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Das Gebet für Jérôme

Eine lustige Geschichte zum Hohenfriedberger Marsch

Ein erzwungenes Seelenhirtenwerk nahm durch keck dreinpfuschende Mädchenhände im November des Jahres 1807 in der Dorfkirche zu Rotenbruch in der Magdeburger Börde ein schnödes und gewalttätiges Ende, das ein Erzählen wohl lohnt.

Während über Kiefern, Ginster und Heide die Herbststürme brausten, hatte Napoleon seinen Bruder als Westfalenkönig in den altpreußischen Besitzungen eingesetzt. Statt Friedrich Wilhelm hieß es fortab Hieronymus oder Jérôme, und ein Klang war so fremd wie der andere.

Schon als im Juli während des Provisoriums die altherkömmliche Fürbitte für Friedrich Wilhelm aus dem Kirchengebet getilgt wurde, hatte der Rotenbrucher Pastor Martin Riedel, ein junger Bauernknorren, grimmig gemeint, das sei eine Beschneidung und keine Taufe, und er sei sich zum Rabbiner zu schade. Das Wort hatte ihn über die Elbe getrieben, und von Kassel her war Herr Werner Höding, ein geschmeidiger Gottesknecht in mittleren Jahren, gekommen, der sich besser auf die neue Zeit verstand.

Im November nun lernte auch Herr Werner Höding das Seufzen. Die Novemberstürme streichen von Nord und Ost über die Börde und fegen mit schneidendem Brausen von jenseits der Elbe her. Sie fegten auch über die Elbe, seit sie zur Grenze hatte werden müssen, und in ihnen fuhren Staub und Keime wirbelnd von Preußen nach Westfalen, ohne sich um Zoll und Grenzrevision zu scheren. Bläst einem der Wind Staub in Augen und Lungen, so gibt es ein Reiben und Räuspern, das weiß ein jeder. Ein solches Räuspern hatte sich auch in Rotenbruch erhoben. Und darum war von Kassel her Herrn Werner Höding eine Verfügung ins Pfarrhaus geflogen; die strich als welsches Lüftlein gegen den rauhborstigen Ost. Es schiene eine kirchliche Vermahnung gegen den aufsässigen Geist wohl angebracht, hieß es darin, und der Evangelientext »Ein jeglicher sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat« sei ein gutes Textwort, das man hervorsuchen möchte, ehe es verstaube.

Herr Werner Höding schwamm nicht gern gegen den Strom. Mußte es aber sein, so schwamm er lieber gegen den Strom als gegen das Weltmeer. Das Weltmeer brandete von Kassel, der Strom brauste von Rotenbruch. Die Wahl war peinlich, aber nicht schwer.

Immerhin hielt er's für besser, vorher nicht zuviel Wesens von der Verfügung zu machen und die Gemeinde lieber von der Kanzel her zu überrumpeln. Es spricht sich besser, wenn man allein spricht, und ein Schuß Öl würde die Wogen schon sänftigen.

Nur den alten Lehrer König, einen ortseingesessenen Greis, zog er vorsichtig und vertraulich zu Rate, leider mit dem Erfolg, daß der Alte sich am Sonnabend krank meldete und für den Orgeldienst entschuldigen ließ.

Pastor Höding wußte Rat. Im Nachbardorf half zuweilen des Amtsbruders Töchterlein Gertrud, eine schlanke, blonde Schönheit, auf der Orgelbank aus. Wenn sie's in Grundlau tat, warum nicht auch einmal in Rotenbruch, zumal sie ihm nicht fremd war? Wer weiß, hätte sie nicht vordem eine unglückliche Liaison mit seinem nun über die Elbe gejagten Amtsvorgänger gehabt, sie wäre wohl heute schon vor Gott und den Menschen seine Braut! Das Wort des Vaters hatte er schon halb, seinen Anteil an dem Herzen der Geliebten selbst freilich wagte er noch nicht in Bruchteilen auszudrücken; es wäre ein unendlicher Dezimalbruch geworden, der über die Elbe ins Weite lief. Vielleicht war die Stunde von Gott geschickt, das spröde, törichte Herz durch ein überzeugungskräftiges Wort zu erweichen und zu beweisen, daß milde, liebevolle Klugheit keine Verachtung verdiene.

Herr Werner Höding tat keine Fehlbitte. Gertrud sagte den erbetenen Dienst, dem väterlichen Wink gehorsam, gleichgültig zu.

Leider beging das Mädchen das Ungeschick, vor dem Gottesdienst den kranken Lehrer, der auch ihr einst Lesen und Schreiben und später, mit dem vertriebenen Martin zusammen, die Elemente der Musik beigebracht hatte, aufzusuchen. Schlimmer noch war's, daß sie ihn gesund, und am schlimmsten, daß sie ihn trotzig und polternd offenherzig fand und den verschwiegenen Anlaß ihrer Stellvertretung erfuhr.

»Der große König«, krakeelte der Greis, »hat mir altem Dragoner nach meiner Blessur bei Hohenfriedberg nicht darum den Schuldienst verschafft, daß ich jetzt der Gemeinde mit Gottes Musik den Judaskuß gebe, wo sein Fleisch und Blut im Unglück lebt!«

Gertrud wäre beinahe in mädchenhaftem Zorn über Pastor Hödings unaufrichtige Heimlichkeit umgekehrt, aber zur rechten Zeit erinnerte sie sich des Vaters, und ihr Widerspruch beschränkte sich auf einen kalten und verächtlichen Blick, mit dem sie an Höding vorüber durch die Sakristei zur Orgelempore schritt.

Das Präludium zum Eingangslied fiel kurz und unerbaulich aus. Ungnade kargt, und auf der Orgelbank saß ein zorniger Engel, ganz und gar von kalter Ungnade erfüllt. Die Töne sickerten wie kalte Tropfen zwischen ihren Fingern vor und erstarrten gleichsam zu sprödem, hartklingendem Eis. Es war ein seelenloses Stümpern, das mit grausamer Absichtlichkeit auf Werner Hödings Herz zielte.

Das Eingangslied verklang. Die Liturgie nahm ein Ende. Das Evangelium war verlesen.

Ein Räuspern lief durch die Kirche. Die Gemeinde stand auf, das Textwort zu hören. Die Weiberröcke rauschten auf den roten Ziegelfliesen und den braunen Holzbänken des Kirchenschiffs. Die Männerköpfe erschienen kantig, grauhaarig, rotbraun und strohblond über den Ballustraden der Empore.

»Ein jeglicher sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.«

Hä –? Die Köpfe auf den Bänken der Dorfburschen gingen mit einem harten, schroffen Ruck in die Höhe. Bedächtig hoben sich die Gesichter der alten Bauern, auch sie waren vom Mißtrauen durchgepflügt, und es stand in ihnen ein Stutzen und Drohen, wie abwartender Trotz nach einer Kampfansage. Hier und da glomm in ein paar grauen Männeraugen ein Wetterleuchten auf und hellte ein paar scharfe, böse Linien in den harthäutigen und rissigen Gesichtern auf. Hier und da klumpten sich ein paar erdfarbene Fäuste auf der Holzbrüstung zusammen. Hier und da drehte sich ein Weiberkopf aus der Tiefe des Kirchenschiffs ängstlich und neugierig nach den Ständen der Männer empor.

Die Gemeinde saß nieder, aber nicht mit dem geschäftigen Rauschen und Räuspern wie gewöhnlich, sondern in drohender und ungewohnter Stille. Hier und dort mußte ein Bursch oder Bauer, der mit aufgerissenen Augen und offenem Munde noch immer stand, vom Nachbar niedergezupft werden.

Kampfstimmung lag über der lauernden und schweigenden Bauerngemeinde.

Herr Werner Höding fühlte es, doch er wußte sich überlegen gerüstet.

Gertrud fühlte es auch, und ihr Herz freute sich und war streitlustig und trotzig.

Pastor Höding aber sprach maßvoll und mit klugem Ernst. Seine Rede war abgewogen und gut.

Eine klotzige Dummheit, ein hilflos-verlegenes Gewäsch wäre besser gewesen; ein zorniges, höhnendes Lachen tut eine Sache ab, und ein spöttisches Sichweiden an ratloser Erbärmlichkeit tut's auch. Aber Pastor Hödings Rede war weder grob zupackend noch verlegen umhertastend, sie war väterlich ernst und mütterlich liebevoll, er verstand alles, tadelte nichts, drohte nicht, riß nichts höhnend und hoffärtig in den Staub, er mahnte nur und litt sichtlich und fühlbar unter den Sorgen seiner Gemeinde. Er stand wie ein treuer Eckart zwischen dem fremden Heer und den fürwitzigen Kindern. Er stand zu ihnen, wenn auch als Warner. Er tadelte nicht ihr Herz, nur ihre Offenherzigkeit. Sein bartloses Gesicht, fest und voll zugleich, war von Biederkeit und Herzenstreue übersonnt. »Der falsche Komödiant!« dachte Gertrud, »der Rabbiner!« Wie anders würde Martin reden! Dagegen konnte Herr Werner Höding schwer aufkommen.

»Ein halber Kerl!« dachten auch die Bauern. Das Textwort war ein Kampfruf gewesen, die Predigt war ein fauler Friede. Der Feind stellte sich nicht, nachdem er zum Streit geblasen. Die Rede enttäuschte. Der Groll konnte sich nicht entladen und verschlug nach innen, wie einem, der eine Maulschelle erhalten hat und, ehe er zurückschlagen kann, mit tausend Komplimenten belehrt wird, er sei nicht gemeint gewesen.

Die Rede rann und rann.

Gertruds Gedanken flogen abseits.

War es nicht grundfalsch von ihr, daß sie hier saß und die Musik aufspielte zum Phrasentanz und Wortgeklingel dessen, der des armen, ehrlichen Martins warmen Platz einnahm?

Martin! Wo war er? Warum schrieb er nicht?

Hier hatten sie vor Jahren Orgelspiel und Gesang gelernt, ein vierzehnjähriges Mädchen und ein siebzehnjähriger Junge. Nebeneinander hatten sie auf der Brüstung gehockt, hinter dem Rücken des tief über seine Klaviatur gebeugten alten König.

Ein Lächeln, durch das ein Seufzer huschte wie ein Schwalbenschatten durch sonnenzitternde Luft, flog über Gertruds Züge. Hinter seinem Rücken? Jawohl, bis sie einmal beide falsch einsetzten, und ihre Hände auseinanderflatterten, als der Alte stutzend den Kopf wandte. Seitdem hatten sie rechts und links der Orgel gestanden unter den Augen des schmunzelnden Greises, der die Tonwellen zwischen ihnen aufsprudeln ließ zu vollem Strom. »Unsern Grenzstrom« hatte Martin die Musik des Lehrers genannt und leise dazu gesummt: »Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief...« Aber, ach Gott, er war kein falsches Nönnlein gewesen, der Alte, nein, ach nein ... Er war eher eine gutmütige Brücke gewesen ...

Was hatte er ihnen beiden hier nicht alles erzählt! Märchenhaft schnurrige Kindheitstage und Kriegserinnerungen, die aus der Asche von sieben Kriegsjahren ungebändigt aufloderten wie ein unstillbarer Brand ...

Mit welcher Kraft und Fülle waren seine Worte begabt! Wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch war der Greis zwischen dem Mädchen und dem Knaben gewesen, selbstvergessen und von den Kindern vergessen!

Barhaupt und mit sturmzerteiltem, breit nachwallendem Graubart, zwei österreichische Fahnenfetzen in der blutig verbundenen Faust, mit lodernden Augen unter buschigen Brauen, so hatten sie ihn leibhaftig mit dem von sechzig eroberten Feindesfahnen prahlend überrauschten Dragonerregiment Ansbach-Bayreuth auf mächtigem Rappschimmel an seinem König, an Friedrich dem Einzigen, vorüberziehen sehen, während er sprach. Denn nie hatten sie ihn in Gedanken verjüngt, wenn er erzählte; war er doch dann so jung, daß man ihn sich nicht jünger hätte denken können.

Nie würde sie vergessen, wie er mit überflutenden Augen, jäh sein Schildern abbrechend, ihr erglühendes Haupt an sich zog und sie zwischen den Augen küßte, als sie, ganz in sein Erzählen verträumt, leise auf den Orgeltasten den Hohenfriedberger intoniert hatte, ohne es selbst recht zu wissen.

»... Auf Ansbach-Bayreuth!...
Auf Ansbach-Bayreuth!...«

Da war es wieder, das Bild, sagenhaft mächtig: schlachtzerzauste Reiter unter schwerwallenden Regenbogenwolken eroberter Standarten und Goldfahnen vor ihrem Schlachtgott vorüberprunkend, voran die Wodansgestalt des alten König, neben ihm ein jubelheißes Jünglingsgesicht ... Martin! Martin! Ach Martin ...!

Drunten auf der Kanzel stand Herr Werner Höding.

Herrn Werner Hödings Gesicht hatte sich leicht gerötet. Auch er stand wie ein Sieger über der Gemeinde. Seine Wortkolonnen waren aufmarschiert wie Regimenter, die Menge überflutend und umzingelnd.

Gertrud sah die feiste Röte eines zufriedenen Spießers, sein »Amen!« klang ihr wie ein behäbiges »Mahlzeit!«

Das Mädchen schrak auf.

Jetzt begann das Kirchengebet, das sie mit leisem Orgelspiel begleiten mußte.

Die weißen Mädchenhände legten sich unwillkürlich spielbereit auf die fahlen Tasten. Aber Gertruds Herz war rebellisch und trotzig. Die ausgestreckten Hände wurden ohne ihr Wissen zu Fäusten.

Herr Werner Höding schaute mit freundlich mahnendem Erstaunen zu der Geliebten auf, die noch in seine Worte versunken war.

Ja, schaue du!

Dann spielte sie doch. Nur etwas zu laut spielte sie.

Herr Werner Höding steigerte die Stimme.

Hätte er's doch nicht getan!

Was er jetzt laut und energisch, mit leise durchzitterndem Ärger sprach, war das Kirchengebet. Hätte er leiser gesprochen, vielleicht wären die zwei Worte, welche die in Gertrud aufgespeicherte Spannung zur Entladung brachten, nicht an des Mädchens Ohr gekommen.

Es waren nur zwei Worte ... »König ... Hieronymus ...«

Jäh glitten Gertruds Hände von den Tasten.

»Verräter, wer dazu aufspielt!« blitzte es in ihr auf.

»Verräter, wer die Worte ausspricht!«

»Verräter, wer die Worte anhört!«

Ein tückischer, verzweifelter Zorn flackerte in ihr auf. Wenn sie jetzt ...

Durch die Gemeinde lief ein Wispern und eine rauschende Bewegung, als das Orgelspiel abbrach. Hier und dort stand einer auf und starrte.

Die Stille unterstrich jedes Wort des Gebets wie ein unsichtbarer, kalter und erbarmungsloser Griffel.

Herr Werner Höding witterte Gefahr und ballte, die stumme Aufsässigkeit zu erdrücken, so viel Willen und Festigkeit in den Klang seiner Worte, als er vermochte.

» ... König ... Hieronymus ...«

Gertrud preßte beide Hände auf das flatternde Herz. Wenn sie jetzt ... Wenn es jetzt von der Orgel her in das verräterische Gebet wie eine Stimme von oben klänge ...

» ... Auf Ansbach-Bayreuth! ...
Auf Ansbach-Bayreuth! ...«

Gertruds Herz flog. Ihr Gesicht war lakenweiß vor Erregung. Ihre Hände waren eiskalt. Wenn sie jetzt ... Hilflos dumm und verblüfft würde er dastehen, der glattzüngige Gleißner. Der Gedanke war süß und lockend. Oh, wie sie ihn haßte! Wie würde Martin jauchzen, wenn er's hörte! Ihre fliegenden, zitternden Finger deuteten, unter dem Bann einer tollen Versuchung, die Melodie über den Tasten an.

Wenn sie jetzt... der Gedanke lief ruhelos und kalt wie eine Quecksilberkugel durch ihr Herz, jetzt zum Entschluß geballt, jetzt wieder in tausend sich fliehende Teilchen zerstäubend, jetzt wieder zusammenfließen... Wenn sie jetzt... Es wäre alles aus... Der Vater, der Vater!

...Um Gottes willen! ...Herrlich wäre es, herrlich! ...Ja ...nein! ...Doch!...

Ach was! Zähne zusammen! Ich kann nicht anders! ... König... Hieronymus...

Die Finger brachen, wie vorwitzige Kinder durchs Eis, in die Schneeschicht der Tasten.

Die Orgel dröhnte... dröhnte machtvoll.

»... Auf Ansbach-Bayreuth! ...
Auf Ansbach-Bayreuth! ..
Schnall' um deinen Degen und rüste dich zum Streit!«

Gertruds Herz tobte. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Ihr Leib wurde von krampfhaftem Schluchzen erschüttert. Frost- und Hitzeschauer jagten sich. Ihre Jungmädchenhände waren eiskalt und berührten die Tasten steif und fast ohne ein Gefühl der Berührung. Sie spielte mit der Kraft der Verzweiflung. Sie streute die Drachensaat der Töne aus, als wüchsen sie, ein gepanzerter Wall, um sie herum, durch den kein Gedanke, kein Gefühl und keine Reue hindurchdränge. Es gab kein Zurück mehr. Durch! Durch!

»Prinz Heinirch ist erschienen auf Striegaus sonn'gen Höh'n,
Die preußischen Truppen in Parade zu sehn...«

Kopf an Kopf standen sie drunten und droben, verdutzt, verblüfft, aufgescheucht, emporgeschreckt, ratlos, schadenfroh, zornig, gerüttelt von dem Unerhörten.

Herrn Werner Höding schloß ein Krampf Lippen und Herz. War das Chaos entfesselt? Er raffte sich zusammen. Er schrie. Er blieb unverständlich in dem brandenden Durcheinander der widerstreitenden Rufe und Schreie. Nur der dröhnende Marsch der Takte des »Hohenfriedbergers« überschallte alles.

»Schon tönt von den Höhen ein Morgengruß.«

Jeder Ton, jeder Takt ein wuchtig niederfahrender, dröhnend aufschlagender Musketierstiefel, vor jedem Stiefel flog ein wirbelnd aus der Bahn geschleuderter Widersacher, in Spott und Schande totgehöhnt, zur Seite ...

Und nun überstürzten sich die Ereignisse toll und grotesk.

In der offenen Kirchentür erschienen mit einem Male, wie aus dem Boden gewachsen, die Patriarchengestalten des alten Lehrers König und seines invaliden Bruders und Schlachtgenossen, der mit ihm hauste. Die beiden hielten sich wechselseitig an den Schultern gepackt und rüttelten einander, als wollte jeder, der andere solle wach genießen und erleben, was der Tag zu erleben gönnte.

Und jetzt fielen sie ein in das Brausen der Orgel, ohne sich loszulassen, mit rauher Landsknechtsstimme der eine, mit vollem, geschultem, tiefgrollendem Grundbaß der andere:

»Der jeden Preußen begeistern muß ...«

Die Bauern und ihre Weiber sahen die beiden zumeist erst, als die Stimmen gewaltig einsetzten.

Mitten unter den Männern auf der Empore fiel plötzlich, von den Herrschertakten des Marsches überwältigt, ein Dritter ein, ein Bauer im Altenteil, den einst nach dem Tage von Kolin der Vater vom Pflug weg zum Alten Fritzen geschickt, der ihn brauchte. Er glaubte, von der gedrungenen Kraft des Triumphmarsches durchrüttelt, vielleicht wahrhaftig, die preußischen Brüder vor dem Kirchenportal aufmarschiert. Vielen ging es so. Ein Raunen ging. »Die Preußen ...? Die Preußen ...? Die Preußen kommen!« kreischte eine Bauerndirne auf. An der Kirchentür staute sich ein Auflauf. Wie der Trutzgesang schwertgegürteter Nibelungengreise über geduckten Hunnen ging der Schwall durch die Kirche:

»Drum, Brüder, seid mutig, seid schnell und bereit!«

Und dann kam das Ende!

Herr Werner Höding suchte das Toben zu übertoben. Er wollte das Feld, koste es, was es wolle, behaupten. Sein und seiner Gemeinde Schicksal stand auf dem Spiel. Er mußte sich durchsetzen.

Er rüttelte an der Kanzelbrüstung, wie ein tobender Mensch an Kerkerstäben. Er schlug schmetternd mit der Faust auf das Bibelbrett. Er rief, er schrie ... »Ruhe! Ruhe!«

Die Greise scherten sich so wenig um ihn, wie grauhaarige Burgunderrecken um ein keifendes und belferndes Kaplänlein.

»Wenn's vorwärts heißt,
Auf Ansbach-Bayreuth!«

Gelächter klang auf wie unflätiger Hohn. Zeternde Weiberstimmen dazwischen, vereinzelte, kreischende; die meisten Frauen waren zusammengeduckt wie Hennen, über denen der Habicht ist. Und plötzlich gab unter dem Druck des in krebsroter Wut gegen sie anwuchtenden Pastors ein Teil der Kanzelbrüstung splitternd nach – im Kriegsjahr hatten französische Kürassiere die Kirche als Roßstall benutzt – Herr Werner Höding stürzte taumelnd vornüber, klammerte sich im Sturz an ein paar morsche Planken, die unter dem Anprall auch zusammenstürzten, und die ganze Kanzel, ihrer baufälligen Stützen beraubt, krachte unter einer Wolke von Staub zusammen.

Gertrud erschauerte unter krampfhaftem Lachen und Weinen. Sie saß, von den brausenden Wasserkünsten ihres Spiels rings flutend umrauscht, wie unter einer tönenden, durchsichtigen Glocke, und sah durch diesen Schleier und ihre eigenen Tränen hindurch doch alles, was sich begab... Der unglückliche Prediger sammelte sich unter Trümmern auf und raffte sich empor.

Die drei unbotmäßigen Greise sahen den Sturz des Feindes... Viktoria! Nichts anderes hatte in ihrer Brust Raum.

»Auf Ansbach-Bayreuth!
Auf Ansbach-Bayreuth!
Schnall' um deinen Degen und rüste dich zum Streit!«

Siegesjubel war das, brustzerspellender, trotziger Siegesjubel!

Mit einem Male fühlte sich das halbbetäubte und sinnlos erregte Mädchen umfaßt, und ehe sie sich besinnen konnte, hatte sie der alte König mitten auf den Mund geküßt. Mit Jünglingskräften lud der Greis das willenlose, krampfhaft bebende Kind auf seine Schultern und trug sie im Triumph, während die beiden andern Graubärte wie Ehrenherolde Bahn brachen, durch die glotzende Menge. Wate und seine sturmzerrauften Gesellen können Gudrun nicht grimmiger und königlicher zu Schiff geleitet haben, als die Greise es Gertrud taten.

Für einen Unbeteiligten, der seiner Sinne beschaulich Herr war, wäre es ein anmutiges Bild gewesen: das schlanke, in seiner unbeschreiblichen Bewegung ekstatisch schöne Mädchen mit den erregungsdunklen Blauaugen im weißen Gesicht, eine visionär entrückte Priesterjungfrau, von der Begeisterung der bärtigen Greise wie eine schilderhobene, blonde Königin durch das Getümmel der starrenden Menge prahlend und ehrfürchtig getragen. Wahrhaft voll heimlicher Schönheit war dieser Menschenwinter unter der holden Last jungfräulichen Frühlings.

Aber es gab niemand, der mit so stillen und genußfrohen Augen das blonde Mädchen im hellen griechischen Hängekleid mit seiner Gefolgschaft teutonischer Bären gesehen hätte...

Die Menge sah sich plötzlich von allen guten und bösen Geistern verlassen. Der Prediger war in der Sakristei verschwunden. Die rebellischen Greise hatten ihren Raub über die Kirchenschwelle getragen und waren, mächtig und trotzig ausschreitend, der neugierigen Menge im Lehrerhause entschwunden.

Gerade in dem Augenblick bog in behaglichem Schlendergange der alte Pastor von Grundlau auf den Kirchplatz ein, der über die Stoppelfelder herüberkam, sein Töchterchen abzuholen und mit ihr durch den lachenden Sonntagsmorgen heimzuspazieren.

Da sah er die Greise mit ihrem Raub ausschreiten. So wie ihm muß in Urzeiten einem germanischen Hausvater zumute gewesen sein, der wehrlos schauen mußte, wie sein Fleisch und Blut von reisigem Volk geraubt und entführt wurde. Waren die Steinzeitunsitten des Brautraubs wiederhergestellt?

Der Trupp der drei Männer war im Lehrerhause verschwunden. Der Platz lag leer. Der Pfarrherr von Grundlau stand betäubt und ohne Atem. So stand Hildes Vater einst am leeren Gestade des Meeres.

Dann raffte er sich zusammen und wuselte in zornig stelzendem Stolperschritt den Entführern nach.

Die verlassene Menge in der Kirche verharrte noch eine Weile, von dem Unerhörten betäubt, in dumpfem Starren und Schweigen wie die Hirten auf dem Felde, nachdem Gottes Engel wieder in die Wolken des Himmels zurückgetaucht waren.

Dann öffneten sich die Schleusen ihrer verschütteten Worte und verstopften Herzen. Wie ein Wildbach überschwemmte die Gemeinde, Männer, Frauen und Kinder, den Dorfkrug.

*

Hier ist die Geschichte zu Ende, wenn sie für die Beteiligten auch erst eigentlich begann.

Immerhin, es ging alles glimpflicher, als man hätte glauben sollen. Man sollte nicht meinen, daß eine Revolution sich totschweigen ließe, und doch geschah es. Und darin ist vielleicht die Kirchenrevolte von Rotenbruch einzig in der Welt.

Zwar zerstampfte Pastor Höding im Zorn manchen Federkiel auf weißem Papier, aber es wurde kein Bericht daraus. Der Kirchenpatron, dessen Jungen mit zuckend verhaltener Lust aus ihrem Kirchenstuhl heraus den Tumult miterlebt hatten, legte sich schmunzelnd ins Mittel und verschaffte allen Parteien Genugtuung. Die drei aufsässigen Greise brachte er, ihrer Kraft und Begabung entsprechend, auf rechtselbischen Besitzungen seiner Familie in Ämtern und Pfründen unter. Den tobenden Pfarrherrn von Grundlau söhnte er mit seinem Töchterlein aus, so daß es nicht zu Kindesmord und Verstoßung kam, wie es kommen mußte. Es war satt und übergenug des Heidenwerks geschehen. Das Kanzelgestühl ließ er auf seine Kosten prächtig wiederherstellen und gab nach der nächsten Predigt dem Pastor eine kleine Genugtuung, indem er mit der ganzen uradligen Familie im Patronatsstuhl aufzog und Herrn Werner Höding vor versammeltem Volke wiederholt die Hand schüttelte.

Gertrud freilich hatte sich über die Elbe gespielt. Das stand fest. Und das schlimmste war, für sie wußte der mit tausend einflußreichen Beziehungen gesegnete Kirchenpatron und Edelmann in der ganzen Welt keine andere Unterkunft als im Pfarrhause des Pastors Martin Riedel weit drüben im Brandenburgischen.

Als das unverrückbar feststand, fand sich durch ein Wunder im Schreibtisch des Pfarrhauses von Grundlau ein Bündel leidenschaftlicher Briefe des Pastors Riedel, die bisher verschollen und verschwiegen geblieben waren und sich jetzt als sehr geeignet erwiesen, die notwendige Übersiedlung der unheiligen Cäcilie von Rotenbruch ins Land der Preußenmärsche vorzubereiten.

Ein Jahr darauf hämmerte im brandenburgischen Pastorenhause ein von Herzensjubel und Verrücktheit gebeutelter junger Vater mit Berserkerbegeisterung die Takte des Hohenfriedbergers auf seinem Mahagonispinett als Triumphmarsch zum Einzug eines in Windeln gewickelten Preußenkindes.

»... Prinz Heinrich ist erschienen ...«

Martin Riedel sprang auf und brach mit der behutsamen Raserei eines gutgelaunten Tobsüchtigen in die Wohnstube ein. »Gertrud! – Gertrud, nun weiß ich's, Gott sei Dank! Heinrich muß er heißen!«


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