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Siethen jetzt

Auch Siethen hat nur ein märkisches Durchschnittsansehen, verfügt aber, ebenso wie Gröben, über Denkmäler, alte und neue, von einem gewissen historischen Interesse. Dahin gehören die Kirche, der Kirchhof und vor allem auch die Stiftungen, die die beiden Scharnhorstschen Frauen, Mutter und Tochter, hier ins Leben riefen.

Unter diesen Stiftungen steht das 1855 interimistisch, in seiner gegenwärtigen Gestalt aber erst 1860 als Erziehungs- und Waisenhaus gegründete Tabea-Haus obenan. Es ist ein schlichtes, einstöckiges Gebäude, das baulich wenig auffällt. In einem Vorgarten spielen Kinder und überraschen ebensosehr durch den freundlichen Ausdruck ihrer Augen wie durch die Sauberkeit und Gleichförmigkeit ihrer Tracht. Über das Walten in diesem Hause, desgleichen über die Bestimmung, Einrichtung und Ausschmückung seiner Räume geh ich hinweg und begnüge mich, eines Bildes Erwähnung zu tun, das in dem in Front gelegenen Empfangszimmer hängt. Es ist ein von dem Maler Professor Remy herrührendes Bildnis Fräulein Johannas in Diakonissentracht, aus dem all das spricht, was ihr Wesen ausmachte: Güte, Demut, frommer Sinn und eine dem Irdischen bereits abgewandte Freudigkeit. Auch jene blühenden Farben fehlen nicht, die, mehr als damals geahnt, auf eine nur kurze Pilgerschaft hindeuteten.

Gegenüber dem Tabea-Hause liegt die (wie die gröbensche) wohl auch dem dreizehnten Jahrhundert entstammende Feldsteinkirche. Während aber die Gröbner in den fünfziger Jahren einen Neubau erfuhr, erfuhr die Siethner eine bloße Renovierung. Diese richtete sich unter anderm auch auf Wiederherstellung der sehr malerischen, aber zum Teil verblaßten und unscheinbar gewordenen Wappenschilde, die die Wandung der Emporen umkleideten und ungefähr einer Namensaufzählung aller Familien, mit denen die Schlabrendorfs einst versippt und verschwägert waren, entsprachen. Aus der Reihe dieser Familien nenn ich nur folgende: Pfuel, Hake, Katte, Waldenfels, Wuthenow, Schlieben, Putlitz, Krummensee, Burgsdorf, Schulenburg, Thümen, Blumenthal, Schöning, Arnim, Wedel, Bellin. Über minder gekannte geh ich hin und hebe nur noch hervor, daß es die beiden Cousinen Johanna von Scharnhorst und Agnes von Scharnhorst waren, die sich dieser mühevollen und Jahr und Tag in Anspruch nehmenden Arbeit unterzogen.

Aus der Kirche treten wir auf den schönen, im Schutze prächtiger Bäume gelegenen Kirchhof hinaus und werden an seiner nordwestlichen Einfassungsmauer eines ansehnlichen, in romanischem Stile gehaltenen Baues ansichtig, der unsere Neugier weckt. Auf unsre Frage hören wir, daß es die schon erwähnte Grabkapelle samt Leichenhalle sei, die Frau von Scharnhorst – auch darin einem von der Tochter geäußerten Wunsche wallfahrend – um das Jahr 60, und zwar unter Aufwand ziemlich bedeutender Mittel, errichtet habe. Zu Nutz und Frommen der Siethner, aber – nur in Absicht und Vorstellung. In Wirklichkeit ist noch kein Toter aus Siethen in diese Halle gestellt und noch kein Totengebet über ihn hin in der unmittelbar anstoßenden Kapelle gesprochen worden.

Und hier ist nunmehr die Stelle gegeben, wo Kritik geübt werden muß, ich weiß nicht, ob mehr an den Siethnern oder an den zwei frommen Frauen.

Dieser letzteren Tun und Wirken war unzweifelhaft in hohem Maße segensvoll und förderte nicht bloß, wie sich statistisch nachweisen ließe, jegliches Gute, sondern stimmte die Dorfbevölkerung auch zu ganz aufrichtigem und in mehr als einem Falle zu geradezu bewunderndem Dank. An dieser erfreulichen Hauptsache wird nichts geändert. Aber andrerseits gingen beide Damen in ihrem Hochfluge gelegentlich zu weit, und wie Kaiser Joseph einst dem österreichischen Volke mehr Aufklärung gab, als es haben wollte, so gaben hier die Scharnhorstschen Damen ihren Siethnern ein Maß von Fortschritt, Wohltat und Hilfe, das über das Verständnis und jedenfalls über Wunsch und Bedürfnis all derer hinausging, die dadurch beglückt werden sollten. Beide Damen verkannten die bäuerliche Natur, unterließen es, die Macht der Gewohnheit und Sitte gebührend in Rechnung zu stellen, und scheiterten deshalb in allem, was über die direkte persönliche Hilfe hinauslag und, im besten Sinne reformatorisch gemeint, aufs Allgemeine hin angesehen sein wollte.

Dies zeigte sich bei jeder ihrer Stiftungen: bei Grabkapelle, Leichenhalle, Tabea-Haus, und zwar in immer gleicher oder doch verwandter Weise.

Die Grabkapelle samt Leichenhalle war darauf berechnet, namentlich bei Typhusepidemien, vor den Gefahren der Ansteckung zu schützen. Aber das war lediglich im Sinne der Humanität und keineswegs im Sinne der Siethner gedacht. In Siethen verstieß es gegen das Herkommen, und jeder Tagelöhner und Büdner sagte: »Gefahr hin, Gefahr her. Es paßt sich nicht und ist schlecht und feige, solcher Gefahr aus dem Wege gehen zu wollen. Unser Vater oder Kind ist nun tot, ist uns genommen nach Gottes Willen, und ob wir's bequem haben oder nicht, dieser Tote, solang er über der Erde, gehört in unser Haus, und uns liegt es ob, an seinem Sarge zu wachen, unbekümmert darum, ob er uns nachzieht oder nicht.« Es mag dies vor dem Verstande schlecht bestehen, vor dem Herzen desto besser, und ich habe nicht den Mut, einer Gemeinde zu grollen, die lieber ihre Leichenhalle zerfallen sehn, als ihre Toten vor dem Begräbnis aus dem Auge lassen will.

Ein Ähnliches ist es mit dem Tabea-Haus. Es kommt – darin seine Bestimmung erfüllend – allerdings Armen- und Waisenkindern zugut, aber immer nur Waisenkindern aus dieser oder jener, oft sehr entfernten Stadtgemeinde, während noch kein Siethner Kind als Pflegling in das Haus aufgenommen werden konnte, selbst dann nicht, wenn beide Eltern weggestorben waren. Es ist eben in solchem Falle der nächsten Anverwandten Amt und Ehrensache, für die Verwaisten einzutreten, und sie würden sich mit einem nicht zu tilgenden Makel behaften, wenn sie sich dieser Pflicht entschlagen wollten.

Und ablehnend wie gegen Tabea-Haus und Leichenhalle verhalten sich die Siethner auch gegen die Wohltat einer selbständigen Pfarre, trotzdem ihnen, wie schon hervorgehoben, ein sehr bedeutendes und vollkommen ausreichendes Kapital zu diesem Zwecke zugesichert wurde. Hier spricht nun freilich außer Gewohnheit und Pietät auch noch ein drittes und viertes mit: Argwohn und unendliche Schlauheit. Aus Tradition und eigner Erfahrung weiß der Bauer, daß sich an jedes Geschenk über kurz oder lang eine Pflicht zu knüpfen pflegt, und dieser aus dem Wege zu gehn ist er unter allen Umständen entschlossen. Ein Pfarrhaus ist bewilligt worden, gut; aber es kann doch eine Zeit kommen, ja, sie muß kommen, diese Zeit, wo die Fenster im Pfarrhause schlecht, die Staketenzäune morsch und die Dachziegel bröcklig werden. Und wer tritt dann ein? von wem erwartet man dann die Hilfe? Natürlich von der neuen Kirchengemeinde, der der neukreierte Herr Pfarrer nunmehr vielleicht seit lange schon, seit einem Menschenalter und länger, in Ehren und Würden vorgestanden hat. Und das will der Bauer nicht. Er weiß nichts von timeo Danaos, aber er hat alle darin verborgene Weisheit und Vorsicht in seinem Gemüte, und jederzeit abgeneigt, den Beutel zu ziehen, auch wenn es sich erst um weit, weit ausstehende Dinge handelt, bleibt er lieber Filial, als daß er sich der Auszeichnung eines eignen Pfarrsitzes Während der Verhandlungen, die bereits vielfach über die Pfarrgründungsfrage stattgefunden haben, ist es bis jetzt ganz unmöglich gewesen, den Bauer aus dem Sattel zu heben. Auf die Bemerkung: »Und ihr werdet dann auch nicht länger nötig haben, eure Kinder bei Winterwetter eine halbe Meile weit zum Konfirmationsunterricht zu schicken«, antwortete man einmütig: »Ei, auf diese zwei Tage freuen sich ja die Kinder die ganze Woche; da haben sie Schlitterbahn und schneeballen sich und kommen immer frisch und munter nach Hause.« erfreuen sollte.

Der Kirchhof, auf den wir jetzt zurücktreten, ist reich an Steinen und Kreuzen, auf denen einzelne klangvolle Namen zu lesen sind. »Ernst Carl Leopold von Uslar-Gleichen« und an andrer Stelle: »Hier ruht Frau Clara von Chaumontet, geborne Gräfin zu Dohna.« Beide waren Scharnhorstsche Verwandte, die hier vom Tod überrascht oder doch zu früher Lebensstunde von ihm gebannt und festgehalten wurden.

Aber auch solche ruhen hier, die der Tod an diese Stelle nicht unerbittlich bannte, sondern die sich's umgekehrt als einen letzten Wunsch ausbaten, hier ruhen zu dürfen. » Ihrem Wunsche gemäß ruht hier Sophie Elisabeth Luise Honig, geboren zu Berlin den 17. März 1790, gestorben ebendaselbst den 21. November 1843.« Ihr Vater hatte Siethen bis Ende des Jahrhunderts besessen, und in Kindertagen hatte sie hier gespielt. Hier zwischen den Gräbern. Es war ihr in Erinnerung geblieben, und nun verlangte sie's nach dieser Stelle, der einzigen vielleicht, an der sie glücklich gewesen war.

Eine größre, von einem Eisengitter eingefaßte Grabstätte liegt in der Mitte des Kirchhofs, fast dem Tabea-Hause gegenüber. Es ist die Stätte, wo beide Johanna von Scharnhorsts, Mutter und Tochter, ruhn. Ein Steinkruzifix, wie das gröbensche, steht zu beider Häupten, und nur zu Füßen des Gekreuzigten erhebt sich an dieser Stelle noch eine zweite Figur: eine betende Maria. Blumen und Efeu wachsen über die Gräber hin, und Trauereschen umstehen das Gitter. In den Sockel des Kruzifixes aber sind folgende Namen und Daten eingetragen: »Johanna von Scharnhorst, geborne Gräfin von Schlabrendorf, geboren am 22. April 1803, gestorben am 6. Januar 1867.« Und links daneben: »Johanna von Scharnhorst, den 16. November 1825 zu Trier geboren, den 13. Oktober 1857 zu Wildbad dem Herrn entschlafen.«

Und nun nehmen wir Abschied und schreiten ohne weitre Säumnis aus dem Dorf auf die schmale Dammstelle zu, die, genau halben Wegs zwischen den Schwesterdörfern, eine mit wenig Bäumen bestandene Landenge bildet und nach rechts hin einen Blick auf den Siethner und nach links hin auf den Gröbener See gestattet.

In gleicher Schönheit breiten sich beide vor uns aus, aber während der mehr flachufrige Gröbener See sich endlos auszudehnen und erst am Horizont inmitten einer im blauen Dämmer daliegenden Hügelkette seinen Abschluß zu finden scheint, ist der Siethner enger und dichter umstellt, und die Parkbäume neigen sich über ihn und spiegeln sich darin. Auf beiden aber ruht derselbe Frieden und dieselbe Schwermut. Und diese Schwermut ist ihr Zauber. Ein matter Luftzug geht, und nur matter noch geht und klappert die Mühle. Die Wasserente taucht, und aus der Tannenschonung steigt ein Habicht auf, um die letzten Sonnenstrahlen einzusaugen – jetzt aber verflimmert es rot und golden im Gewölk, und im selben Augenblicke schießt er wieder ins Dunkel seiner Jungtannen nieder.

Auch die Mühle schweigt und der Wind. Und alles ist still.


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