Einwendung an meine wundeste Stelle gegriffen und nie war ein unredlicheres Wort über meine Lippen gegangen, als das, welches er eine Lästerung nannte. Ja, lange, lange vorher, ehe ich selber des Herrn Gesetz katechisirte, dazumal, als ich noch selber darüber katechisirt worden bin, habe ich bei dem: »was sagt nun Gott von diesen Geboten allen?« jedesmal einen brennenden Schmerz empfunden und mein unruhiges Gewissen niemals über diesen hochwichtigen Punkt zum Schweigen bringen können. Gott vergebe mir die Sünde! aber sollte ich wirklich kein rechtgläubiger Christ sein, weil es nun und nimmer in mein Herz will, daß unser himmlischer Vater die Missethat an dem unschuldigen Samen des Missethäters rächt, ja gälte es meine ewige Seligkeit – ich kann und kann es nicht glauben. Meine liebe Ehefrau hatte, wider Befürchten, wenig gegen mein Vorhaben einzuwenden, dahingegen nach ihrer schätzenswerthen Gewohnheit, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, mich mit mancherlei Besorgungen für die eigene Haushaltung, wie für die unserer freundlichen Nachbarinnen zu beauftragen, und so befand ich mich denn an einem schulfreien Nachmittage auf dem Wege, den ich gewöhnlich im Jahre nur zweimal am Jahrmarktsdienstage und zwar, wenn meine 103 Doris sich just nicht allzuweit in gesegneten Leibesumständen befindet, an ihrer Seite zurückzulegen pflege. Ich athmete hoch auf, mein Herz klopfte hörbar, als ich glücklich so weit vorgedrungen war. Stand mir doch heute noch ein Großes bevor, noch außer dem Abschiede von meinem jungen Freund!
Aber wie soll ich mich nun ausdrücken, über das, was jetzt meine Seele bewegte? Seitdem ich zu denken vermag, hat mich auf der Welt Nichts in gleichem Maße interessirt, als das, was man so gemeinhin »Spuk« nennt. In jeder freien, ruhigen Viertelstunde kehrten immer und immer von Neuem dieselben Fragen und Zweifel in meine Brust zurück: Giebt es Gespenster? Darf ein abgeschiedener Geist noch Umgang pflegen mit einem irdischen Geist? Ist Wahrheit in dem, was Unsereiner von verborgenen oder zukünftigen Dingen zu entdecken oder vorauszuspüren vermag?
Zwar ich selber habe nie etwas entdeckt oder vorausgespürt; und dürfte ich nach meiner eigenen, schlechten und rechten Erfahrung schließen, so gäbe es unter der Sonne nichts weiter, als was jeder alltägliche Mensch mit Augen sehen und mit Händen greifen kann. Habe ich jemals etwas Geisterisches empfunden, wenn ich um Mitternacht über unsern Gottesacker ging? So oft ich in der Gemeinde, aus freien Stücken, die Nachtwache in einem Leichenhause versah, spürte ich jemals etwas Anderes, als auf richtiges Leidwesen um den Abgeschiedenen? Ja, fast möchte ich mich schämen, es niederzuschreiben, aber in einem Tagebuche, das doch wohl schwerlich auf die Nach 104welt gelangen, und gleichsam nur zur innerlichen Ordnung geschrieben wird wie ein Haushaltsbuch zur äußerlichen, da schätze ich Gewissenhaftigkeit sonder Scham noch Scheu als Nummero Eins; also: die erste Nacht, da ich aus dem Seminar entlassen worden war, wo trieb mich meine Wißbegierde hin als auf den alten, verrufenen Galgenplatz? und die letzte ledige Nacht, ehe ich meine Doris heimholte, wo schlich ich mich hin, als in die Kirche auf die Schwelle unserer herrschaftlichen Gruft? Da saß ich in der halbgeöffneten Fallthür, und preßte den Athem ein und lauschte und lauerte, bis der Hahn krähte, und fühlte den scharfen Luftzug durch das klaffende, knarrende Kirchenfenster und eine Gänsehaut über meinem ganzem Leibe, aber von Gespenstern, wie sie der Volksmund an diesem Orte umgehen läßt, keine Spur.
Mehr noch als das. Habe ich in meinem Leben nur ein einziges Mal geträumt? Alle Welt spricht von Träumen, von köstlichen und seltsamen Erscheinungen, die uns im Schlafe aufzusteigen pflegen. Ist mir nur je das Allergewöhnlichste aufgestiegen? Und wie habe ich mich nach einem Traumbilde gesehnt! Ich fühle mich ja so glücklich in meiner Stellung als Lehrer der Jugend, wie als Familienvater; aber geträumt hätte ich gar zu gern einmal, wie es in Wahrheit auch einem andern Menschen zu Muthe ist; zum Beispiel, einem König, oder einem hohen Kirchenbeamten; einem Manne, welcher über Tausende zu gebieten hat: einem, der das Meer durchschifft, oder die höchsten Berge besteigt, die auch im Sommer noch Schnee bedeckt und deren Gipfel 105 mit einem Purpurlichte übergossen sind. O, die Glücklichen, die träumen können! die seltsamsten Pflanzen- und Thiersorten, Abenteuer und Heldenthaten, fremde Gegenden und merkwürdige Personen, alles das sehen und erleben sie im Traume ohne jegliche Unbequemlichkeit und Geldkosten. Aber ich – ich entbehre dieses Glück. Jahre lang – jetzt bin ich in mein Schicksal ergeben, – aber Jahre lang legte ich mich jeden Abend zur Ruhe in der heimlichen Hoffnung zu erfahren, wie es ein wandernder Geist zu treiben im Stande ist, und jeden Morgen erwachte, ich, sann und sann und besann mich auf Nichts. Indessen, konnte ich es nicht wieder vergessen haben? Ich hatte vielleicht gleich nach dem Einschlummern die wunderbarsten Gesichte gehabt und sie waren mir nur im Laufe der Nacht wieder entfallen, etwa: weil meine Memorie im Traume nicht, wie im wachenden Zustande, treu und kräftig das Erlebte aufbewahrt. Ueber diesen wichtigen Punkt mußte ich mir Auskunft zu verschaffen suchen.
Einmal, während der Hundstage, es ist mir wie heute, fragte auf einmal mein Jüngster: »Mutter, was hat denn der Cerberus (mein Pudel), er schläft hinter dem Ofen und heult doch dabei?« – Er träumt, » Adalbertchen,« antwortete Doris. Er träumte! Cerberus, ein Pudel! Und ich? Ich fühlte mich erschüttert. Es war Ferienzeit und sengend heiß; ich mache mir einen Vorwand und streife in die Felder. Stundenlang irre ich müßig grübelnd umher; endlich, gegen Abend kehre ich heim. Doris sitzt noch am Fenster und stopft die 106 Strümpfe von der letzten Wäsche; die Kinder tummeln sich im Dorfe; wir sind allein. Ich stelle mich vor sie, fasse ihre Hand und frage feierlich:
»Antworte mir, Doris, antworte mir wahrheitsgetreu: träume ich in der Nacht?« –
»Närrischer Mensch,« – entgegnete sie« lachend,– »was weiß ich's?« –
»Spreche ich im Schlafe?« –
»Nein.« –
»Weine ich, lache ich?« –
»Nein.« –
»Schreie ich nicht auf vor Schreck und Wunder, mache keinerlei Geberden?« –
»Behüte.« –
»Doris,« frage ich weiter, in wehmüthiger Zerstreutheit, »Doris, was thu' ich denn?«
»Du schnarchst, Thomas,« antwortete sie noch lauter lachend als zuvor.
Ich schnarchte, – weiter nichts. Sie sagte es, und ich mußte es glauben. Aber bewiesen war im Grunde dadurch nichts; denn ich wußte vom Schnarchen so wenig, wie vom Träumen, heimlich wie ich geschnarcht, konnte ich geträumt und wie schon gesagt, gegen Morgen nur alles wieder vergessen haben.
Ich suchte mich also zu fassen, kämpfte alle Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Träumenden nieder, holte meine Bibel und las von Neuem alle Stellen über die großen Heiligen und Propheten, die vor Zeiten Träume gehabt und Anderer Träume gedeutet hatten. Und da sagte ich endlich zu mir selbst: »ach ich bin ein gewöhnlicher Mensch, wie sollte ich die herrliche Gabe verlangen? Darf ich zweifeln an Allem, was ich nicht weiß und kann? Ihr lieben Sterne am Himmel, ihr freundlichen Gotteslichter, ihr sollt Welten sein, wie unsere Erde eine ist. Große Geister haben eure Bahn gemessen, eure 107 Ferne, euren Umkreis, die Minute eures Kommens und Schwindens berechnet: darf ich es leugnen, weil ich es niemals ergründet haben, weil mir mein Lebtage ein Schein gewesen sein würde, was nun eine Welt ist? Der blinde Pfeifer unten am Bach soll er behaupten, daß es keine Farbe, der arme, kleine, taubstumme Gottfried, daß es keinen Ton gebe in der Natur, weil ihnen der Sinn dafür gebricht? Und so kann es auch noch andere Sinne und Wahrnehmungen geben, – nur nicht für mich, und so kann es auch Träume und Traumgeister geben, – nur nicht für mich!«
Heute aber sollte ich von Augen- und Ohrenzeugen eine wichtige Aufklärung erhalten, über dieses dunkle Gebiet; was ich heute erfahren würde, lag schwarz und weiß beglaubigt und versiegelt vor Gericht. Advokaten und Rechtsgelehrte, die doch nicht im Geruche stehen, zu leicht und zu viel zu glauben, hatten ihren Spruch darüber gefällt. Heute endlich erfuhr ich die Wahrheit über jene schauerliche Geschichte, welche auch auf meines lieben Mündels Schicksal einen so mächtigen Einfluß geübt hat, daß sie ihn über das Meer hinweg in einen fernen Welttheil treiben soll.
Solcherlei Erwägungen und Erwartungen beschäftigten mich, bis ich vor dem großen Fabrikgebäude ankam, das mit seinem weitläufigen Hofe und Irrgarten am äußersten Ende der Stadt gelegen ist. Ich trat vor das Eisengitter der Einfahrt; meine Augen folgten der steinernen Mauer, welche das Grundstück umschließt, bis das Gebüsch sie mir verdeckte. Im Hintergrunde, wo Hof und 108 Garten – ich würde ihn lieber Wald benennen, – in einander laufen, sah ich die langen Scheitholzreihen aufgeschichtet, welche die Fabrik auf Jahr und Tag versorgen.
Wie es eines gründlichen Geschichtsforschers Pflicht, hatte ich jetzt das Feld mit eigenen Augen beobachtet, auf welchem eine gewaltige That vor sich gegangen ist; meine Aufregung war dadurch nur um so höher gestiegen und die mancherlei Aufträge, die ich übernommen hatte, waren in sofern eine Wohlthat für mich, als sie mir Muße gaben, mich in eine schickliche Verfassung zurück zu versetzen, ehe ich vor meinem Heinrich und dem wunderbaren Mädchen erschien.
Die Aufträge führten mich, wie man zu sagen pflegt, von Pontius zu Pilatus und so war denn schon die Sonne im Verschwinden, als ich an dem entgegengesetzten, oberen Ende der Stadt vor dem kleinen Hause anlangte. Es lag, von allen übrigen getrennt, mitten im Garten, so daß ich vom Fahrwege aus nur das Dach- und Giebelstübchen gewahr wurde, in welchem mein Mündel wohnen sollte. Eine Weile stand ich dem Häuschen gegenüber unter einem blühenden Apfelbaume, die Hand auf dem Herzen und bemüht, mir eine anständige Sammlung einzureden. Jählings aber fahre ich zusammen, denn die Thür in der vorderen Mauer thut sich auf und eine Gestalt tritt heraus, die ich im Dämmerlichte noch deutlich genug zu unterscheiden vermag. Sie trug ein schwarz und weiß getüpfeltes Trauerkleid von Kattun und ein dunkles, sogenanntes Zahnschmerzentuch über ihrem hellblonden Haar. Sie war 109 lang und schmächtig, das Gesichtchen blüthenweiß und zu Boden gesenkt wie ein Schneeglöckchen. Als sie aber im Vorübergehen, – nein, Schweben muß ich sagen, denn die Füße berührten kaum den Boden, – die Augen zu mir in die Höhe schlug, waren sie dunkel und größer als alle Augen, die mir mein Lebtage vorgekommen sind, und in dem Blicke lag eine so fromme Ernsthaftigkeit, wie ich sie kaum in einem blutjungen Mädchen vermuthet hätte. »Kein Wunder,« dachte ich bei mir selbst, »denn dieses Mädchen ist – Klara!«
Sie trug einen frischen, grünen Kranz in ihrer Hand und war bald hinter Mauern und Hecken verschwunden. Mit weit leichterem Herzen ging ich nunmehro über die Straße auf ein Mütterchen zu, das unter der Gartenthür stehen geblieben war, und dem Mädchen nachblickte, bis sie es aus den Augen verloren hatte. »Um Vergebung,« sagte ich, meinen Hut ziehend, »komme ich hier recht zu dem Armenlehrer Heinrich Binder?«
»He?« fragte die Alte, die Hand am Ohr; aus welchen Beweisen der Schwerhörigkeit mir die Ueberzeugung bestätigt ward, die ich schon vorhin beim Anblick der Figur gewonnen, daß ich es nämlich mit der geeigneten Person für den wissenschaftlichen Zweck meines Ausflugs zu thun hatte. Denn es war mir längst bekannt, daß die Jungfer Zippen ein wenig taub, wie auch vorn und hinten mit einem ansehnlichen Höcker, gemeinhin Buckel genannt, aus diesem Grunde aber in der ganzen Gegend mit dem gottlosen Spitznamen: »die kleine Kaule« behaftet war.
110 Ich wiederholte meine Anfrage noch höflicher und bedeutend lauter, indem ich meine Muthmaßung über ihre werthe Person hinzufügte und mich als den ehemaligen Vormund des Armenlehrers, den Schulmeister Thomas Luft aus Matzendorf, zu erkennen gab.
»Ich bin die Zippen,« – antwortete die kleine Jungfer ausnehmend freundlich; – »Sein Armenlehrer ist nicht zu Hause; aber komme Er nur mit hinein und warte Er bei mir, bis er zurückkommt. Herr Luft also? he, he! doch nicht Bruder Luft etwa, hehe?« –
»Bitte recht sehr, auch wohl zu Zeiten« antwortete ich. Das war nun freilich nicht meine ganz ehrliche Ueberzeugung, denn ich darf mich, glaub' ich, ohne Eitelkeit für einen leidlich gesetzten Mann taxiren. Indessen eine kleine Unwahrheit aus Bescheidenheit, oder bei scherzhaften Gelegenheiten habe ich niemals für eine große Sünde halten können. So spaßhaftig hatte ich mir »die kleine Kaule« aber gar nicht vorgestellt; ich fühlte mich gleich wie zu Hause in ihrer Nähe, daher ich denn auch bald ganz herzhaft mit meinem Anliegen herausrückte, die merkwürdige Begebenheit, deren Zeugin sie gewesen, aus der ersten Quelle, gleichsam aus dem Grundtexte, zu vernehmen.
»Er kommt mir wie gerufen, lieber Mann,« – versetzte die Alte, – »denn bin ich gleich nicht grauerlich von Natur, und trage ich auch ein starkes Panzerhemd gegen mancherlei Anfechtungen an mir,« – sie deutete dabei auf ihren Buckel vorn, der aber zugleich ihr Herz vorstellen konnte; – »wenn man aber erlebt hat, was 111 ich erlebt habe, da wird es Einem mitunter doch schwarz vor den Augen Abends, mutterseelen allein in einem Hause, in dem man geboren und gezogen ist und das man in seinem siebenzigsten Jahre räumt, ohne dabei in das Grab zu steigen.«
»Siebenzig Jahre!« rief ich überrascht, »ich hätte die Jungfer Zippen kaum für fünfzig taxirt.«
»Glaub's gern,« versetzte sie lachend, – »wer im zwanzigsten Jahre das Ansehen eines Fünfzigers hat, pflegt's im siebenzigsten noch zu haben. Aber Er wird hungerig geworden sein, Schulmeister; setze Er sich und nehme Er fürlieb. Hätte Er mir früher die Ehre erzeigt, sollte Er's besser gefunden haben. Jetzunder ist Alles verkauft und verpackt und 's sieht bei mir aus, als ob mir die Hülfe gethan worden wäre.« –
Sie war während dieser Rede nach dem Ofen gegangen, in welchem der Baumblüthzeit zum Trotz, ein Schauerchen seine angenehmen Dienste that; hatte aus der Röhre die braune Kaffeekanne geholt, welche in unserer lieben deutschen Gegend in einem nicht allzu erbärmlichen Haushalte den Tag lang selten leer zu werden pflegt; hatte auch bereits die einzige Tasse, welche ich bemerken konnte, ausgewaschen und vollgeschenkt. Darauf wickelte sie aus einem weißen Papier eine Partie zierlich wie Erbsen geschlagener Bröckchen Zucker, holte aus einer Kiste ein paar ansehnliche Stücke Kuchen hervor, die sie vor mir ausbreitete und mich nochmals zum Zulangen nöthigte.
112 Wenn mir vor einer Stunde Einer gesagt, daß ich in diesem Hause etwas verzehren könnte – und noch dazu mit Genuß, – ausgelacht hätte ich ihn. Und alleweile schmeckte es mir wie lange nicht. Freilich, Kartoffelkuchen ist immer mein Leibkuchen gewesen, und der weite Weg sowie die Aufregung, die mich heute Mittag wenig zum Essen kommen gelassen hatten, thaten auch wohl das ihrige; die Hauptsache aber war doch die muntere Art, mit welcher die kleine Jungfer in meinem Gemüthe alles so hübsch in's Gleiche zu setzen verstand.
»Delicat, delicat!«« rief ich mit gerechtem Beifall, »selber gebacken, Jungfer Zippen?«
»Versteht sich,« antwortete sie; – »ich habe mein Lebtage für eine Kuchenbäckerin gegolten. Nun ist es mir lieb, daß Er mein letztes Stück Arbeit noch zu kosten kriegt, Schulmeister; denn in der neuen Welt wird es wohl schwerlich zum Kuchenbacken mit mir kommen.« –
Ich drückte ihr hierauf meine Verwunderung aus, daß Eine in ihren Jahren sich noch zu einer beschwerlichen Seefahrt und Trennung von der Heimath entschließen wolle; und die Zippen entgegnete mir:
»Närrischer Mensch, kann ich denn anders? Wenn Er mein blasses Kind gesehen haben wird, da soll Er mir sagen, ob es hier zu Lande hätte bleiben können, ohne sich an seiner Erinnerung zu verbluten? Und sollte ich die Kinder allein ziehen lassen und ihnen aus dem Unglückshause nachstarren, wie die alte dumme Henne in der Fabel ihren schwimmenden Entenküchelchen? Wen hätte ich denn noch lieb haben können auf der Welt, 113 wie dieses Kind? Ich meine nicht mit Menschenliebe, – aber mit Mutterliebe, Mann. Und wenn ich's nun dennoch gewollt, um das junge Blut nicht gleich von Anfang mit der Last eines alten Krüppels zu beschweren – eines von uns Beiden hätte nichts zu brocken und zu beißen gehabt, sie oder ich. Wo aber so ein alter Siebenziger seine Grube findet, ob er sich oben in seinem elterlichen Himmelbett zu Tode schläft, ob ihn unten im Meeresgrunde die Haifische nagen, – sein Herrgott wird ihn überall bald zu finden wissen. Wo aber eine Siebenzehnjährige ihren Heerd aufbaut, das ist die Sache! Darum: Vivat mein Klärchen! und ohne Zuck und Muck lustig hinüber in ihr neues Vaterland!«
Die kleine, krumme Alte sagte das alles mit noch ganz anderen Worten, die ich nicht deutlich wiederzugeben vermag. Es klang wie Spaß und steckte doch ein Ernst dahinter, daß mir der Kuchen im Halse würgte und ich vor lauter Rührung kein Wort hervorbringen konnte. Ich trocknete meine Augen, drückte ihre Hand und, nachdem ich mich ein Wenig gefaßt hatte, sagte ich: »Sie haben ein starkes Herz, Jungfer Zippen! Gott im Himmel wolle Sie segnen, Sie und Ihr liebes Kind!.«
»Amen!« – sprach die Zippen ruhig und räumte das Kaffeegeschirr aus dem Wege. – »Aber,« hob sie darauf an, – »jetzt wird es Zeit, daß ich mit der Geschichte vorrücke, auf die Er ein Anrecht hat, Schulmeister, als ehemaliger Vormund und als ein guter Mensch. Denn wenn das Kind kommt, daß Er sich da kein Wörtchen verlauten läßt und beileibe nicht etwa 114 flennt. Der Weg wird sie so schon mürbe genug gemacht haben und mein Trost ist nur, daß der Armenlehrer ihr zur rechten Zeit an die Seite treten wird, da er so gut wie ich gemerkt, für wen sie den Abschiedskranz von Immergrün gewunden hat. Nun, der Gottesacker ist ein gutes Ende von hier und ein Stündchen bleibt uns wohl in Ruhe für die Geschichte.«
»Aber die Erzählung wird Sie angreifen, werthestes Jungfer,« wendete ich mit schuldiger Rücksicht ein.
Sie schüttelte den Kopf und sagte: – »Guter Mann, was einem Tag und Nacht am Herzen frißt, wie ein Wurm, das thut ordentlich wohl, wenn man es einmal über seine Zungenspitze laufen fühlt.«
Sie hatte während dessen die Lampe angezündet und den Strickstrumpf vorgezogen. Sie setzte sich auf eine Lade, die am Boden stand; ich aber mußte, ich mochte depreciren so viel ich wollte, auf dem einzigen Stuhle ihr gegenüber meinen Platz einnehmen. Sie hob an:
»Ich selber munterte sie zu dem Wege auf – –«
» Wen, wenn ich bitten darf, liebe Jungfer Zippen?« fragte ich.
»Nun, wen denn anders, als meine Schwestertochter die Christine, von der die Geschichte handelt,« – antwortete sie. – »Aber ich merke schon, daß ich weit ausholen muß, wenn Er den Zusammenhang capiren soll. Also: die Christine war von ihrem ersten Schrei an wie mein leibliches Kind, denn ihre Mutter starb in der Geburt mit ihr. Ja, Schulmeister, damals brachte ich in Erfahrung, wie es dem armen Manne zu Muthe ge 115wesen, dem sein einziges Lamm geraubt worden war. Denn ich stand noch in jungen Jahren und wenn die anderen Trinen Sonntags Nachmittags mit ihren Liebsten zum Tanz in's Dreierhäuschen spazierten, oder die Ehelichen, ihre Wickelkinder im Arme, auf und niedertänzelten und über die arme, kleine Kaule lachten, die vor der Thür ihre Fellchen nähte, da lachte ich wieder aus Herzensgrunde und sagte: ›Spottet Ihr nur immer, ihr Schnickschnacken! Ich brauche keinen Schatz und keinen Wurm; ich habe meine Schwester, die Christel, und die Christel ist schöner und klüger als Ihr Alle, Ihr Hulegänse!‹ Und sieht Er's, Luft, weil mir der liebe Gott zuerst die große Christel und dann die kleine Christel und endlich mein Klärchen bescheert hat, darum habe ich in meinem Leben keinem Menschen gram und feind sein können und kein Mensch hat es mir sein können, zum Wenigsten, daß ich's gewahr geworden wär'. – Da nun also die große Christel hinübergeschieden war, und der schmucke Mensch, ihr Mann, der Wachtmeister im Regiment König, aus der Campagne nicht wiederkehrte, da hängte ich mein ganzes Herz an die kleine Christel, oder Christine, die mir die Beiden zum Troste zurückgelassen hatten.
Sie war ein feines Kind, zu fein für ihren Stand und das wurde ihr Malheur. Ich aber hatte meine Freude an dem aparten Wesen; zog sie groß nach ihrer Gemüthsart und Statur, ließ sie die künstlichsten Sachen erlernen und nur die feinsten Handthierungen treiben; 116 die grobe Arbeit aber verrichtete ich selber, weil sie sich für mich besser schickte. Mit einem Worte, ich hätschelte und tätschelte das Mädchen auf alle Weise, und darin handelte ich thöricht und hatte Schuld an dem Herzeleid, das uns nachher befiel. Denn das Leben hätschelt und tätschelt einen armen Menschen selten und ein Jeder soll aufgebracht werden nach dem Schicksale, das ein Vernünftiger für ihn voraus sehen kann.
Wie nun die Christel so fein und schmuck herangewachsen war und allerorten nur ›die schöne Christel‹ hieß, da gab es denn keinen Dienst fein und schmuck genug für sie, als den einer Kammerjungfer bei der reichen Madame Arnold unten in der Fabrik. Und den kriegte sie denn auch. Nun hatte sie den ganzen Tag zu garniren und zu frisiren und zu parliren und zu paradiren, aber zu handthieren wie andere arme rechtschaffene Leute brauchte sie nicht. Nur ihre Frau hieß sie ›Du,‹ das Gesinde und selber der alte Herr sagten ›hören Sie‹ zu ihr, und wie gar der junge Herr sie titulirt haben mag, davon lasse Er mich stille sein, Schulmeister, denn die Christine ist gleichsam Fleisch von meinem Fleisch und ihre Ehre ist meine eigene Ehre.
Wie aber die Sache in dem Punkte stand, das spürte ich bald genug erst an ihren freuderothen und dann an ihren weißvergrämten Wangen, und gebe Gott, lieber Mann, daß Er es nicht eines Tages an einem Kinde von den Seinigen erfährt, wie es thut, wenn man Einen sich in seinen Thränen verzehren sieht und ihm nicht zu rathen und zu helfen vermag.
117 Da nun der junge Herr Arnold das vornehme Fräulein heirathete und hinaus auf den Edelhof zog, da setzte sich die Christine darauf, gleichermaßen ehelich zu werden, und zwar mit dem Kutscher, dem Kasper. Freilich habe ich dawider geredet im Guten wie im Bösen:
›Du bist zu fein für den Mann und er ist zu grob für Dich,‹ habe ich gesagt, ›das giebt im Leben kein accurat Gespinnst. Willst Du durchaus einen Mann, so nimm lieber Süßen, den Handschuhmacher, der ein ehrbarer Mensch ist und Dir von Herzen zugethan. –
›Darum eben kann ich ihn nicht heirathen, Muhme,‹ – widerspricht meine Christine, – ›ich kann den braven Mann nicht hintergehen. Er würde verlangen, daß ich ihm gut sei, und das vermag ich nun und nimmermehr.‹ –
›Aber dem Kasper?‹ frage ich. –
›Der Kasper weiß nichts von Liebe,‹ – antwortete sie, – ›er verlangt nichts als meine Schuldigkeit, und wenn ich ihm die Wirthschaft in Ordnung halte, ist er zufrieden.‹ –
›Aber er ist ein roher Mensch,‹ – spreche ich, – ›lästert und flucht; die Pfeife kommt ihm nicht aus dem Munde, und in seiner freien Zeit liegt er in der Trompete und trinkt.‹ –
›Ich werde ihn bessern, liebe Muhme,‹ – spricht die Christine, – ›vor dem Süß müßte ich mich schämen; über den Kasper vermag ich vieles.‹ –
›Vielleicht auch nicht, Christelchen,‹ warne ich, ›Du bist nicht resolut genug für den Mann; wer den curiren will, muß Haare auf den Zähnen haben und einem herzhaften Zank nicht aus dem Wege gehen. Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Aber warum willst Du 118 überhaupt einen Mann, wenn Du kein Herz für ihn hast? Magst Du nicht länger im Hause bleiben, so suche Dir einen andern Dienst hier in der Stadt oder meinethalben auch auswärts. Du verstehst Deine Sache, es kann Dir nicht fehlen. Oder – aber ––Christine – brauchst Du Beistand – komm' wieder zu mir; schäme Dich nicht, mein armes Kind, ich werde Dich nicht verlassen, und Gott im Himmel verläßt auch keinen Reuigen.‹ –
›Was sprecht Ihr, Muhme?‹ – schreit da meine Christel entsetzt, – ›wofür haltet Ihr mich? ich bin nicht so schlecht, als Ihr denkt; ich bin nur unglücklich; will keine Freiheit haben, zu thun und zu denken, was ich mag. Ich will meine Schuldigkeit thun müssen, je saurer das Werk, desto heilsamer für mich.‹ –
Und sieht Er, Schulmeister, mit dergleichen Spitzfindigkeiten ließ ich mich beschwichtigen. Ich gab dem Eigensinne nach und habe an dieser Schwachheit laborirt Tag und Nacht diese siebenzehn Jahre, und alle Bitterniß eines Menschen gekostet, der sein Amt versäumt hat.« –
»Jungfer Zippen!« wendete ich begütigend ein.
»Schweige Er, Schulmeister!« –sagte die Zippen fast streng; – »ein jedes Ding will seine Ursach' haben, und jedes Unheil seine Schuld. Gott der Herr hatte Elternamt auf mich gelegt. Ich zeigte aber nur das schwache Herz einer Mutter, nicht den starken Arm des Vaters, der den Irregehenden, und wäre es mit Gewalt, auf den richtigen Weg zurückführt.« –
Sie machte eine Pause, ein Schluchzen in ihrer Kehle zu unterdrücken. Ich aber blickte bewunderungsvoll auf 119 die kleine Alte zu meinen Füßen und mich dünkte, sie wachse zusehends unter ihrer Rede.
»An Ihnen ist ein Pfarrer verdorben, Jungfer Zippen!« rief ich aus, »so eindringlich fließen Ihre Worte, und eine so herzstärkende Moral wissen Sie aus einer Sache zu ziehen.«
»Da kann Er wieder einmal Recht haben, Luft!« – versetzte die Zippen, – »um eine Auslegung bin ich mein Lebtag nicht verlegen gewesen, und an meinem Mundwerke hat der Schöpfer wieder gut gemacht, was an meiner armseligen Natur zu meiner Prüfung verdorben ist. Ja, Schulmeister, mochte es mir auch oftmals übel und weh um's Herze sein, daß ich's sagen konnte, was darin vorging, daran habe ich mich allezeit wieder aufgerichtet Und ich brauche nicht einmal immer ein sichtbares Wesen, um meine Gedanken vor ihm auszuschütten. Wenn ich für mich bin, discurire ich mit dem wildfremdesten Menschen draußen in der Welt oder mit meinen Abgeschiedenen und sogar mit meinem Herrgott im Himmel. Und das laut und vernehmlich, wie die Nachbarn sagen, die mich manches Mal belauscht und mit meinem Redefluß geschoren haben.« –
Jetzt auf einmal wurde mir klar, woher die alte Jungfer ihr jugendliches Ansehen bezog. Denn, wiewohl ihre kleinen, grauen Augen noch funkelten, daß es mir wie Blitze durch die Seele ging, wenn sie dieselben dann und wann von ihrem Strumpfe zu mir in die Höhe schlug, eigentlich lag doch die Jugend in ihrem Munde, der allerdings groß war, aber purpurroth wie der eines 120 Kindes, und dessen Zähne voll und unversehrt in zwei weißen Reihen standen, wie die Perlen.
»Ach, und meine Doris, die schon lange keinen Stift mehr hat, auf den sie beißen kann!« dachte ich bei mir selbst; »aber freilich, das machen die Wochenbetten.«
Die Zippen fuhr fort:
»So heirathete denn die Christine den Kasper und zog mit ihm hinunter in die Fabrik, wo ihnen Wohnung und Feuerung frei gegeben waren. Ich sah sie von der Zeit an nur selten, denn es war, als ob sie eine Scheu vor mir trüge oder eine Heimlichkeit verbergen wollte. Kam sie einmal herauf, so that sie immer sehr eilig und nur, wenn ich nach meiner Gewohnheit zu einer Geschichte ansetzte, hielt sie stille aus und sah mir mit ihren großen, blauen Augen unverwandt und liebevoll in's Gesicht. Ach, glaube Er es nur, guter Schulmeister, sie war wie eine Taube in ihrem Gemüthe, meine arme Christine, und allen Menschen in Herzlichkeit zugethan, mit Ausnahme des Einzigen, dem sie es freilich von Gottes und Rechts wegen vor allen Anderen hätte sein müssen. Denn, wie es auf diesem Punkte stand, merkte ich nur gar zu bald: die Eingewöhnung blieb aus, ihre Schuldigkeit kam ihr hart an und das Besserungswerk ging schief.
Zu ihr hinunter kam ich selten; da der Weg weit und mein Fußwesen keiner Zeit so behende bestellt gewesen ist, wie heut zu Tage noch Hände und Zunge. War ich aber einmal unten und der Mann trat von Ungefähr in die Stube, da sah ich ordentlich, wie das Herz der Frau sich umwenden that, so als ob sie eine 121 leibliche Uebelkeit verspüre. Sie hatte denn auch immer gleich einen Bewerb bei der Hand, um zur Kammer hinaus zu schlüpfen, wenn sie einen Tritt vor der Stubenthür vernahm. Und wenngleich ich den Mann auch nicht hätte haben mögen mit seinem aufgedunsenen Gesicht und der Zunge wie Blei, so konnte ich mir doch nicht helfen, mich dauerte der Mensch. Denn nichts wurmt Einen so tief, als wenn er sieht, daß ein Anderer einen Widerwillen vor ihm empfindet, vollends Einer, der ihm zugeschworen ist vor dem Altar. Höre Er, Schulmeister, – ich nehme an, daß ich die Statur danach besessen hätte, um in meinen jungen Jahren auch einen Liebsten an mir zu haben oder gar einen Mann, – wenn der sich in der Verblendung oder in der Leidenschaft einmal, ja zehnmal an seiner Schuldigkeit gegen mich vergangen, ich hätte es ihm vergessen können, ohne an meiner Treue Schiffbruch zu leiden; aber zu sehen, wie sein heimlichstes Wesen sich gleichsam in Ekel und Ueberdruß von mir abwenden thäte und wäre er im Uebrigen die Ehrbarkeit selber gewesen, ich würde es ihm niemals vergeben haben. – Darum dauerte mich der Kasper, und ich habe ihm bis zum Letzten die Brücke getreten, weil wir uns Beide an ihm versündigt hatten: die Christine, indem sie ihn nahm und ich, indem ich sie ihm gab. –
Aber, Schulmeister, manche Menschen sind nun einmal wie verhext. Dem Einen fallen die Herzen zu, er weiß nicht warum, und von dem Anderen kehren sie sich wieder eben so blindlings ab.« –
122 »Um Vergebung, Jungfer Zippen,« schaltete ich ein, »diesem letzteren Satze möchte ich widersprechen.«
Die Alte simulirte ein Weilchen still vor sich hin, dann sagte sie mit dem Kopfe nickend:
»Er hat Recht, Schulmeister. Es wird wohl immer etwas Häßliches in Einem stecken und aus seinen Augen hervorstechen, wenn die unschuldigen Herzen sich mit Abscheu von ihm wenden und wenn es selber den Unmündigen schwant, als ob Gottes Gnade ihm gebräche. Denn kaum, daß das kleine Klärchen geboren war, schien es ihr zu gehen wie ihrer Mutter und wie mir altem Krüppel im Grunde auch. Sie mußte es mit der Muttermilch eingesogen haben. Es war ein Kind, fromm und geduldig wie ein Lamm, gab selten einen Laut von sich und streckte einem Jeden seine kleinen Aermchen entgegen. Aber sobald es des Vaters ansichtig ward, kreischte es auf wie am Spieße und beruhigte sich nicht eher, als bis er ihm wieder aus den Augen war.
So konnte denn der Mann auch kein Herz zu dem Mädchen fassen, das er nicht anders als schreiend und widerborstig kennen lernte und das, wie es heranwuchs, immer noch mehr eingeschüchtert durch manchen Hieb oder Schub, stumm und steif vor Angst in seiner Nähe stand wie ein Stock. Er vermied daher sein Haus, trieb sich in Schenken und auf Tanzplätzen herum und hielt sich immer mehr an die Flasche. Seine Frau verschloß, nach der Hausordnung, Abends punkto neun die untere Thür, und da er immer erst in der Nacht nach Hause kam, durch Klopfen und Rufen aber keinen Aufruhr machen durfte, 123 richtete er sich seine Kammer neben dem Stalle zur Schlafstelle ein und die Christel war froh, bis auf den Tisch seiner ledig zu sein. Sie machte darum auch keinen Anspruch an seinen Wochenlohn und gab ihm wohl noch von ihrem eigenen Verdienste, um sich von ihm loszukaufen. Denn sie hatte jederzeit übrig, weil sie geschickt und fleißig war, Wohnung und Holz umsonst kriegte und ich ja auch nicht allein verzehren konnte, was mein Grundstück und Handschuhnähen mir einbrachten.
Nun gut. Das ging so fort, bis der alte Herr Arnold vor drei Jahren die Fabrik verkaufte und in die Hauptstadt zog. Herr Meier, sein Nachfolger, übernahm zwar alle dienstbaren Leute im Hause, kriegte aber den groben Trunkenbold von Kutscher bald genug satt und kündigte ihm den Dienst. Die Eheleute zogen in meine Oberstube, die jetzunder der Armenlehrer inne hat, der Kasper arbeitete um Tagelohn, mehrentheils in der Fabrik, wo es für stämmige Arme allezeit Arbeit giebt. –
Nun hör' Er aber, Schulmeister, an dem nämlichen Tage, wo die Kasper's ihren Einzug bei mir hielten, ging ich auf's Amt und machte einen Kauf über mein Grundstück und all' mein bischen Habseligkeit an meine Nichte, die Christine, mich selber aber kaufte ich hinein. Es war das so eine Schrulle von mir, zu denken, ich könnte allenfalls eher von ihr abhängen als sie von mir. Und darin habe ich nun zum dritten Male mich durch eine Thorheit an ihr versündigt. Denn über Mein und Dein soll der Mensch mit seiner Vernunft zu Rathe gehen und nicht mit seinen gemüthlichen Schrullen. Schon 124 unser Heiland hat gesagt: ›seid klug wie die Schlangen!‹ und er lobt den ungetreuen Haushalter im Gleichniß und sagt, daß er klüglich gehandelt habe. Wiewohl dieses Lob des Herrn heute noch nicht in meinen dummen Kopf zu bringen ist, und mir auch nicht ein einziges Mal von der Kanzel verstehbar ausgelegt werden konnte.« –
»Accurat mein Fall, liebe Jungfer Zippen,« rief ich hocherfreut Denn wie wohl es thut wahrzunehmen, daß ein kluger Kopf an unseren eigenen Scrupeln laborirt, das wird wohl manches arme Menschenkind mir nachzufühlen im Stande sein. Ganz und gar auch meine Erfahrung bei diesem schwierigen Text, daher ich denn schon auf den Einfall gekommen bin, daß sich in die Uebersetzung von unserm Herrn Doctor Luther« – –
»Nun lasse Er's gut sein, Luft,« – fiel mir die Zippen in's Wort, »Er und ich, wir werden's doch nicht herausdüfteln und wir können doch gute Christen bleiben, wenn uns auch ein oder das andere Kapitel ein wenig spanisch vorkommen will. Immerhin bleibt uns noch mehr als genug, woran wir uns halten können. Und ich konnte mich daran halten, daß: ›klüglich handeln in Dingen dieser Welt‹ von unserm Heiland denen geboten ist, die dabei reines Herzens sind.
Obendrein ich wurde gewarnt:
›Zippen,‹ sagte der Justizrath Schmidt, bei dem ich mein Gesuch anbrachte, ›Zippen, ich meine es gut mit Ihr. Lasse Sie den vermaledeiten Kauf unterwegs. Behalte Sie das Ihrige, so lange Sie lebt, und vermache Sie es letztwillig, an wen es Ihr beliebt. Es ist eine heillose Unsitte unter 125 Eures Gleichen mit diesen Käufen und Einkäufen auf Lebenszeit. »Wer unter Kinder theilt sein Brod und leidet dabei selber Noth, den schlägt man mit der Keule todt,« so lautet ein goldener Spruch über dem Thore einer alten Stadt; ein Spruch, den man bei uns über jeder Hausthüre anbringen sollte.‹ –
›Meine Christine ist eine brave Frau, Herr Gerichtsrath.‹ – antwortete ich, – »sie wird mich in Ehren halten.‹ –
›Gleichviel,‹ spricht der Rath; ›aber ihr Mann taugt nichts; man weiß nicht, wie die Umstände noch kommen können, und Noth kennt kein Gebot.‹ –
Nun sieht Er, Schulmeister, ich bin von Natur nicht auf den Kopf gefallen und hätte wohl einsehen können, daß der Rathschlag nicht ohne war. Aber in dem Punkte hatte ich gleichsam zwei Scheuleder vor den Augen sitzen, ich sah nicht rechts und sah nicht links. Ich hatte das Grundstück auch durch Kauf von meinem Vater selig überkommen, und der wieder von seinem. Ich steuerte auf die Siebenzig, meine Stunde konnte jeden Augenblick da sein. Da wollte ich denn meine Sache in der Ordnung und baumfest haben; weil an einem letzten Willen nach dem Verscheiden noch immer hin und her gezupft werden kann. Kurzum, ich hatte mir das Ding in den Kopf gesetzt, und wenngleich meine gute Christine auch von dem Handel nichts wissen wollte, brachte ich ihn doch am selbigen Tage in Richtigkeit. Und das ist meine größte Schuld an dem Unglück, das mich betraf, wenn auch die Buße dafür hart und grausam scheint. –
126 So lebten denn die Christine und ihre Tochter bei mir. Den Kasper kriegte ich selten zu Gesicht; hörte aber hin und wieder seine zornige Stimme über meiner Stube, wenngleich ich mit meinen tauben Ohren nicht verstehen konnte, worüber sie sich zankten. So viel aber brachte ich allmälig heraus und so viel steht fest, daß die Christine ihm mit ihren Sparpfennigen sein Außenbleiben abhandelte; daß er immer mehr und mehr von ihr verlangte, mehr als sie geben wollte und konnte und daß das Wort ›Scheidung‹ zum Oefteren zwischen ihnen gefallen ist.
Es wäre eine Erlösung gewesen für die arme Frau und sie hätte auch wohl einen christlichen Grund für die Sache vorbringen können; denn es war nicht blos eine Munkelei unter den Leuten, daß ihr Mann ein gemeines Weibsbild unterhalten thät, bei dem er seine Mittage und Nächte zubrächte. So oft nun aber die Christine überdachte, daß ihr Widerwille zuerst den Mann aus seinem Eignen und von seiner Schuldigkeit getrieben hatte, und daß die heimlichsten Ehelichkeiten vor Gericht und Zeugen verhandelt werden müßten, da befiel sie eine Scham und Scheu, und sie verzweifelte an ihrem Recht. Derweile hatte sich nun aber auch der Kasper darauf gesetzt, die Frau los zu sein, um das Weibsstück zu heirathen, und weil er dachte, sein Pfeifchen aus dem Handel zu schneiden. Aus der Christel machte er sich jetzunder so wenig, als sie aus ihm, desto mehr aber aus ihrem Eigenthum; da sie ja durch meine Verblendung eine Eigenthümerin geworden war. Nach seinem Kopfe 127 sollte sie das Grundstück verkaufen oder zum Wenigsten den halben Werth als Schuld darauf schreiben lassen. Mit der Abfindung wollte er ohne weitere Rederei von ihr gehen, seinethalben auch als der Schuldige vor Gericht gelten.
Dagegen stemmte sich nun aber die Christine mit aller Gewalt. ›Es wäre eine Sünde,‹ sagte sie, ›die Muhme in ihren alten Tagen vielleicht in das Armenhaus, mich selber und mein schwächliches Kind an den Bettelstab zu bringen. Ich kann elend werden, die Arbeit mir ausgehen, was soll dann aus uns Dreien werden? Das Grundstück, das mir von Gottes und Rechtswegen bei Lebzeiten der Muhme noch gar nicht gebührt, muß ich frei erhalten und lieber das Aergste erdulden, als an der Alten und dem Kinde schuldig werden.‹
In diesem Tone mögen denn auch wohl die Redensarten gefallen sein bei dem hitzigen Streite am Morgen jenes unglücklichen Tages, mit welchem ich meine Geschichte eigentlich anheben wollte, wenn Er mir nicht mit seiner Frage in die Quere gekommen wäre. Es war Andreastag, der dreißigste November; ein Feiertag. So lange meine Augen offen stehen, nein, auch in Gottes Ewigkeit hinein, werde ich diesen Höllentag nicht vergessen! Freilich, so glatt und sanftmüthig wie ich sie hier vorgebracht, sind die Redensarten in meiner Oberstube an jenem Morgen nicht geflossen; ich vernahm ein erschreckliches Zetern und Toben und endlich des Kaspers schweren Tritt auf der Treppe, und wie er wüthend die Thür in die Angeln warf. Mein Klärchen hatte derweile stumm und zitternd in 128 meinem Fenster gesessen, und wenngleich ich mir alle Mühe gab, ihre Spannung abzulenken, den ganzen wüsten Spektakel weit deutlicher als ich selbst von wegen meiner tauben Ohren angehört.
Bald darauf tritt die Christine in meine Stube; sie sieht kreideweiß aus; ihre Augen sind verschwollen, und wie sie ihre Näherei in die Höhe nimmt, fliegen ihre Hände wie Espenlaub. Ich hätte in die Erde sinken mögen vor Erbarmen mit dem armen, gemarterten Herzen.
Aber ich nahm mich zusammen, um die unglückselige Angelegenheit in aller Ruhe und Vernunft noch einmal auf's Tapet und womöglich in's Reine zu bringen. Ich hebe also an:
›Fasse Dich, meine Tochter. So kann die Sache keinen Fortgang haben. Du richtest Dir Leib und Seele zu Grunde bei diesem halben Wesen. Mache einen Schluß, Christine, gieb Dich selber dran und werde wieder des Mannes Weib, oder gieb die Ehe mit ihm auf und setze resolut die Scheidung durch.‹ –
›Rathet mir, Muhme!‹ – spricht die Christine, in ihren Thränen gebadet – ›Ihr seid klug und gut; Ihr seid mir wie eine leibliche Mutter; ich will Eurer Stimme folgen, als wäre es Gottes Stimme. Denn ich bin eine so elende Creatur, daß ich aus mir selber keine Entscheidung fassen kann.‹
Nun will ich Ihm in kurzen Worten berichten, lieber Schulmeister, zu welchem Endziele wir alle Beide gelangen thaten. Denn Ihm all' ihren Jammer und Einwand, ihre Aengste und Schauer aufzuzählen, da würde ich bis in die Nacht hinein kein Ende finden. 129 Die Frau sollte also noch einmal versuchen, den Mann in Güte an sich zu ziehen und zu einem ehrbaren Wandel zurückzuführen; ihm geloben, ihrer Ehepflicht in allen Stücken nachzukommen und ihn auffordern, wieder in seinem Hause und an seinem Tische mit ihr zu leben. Willigte er nicht in den Pakt, so sollte sie morgenden Tages auf Scheidung klagen und ihr handgreifliches Recht von wegen des Weibsstücks durchsetzen. Sagte er Ja, erwiese sich aber bei der Ausführung lässig und widerhaarig, so daß sie nicht dahin gelange, ihn von seiner Rohheit und Herzenshärtigkeit zu bekehren, so sollte sie gleicherweise die Scheidung nachsuchen, allenfalls auch mit Aufopferung des halben Hauses.
›Denn,‹ sagte ich, ›besser im fremden Dachstübchen in Frieden hausen, als im eigenen Grundstück in Zwietracht und Hader. Um des Kindes Erbtheil mache Dir kein Gewissen, Du hast es nicht vergeudet, und Gott im Himmel ist der Unmündigen Vormund. Was aber mich betrifft, mich alten Krüppel, da laß Dir vollends kein graues Haar drum wachsen, meine Tochter. Wenn mir eines Tages Augen und Hände erlahmen thäten, daß ich mein Brod nicht mehr rechtschaffen verdienen könnte, wozu es bis diese Stunde keinen Anschein hat, so hätte ich schon das Herz dazu, es mir sonder Scham von Anderen zu erbitten und mit fröhlichem Muthe zu genießen. Denn Armuth ist keine Schande, nur eine Prüfung, meine Tochter, und Niemand in der Stadt würde der armen kleinen Kaule in ihrem siebenzigsten Jahre eine Gutthat vorenthalten.‹ –
130 Ich hatte während dieser Reden mein Mittagsbrod zugerichtet. Es ist mir wie heute: ich machte Klöße und saure Kaldaunen. Nicht etwa, daß ich mich öfter an Wochentagen mit solcherlei Tractamenten eingelassen hätte, sondern nur wegen des Andreastags, der meines Vaters selig Geburtstag war, und mit seinem Knecht-Ruprechtsspaße mir in meiner Kindheit beinahe so viel Plaisir gemacht hatte, wie der liebe heilige Christ. So angenehme Erinnerungen halte ich aber in Ehren, Schulmeister, und feiere sie durch ein Staatsgericht, denn es wird wohl wenige Menschen geben, denen Kartoffelklöße mit sauren Kaldaunen nicht ein Leibessen wären.« –
»Keinen, keinen!« fiel ich beistimmend ein. (Daß ich's beiläufig erwähne, ich wüßte kaum einen Genuß, der mir über diese Schüssel ginge, die freilich auf meinem armen Tische selten genug erscheinen kann.)
»Heute aber,« – fuhr die Alte, ohne auf meine Unterbrechung zu hören, in ihrer Erzählung fort, – »heute aber hatte keiner von uns zum Essen Lust und Appetit; wir stocherten auf unseren Tellern herum, und standen auf, wie wir uns niedergesetzt: mit leerem Magen und schwerem Gemüth. Auch die Kleine, die von jeher anders war als alle anderen Kinder, fast von der Luft lebte wie ein Schemen und stille, ernsthafte Gedanken in ihrem Herzen trug. So füllte ich denn die ganze Mahlzeit in meinen Henkeltopf und sagte:
›Geh, meine Tochter, und mache gleich heut einen Anfang zur Sühne: trage Deinem Manne das Essen hinunter in die Fabrik. Kommt's zum Mittag zu spät, wird's ihm zum Vesper 131 gute Dienste thun. Das Holzabladen und Setzen ist ein saures Stück Arbeit, und wer sein richtig warmes Essen hat, braucht nicht anderweitig einzuheizen. Deine Freundschaft wird sein Gemüth rühren, vornehmlich nach dem Zank von heute früh. Wer weiß, ob nicht Alles noch gut wird. Zaue Dich aber, mein Christelchen, denn der Weg ist weit.‹
Sie konnte sich nicht so leichthin entschließen; es kostete sie einen harten Kampf, ihr Körper schauerte wie im Fieberfrost; ich ließ aber nicht nach, ihr zuzusprechen; und was auch geschehen ist, Schulmeister, daß ich das gethan habe, daraus will ich mir kein Gewissen machen. Denn aus einer rechtschaffenen Handlung kann nichts Arges hervorwachsen. Schießt ein Unheil in die Höhe, so ist's die Frucht von früherem bösen Samen.
So gab denn meine gute Christine nach, kühlte ihre verweinten Augen in frischem Wasser, hängte ihren Mantel um, nahm den Topf und wollte gehen. Wie sie aber schon unter der Thür ist, springt die Kleine von ihrem Stuhle in die Höhe, weint und fleht, daß sie sie mitnehmen solle. Die Mutter wehrt sie ab. Es lag ein dicker Nebel in der Luft; die Nacht mußte einbrechen, ehe sie heim war, und es herrschte gerade eine böse Laune unter den Kindern in der Stadt. Obendrein hatte die Kleine schon ein paar Tage den Kopf hängen lassen und ein erbärmliches Ansehen gezeigt. Kurzum die Christine sagte: nein. Da geräth das Mädchen wie in Krämpfe. ›Mutter, meine Mutter, geh' nicht von mir!‹ schluchzte sie, zitternd und bebend, daß ihr die Zähne zusammen 132schlugen, ›geh' nicht von mir, ich fürchte mich ohne Dich!‹ – ›Schäme Dich, Klärchen,‹ – schmäle ich, – ›ein vierzehnjähriges Mädchen und fürchten!‹ – Aber – hört sie und sieht sie denn? Sie klammert sich an die Mutter, heult und schreit und spricht noch einmal: ›Mutter, Mutter, bleibe bei mir, ich sehe Dich nicht wieder, Mutter!‹
Die Mutter reißt sich los. Aber auf der Schwelle kehrt sie noch einmal um, stürzt vor der Kleinen auf ihre Kniee, umhalst sie und küßt sie und ruft unter bitterem Schluchzen: ›Mein Kind, mein Kind!‹ – Dann rafft sie sich in die Höhe, tritt vor mich hin, faßt meine beiden Hände und sagt mit einem Klang – mit einem Klang, so feierlich, daß meine Stimme ihn nicht wiedergeben kann, Schulmeister –: ›Muhme,‹ – sagt sie, – ›wenn ich nicht mehr bin, so schütze Sie mein Kind vor Elend und Schande und – vor – seinem – Vater!‹
Damit stürzte sie vor die Thür; die Kleine ihr nach. Ich hole sie zurück mit Gewalt. Sie rennt an das Fenster und starrt der Mutter nach, bis dieselbe im Nebel verschwunden ist; und auch dann noch wendet sie den Blick nicht von der Richtung, die die Mutter nehmen muß; bis tief in's Dunkle hinein sitzt sie und stiert und spricht kein Wort.
Aber auch mir lag es in den Gliedern wie Blei und auf der Brust wie ein Alp. Ich nehme meine Näherei, die Nadel stockt mir; ich schäfftere im Hause und mache Alles der Quere. Es war fast drei geworden, ehe die Christine fort gekommen; vor halb vier konnte 133 sie nicht unten sein; ehe sie den Mann auffand und das Essen ein bischen wärmte, mußte eine gute Weile vergehen. Es konnte fünf, ja es konnte weit später werden, ehe sie heim war. Nun weiß Er, Schulmeister: Unsereiner hat nicht, wie das vornehme Frauenzimmer, Bange vor einem Wege in der Dunkelheit. Ich kann darum nicht erklären, wie es zuging, daß die einbrechende Nacht mich so grausam beängstigte. Zehnmal lief ich schon vor der Zeit an die Gartenthür, um zu horchen, ob sie käme. Das Reden verging mir auch, da ich niemals einen Bescheid bekam; und so setzte ich mich denn und stierte vor mich hin, wie das Kind, und hörte, – was ich mir heute noch nicht entziffern kann, – war es die Stille, war es der Aufruhr in meinem Geblüt, – aber ich hörte jeden Schlag an meiner Schwarzwälder Uhr und jeden Ruck an ihrem Gewicht. Es schlägt fünf! so früh kann sie gar nicht retour sein, – sage ich bei mir selbst; ein Viertel, halb sechs! – Sie wird noch einen oder den andern Weg in der Stadt im Vorbeigehen mit abmachen. – Sechs! – Gewiß besucht sie ihre gute Freundin, die Süßen: – halb sieben! – Oder sie wartet wohl unten, bis der Kasper mit seiner Arbeit fertig ist und kommt mit ihm zu gleicher Zeit. – Meine Qual wuchs mit dem Zeiger an der Wand. Des Kindes Verfassung hatte mich angesteckt; denn es giebt etwas, das aus einem Herzen, wenn es in Aufruhr ist, auch ohne Aussprache in ein anderes überzieht; gerade so wie aus dem Leibe ein Fieber, auch ohne daß man sich berührt.
134 Wie die Uhr dreiviertel auf sieben aushebt, da denke ich gar nichts mehr; es drückt vor meine Stirn wie ein Brett, und ich fühle das Hämmern meines Herzens in jeder Fingerspitze. Da, mit dem Glockenschlage sieben springt das Mädchen in die Höhe: ›Mutter!‹ kreischt sie, als ob ihr Einer ein Messer in den Busen stieße, und stürzt steif wie ein Leichnam auf die Erde.
Herr des Himmels! nun hatte ich jählings meine Sinne wieder; ich erkenne meine Thorheit, mich um die Mutter abzuquälen, während die Tochter in heller Krankheit schier vergeht. Mit entsetzlicher Anstrengung richte ich den starren Körper in die Höhe, schleppe ihn in mein Bett in der Kammer, schnüre die Kleider auf, reibe Schläfen und Herz, koche Thee und filtrire ihn tropfenweis zwischen die zusammengepreßten Zähne. Nach und nach kommt das Leben wieder; aber ein wildes Fieber rast durch ihr Geblüt. Und kein Mensch zu errufen, keine Hülfe zu erreichen, – allein lassen kann ich sie nicht, und die Mutter! Die Mutter kommt nicht!
Die Angst auch um sie packt mich von Neuem. Ich sitze vor dem Bette und halte des Kindes Hand: sie brennt wie eine Kohle; das Gesicht, vor einer Stunde noch kreideweiß, glüht wie Scharlach; die Augen stehen in Flammen; sie ächzt und stöhnt gleich einer Sterbenden; sie kennt mich nicht; der Geist schweift in die Irre. – Endlich um neun höre ich Tritte.
›Gottlob, die Mutter!‹ rufe ich wie erlöst; springe auf, laufe ihr entgegen, um sie auf Klärchens Zustand vorzubereiten. Aber, Heiland 135 der Welt! wie wird mir, als statt meiner Christine – der Kasper vor mir steht.
›Wo ist Christel?‹ – schreit er mit wildem Blick. –
›Gerechter Himmel, kommt sie nicht mit Ihm?‹ – frage ich. –
›Wie Sie sieht, nein,‹ – fährt er mich an. – ›Hat sie Ihm nicht das Essen herunter gebracht?‹ –
– ›Sie hätte es bleiben lassen können; mein Mittag war lange vorüber. Aber von da muß sie ja schon seit vier Stunden zurück sein.‹ –
›Sie ist nicht zurückgekommen. Kasper, wo ist sie? Um Gottes Barmherzigkeit willen, wo ist Seine Frau? –
›Was weiß ich's, wo die sich noch herumtreibt!‹ – spricht er mit einer wilden, ausverschämten Lache. –
›O, Er böser, gottloser Bube!‹ schreie ich außer mir, ›Er weiß es so gut wie ich, daß Seine Frau keine Herumtreiberin ist. Sie hat auf dem Wege einen Unfall erlebt und ich kann nicht fort, denn das Kind rast im Fieber. O, geh' Er, geh' Er, guter Kasper; spüre Er ihr nach; frage Er im Vorbeigehen bei der Süßen, der Einzigen, die sie manchmal besucht. Weck' Er die Nachbarn, die Polizei, such' Er sich Beistand, wo Er ihn findet; es soll ja auch Alles werden, wie Er's im Kopfe hat; aber gehe Er, suche Er, rette Er mein Kind!‹ –
Ich war auf meine Kniee gesunken und hatte die Füße des Mannes umklammert; er wendete mir jählings den Rücken und stürzte hinaus. – Ach, lieber Vormund, wie soll ich Ihm meinen Aufruhr beschreiben? Verlassen, hülflos, mutterseelenallein mit dem kranken, sterbenskranken Kinde! ›Herr!‹ schrei' ich noch immer auf meinen Knieen, ›o Herr, prüfe mich, strafe mich mit allen Strafen 136 der Hölle, aber rette, verschone mein Kind!‹« –
»Schrecklich, schrecklich!« rief ich in Mark und Bein erschüttert.
»Ja, schrecklich, schrecklich, Mann, diese lange, ewig lange Winternacht an dem Fieberbette des Kindes! Was so ein alter, verkrüppelter Körper nicht Alles aushalten kann? Ein erbärmliches Blättchen Schierling wirft ihn um und dem ärgsten Gifte der Verzweiflung und der Todesangst kann er widerstehen! O, diese Nacht!« –
Die Alte schauerte wie im Todesfrost. Sie saß eine Weile stumm und ich auch. Endlich wischte sie sich mit dem Zipfel der Schürze den Schweiß von der Stirne und fuhr fort:
»Früh gegen fünf höre ich wieder Schritte und Klopfen vor der Thür. Ich öffne und es ist wieder der Kasper, der mir gegenüber steht. Struppig und übernächtig sieht er aus.
›Ist sie da?‹ fragt er barsch.
Ich schüttele den Kopf.
›Sie ist nicht zu finden,‹ sagt er. –
›Und die Polizei?‹ – frage ich. –
›Die kann bei Nacht doch nichts machen,‹ spricht er, ›sobald es Tag wird, suchen wir sie; sie wird sich ein Leids angethan haben irgendwo.‹ –
›Gott verhüte die Missethat!‹ schreie ich außer mir. ›Aber ist sie geschehen, so weiß Er, wer die unglückliche Creatur so weit getrieben hat, Er, – Er ist ihr Mörder!‹ –
›Alte Närrin!‹ brüllt der Mann in seiner Wuth, daß ihm der Schaum vor der Lippe steht, giebt mir einen Stoß, daß ich zu Boden taumele, schmeißt die Thür in's Schloß und rennt davon. –
137 Ich rappele mich auf, werfe noch einen Blick auf das stöhnende Kind, schließe ab, stürze in's nächste Haus, wecke die Nachbarn und flehe um Beistand in meiner grausamen Noth. Schulmeister, je ärmer der Mensch, desto herzhafter ist er seines Gleichen beizuspringen, wenn ihn ein Schicksal trifft. Erst im Elend lernt Einer kennen, daß die Creatur liebevoll geschaffen ist. Das Glück im Gegentheil macht, die es genießen sehen, scheelsüchtig, und die es genießen, bläht es auf.
Nun war ich keine Minute mehr allein. Der rennt nach dem Doctor, Jener nach der Medicin, ein Dritter auf die Polizei. Wie ein Lauffeuer geht es durch das ganze Viertel: ›Die schöne Kaspern ist nächtens nicht heimgekommen und ihr Kind liegt am Tode!‹ Wochenlang brauchte ich nicht zu kochen, noch zu waschen; das Haus wurde mir in Stand gehalten und in der Nacht lösten sie sich ab, mir das kranke Kind bewachen zu helfen. Ein böses Scharlach wär' ihm zu Kopfe gestiegen, meinte der Doctor; aber Keiner fürchtete eine Ansteckung und Keiner wurde laß, der kleinen Kaule beizustehen in ihrem schweren Kreuz. –
Mit dem Morgen erschien einer von der Polizei und fragte mich aus, wenneher meine arme Christine gestern aus dem Hause gegangen; was sie an ihrem Leibe getragen, was vorher zwischen ihr und ihrem Ehemanne passirt; der Kasper aber wartete draußen im Garten mit einem Gensdarm. Nachdem der von der Polizei nun noch vom Boden bis zum Keller jeden Winkel im Hause durchsucht, sich auch in Haus und Garten um 138gesehen hatte, ging er mit dem Gensdarmen und dem Kasper weiter, und viele aus der Nachbarschaft zogen hinterdrein und brachten mir späterhin Post.
Zuerst geht's hinunter in die Fabrik. Mehr als Einer tritt bei Wege heran und macht Anzeige, daß er gestern Nachmittag gegen drei der Kaspern in der geraden Richtung nach der Fabrik begegnet sei; genau in dem Anzuge, mit Körbchen und Henkeltopf, wie ich es angegeben hatte. Etliche wollten bemerkt haben, daß sie blaß und verfallen ausgesehen, still vor sich hin geweint und nur so gewankt habe. In der Fabrik war sie angekommen, da es schon schummerig war; der Hausmann hatte sie angesprochen; ein paar Arbeiter, die just Feierabend gemacht, hatten sie quer über den Hof schreiten sehen, nach dem äußersten Ende, das im Grunde schon Garten ist, allwo aber hinter einem mannshohen Zaune, die Außenmauer entlang, die großen Holzvorräthe der Fabrik aufgeschichtet stehen. Hier war der Kasper nun noch bei der Arbeit gewesen, um die Scheite klafterweise aufzustellen, und der Fuhrmann Roland, der eben die letzte Fuhre abgeladen hatte, wollte im Vorbeifahren gehört haben, daß zwischen den Beiden harte Worte gefallen waren. Da er das bei Eheleuten aber in der Ordnung fand, horchte er nicht weiter danach hin. Der Kasper gestand, daß er das Essen nicht gemocht, weil er schon in der Trompete Mittag gehalten, und daß die Frau ihn zur Rede darüber gesetzt, weil er, statt wie ein ordentlicher Mann nach Hause zu kommen, sein Geld in Wirthshäusern verthue. Da habe denn ein Wort das 139 andere gegeben, bis zuletzt die Christine in der Wuth ihren Henkeltopf genommen und fortgelaufen sei.
Niemand jedoch wollte ihr auf dem Rückwege im Hofe begegnet sein. Freilich war es unterdessen völlig dunkel geworden; sie mochte auch wohl den Weg durch die kleine Seitenpforte eingeschlagen haben, durch welche der Kasper selber, nachdem er Feierabend gemacht, den Hof verlassen und sich wieder in die Trompete begeben zu haben erklärte.
Nach allen diesen Auslassungen fand denn bei der Polizei, bei dem umstehenden Volke und bei dem Kasper zu allererst nur die außereinzige Meinung Glauben, daß die schöne Christine bei ihrer trübseligen und ganz absonderlichen Gemüthsart, sich ein Leids angethan habe, und da sie auf dem Heimwege eine Strecke am Ufer entlang zu gehen gehabt, in's Wasser gelaufen sei.
So nahm denn der Zug die Richtung stromab, in der Erwartung, eine Spur von ihr, oder ihrem armen Leichnam aufzufinden. Kasper, der Gensdarm und ein ganzes Rudel von Neugierigen gehen am Ufer rechts; der von der Polizei mit einem andern Schwarme, darunter Schnuke, der Bäcker, Süß, der Handschuhmacher, und noch mancher Bekannte links. Aber sie entdecken nichts. Wie sie schon beinahe unten an der Schleuse sind, bückt sich auf einmal der Kasper nach einem Gegenstande, der so verloren an einer Weide hängen geblieben scheint. Es ist ein Strumpfband von Draht, mit Leder überzogen; so eines, das sich nach dem Beine dehnt und das man nicht umbindet, sondern überstreift. Der Kasper 140 giebt einen Wink, daß seine Frau solche Dinger zu tragen pflege. Weiter kein Zeichen, keine Spur. An der Schleuse macht die ganze Gesellschaft kehrt und retour in mein Haus, in dem es den ganzen Tag wie in einem Taubenschlag ab- und zugeflogen war. Ja, Schulmeister, sogar ganz feine Leute aus der Stadt hatten sich einen Gang nach der Richtung gemacht, und die arme Hütte vom Wege aus betrachtet, ehe sie weiter spazierten. Denn meine arme Christine war, ihres feinen Ansehens und ihrer künstlichen Hände halber, wohlgelitten bei Arm und Reich, und die kleine Kaule, die mit ihrer armseligen Statur und guten Laune so manches spaßige Gelächter angerichtet hatte, fand aufrichtiges Erbarmen. Ich wurde nunmehr noch einmal wegen des Strumpfbandes examinirt, da es aber ein Band war wie alle dergleichen Bänder sind, konnte ich nichts weiter sagen, als was schon der Kasper gesagt hatte, daß nämlich meine Christine dergleichen Dinger zu tragen pflege, und im Uebrigen auf den Beutler Hanatsch zu verweisen, von welchem sie dieselbigen ihr Lebtag bezogen. Der Hanatsch will denn das Band auch augenblicks an einer besonderen Vorrichtung im Drathgestell und einem Fehler im Leder als eines von dem Paare erkennen, das er vor etwa drei Wochen an die Kaspern verkauft hat; und so stand es also fest, das Strumpfband stammte von ihr. Wie es aber an das Ufer gekommen, da doch kein anderes Kleidungsstück oder Merkmal, viel weniger der arme Leichnam selber, aufzuspüren gewesen, – danach that keiner eine Frage und hätte freilich auch keiner eine 141 Antwort geben können – außer Einer! Die Sache war abgemacht. Punktum. Die schöne Kaspern hatte sich aus ehelichem Verdrusse ersäuft und die arme kleine Kaule saß mit ihren schweren, schwarzen Gedanken mutterseelenallein.
Denn was in meinem inwendigen Menschen vorging, das blieb verschlossen zwischen meinem Herrgott und mir. Aendern konnte ich den Glauben der Leute nicht; einen rechtlichen Beweis führen vollends gar nicht. Aber, wenngleich ich in der ersten Hitze dem unseligen Verdachte selber Raum gegeben hatte, bei ruhiger Ueberlegung wurde es immer klarer und stand immer fester in meinem Herzen, daß mein unglückliches Kind die schreckliche That nicht an sich selber verübt haben konnte. Freilich: ihre feierliche Ermahnung, als sie zum letzten Male aus dem Hause ging, war verdächtig; freilich: sie hatte ein furchtbares Grauen vor dem Mann; er mochte es arg mit ihr und sie zum Aeußersten getrieben haben; es giebt ja verzweifelte Augenblicke mitten in gesunden Tagen und im gewöhnlichen Leben, wo der Mensch für das Tollhaus reif ist und in eine Zwangsjacke geschnürt werden müßte, – dennoch, dennoch: ihre alte Muhme verlassen, ihr Kind verlassen, ihren Herrgott verlassen, nein, das konnte meine Christine nicht, selber wenn sie einen Augenblick an der ewigen Güte irre geworden sein sollte. Es mußte ihr ein Unfall auf dem Wege zugestoßen sein, oder – oder – ›Herr vergieb mir die Sünde!‹ betete ich jedesmal, so oft ein furchtbarer Gedanke wieder und immer wieder aus dem 142 hintersten Winkel meiner Seele hervorkroch wie ein Wurm und mir das Herz zerfraß, das siebenzig Jahre lang Gott und seinen Menschen vertraut und Keinem – nein, niemals einen Einzigen hatte hassen können.« –
Wieder machte die Alte eine Pause und wartete vielleicht, daß ich ihr ein Wort stärkender Tröstung sagen möchte. Aber ich saß starr und stumm. Die arme Verkrüppelte kam mir so erhaben vor in ihrer Darstellung, daß ich keine Redensart fand, die sich für sie geschickt haben würde.
»Nun, lieber Mann,« – fuhr sie nach einer Weile wieder fort, – »nun, wie schwer auch immer das Kreuz, es war nicht zu schwer für mich; und wie dunkel auch immer die Zeit, sie verrann. Mein Klärchen genas allmälig von ihrer Heimsuchung, und mit ihrem Leben fand auch ich meine Freude am Leben wieder. Wenn ich aber sage: sie genas, so will das so viel heißen als: sie stieg aus dem Bette, aß und trank gleich einem Vögelchen und ging hinaus in den Garten, wenn die Sonne schien, die sie absonderlich lieb hatte. Daneben stand sie mir bei, in meiner kleinen Wirthschaft und war fleißig, wie sonsten ihre Mutter bei ihrer Nähterei. Aber bei dem Allen behielt sie doch ein ganz curioses Wesen; alles was sie that, that sie halb im Traume; gab freundlich, aber mehr mit Zeichen als Worten Bescheid, sobald man sie fragte; aus eigenem Antriebe jedoch redete sie nie; ging nie aus dem Hause, verkehrte mit keiner Gespielin und ihrer seligen Mutter that sie mit keiner Silbe Erwähnung. Von Anfang 143 hütete ich mich denn auch, in ihrer Gegenwart von der guten, armen Seele zu sprechen; auf die Dauer aber konnte ich es nicht über das Herz bringen, sie ihrem eigenen Fleisch und Blute gegenüber, so ganz wie eine Vergessene zu tractiren. Ich fing daher ganz verblümt und behutsam von ihr an, da ich aber sah, daß das Kind die Berührung ohne Schaden vertrug, wagte ich mehr und immer mehr und endlich geschah es, daß kaum eine Stunde verging, ohne daß ich den lieben Namen im Munde geführt hätte. Das tröstete mich und mein Klärchen zusehends auch; denn ihre großen, dunklen Augen hingen an mir, als ob sie das Wort aus meinen Lippen saugen wollten, und hatte ich einmal etwas absonderlich Liebes und Gutes von meiner armen Christel angebracht, da war es ordentlich, als ob ein rosenrother Schleier über das weiße Gesichtchen ihrer Tochter flöge. Sie selber aber, wie gesagt, erwähnte der Verlorenen niemals; niemals, ich wollte es beschwören, Schulmeister, habe ich den letzten grausamen Tag berührt, oder eine Vermuthung über ihr Ende ausgesprochen. Wir behandelten sie als eine Längstgeschiedene, deren Andenken wir heilig in Ehren hielten.
Einen Umstand muß ich aber nicht zu erwähnen vergessen, Luft; nämlich den: jedweden Abend, sobald die siebente Stunde aushob, also genau auf die Minute, in der das Fieber an jenem Abend seinen Ausbruch genommen, da überlief das Kind ein Schauer, daß es kalt wurde wie Eis und steif wie eine Leiche. Sie stand dann, wo sie stand, ein paar Augenblicke gleich einer 144 Statua; kam allmälig wieder zu sich, wurde warm und beweglich und verfiel bald und unüberwindlich in einen tiefen Schlaf, ohne über ihren Zustand klar geworden zu sein.«
»Um Vergebung,« unterbrach ich die Erzählerin mit stockendem Athem, »um Vergebung, Jungfer Zippen, aber hatte das Kind Träume?« –
»Wie soll ich das wohl wissen, Er curioser Mensch,« antwortete die Zippen; »habe ich Ihm nicht gesagt, daß sie sich über ihren Zustand nicht auslassen that?« –
»Aber redete sie nicht im Schlafe?« fragte ich weiter.
»Merkt Er denn nicht, daß ich schwach auf meinen Ohren bin?« – entgegnete sie. »Sie hätte schreien müssen, und geschrieen hat sie nicht.«
»Verzeihen Sie meine Hartnäckigkeit,« – unterbrach ich die Alte noch einmal, indem ich ihre Hand mit Wärme ergriff, »der Gegenstand ist von der äußersten Wichtigkeit für mich: Jungfer Zippen, träumen Sie?«
»Wie werde ich nicht, Luft! Jedweder Mensch träumt.«
»Ich nicht Jungfer Zippen, ich nicht.«
»Weil Er schläft wie ein Ratz und gleich beim Erwachen aufsteht, ohne wieder einzuduseln. Gesunde Menschen, die sich müde gearbeitet haben und früh aus den Federn müssen, merken's nicht, daß der Ingenius, oder wie es heißt, auch im Schlafe rumort. Sie verlieren aber auch nichts daran, daß sie's nicht merken, Luft. Träume sind Schäume und Bilder ohne Wesen, hat schon der weise Salomon gesagt, und wen die Traum 145geister nicht schlafen lassen, der wird im Wachen ein Traumbuch sein.«
»Aber die heiligen Väter und Propheten, werthe Jungfer, denen der Herr seine Heimlichkeiten im Traume offenbart hat?«
»Nun, Gott stärke mich, Luft!« – erwiderte die Zippen lachend. – »Er wird sich doch nicht für einen heiligen Vater und Propheten halten und sich einbilden, daß Er mit seinem bischen Wissenschaft und guten Herzen eine dergleichen Gnade verdient haben könnte? Dazu gehört eine Gottseligkeit, die unter uns Menschenkindern seit langen Geschlechtern abhanden gekommen scheint.«
»Aber auch in späteren Zeiten hat man doch noch Exempel von wunderbaren Erscheinungen, – blicken Sie mich nicht so zornig an, Jungfer Zippen, ich will Beileibe nicht von dem Kobold sprechen, an den ich den altheidnischen Glauben in meiner Gemeinde auszurotten mich pflichtschuldigst bemühe; aber hören wir nicht heutigen Tages ganz von Neuem wieder von unbegreiflichen Lichtblicken in die Natur, in die Natur – das heißt – –«
»Das heißt« – fiel mir die Zippen unwirsch in's Wort, »Seine Natur heißt, so mir recht ist, das nämliche Ding, das bei den alten Heiden der Kobold hieß. Er ist ein Narr mit seiner Natur, Luft. Die Natur ist des Herrn und nur die Sünde des, – nun meinetwegen, des Kobolds Kraft. Und außerdem frage ich Ihn nur noch eins: Mein Laubfrosch spürt's drei Tage vorher, wenn's Wetter kippt. Ist der darum mehr werth als Er und ich, die wir's alle Beide nicht spüren? Lasse 146 Er Sein Lichtchen leuchten, so weit es reicht, schneuze Er's zur Zeit und schirme es gegen Feuerschaden. Dem da droben aber lasse Er seine Heimlichkeit, und weil Er nun einmal kein Heiliger werden kann, so hüt' Er sich ein Laubfrosch sein zu wollen, mein Lieber. Das ist meine Meinung von der Sache und damit basta.«
Ich mußte der kleinen Kaule Beifall geben. Sie hatte im Grunde den Nagel auf den Kopf getroffen. Begierig war ich nur, wie sie nach dieser vernünftigen Auffassung die wunderbaren Dinge entziffern würde, über die sie noch zu berichten hatte. Indem ich mir vornahm, über ihre Gleichnisse vom Laubfrosch und vom Lichte, – letzteres gerade des Schneuzens halber, – auf dem Heimwege weiter nachzudenken, nöthigte ich sie, in ihrer Erzählung fortzufahren, und sie that's.
»Meine ärgste Angst zu jener Zeit war vor dem Kasper. Nicht eben von wegen des Grundstücks, das ja nun rechtlicher Weise zu einem Drittheile sein war, und das er als natürlicher Vormund seiner Tochter verkaufen oder mit Schulden belasten durfte. Denn wenn Eines gepeinigt ist, wie ich dazumal gepeinigt war, da schiert es sich wenig um Geld und Gut. Aber weil mir der Mann das Kind entreißen konnte, das mir die Mutter mit ihrer letzten feierlichen Beschwörung expreß zum Schutz gegen seinen Vater an's Herz gelegt hatte.
Und geschützt würde ich mein Anvertrautes haben, so lange mir der Athem nicht stille stand. Das kann Er mir glauben, Schulmeister. Eine Wohlthat war mir's aber doch, daß ich den Kriegs- und Friedensplans nicht 147 auszuführen brauchte, den ich mir wider den Menschen ausgegrübelt hatte. Denn er trat uns nicht in den Weg; sei's, daß er jedem Rumor über das Vergangene vorbeugen wollte, oder daß er sich die Geldkosten für den Unterhalt des kränklichen Kindes berechnet hatte. Er ließ uns in Ruhe, und als mir nach etlicher Zeit hinterbracht wurde, er habe die Stadt verlassen, um ein paar Stunden weiter unten beim Bau der Eisenbahnbrücke zu rammen, da fiel es mir vom Herzen wie ein Stein.
Da nun der Herbst heran kam, ohne daß ich von dem Menschen irgend etwas wieder hörte oder sah, kam ich auf den Gedanken, mein Oberstübchen, das jetzt ganz leer und unnütz stand, zu vermiethen. Denn erstens waren mir die zehn Thaler Zins, auf die ich rechnete, nach den schweren Ausgaben für Doctor und Apotheker und nach der Zeitversäumniß während Klärchens Pflege eine angenehme Zubuße; zum Anderen aber freute ich mich auf eine Gesellschaft in dem einödigen Hause, vornehmlich um des stillen, traurigen Kindes willen, das sich an keinerlei Umgang gewöhnen lernte. Ich sprach deshalb die Sache unter meinen Kunden herum, konnte aber nichts Passendes finden wegen des Häuschens Abgelegenheit, oder weil Dieser und Jener sich vor der Schlafstube der unglücklichen Selbstmörderischen fürchtete.
So blieb ich denn mit meinem Klärchen die dunklen, feuchten Novembertage und die langen Abende allein. Das Kind war in dem Jahre in die Höhe geschossen wie ein Spargel; aber mit jedem Tage wurde es auch blasser 148 und dünner; nippte vom Essen wie ein krankes Vögelchen und that seinen Schnabel nicht auf zu einem fröhlichen Laut. Die Angst, daß ich auch sie noch verlieren könne, fraß Nacht wie Tag an meinem Herzen und der Doctor konnte mir auch nur einen schwachen Trost verleihen. ›Das Kind habe ein feines System und Schwäche in den Nerven,‹ drückte er sich aus, ›die Natur werde ihm aber wohl helfen, wenn es an der Zeit.‹ –
Auf so trübselige Weise geriethen wir durch den November wieder bis zum Andreastag, an welchem unser Herzeleid jährig ward. Schulmeister, heuer hatte ich kein Leibgericht gekocht; wir standen alle Beide von unserem Mittagstische auf, ohne daß wir unsere Erdäpfelsuppe auch nur gekostet hätten. Da es Sonnabend war, mußte ich die Wochenarbeit zu Meister Süßen tragen. Ich gehe also, aber mit Unruhe, weil ich das Kind an diesem Tage nicht gern mutterseelen allein im Hause zurück ließ.
Wie ich zu Süßen komme, finde ich Seinen Mündel, den Armenlehrer, der seit gestern in die Stadt versetzt ist und eine Wohnung besichtigen will, welche Meister Süß im vorigen Blättchen in seinem Hause angekündigt hatte. Die Wohnung ist aber schon anderweitig vergeben und so komme ich denn just zu gelegener Stunde, um mein Oberstübchen anzupreisen. Daß es still und im Garten liegt, sagt dem Armenlehrer gerade zu, und den weiten Weg nach der Schule nennt er eine heilsame Motion. Schulmeister, Sein Heinrich hatte mein Herz gleich auf den ersten Blick und ich seines auch, wie er mir nach der Zeit gesagt und alle Tage seitdem schier 149 wie ein Sohn bewiesen hat. Kurzum, wir werden noch in der nämlichen Viertelstunde einig um Wohnung, Aufwartung, Wäsche, Morgen- und Abendbrod, und was sonst im Junggesellenstande noch vorfällt; nur zum Mittag will er sich beim Schuhmacher Kneisel am Markte verdingen, weil der Weg von der Schule hier heraus, und wieder retour, wenn man sein Essen nicht geradezu ungenossen verschlingen will, in einer Stunde nicht abzumachen ist. Denn um Zwölf hört die eine Armenklasse auf und um Eins fängt die andere schon wieder an.«
»Im Grunde doch ein recht sauerer Bissen Brod, unser Amt, Jungfer Zippen,« fiel ich ihr mit einem Seufzer in's Wort, »und wenn ich Alles in Allem bedenke, so kann ich es meinem Mündel, – die Liebesgefühle und was sonst noch darum und daran hängt gar nicht einmal in Anschlag gebracht, – durchaus nicht verargen, wenn er den schwarzen Rock an den Nagel hängen, und in der neuen Welt lieber ein Schurzfell umbinden will.«
Aber die Alte schüttelte den Kopf, sah mich an mit einem unwilligen Blick und strafte meine Rede folgendermaßen:
»Schäme Er sich, Luft; so lediglich an die Bequemlichkeit zu denken! Giebt es denn ein gesegneteres Werk, als den Kindern der Armuth beizubringen, wie sie sich geistlich nähren sollen? Denn, glaube Er es nur, Mann, es hungern und verkümmern mehr Menschen an ihrer unsterblichen Seele als an ihrem sterblichen Leibe. Wenn aber Sein Mündel dieses gesegnete Wirken dran giebt, zum Wenigsten hier in seinem Vaterlande dran giebt, einem un 150glücklichen Kinde zu Liebe, das an ihm hängt wie an seinem einzigen Schirm und Schutz, so wolle Gott der Herr ihm dieses Liebesopfer lohnen hier und in jener Welt.« –
»Amen!« rief ich aus vollem Herzen, »Amen, meine werthe Jungfer Zippen.«
»Ich ging nun seelenvergnügt nach Hause,« – so nahm die Zippen ihren Faden wieder auf, – »und hatte, bis ich an meine Schwelle gelangte, die unglückselige Erinnerung dieses Tages beinahe vergessen über dem lieben Menschen, der noch heute Abend, sobald er seine Sachen aus dem rothen Löwen besorgt, bei mir einziehen wollte. Wie ich in die Stube komme, finde ich Klärchen nicht drin. Ich denke, sie spaziert im Garten; denn die Sonne war eben im Verscheiden und das Kind hatte eine heimliche Liebe für die Sonne, ließ sich von ihr bescheinen, wenn sie am Fenster saß und blickte ihr nach, ohne Blendung, bis zum letzten, versinkenden Strahl. Ich sage also zu mir selber: nur gleich oben Alles in Ordnung gebracht, und laufe zum Tischkasten, wo der Schlüssel zur Oberstube seinen Platz hat. Der Schlüssel ist nicht da. Das fährt mir durch die Gliedmaßen wie ein Stich, denn seit einem Jahre überfiel mich eine ganz thörichte Angst bei der geringfügigsten Zufälligkeit. Die Treppe hinauf wie ein Wetter! Richtig: mein Schlüssel steckt. Ich also hinein. Da steht nun das Kind am Fenster, weiß wie der Tod und zitternd wie Espenlaub.
›Um des Heilands willen, Klärchen, was hat es gegeben?‹ schrie ich.
Das Mädchen fällt mir in den Arm und stöhnt mit einem Schauder: – ›der Vater, 151 der Vater!‹ –
›War er bei Dir?‹ frage ich.
Sie schüttelt den Kopf und ich ziffere nach und nach so viel heraus, daß es eigentlich so gut wie gar nichts gegeben hat. Das Kind war, nachdem ich fortgewesen, hinauf in die Oberstube gestiegen, wo noch alles so stand und lag, wie seine selige Mutter es an ihrem letzten Tage verlassen hatte; muthmaßlich, um ganz ungestört, wie in einem Heiligthume, seinen liebenden Gedanken nachzuhängen. Plötzlich, da sie an das Fenster tritt, um, nach ihrer Gewöhnung, der Sonne nach zu blicken, sieht sie den Vater unten vorübergehen. Seit einem ganzen Jahre tritt der Mann, vor dem sie das Grauen von Kindesbeinen an nicht losgeworden, ihr zum ersten Male unter die Augen und wirft einen Blick nach dem Fenster, – ›einen bösen, bösen Blick!‹ – sagte die Kleine, indem sie sich schüttelte. – Ich keife sie aus um ihrer unheimlichen Gedanken willen, führe sie hinunter und rede ihr zu, sich zu Bette zu legen, weil sie mir erbärmlich schwach und angegriffen vorkam. Sie schüttelt den Kopf, setzt sich an ihren Platz am Fenster und starrt in den Mond, der eben klar und voll in die Stube scheint. – Ich erzähle ihr nun meine Freude über den Miether und was für ein guter, braver Mensch er sei und wie er heute noch bei mir einziehen wolle. Ich spreche jedoch wie mit einem Stecken. Sie hört nicht auf mich, murmelt nur immer zwischen ihren Lippen, was ich natürlich nicht verstehe.
Da ich nun sehe, daß gar nichts mit ihr anzufangen ist, gehe ich wieder an meine Arbeit oben, räume Schrank und Kommode aus, beziehe das Bett, kehre und wische 152 alles rein und mache ein Schauerchen im Ofen. Nicht lange, so höre ich die Klingel unten im Flur. Ich hinunter und den Armenlehrer gleich in sein Revier geführt, ehe die fremde Gestalt dem Kinde einen neuen Schreck einjagt. Ich helfe ihm seine Sachen zurechte legen und habe meine herzinnige Freude daran, wie der Mensch alles so nach Wunsche findet und sagt: ›so hübsch habe er es in seinem Leben noch nicht gehabt.‹ Anjetzo bitte ich ihn, ein Weilchen zu verziehen, bis ich meine Abendsuppe eingequirlt. Damit gehe ich; meine Lampe lasse ich oben, denn der Mond scheint wie Tageslicht. Ich stelle Schippe und Besen in meine Küche und trete an die Thür, die nach der Stube offen geblieben ist.
In diesem Augenblicke höre ich die Uhr die siebente Stunde schlagen, und mit dem letzten Schlage höre ich drinnen eine Stimme.« –
»Sie hörten die Stimme, Jungfer Zippen?« fragte ich bedenklich.
»Ich hörte sie, Schulmeister; hörte sie mit diesen meinen leiblichen Ohren, ja was noch mehr ist, ich unterschied die Stimme, denn sie klang wie aus meiner Christine ihrem Munde. Ich stehe auf der Schwelle eingewurzelt, starr und steif. Da auf dem Fenstertritte sehe ich das Kind hoch aufgerichtet wie ein Monument im Mondenscheine; die Arme schlaff herunterhängend; das Auge starr auf die Thür geheftet; und ich vernehme deutlich die Worte: – ›ich liege erschlagen – in einem zu kurzen Grabe – zehn Schritte von der Gartenmauer.‹« –
153 »Wer sprach die Worte?« fragte ich entsetzt.
»Kann ich es behaupten?« – antwortete die Alte, – »sie klangen wie meiner Christine ihre Stimme, aber hohl und dumpf, als kämen sie unter der Erde hervor.« –
»Und sahen Sie nichts, wertheste Jungfer?«
»Meine Augen stierten in der Richtung von denen des Kindes nach der Thür und da war mir, als sähe ich einen verschwimmenden Schemen gleich einer Wolke. Aber das kann ich nicht beschwören, Mann. Es mag ein Trugbild gewesen sein; ein Schatten des Mondenlichts, oder meiner Einbildung. Auch hatte ich keine Zeit, die Erscheinung zu verfolgen, denn kaum, daß das letzte Wort verhallt ist, so schreit das Mädchen: ›Mutter Mutter!‹ so hell und grell, daß die Stube zittert, und stürzt wie vorig Jahr, steif wie ein Leichnam, an die Erde. – Ich, gleichsam meiner Sinne nicht mächtig, über sie her, und Gott weiß, wie lange wir alle Beide so am Boden gelegen haben würden, wenn nicht der Armenlehrer, der Schrei und Fall gehört hatte, mit dem Lichte herunter und uns zu Hülfe gekommen wäre. Er richtet erst mich in die Höhe, nimmt dann das arme Klärchen wie ein Kind in seine Arme und trägt sie auf ihr Bett in der Kammer. –
Der gute Mensch war mir ein Helfer, zu rechter Stunde von Gott gesendet, und das muß wahr sein, Schulmeister: zehn Frauenzimmer, mit vielem Geschick und bestem Willen, geben einer Beängsteten nicht halb das Vertrauen wie der Beistand eines einzigen braven Mannes – Sobald ich nur einigermaßen wieder zu 154 mir selber gekommen bin, bitte ich den Armenlehrer, bei dem Kinde zu bleiben und laufe um Hülfe hinüber zu Nachbars. Ob ich dort in der Aufregung meinem Herzen Luft gemacht habe, besinne ich mich nicht mehr. Natürlich wär's. Aber ein Wunder bleibt's mir doch, wie die Kundschaft sich so im Augenblick verbreitete, als flöge sie durch die Luft. Gleich einem Ameisenhaufen kribbelte und wibbelte es in meinem Hause vor lauter bekannten und unbekannten Gesichtern, die alle von dem Geisterspuk etwas abkriegen wollten.
Da liegt nun mein Klärchen auf ihrem weißen Bette, noch immer blaß und besinnungslos, aber ruhig athmend und die Augen nicht offenstehend und gläsern wie vorhin, sondern sanft geschlossen gleich einer Schlafenden. Der Armenlehrer sitzt vor ihr, hält ihre beiden kleinen Hände in seiner Rechten und läßt die Linke auf ihrer Stirn ruhen. Schulmeister, ich gebe viel auf das Auflegen der Hände. Schon unser Heiland that's, wenn er erwecken wollte, und nichts erleichtert einen Kranken so sehr, als wenn ein Gesunder mit Liebe und ernstem Willen seine Stirn berührt. ›Sie schläft!‹ flüstert mir der Armenlehrer zu und winkt mit der Hand, daß man Ruhe halte. Im Umsehen kommen dann auch gleich hintereinander zwei Doktors und vier Barbiere, die von den Nachbarn herbeigerufen, oder auf der Straße aufgegriffen worden sind. Ich trage die Sache vor und repetire die Worte, die ich deutlich vernommen habe, und die, so lange meine Ohren offen stehen, darin klingen werden, wie ein Zeugniß des Allmächtigen und Allwissen 155den – Schulmeister, der Rumor unter der Menschheit, der Rumor! Nicht ein Einziger, auch nicht der Klügste, nicht der Gottloseste hat daran gezweifelt, daß die gemordete Mutter ihrem Fleisch und Blut erschienen sei, um auf einen irdischen Richter anzutragen. Nur die Herren Doctores, (die Barbiere nicht etwa,) schütteln die Köpfe, lächeln sich an und der Reuter, der mein Klärchen von Kindesbeinen an behandelt hat, der sagt: ›Das Mädchen sei magnetisch und sehe ein Bischen hell und habe ein feines System und Reiz in ihren Nerven; und die Worte seien von ihr selber gesprochen worden, wie von vielen derartigen Patienten, als rede ein fremder Geist gleichsam aus ihrem inwendigen Menschen heraus. Auf die Worte sei aber gar nichts zu geben, nur auf den Zustand an sich; denn der Fall sei interessant.‹«
»Aber was sagen Sie, wertheste Freundin?« fragte ich, auf das Höchste gespannt. »Sie allein können entscheiden; denn in Ihrer Gegenwart allein ist die unheimliche Botschaft geschehen.«
»Ich?« – antwortete die Alte, – »lieber Mann, ich sage nichts. Klärchens gewöhnliche Stimme war es nicht, sondern die ihrer Mutter, das habe ich beschworen vor Gericht und Zeugen und würde ich in meinem letzten Stündlein noch das Abendmahl darauf nehmen, meinen alten tauben Ohren zum Trotz. Was aber Gottes Geheimniß bei der Sache ist, durch welche Erscheinung er seine Allwissenheit bekundigt hat, ob durch das unglückliche Opfer selbst, oder durch ein Wunder der Liebe in seinem Fleisch und Blut, – das kann ich schwachsinniger 156 Mensch nicht entziffern. Nur das Eine steht fest, Schulmeister, fest, allem zum Trotz, was ich ihm als meinen Glauben über Erscheinungen und Traumgesichte angegeben habe: das Kind, mein Klärchen, das weiß und bewußtlos vor uns lag, ich will nicht sagen, daß sie durch gottseliges Denken und Thun, wie eine Heilige, erwählt gewesen wäre, tiefer zu blicken in ein Reich, das sterblichen Augen verschlossen ist: aber Teufelseingebungen, Hexengesichte konnte sie noch weniger haben; denn sie war rein und unschuldig, auch in Gedanken, wie Mädchen ihres Alters es selten noch sind. Sie war ein Kind, wie eine Blume, ließ die Sonne in ihr junges Herz scheinen und zog es zusammen vor dem Schatten der Nacht. Daß es noch eine andere Liebe gäbe, als die zu allen Menschen nach des Heilands Gebot, davon schwante ihr nichts, und bis zu jener Stunde, wo Sein Heinrich sie in seine Arme faßte, hat sie keinen Mann mit Augen gesehen, nämlich mit Augen der Lust. – Darum denke Er von der Sache, was Er will, Schulmeister, glaube Er an einen Spuk aus dem Grabe wie die Nachbarn und die Barbiere, oder an die magnetische Botschaft aus den Nerven wie die Doctores, oder meinetwegen noch an eine dritte Auslegung, wenn es eine giebt, – ich kann es nicht ändern. ›Wenn aber Einer frevelt gegen die Natur, so muß Der da droben wohl die Macht haben, sein heiliges Gesetz zu bewahren und mit einem Blitze seiner Herrlichkeit die Schranken zu durchbrechen, in welche er unsere Geister gebannt und die Nacht, die Er über sie gebreitet hat.‹ So sagt Sein Mündel, der Armenlehrer, und was der 157 Armenlehrer sagt, das darf Einer glauben, Schulmeister, und wohin der Einen führt, dahin darf er ihm folgen, und wäre es in den Mittelpunkt der Erde, ich ginge blindlings, und mein Klärchen, die schritte mir voran. –
Die ganze Nacht hindurch saß der brave Mensch an ihrem Bette, ihre Hände in seiner Rechten und die Linke auf ihrer Stirn. Sie schlief sanft wie ein Kind, der Athem ging leise und die Bäckchen waren angehaucht gleich einer Pfirsich. Der unruhige Geist hatte gleichsam seinen Erlöser gefunden. –
Die Menschheit verzog sich allmälig. Vorig Jahr, Luft, bei der gefährlichen Krankheit, da hatte ich Zuspruch von allen Seiten und keiner fürchtete eine Ansteckung; ob aber heute einer von den Nachbarn das Herz gehabt hätte, in dem gespensterischen Hause eine Nachtwache zu halten, das bezweifle ich stark. Nur der Armenlehrer hatte keine Furcht. Er bestand sogar darauf, daß ich Alte ein paar Stunden der Ruhe pflegen sollte, während er bei der Kranken die Wache hielt; und so groß war gleich in den ersten Stunden mein Zutrauen zu seiner Ehrbarkeit: ich that's, legte mich mit meinen Kleidern auf's Kanapee in der Stube und dämmerte ein. Aber so oft ich mich aufkrüppelte und durch die offenstehende Kammerthür nach den Kindern lugte, da saß auch Sein Heinrich still an des Mädchens Bette und hielt ihre Hand, und das Mädchen schlief und schlief – und schlief sich gesund.
Das sagte auch der Reuter, als der mit Tagesgrauen kam. Er zählte Puls und Athemzug, horchte 158 an das Herz, befühlte Haut und Stirn und sagte endlich: ›Zippen,‹ sagte er, ›sei Sie getrost; die Kleine schläft sich gesund. Halte Sie sie still und lasse Sie sie gewähren, die Natur thut ihre Schuldigkeit.‹ Und sobald die Sonne aufgegangen war, schlug sie auch wirklich ihre Augen auf, blickte, wie seit lange nicht, groß und hell um sich her, und Seinen Heinrich, Schulmeister, den sie doch noch mit keinem Sterbensauge gesehen hatte, den lächelte sie an, wie einen alten guten Freund. Herr meines Lebens! wie froh war ich nach dem grausigen Spuk! – Nicht lange, so schlief das Kind wieder ein und fort und fort dreimal vierundzwanzig Stunden, ohne von dem, was im Hause vorging, länger als einen Augenblick gestört zu werden.
Und das war eine Wohlthat für das arme Geschöpf; denn was nun geschah, würde dem sanften Herzen arg mitgespielt haben. Wie ein Sturmwind hatte sich's über die Stadt verbreitet: ›die schöne Kaspern habe nicht eigenmächtig Hand an sich gelegt, sie sei ihren Angehörigen erschienen, gestern wo's jährig war und habe Anzeige gemacht, daß sie todtgeschlagen und hinter ihrer Gartenmauer eingescharrt worden sei; – erschlagen und eingescharrt von ihrem Manne!‹ hört Er den Zusatz, Schulmeister? von ihrem Manne! –
Der Rumor kommt vor die Polizei. Die Polizei ist nicht faul, – die vorjährige Geschichte ist noch in frischer Erinnerung. Mit Tageslicht sind die Häscher im Hause, den Kasper zu fangen. Im Hause ist er nicht. Kaum eine halbe Stunde kommt Schnuke, der Bäcker, 159 ganz außer Athem: ›Sie haben ihn, sie haben ihn! Bei seinem Weibsbilde hat er Sonntag gehalten und sitzt nun im Stadtthurme eingesperrt! – Hoch und theuer hat er sich verschworen, an der That unschuldig zu sein, und mehr als einmal wüthig geschrien: »So grabt doch nach in meinem Garten von A bis Z und seht, was Ihr findet!«‹ –
Nicht lange, so werde ich mit dem Kinde vor's Criminal citirt. Weil das Kind aber krank ist, bemühen sich die Herren in meine Stube und nehmen die Sache zu Protokoll. Mit Klärchen ist freilich wenig anzufangen; sie schläft, und der Reuter besteht darauf, daß sie absolut nicht gestört werde. Im Uebrigen, sagt er, sei das Mädchen magnetisch, und solche Patienten wüßten bei wachen Sinnen nicht, was im Schlafe mit ihnen vorgegangen sei. Und in dem Stücke hatte der Doctor Recht. Denn als die Kleine von Ungefähr einmal aufwachte und von dem Reuter im Beisein der Gerichtsherren sachte ausgehorcht wurde, machte sie große Augen, schüttelte den Kopf und wies mit dem Finger auf Seinen Heinrich, Schulmeister, als ob der ihr Oberherr wäre und um ihre heimlichsten Heimlichkeiten wissen müsse. Dann machte sie ihre Augen zu und schlief wieder ein.
Das Criminal hielt sich nun an mich, und ich gab denn zu Protokoll haarklein Alles, was ich Ihm soeben erzählt. Ein paar Mal sagte wohl der Referendar – der Andere war der Actuar: – ›Gehört nicht zur Sache, Zippen,‹ oder: ›bleib' Sie bei der Stange, Zippen!‹ Daß aber Einer schlechtweg an der Ehrlichkeit meiner 160 Meinung gezweifelt habe, Schulmeister, das glaube ich nicht. Denn die kleine Kaule war als Eine bekannt, über deren Zungenspitze, so gerne sie selbige rühren that, niemals geflissentlich eine Lüge gewandert ist, insofern keine Noth sie entschuldigte.
Jedennoch soviel konnte ich bald genug merken, daß die Herren von der Feder, nachdem sie weggekriegt, daß kein leiblicher Zeuge im Spiele gewesen war, von der geisterischen Botschaft nicht viel Wesens machten. Ich will's Ihm nur gestehen, Luft, daß Er der Sache eine dritte Auslegung geben kann, oder vielmehr eine einzige, insofern Er mit dem Criminal an einem Strange zieht. Also: die Zippen hat die Mordthat in ihrem alten Kopfe ausspintisirt und nach Weiberart bis auf's tz ausgedüftelt. Die Botschaft, die sie mit ihren tauben Ohren ja gar nicht vernehmen konnte, hat sie nach ihrer Manier, vielleicht wider Wissen und Willen vor sich hin geplappert; das schwächliche Kind hört sie von Ungefähr mit an und fällt in die Ohnmacht bei dem Gehör. Der Vollmond kommt auch in's Spiel und ein Geisterspuk, wie ihn jedes alte Weib beliebt, ist fix und fertig. Nun, was sagt Er zu der Auslegung, Mann?«
»Jungfer Zippen!« – rief ich, den Kopf nach Kräften schüttelnd, und die rechte Hand zur Betheurung des Gegentheils auf mein Herz drückend – »Jungfer Zippen!«
»Laßt nur gut sein, Schulmeister,« fuhr die Zippen fort. »Am natürlichsten ging's freilich so zu, aber mit rechten Dingen nicht. Einen Mohren hätt' ich jedoch weiß waschen können, eher als den Criminal überzeugen. 161 Vom Spuke nämlich. Den Todtschlag ließ er gelten. Ein anrüchiger Patron sei der Kasper, das stehe fest; seinen Vortheil hätte er davon gehabt, wenn die Frau aus dem Wege kam, und das Strumpfband, das ich als letztes Andenken von meiner Christel heilig aufbewahrt hatte, und jetzt, auf Verlangen, vorzeigte, wäre ein verrätherisches Anzeichen just darum, weil es der Kasper war, der es aufgefunden und zuerst den Verdacht des Ersäufens auf's Tapet gebracht. Ein Glück, daß sie den Bösewicht fest hinter Schloß und Riegel hätten. Das Weitere finde sich auch ohne Spuk, meinte der Criminal.
Weil nun aber der Aufruhr unter der Menschheit gar zu gewaltig geworden, war die Polizei so klug, ihr mit einer Untersuchung den Willen zu thun. Gehindert hätte selbige ohnehin nicht mehr werden können. Denn schon seit Morgens hatte sich die gesammte Vorstadt mit Hacke und Spaten über mein Grundstück hergemacht. Kopf bei Kopf standen sie, kaum, daß Einer dem Andern eine Elle breit Raum vergönnte. Nicht nur zehn Schritte von der Mauer, bis in die Mitte hinein, wo die alten Birnbäume stehen, wurde der Boden mannstief unterwühlt. Kein Erdenklos blieb auf dem anderen; sie wollten mit Gewalt etwas finden – aber sie fanden nichts; der Doctor und der Criminal blickten sich an mit lächelndem Gespött.
Jedennoch das Volk giebt sich noch lange nicht zufrieden. Nun erst recht im Eifer geht's hinüber zu Nachbar's; so weit die Grenzmauer reicht, wird rajolt 162 und gebohrt –, sie finden nichts. ›Dummes Volk!‹ spricht der Criminal, der wegen des Strumpfbands oder aus anderweitiger Neugier gegen Mittag sich noch einmal heraus bemüht hatte. ›Dummes Volk, wenn's noch allenfalls unten an der Fabrikmauer grübe!‹
Einer von der Gesellschaft, wenn mir recht ist, war's der Süß, hat diese Rede aufgefangen. Im Nu wallfahrtet ein Trupp hinunter in die Fabrik. Aber die Parkmauer hat wohl eine Stunde im Umfange; eine weite Strecke ist sie mit Scheitholzreihen besetzt, zehn Schritte, und wenn's nur Kinderschritte wären, liegt der Boden gar nicht frei. Auf dem Rasen, im Kiesweg keine Spur einer Gewaltthat; Alles glatt und gleich; kein Anzeichen, das Gärtner oder Arbeiter seit einem Jahre entdeckt hätten. Wo hin und wieder ein Maulwurf einen Hügel aufgeworfen, wird ein Spatenstich gethan. Alles umsonst. Der Doctor und der Criminal hatten gut lachen.
Die Nacht war hereingebrochen. Die Gliedmaßen mußten sich endlich zur Ruhe geben; aber die Gemüther beileibe nicht. Keiner, kein Einziger, hätte sich's ausreden lassen, daß der Kasper seine Frau todtgeschlagen und zehn Schritte von der Gartenmauer eingescharrt habe; denn der Glaube ist mächtiger als jeder Beweis.«
»Der Glaube ist ein Beweis, meine werthe Jungfer Zippen,« wendete ich ein.
»Schon recht,« versetzte die Zippen, »insofern's nicht ein Aberglaube ist, Luft, ein Irrlicht des Eigensinns und der Eigenliebe.«
163 Ich hatte Lust, die Unterscheidung von Licht und Irrlicht im Glauben etwas deutlicher festzustellen; die kleine, Jungfer ließ mich aber nicht zu Worte kommen.
»Die Zeit wird knapp, Schulmeister,« sagte sie. »Ich muß ein Ende machen, bevor die Kinder heimkehren. Lasse Er's sich von Gericht und Zeugen attestiren und grüble Er's dann still bei sich aus, ob und wie weit in diesem Falle der Glaube des Volks ein Licht oder ein Irrlicht gewesen ist.
Was ich zu sagen habe ist, daß der Kasper, da er doch nun einmal saß, wenngleich kein Beweis, außer dem Glauben, gegen ihn aufgefunden werden konnte, doch nicht mir nichts dir nichts wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Sie brachten ihn aus dem Thurm in die Frohnveste; die Untersuchung zog sich in die Länge. Vor allen Stücken sollte er haarklein angeben, an welchem Orte er den Abend hingebracht habe, an welchem seine Frau verschwunden war.«
»Er sollte sein Alibi beweisen,« – erlaubte ich mir erläuternd einzuschalten.
»Der Ausdruck ist mir zu hoch, Luft,« versetzte die Zippen. »Kurzum hier haperte die ganze Sache. In der Trompete war er gesehen worden; auch das Weibsbild wollte ihn die Nacht über bei sich gehabt haben. Punkto neun, und wieder früh um fünf hatte seine Erscheinung mir den gewaltigen Schrecken eingejagt. Genau überein stimmten die Aussagen nicht; in einer Stunde befand er sich an zwei Orten zugleich und in der andern nirgends. Rein konnte der Mensch sich nicht waschen. 164 Der Verdacht muß aber doch nicht hinlänglich gewesen sein, um ihn dauerhaft als Verbrecher zu tractiren; nach etlichen Monaten ließ man ihn aus der Frohnveste los.«
»Man sprach ihn vorläufig frei, meine gute Jungfer Zippen,« verbesserte ich.
»Meinethalben auch so, Luft,« fuhr die Zippen fort. »Die Sache ist die: der Kasper kam einstweilen auf freien Fuß und hatte nunmehr, wie Er sich vorstellen kann, eine gehörige Bosheit auf seine Tochter und namentlich auf mich, die ihm das ganze Malheur auf den Hals gezogen hatten. Einmal, daß ich ihm auf dem Wege zu Meister Süßen begegne, kriegt er mich dran und spricht: ›Er wolle uns das Geistersehen anstreichen. Das Haus verkaufe er und mich alten Buckelinski mit. Die Kläre möge sehen, wo sie mit ihren Spukedingern bleibe; aber bei mir lasse er sie nicht. Wir sollten alle Beide schon noch an ihn glauben lernen!‹ – Ein anderes Mal, da er unter seinem Hause vorbeigeht und das Klärchen gewahr wird, wie es oben beim Armenlehrer die Fenster putzt, droht er mit beiden Fäusten zu ihr in die Höh' und die alte Büschingen, die dicht hinter ihm hergeht, hört, wie er zwischen seinen Zähnen knirscht: ›Warte Du, Racker!‹
Ich führe das an, Schulmeister, um Ihm zu zeigen, wie weit es in rohen Redensarten mit dem Menschen gekommen war und wie erbärmlich sich Weib und Kind in seiner Nähe hätten fühlen müssen. Freilich, daß es ihm hart ankam, so in Aller Maul gerathen zu sein als ein Weibermörderischer und noch dazu durch sein eigenes 165 Fleisch und Blut, kann man sich vorstellen. Und das nagte auch an des armen Klärchens Herzen Tag und Nacht. Sie kam sich vor, wie eine Verbrecherin gegen das vierte Gebot, so, als ob ihr dereinst die Hand aus dem Grabe herauswachsen müsse, obschon sie die Schuld gegen ihn wider Wissen und Willen verübt hatte, – wenn sie überhaupt dieselbe verübt.
Im Uebrigen war das Kind alleweile gesund und gleich jedem anderen natürlichen Menschen, nur weit schüchterner, zärtlicher und blässer als alle Mädchen seines Standes. Sie aß, trank, schlief, arbeitete und plauderte sogar mit mir; nur aus dem Hause wollte sie auch jetzt noch nicht gehen, weil sie sich schämte vor der Neugier der Leute. Denn einmal, daß sie sich durch mein Zureden hat bewegen lassen, mich zu Meister Süßen zu begleiten, da drehten sich alle Hälse nach ihr um, aus allen Fenstern und Thüren reckten sich die Köpfe und die Gassenjungen riefen einander zu: ›Da kommt die kleine Kaule mit der Gespensterseherischen, deren Vater seine Frau todtgeschlagen hat.‹
Seit der Zeit ließ ich sie ungestört zu Hause. Die Gänge besorgte ich oder der Armenlehrer, wenn sie ihm gerade bei Wege lagen, wie denn überhaupt der brave Mensch mir in allen Stücken beisprang gleich einem Sohn. Ja, Schulmeister, der alten Kaule ging es im Grunde nicht um ein Haarbreit anders als dem jungen Blut; ihr ganzes Herz hängte sich an den Mann und wo er war, da war ihr wohl. Aber auch er neigte sich alle Tage herzlicher zu dem unter seinen Augen aufblühenden 166 Kinde. – Wie ein Bild wurde sie anzusehen, wie ein Engelsbild, ja fast noch feiner als ihre selige Mutter. Ach, Luft, wenn es den guten, studirten Armenlehrer nicht gefunden, was hätte aus dem Mädchen werden sollen mit seiner sanften Stimme und schmeidigen Natur, als Dienstbote oder etwa als Frau eines kleinen Handwerkers oder Handarbeiters? Denn die Schönheit ist wie ein Gift für die Kinder der Armuth, lieber Mann, und eine gebrechliche, kleine Kaule wird zehnmal sicherer durch's Leben spazieren als eine schlanke Christine oder Kläre. Darum stand auch alle meine Hoffnung auf den Armenlehrer, daß zu rechter Zeit und Stunde das Herz ihm, nicht blos wie bisher als das eines Bruders, aufgehen werde. Er mußte es ja auch spüren, daß ihr Leben an einem Faden mit seinem Leben hing. Ja, glaube Er es nur, guter Vormund, das Wesen dieses Kindes ist nicht anders wie eine Flamme, die von dem Oel der Liebe unterhalten wird; erst von der Liebe zur Mutter, dann von der zum Mann. Gebricht das Oel, löscht die Flamme aus.«
»Ein schönes Gleichniß, meine wertheste Jungfer Zippen!« rief ich aus.
»Meint Er, Luft?« lachte die Zippen, »Ei nun, ich werd' es wohl irgend einmal wo gehört oder gelesen haben; denn aus mir selber stammt die Erfahrung nicht. Ich für mein Theil bin, zu meinem Glücke, all' mein' Tage recte das Gegenstück zu einem so zärtlichen Dingelchen gewesen. Ich schiebe mich stramm auf eigenen Füßen durch die Welt, und die Menschheit ist nur gleichsam zur Er 167götzlichkeit von meinem Herrgott mir in den Weg gestellt worden.
Aber daß ich bei meinem Texte verbleibe. Das Grundstück ward nun wirklich Theilungs halber zum Verkaufe ausgeboten. Das Gerede ging, daß der Kasper auswandern wolle, um das Weibsstück zu ehelichen, was er zu Lande, weil er doch keinen Todtenschein von seiner Frau beibringen konnte, unter vielen Jahren nicht gedurft hätte. Ein Käufer aus freier Hand fand sich nicht, so schrieb das Amt die Subhasta aus. Zum Montag, den ersten December, war der Termin festgesetzt. Ich ließ mir kein graues Haar d'rum wachsen, daß die kleine Kaule in ihren alten Tagen gleichsam noch im Aufstrich verhandelt werden sollte wie die Schnecke in ihrem Haus. ›Laß Sie mich nur sorgen, Sie soll Ihre Kläre behalten,‹ sagte der Gerichtsrath, der mich schon vordem so klüglich gewarnt hatte. ›Dem Vater wenigstens, der als Verdächtiger keine Gewalt über sie hat, wird sie in keinem Falle überantwortet werden.‹ Wer war froher als ich. Kam es nun wie es kam, was machte ich mir aus dem Haus? Noch konnte ich arbeiten, und für die Zukunft rechnete ich getrost auf den Armenlehrer.
So, ohne Behelligung, verliefen unsere Tage bis zu dem, welcher der Subhasta vorausging. Wieder der dreißigste November, St. Andreas, heuer ein Sonntag, der letzte im Kirchenjahre, der dem Gedächtniß der Verstorbenen geweihet ist. Ach, freilich zitterte mir das Herz von mancher schweren Erinnerung, als ich das Trauerband auf meine gute Haube steckte, und Thränen tropften 168 auf mein Abendmahlskleid, das noch von der Einsegnung her, auf meinen armen Körper wie angegossen paßt. Aber ich empfand doch auch wieder eine herzinnige Freude, da jetzt auf einmal mein Klärchen angezogen aus der Kammer tritt und mit Thränen zu mir spricht, sie wolle mit mir gehen, um an heiliger Stelle für die Todten und für die Lebenden zu beten. Ich umhalse mein liebes Kind, herze es und wir gehen, Klärchen, der Armenlehrer und ich.
Schulmeister, es war ein feierlicher Gang. Die Sonne schien ohne Schleier wie selten am Todtenfeste. Wir hätten Auferstehung feiern können, so rein und blau war das Himmelszelt. Als der Gottesdienst, an welchem im ganzen Jahre die meisten Kirchenthränen fließen, zu Ende war und wir über den Friedhof gingen, der um die Kirche gelegen ist und an welchem die Leute die Gräber ihrer Abgeschiedenen umstanden, da las ich es in dem nassen Auge meines Kindes, wie es so inniglich auf dem Manne an ihrer Seite ruhte: ›Mir fehlt ein Grab an dieser heiligen Stelle und ich habe keine Heimath hier auf Erden als nur Dein Herz.‹ Sein Heinrich, aber, Vormund, der brach einen Zweig von dem Hollunderzaune beim letzten frischen Grab und sprach: ›Den Zweig, liebes Klärchen, wollen wir in einen Wasserkrug und in die Sonne stellen, wie es die Sitte dieses Tages ist. Denn wir nehmen es für ein tröstliches Zeichen, wenn das todte Reis, am trüben Novembertage gepflückt, in der heiligen Weihnacht wie durch ein Wunder in Blüthe steht. Wohl könnten wir warten und wissen, 169 daß zum Frühling die erstorbene Erde in neuer Auferstehung keimt; aber der Winter ist kalt und dunkel wie oftmals unser Erdenleben, und wir haben nichts als die Liebe des heiligen Christs zum Troste und zum Zeichen eines ewig unvergänglichen Seins.‹
Diese Worte, Schulmeister, die ich nur halb verstehen konnte, habe ich mir von meinem Klärchen aufschreiben lassen und mit dem ersten Blatte, das der Hollunderzweig getrieben, in mein Gesangbuch gelegt. Außerdem aber stehen sie in mein Herz gegraben wie ein Evangelium neben vielen frommen und erbaulichen Gedächtnißreden, die Sein Mündel mir und dem Kinde gehalten hat. Denn was wir in dieser Stunde noch erleben sollten, war wohl dazu angethan, sie mir unvergeßlich zu machen. –
Kaum daß wir aus dem stillen Gottesacker getreten sind, so merke ich ein Laufen und Rennen, unter den Leuten eine Unruhe und Munkelei, die etwas Außerordentliches bedeuten müssen. Sie werfen sich Worte und Blicke zu und stürzen aneinander vorüber und machen Zeichen und Winke gegen mich und das Kind, daß sich mir schier das Herz im Leibe umwenden thut. Auf ihren Gesichtern lese ich die Frage: ›ob die's wohl schon wissen?‹ und ich hätte gar zu gerne gefragt: ›was?‹ wenn es mir nicht um mein Klärchen gewesen wäre, die nur noch so wankte. Endlich, da kommt Schnuke, der Bäcker, und wie der meiner ansichtig wird, steckt er mir einen Zinken, und nimmt mich bei Seite und keucht, es sollte wohl sachte sein, aber meiner Ohren halber war es doch so, 170 daß dem Kinde keine Silbe entgehen konnte: – ›Weiß Sie's schon, Zippen,‹ spricht Schnuke, ›Ihre Kaspern ist gefunden, – heute Morgen, – in der Fabrik – unter den Scheiten, – zehn Schritte von der Gartenmauer – in einem zu kurzen Grabe – gerade so wie ihr Geist es angezeigt hat. – Der Kasper sitzt schon. – Ich will nur gleich 'nunter mit eigenen Augen sehen – dann bring' ich Ihr Post!‹ – Und davon rennt er, als ob's brennte.
Wir schwanken weiter; das unglückliche Kind zittert gleich einer Verbrecherin; der Heinrich hat seinen Arm um ihren Leib gelegt und spricht kein Wort und sieht selber weiß aus wie der Tod. Als wir aber in meine Stube treten, da zieht er das Mädchen an seine Brust und küßt sie, zum ersten Male, daß sie seit einem Jahr miteinander leben, küßt er sie auf die Stirn und sagt: ›Sei standhaft, mein Klärchen; Liebe tilgt Schuld. Ich aber habe Dich lieb; lieber als mein Leben, und so wahr Gott mich hört! ich werde Dich niemals verlassen.‹
Und das Mädchen blieb standhaft, Schulmeister, in diesem furchtbaren Kampfe; denn nichts hält das Herz eines Weibes aufrecht in der Noth wie die Liebe eines braven Mannes. Ja, was ein Mensch einem Menschen eigentlich werth ist, das erfuhr ich an mir selber in der Stunde, wo ich sonst vielleicht dem Mörder meines Kindes geflucht haben würde, und wo nun mein Herz nur voll Segen war für den Tröster meines zweiten Kindes. –
171 Endlich, da kommt Schnuke, der Bäcker, und berichtet den Hergang. Daß ich's kurz mache, Schulmeister: Heute mit dem Frühesten wird ein Haufen Scheite weggeräumt und in die Fabrik zum Verbrennen getragen. Wie nun der Grund frei wird, da fällt den Arbeitern eine Stelle in die Augen, auf welcher das Erdreich lockerer und anders mit Lehm und Sand vermischt ist als rings umher. ›Curios!‹ spricht der alte Weber zum Gärtner, der von Ungefähr dabei steht, ›curios, das sieht doch aus wie ein eingesunkenes Grab.‹ Der Gärtner sticht so verloren mit dem Spaten hinein und – das Erdreich giebt nach; er gräbt weiter und stößt auf etwas Hartes. Es sammeln sich in der Geschwindigkeit noch mehrere Arbeiter um die Beiden; in wenigen Minuten sehen sie mit Entsetzen, daß ein Gerippe zum Vorschein kommt. Es ist ein weiblicher Leichnam, die Knie ein wenig in die Höhe gebogen, so als ob die Grube nicht lang genug gewesen wäre, um ihn ausgestreckt zu beherbergen. Fleisch und Kleidungsstücke sind verfallen; nur eine Flechte hellen Haares ist unversehrt geblieben. Aber das Merkwürdigste ist ein Strumpfband, das, wie das Gebein herausgehoben wird, vom linken Fuße an die Erde gleitet. Der Draht ist gar nicht, das Leder nur an wenigen Stellen beschädigt. ›Die Kaspern!‹ schreit alles wie aus einem Munde, ›die schöne, unglückliche Kaspern!‹ Im Nu schreitet Einer die Entfernung von der Gartenmauer ab. Himmlischer Heiland, es trifft! alles stimmt auf das Haar! Sie liegt zehn Schritte von 172 der Gartenmauer in einem zu kurzen Grabe; erschlagen – erschlagen von ihrem Mann!
Wie Schuppen fällt es jetzt den Leuten von den Augen. An der nämlichen Stelle hat der Kasper vor zwei Jahren die Scheite gesetzt, als seine Frau ihm das Essen brachte. Hier hat er, wie, weiß nur Gott, die Missethat an ihr begangen, oder doch mindestens den armen Leichnam an dieser Stelle eingescharrt, über welches er darauf das Holz in Ordnung wieder aufgeschichtet; klüglich berechnend, daß bei dem großen Vorrathe der Platz unter Jahren nicht frei und das Gebein nicht an's Licht kommen werde. Und in der That war es ein purer Zufall, daß just diese Klafter, die noch lange nicht an der Reihe war, heute geräumt wurde, weil Herr Meier an der Stelle eine Thür in die Mauer brechen und einen Weg dahin bahnen wollte.
Vormund, es war ein furchtbares Exempel! das fühlten alle Umstehenden in ihrem innersten Herzen. Und wie nun jetzt am Todtensonntage, dem Jahrestage, der bösen That, die Kirchenglocken ausheben, da zieht der alte Herr Meier seine Mütze vor dem todten Gebein und faltet seine Hände und spricht: ›Herr, Deine Gerichte sind unerforschlich!‹ und die Menge rings umher thut desgleichen und murmelt es ihm nach. –
Man hatte auf der Stelle dem Amte Anzeige gemacht und es währt auch nicht lange, da bringen sie den Kasper, den sie in der Trompete gefunden haben. Der Criminal mit dem Actuarius erscheint fast zu gleicher Zeit. Man führt den Kasper vor den Leichnam. Alle 173 Zeichen stimmen gegen ihn; alle Blicke starren voll Wuth auf den Bösewicht. Ein jeder spannt, welche Miene Einer macht, welchen Gott vom Himmel herab selber der ärgsten That überführt.
Der Verruchte zuckt keine Muskel. ›Straf' mich Gott!‹ so ruft er laut, daß an die Hundert es mit ihren Ohren gehört haben, und reckt seinen Arm in die Höhe, ›straf' mich Gott, daß mir die Hand verdorre, wenn sie das Weib erschlagen hat!‹ –
Die Polizei hat Noth die Menschheit abzuwehren, die auf der Stelle ihre Wuth an dem frechen Lästerer auslassen will. Er wird gebunden in die Frohnveste geführt. Die Leute aber machen schnell eine Sammlung und bringen mehr zusammen als nöthig ist, um dem unglücklichen Opfer ein ehrenvolles Grab zu bestellen. Und es waren lauter arme Leute! Der alte Herr Meier aber gelobt, auf das Grab ein Monument mit einer Inschrift setzen zu lassen, auf daß das Andenken an dieses wunderbare Gericht erhalten werde bis auf Kind und Kindeskind. –
Und so haben sie denn in der Dämmerung, nachdem noch der Physikus seine Untersuchung am Schädelbein angestellt und sein Gutachten auf Todtschlag abgegeben hat, das Gebein meiner lieben Christine in einem kostbaren Sarge auf den Gottesacker getragen und ihm seine Ruhe gegeben neben dem letzten frischen Grabe, auf der Stelle am Hollunderzaun, wo der Tröster ihres Kindes heute Morgen das todte Reis gepflückt und gesagt hatte: ›es wird blühen!‹ Als aber die Glocke 174 sieben schlug, zu der Stunde, wo vor einem Jahre ich und mein Klärchen die wunderbare Botschaft vernommen hatten, da kniete sie und ich und unser Heinrich anbetend vor dem weißen Hügel. ›Friede der Unschuldigen!‹ schluchzte ich, und ›Gnade dem Schuldigen!‹ sagte der Armenlehrer.«
In diesem Augenblicke ging die Gartenthür.
»Die Kinder kommen!« – rief die Alte aufhorchend und ihre Thränen trocknend. – »Kein Wort, Schulmeister, kein Wort von der Geschichte! Den Rest, den weiß Er.« –
»Nur noch eins, werthe Jungfer,« bat ich, sie am Rocke zurückhaltend. – »Was man sich von des Kaspers Hand erzählt, hat auch das seine Richtigkeit?«
»Es hat seine Richtigkeit,« – antwortete die Zippen, »befrage Er den Physikus oder einen vom Amt, die werden es bescheinigen.« –
Und mit den Worten nahm sie ihre Lampe und ging hinaus, den Kindern zu öffnen.
Ich wußte den Rest. Noch an dem Tage, wo er verhaftet worden war, hatte der Kasper in der Spitze seines Schwurfingers einen Stich gefühlt wie von einer Wespe oder bösen Fliege. Aber kein Insect war zu sehen. So, gleichsam aus heiler Haut, entzündet sich der Finger, ergreift die Hand, der Brand frißt immer weiter und weiter den Arm hinauf wie ein neues grauenvolles Wunder. »Freilich, kein Wunder,« sagt der Physikus, »bei dieser Aufregung und in dem erhitzten 175 Geblüt eines Trunkenbolds!« Sie sprechen vom Ablösen des Armes. Der unglückliche Mann leidet Höllenqualen; aber steif und fest leugnet er bis zum Letzten. Am Morgen vor der Sitzung, in welcher sein Urtheil gesprochen werden sollte, fand man ihn in seiner Zelle erhängt.
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