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Werner. Eine Studentennovelle

Es muß wohl so sein, daß ich mir die Geschichte meines toten Freundes beim Schein dieser alten Studierlampe vom Herzen schreibe, die uns beiden in unvergessenen Stunden vertraut wurde! Wie oft habe ich in all den Tagen in wehmütigem Sinnen auf die blauen Schwalben geschaut, die dem milchfarbenen Glasschirm aufgemalt sind und beim Schimmer der gelblichen Flamme ein seltsam wesenloses Leben gewannen! Stück um Stück ist dabei die Vergangenheit aus schattenhaftem Dunkel getaucht, Stunden, die seit langem tot waren, sind lebendig geworden und haben zu mir gesprochen, daß mir das Herz schwer und gepreßt wurde. Jene Abendstunden, in denen ich mit Werner plaudernd oder schweigend beisammensaß, jene Stunden unseres jungen Lebens, die sich zu einer schönen, endlosen Kette aneinanderzureihen schienen, und jene anderen, die sie abzulösen kamen – alle jene gemeinsam und einsam verträumten Stunden sind wach und lebendig geworden.

Manche habe ich gewaltsam vergessen wollen und habe, wie ich sie unerbittlich auftauchen und wesenhaft werden sah, in vergeblichem Trotze die Augen geschlossen.

Nun steht die Geschichte seines kurzen Lebens deutlich vor mir, als könnte ich sie Wort für Wort von den noch unbeschriebenen Blättern dieses Heftes lesen, und es ist mir fast, als führe ich nicht die Feder, sie niederzuschreiben, sondern als wecke ich nur, indem ich Zeile um Zeile mit dem Stift berühre, eine unsichtbare Geheimschrift, die ein spukhaft totes Leben seit wer weiß wie lange schon in den Fahnen dieser weißen Blätter lebt. Mein Schreiben ist unwillkürlich wie Träumen und Erinnern, gegen das wir wehrlos sind ...

Ich hatte Werner seit der Zeit, da wir in Erlangen Wand an Wand wohnten und dieselbe blaue Burschenmütze trugen, nicht mehr gesehen. Seither waren vier Semester vergangen, und wir standen beide im Begriff, unsere Studien abzuschließen. Ich wohnte bei Mutter und Schwester in Straßburg, das uns Heimat geblieben war, seit unser Vater dort als Universitätslehrer gestorben war.

Ich saß an einem prächtigen Märztag, tief in philosophische Studien vergraben, in meinem Arbeitsstübchen und ärgerte mich über eine Biene, die mir hartnäckig vor der Nase hin- und hersummte, und freute mich abwechselnd über die ungezählten Marienkäferchen, die auf dem Tisch und in den Gardinen der Fenster herumkrabbelten.

Meine Schwester trat rasch und leise ins Zimmer und legte eine Depesche vor mich hin. »Doch nichts Schlimmes, Paul?«

Ich erbrach rasch das Papier und las halblaut: »Ich komme morgen Mittag. Es lebe das Sommersemester in Straßburg und das Examen. Werner.«

Da ließ Anna lachend die Hand, die sie besorgt auf meine Schulter gelegt hatte, sinken. »Es hätte schlimmer sein können. Da kann ich Mutter ja beruhigen.«

»Es hätte nichts Besseres sein können, Anna! aber auch nichts Unerwarteteres. Es sieht ihm ähnlich, so mit der Tür ins Haus zu fallen.« Dann war ich allein im Zimmer. Ich setzte meine Pfeife in Brand und kramte Werners Bild aus meinem Studentenalbum. Ein schlankes Füchslein im ersten Semester. Ein kluges und doch weiches Gesicht, dem unsere Mütze in ihrem leuchtenden Hellblau mit dem silbergestickten Eichenkranz auf schwarzem Samtbande vortrefflich stand.

Davor saß ich lange in freundlicher Erinnerung.

Wenn ich sonst an Freunde und Bekannte dachte, so trat mir stets eine ganz bestimmte Stunde, ein festbegrenztes Erlebnis vor Augen, in dem sich mir alle Eigenschaften ihres Wesens verkörperten. Dachte ich an Werner, so glitt mir gleichsam eine Perlenschnur ferner, schimmernder Tage und Nächte durch die Hände. So war mir auch damals ...

Ich kannte Werner schon seit Wochen und hatte Freude an seinem Wesen, aber sie war objektiv und wunschlos. Das Bedürfnis, ihm näherzukommen, mit dem ich sonst als junger Mensch so vielen Gleichaltrigen schüchtern und hölzern gegenüberstand, und dem ich einige Enttäuschungen verdanke, kam mir ihm gegenüber nicht.

Er gefiel mir wegen der frischen Augen seines Leibes und seiner Seele. Aber er war mir zu frei und zu heiter und gegen sich selbst zu nachgiebig in leichtsinnigen und weichen Stimmungen.

Er verstand es wie kein anderer, eine leichte Heiterkeit zu erregen und zu erhalten, wenn wir plaudernd durch die Straßen von Erlangen bummelten. Ich hätte nie gedacht, daß es in dem gleichförmig langweiligen Städtchen so viel zu zeigen und zu belachen gäbe. Aber unter Werners leichtem Geplauder schrumpfte das kleinstädtische Nest mit seinen niedrigen kleinen Häusern, seinen leeren, geraden Straßen so völlig zu einem Puppendorf, zu einem Eldorado behaglich verschlafenen Spießbürgertums zusammen, daß es unwiderstehlich zum Lachen reizte. Wie oft steckte uns seine Heiterkeit an, wenn er plötzlich einen schläfrig die leere Straße daherzottelnden Wagen mit dem Freudengeschrei »Ein Pferd! Seht nur, ein wirkliches Pferd!« begrüßte, als sei so etwas ein unerhörter Spektakel in unserer gottverlassenen Einsamkeit.

Oder was für Tollheiten wußte seine sprudelnde Laune aus dem Emigrantenbrunnen im Schloßgarten hervorzulocken, der phantastischen aus Kalktuffblöcken getürmten Pyramide, aus deren Formlosigkeit sich beim Näherkommen eine seltsame, verwitterte Gesellschaft, ein Gewimmel von Herren und Dämchen in modischen Kostümen des siebzehnten Jahrhunderts, von Gnomen und Putten und posaunenblasenden Engeln löst!

Aber es vergingen Wochen, bis er mir lieber wurde als andere Menschen, die ich gerne um mich sah.

Es war eine Stunde, wie sie nur junge Leute zu Freunden macht.

Später als gewöhnlich wanderte ich eines Abends im Juni nach Frankendorf, einem kleinen Dörfchen zu Füßen des Rathsbergs, in dem wir allsamstäglich kneipten, hinaus und wählte statt des gewöhnlichen Wegs den weiteren, aber abwechslungsreicheren Pfad über den Berg.

Langsam stieg ich den von schlanken Birken gesäumten Weg durch den dunkelnden Föhrenwald bergan. Ein leiser Wind hatte sich aufgemacht und spielte in den Wipfeln der Bäume. Wie gewöhnlich hielt ich auf den Aussichtsturm zu, der den Berg krönt, um von dort nach der blau-weiß-goldenen Fahne im Tal Umschau zu halten. Noch ein paar Schritte, und eine Waldlichtung schenkte mir einen überraschend schönen Ausblick in die mondbeglänzte Landschaft.

Zu meinen Füßen dehnte sich weit das fränkische Land, das sich ferne am Horizont in den weichen Linien der dunklen Wälder und Höhenzüge verlor. Die Regnitz teilte und belebte es mit ihren lieblichen Windungen. Hier und dort blitzten die Lichter der fränkischen Dörflein auf, die malerisch von den charakteristischen Kirchweihbäumen überragt wurden.

In den lieblichen Anblick versunken, hatte ich geraume Zeit, auf ein einfaches steinernes Mal gelehnt, ins Tal hinabgeschaut, als mir plötzlich vom Rücken her der Wind zerrissene Klänge eines Studentenliedes zutrug.

Ich wandte mich um, und mein Blick traf auf das Dorf Rathsberg, das hier oben auf waldiger Höhe in dunkellaubige Obstwälder gebettet liegt. Auf hohem Maste flatterte eine schwarz-grün-gelbe Fahne. Rathsberg ist der alte Stammsitz des Korps der Bayreuther, und ich empfand es mit einmal seltsam, als ich mir bewußt wurde, daß ich hier draußen auf dem Denkstein eines der Ihren lehnte, der im Florettduell gegen einen Burschenschafter gefallen war. Ich versank in eine träumerische Stimmung und erschrak leicht, als ich unvermutet in meinem Rücken Werners Stimme hörte. Ich erkannte sie gleich trotz des mir ungewohnten leisen und weichen Klanges.

»Nun sollte der Dampfer mit seinen Lichtern stromab kommen!« Ich wandte mich um und sah ihm erstaunt ins Gesicht.

Er ergriff lächelnd meine Hand. »Verzeih, ich sprach von zu Haus. Heut' ist ein Abend ganz wie der, an dem ich zum erstenmal von der Havel Abschied nahm, um hierherzukommen.«

Und dann nach einer kleinen Weile erzählte er, ohne daß einer von uns wußte oder darüber nachgedacht hätte, was uns zum Plaudern und Zuhören gebracht hatte.

»Am letzten Abend vor meiner Abreise von Werder war ich noch ein gutes Stündchen in dem kleinstädtischen märkischen Nest umhergezogen. Zuletzt stand ich bei sinkender Sonne auf einer der alten Havelbrücken inmitten der Stadt. Aufs Geländer gelehnt, blickte ich über das flutende Wasser, auf dem jetzt rosa Wölkchen zitterten, hinauf zu den in immer tieferes Dunkel tauchenden Havelhöhen. Blutrot stand die Sonne darüber.

Und dann wurden die Farben im Wasser immer tiefer und dunkler, dunkelrot, violett, bis sie endlich im Schwarz erstarben. Lautlos glitten durch das Meer von Farben Fischerboote und Fähren, die sich von den dunkel und massig daliegenden Schiffsleibern lösten.

Dann auf einmal – es war, als ob die gesunkene Sonne sich langsam wieder aus den verdunkelten Wassern zu meinen Füßen höbe – tauchte eine mattrote Scheibe im Flusse auf. Ich wandte mich um: der Mond stand fahlrot am Horizonte zwischen düster aufragenden Kirchtürmen und einer riesigen Mühle, deren mächtige Schaufeln scharf und schwarz gegen den helleren Himmel standen. Höher und höher stieg er, ließ sein rotes Kleid im Flusse und leuchtete heller und heller, bis er silberweiß über der nun völligen Nacht stand. Da schlugen die Kirchenuhren. Ich eilte, ohne viel zu überlegen, im Sturmschritt durch die dunkeln Straßen bis zum Fährhaus und bettelte um ein Ruderboot, das mir endlich mit Kopfschütteln überlassen wurde.

Allein fuhr ich wohl eine halbe Stunde havelaufwärts. Weit an beiden Ufern glänzten bunte Lichter und spielten zwischen den Schatten, aus denen die dunklen Masten der Türme und Häuser herauswuchsen. Der Mond stand voll am Himmel, daß die Sterne nicht aufkommen konnten. Matt leuchteten sie tief im Himmel.

Jetzt zog ich beide Ruder ein, der Kahn trieb leise und unmerklich. Da warf ich im Nu Kleider, Schuhe und Hemd von mir, reckte mich, das Herz war mir übervoll, ich mußte jauchzen – und dann kopfüber in die Flut! Mit langen Stößen kreiste ich um meinen Nachen. Endlich schwang ich mich, da ein erleuchteter Dampfer stromab kam, nicht ohne Mühe wieder in den Kahn, der stets umschlagen wollte, wenn ich seine Seitenbord ergriff, mich hinaufzuziehen. Dann weiter stromaufwärts! wie trunken, nackt und laut singend trieb ich den Kahn mit langsamem Ruderschlag vorwärts. Der hellerleuchtete Dampfer überholte mich rauschend. Auf Deck standen Herren und Damen, starrten in den Mond und blickten zu mir nieder und mochten wohl seltsame Gedanken über den wunderlichen Fischer in seinem Kahne drunten haben. Dann tauchte auch das wieder ins Dunkel.

Endlich ließ ich das eine Ruder strudeln und griff stärker ins andere. Der Kahn flog herum und zurück. Schon war ich fast am Fährhaus, da fiel mir erst mein Kostüm auf. Ich fuhr in die Kleider und hielt auf den Steg zu. Die Fährmannsfrau wartete hier mit einer Laterne und empfing mich mit Vorwürfen.« ...

Er brach plötzlich ab, schob seinen Arm in den meinen, und wir stiegen bergab. Der Wind hatte dunkle Wolken heraufgetrieben, und nur mit Mühe gelang es uns bei der einbrechenden Finsternis, die flatternde Fahne über dem Dörfchen im Tal zu erkennen.

Wir schritten rasch und ohne zu reden zu Tal. Aber wir wußten beide, daß wir nun Freunde seien, obwohl wir nur von Wolken und Wasser und Mond und Sonne geredet hatten.

Ein Viertelstündchen später betraten wir den Garten, der die einfache Dorfschenke, die uns als Exkneipe diente, umgab. Von den erleuchteten Fenstern, aus denen ein Gewimmel hemdärmeliger Gestalten und blauer Mützen schimmerte, klang es zu uns her »Ich kam vom Walde herüber, da stand noch das alte Haus«, Vers um Vers. Das Lied klang aus. Da traten wir ein.

Die wenigen Wochen, die nun folgten, fuhren dahin wie ein Frühlingssturm, aber wenn ich an sie zurückdenke, so erscheinen sie mir wie eine lange, endlose, schöne Zeit und fast wie mein ganzes Studentenleben.

Nicht nur die Abende, die wir gemeinsam plaudernd und lesend und musizierend verbrachten, das ganze studentische Treiben in seinen Tollheiten und seinen ernsten Stunden schien mir jetzt ein tieferes Leben bekommen zu haben. Die Ausgelassenheit wurde toller, und der Ernst wurde wertvoller. Am schönsten aber waren doch die Abende, die wir zu zweit beim Schein meiner alten Studierlampe mit den aufgemalten Schwalben verbrachten. Dann erzählte er mir von seinem Elternhaus, einem stillen Pfarrhaus an der Havel, und ich plauderte von Straßburg und vom Elsaß. Wir schmiedeten an unserer Zukunft, oder er las mir mit seiner klangvollen Stimme seine Lieblingsdichter vor oder auch einiges von seinen eigenen Versen.

Wir konnten die Zeit unglaublich kindisch miteinander verschwatzen, weil man stets wußte, daß ein ganzer prächtiger Mensch hinter all dem Unsinn steckte. Wir konnten stundenlang fast ohne ein Wort beisammensein, und es wird stets ein Gradmesser der Herzlichkeit sein, wie lange man schweigsam beieinander sitzen kann, ohne daß es einer von beiden als peinlich empfindet.

Ein solcher Abend war es, als er, während ich arbeitete, unter meinen Büchern und Bildern kramend mit einmal im Durchblättern eines Photoalbums einhielt und überrascht ausrief: »Sieh doch an! Deine Schwester!« Ich blickte auf und wunderte mich, daß er sie erkannt hatte. Ich hatte bisher immer geglaubt, sie sei mir in keinem Zuge ähnlich, so viel feiner und zarter war sie mir immer erschienen. Das Bild zeigte sie als fünfzehnjähriges Mädchen in weißem Kleide, ein paar rosa Nelken im Gürtel.

Nun mußte ich viel von ihr erzählen.

»Wie heißt sie eigentlich?«

»Anna.«

»Wie ist ihr Haar?«

»Nußbraun.«

»Es ist sehr lieblich, wie sie die Zöpfe wie einen Kranz auf dem Köpfchen trägt.«

So redeten wir eine lange Weile. Mit einmal rief er lebhaft aus: »Du, Paul, sie muß zur Kirchweih kommen! Das wird ihr gefallen.«

Die Kirchweih ist ein eigenartiges und schönes Sommerfest unserer Burschenschaft.

»Das wird Mutter kaum dulden,« erwiderte ich, »sie ist ja kaum sechzehn Jahre.«

»Ach, das wirst du schon durchsetzen können!« –

Und ich setzte es durch. Nie war ein Fest schöner als diese Kirchweih.

Deutlich entsinne ich mich noch des letzten Abends in Frankendorf.

Zuletzt tanzten wir im Mondschein auf dem kurz geschorenen Grasboden des Gartens eine übermütige Française. Meiner Partnerin und mir gegenüber tanzten Werner und Anna. Und Annas Gesicht strahlte vor innerer Freude, und wir waren alle glücklich wie Kinder.

In den weiten Laubengängen des Gartens, in den Zweigen der alten Linden und Obstbäume flammten die bunten Papierlampions auf. Es war ein lauer Sommerabend, und der weite Garten war ein ewig wechselndes Auf- und Niederwogen von Farben und Leben und Bewegung. Die hellen Sommerkleider der Damen schimmerten zwischen den bunten Studentenmützen und den Uniformen der Offiziere, und zuletzt stieg der Mond weiß und voll und schimmernd über den dunkelschattenden Wäldern des Rathsbergs empor.

Erst gegen Mitternacht war des Treibens ein Ende. Der Zug entführte unerbittlich die Mehrzahl der Damen und Gäste. Einige wenige Familien gingen mit Lampionfackeln durch die mondhellen Wälder des Rathsbergs nach Erlangen zurück. Wir schlossen uns ihnen auf Werners Bitten an. Am Waldrand hielten wir noch einmal und blickten auf das liebe Dörfchen zurück. Aus der Tiefe klangen die Burschenlieder der zurückgebliebenen Zecher zu uns empor, die Lampions leuchteten schimmernd herauf, und über allem stand schön und leuchtend der klare Mond. –

Die Nacht schlief Werner, der sein Bett einem Gaste abgetreten hatte, auf meinem Zimmer. Wir lagen noch lange plaudernd wach. Dann mußte ich wohl zuerst in Schlaf gefallen sein, denn ich erwachte mit einmal wieder, als Werner auf meinem Bettrand saß und mich am Arm rührte.

»Schläfst du schon?«

»Nein. Was gibt's denn noch?«

»Mir ist mit einmal etwas eingefallen.«

»Und?«

»Du, Paul, in ein paar Semestern komme ich nach Straßburg, wenn du mich brauchen kannst.«

Ich richtete mich auf und lachte. »Meinetwegen, Werner?«

»Euretwegen. Deinetwegen, deiner Mutter und deiner Schwester wegen; ich glaube, das wird eine prächtige Zeit.«

Ich mußte wohl ein etwas dummes Gesicht gemacht haben, denn er lachte laut und herzlich.

»Das hat gute Weile«, gab ich nachdenklich zurück. Ich hatte, ehe ich daheim in Straßburg Examen zu machen gedachte, noch zwei Berliner Semester geplant.

»Na, dann können wir wohl erst noch ein Weilchen schlafen,« lachte er, stand auf und ging in sein Bett.

Ich aber lag noch lange wach, und die Zukunft füllte sich mir mit Möglichkeiten, an die ich bisher nicht im Traum gedacht hatte, und die mir sonderbar und fern und doch seltsam lebendig erschienen. Als ich andern Morgens erwachte, war mir, als habe ich die ganze Nacht Française getanzt, Werner und Anna mir immer gegenüber, sie kamen auf mich zu und entfernten sich, verneigten sich und lachten mir ins Gesicht.

Gegen Mittag brachten wir meine Mutter und Anna wieder zur Bahn. Deutlich entsinne ich mich noch des Abschiedes. Meine Mutter drückte mir herzlich die Hand und sagte: »Dein Freund ist ein lieber, prächtiger Kerl.« Und Annas Augen leuchteten. Und ich hatte ein so kindlich frohes Gefühl, als habe ich ein Examen mit Glanz und Auszeichnung bestanden. –

Bald darauf schlug auch für mich die Scheidestunde von Erlangen. Das Semester klang aus. –

Unerwartet rief mich einige Monate später ein dringendes Telegramm von Berlin nach Erlangen zurück. Werner war gefährlich erkrankt.

Auf einer Schneewanderung durch die Fränkische Schweiz, die er mit einigen Bundesbrüdern unternahm, hatte er sich eine heftige Erkältung zugezogen. Er kam krank nach Erlangen zurück und lag bald in heftigstem Fieber. Der zugezogene Arzt stellte eine schwere Lungenentzündung fest und ordnete die sofortige Überführung in die Universitätsklinik an. Die Krankheit nahm rasch eine kritische Wendung und ließ wenig Hoffnung auf Genesung.

Werner selbst hatte gebeten, mich telegraphisch zu rufen, während man seinen Vater erst im Falle der äußersten Gefahr verständigen sollte. Als das endlich, kurz vor der Krise, geschah, war es zu spät. So kam es, daß ich allein in seinen letzten lichten Momenten an seinem Lager war.

»Grüß Gott, Werner,« sagte ich so ruhig ich konnte, und ich wundere mich noch heute, daß ich überhaupt ein Wort über die Lippen zu zwingen vermochte.

Er lag blaß und mager in seinem Bett, und das blaue Geäder seiner weißen, etwas gewölbten Schläfen trat deutlicher als sonst hervor.

Er umkrampfte heftig meine Hand, und die Tränen sprangen ihm in die Augen. Er vermochte nicht zu reden.

Der Arzt bemerkte seine Erregung und trat dazwischen, aber als er Werners flehend auf ihn gerichteten Blick sah, zog er sich leise zurück.

Ich zog mir einen Stuhl an sein Lager, und wir waren minutenlang schweigend beisammen.

Dann fing er zu sprechen an. »Vater wird nicht mehr kommen ...« Er flüsterte nur, und ich weiß, er tat es weniger wegen der Schmerzen, als um mir die Qual zu ersparen, die mir sein röchelndes Sprechen bereitet hätte.

»Ich glaube doch, Werner, aber du darfst nicht ...« Da schüttelte er leise den Kopf und streichelte zugleich meine Hand, als wolle er mir's abbitten.

Nach einer Weile fing er wieder an. »Es tut nichts, Paul. Du bist bei mir. Du wirst ihn grüßen. Es tut nichts ... Du, weißt du, zuletzt, zuletzt könnte ich doch nur eine Hand umklammern ... und es ist mir lieb, daß es deine ist, Paul... Du wirst doch bei mir sein, ganz zuletzt ...?«

Da war es mit meiner Haltung vorbei, ich sank vor seinem Lager in die Knie, und die Tränen liefen mir über die Backen. Der Arzt trat leise näher und gab mir ein Zeichen. Es war, als ob Werner es bemerkt hätte. Er rückte seinen Kopf noch näher an den Rand der Kissen und flüsterte. »Weißt du, Lieber, was mich aufrecht hält? Das ist ein so seltsames Gefühl ... Die Furcht, mich selbst zu verlassen, ist so klein, neben dem Herzeleid, von dir zu gehen. Ich kann nicht klein werden dabei ...«

Das waren seine letzten Worte, die ich an jenem Tag von ihm hörte. Ich küßte ihn noch einmal unter Tränen. Dann ging ich aus dem Zimmer.

In der Nacht kam die Krisis. Ich wartete im Zimmer eines Assistenzarztes, ob man mich rufen werde. Ich glaubte damals, das sei meine schwerste Nacht, und es könne nichts Furchtbareres geben.

Und ich blieb allein. Werners Vater traf infolge einer unregelmäßigen Zugverbindung erst gegen Morgen ein.

Gegen Mitternacht trat der behandelnde Arzt in mein Zimmer. »Legen Sie sich zu Bett. Die Krisis ist überstanden. Aber es ist wie ein Wunder.«

Ich habe die Nacht nicht geschlafen. Ich bin in den verschneiten Wäldern umhergelaufen und habe mich gebärdet wie ein Verrückter.

Seitdem war mir Werner mehr als ein leiblicher Bruder. –

Und nun plötzlich lag der Fetzen Papier auf meinem Tische: »Es lebe das Sommersemester in Straßburg! Werner« ...

*

Andern Tags brachte ich ihn in unser Haus.

Er hatte sich äußerlich etwas verändert. Trotz der schlanken Gestalt und der weichen Züge wirkte er männlicher und reifer. Aber sein Wesen war unverändert. Sein Ernst, sein Frohsinn und seine Heiterkeit waren sich gleich geblieben, seine Interessen vielleicht noch vielseitiger und tiefer geworden.

Einen Hauptreiz seines Wesens hatte für mich immer ein überaus sympathischer Schimmer natürlicher Kindheit ausgemacht, und, obwohl ich es aus seinen Briefen wußte, empfand ich eine tiefe Freude, als ich diesen Zug unverändert an ihm bemerkte. Das war, als ich ihn zum erstenmal in mein Arbeitszimmer führte und er dort unsre alte Erlanger Studierlampe wiederfand.

Er begrüßte die gemalten Schwalben mit einer stürmischen Herzlichkeit als alte Bekannte. Dann schloß er, obgleich es hellichter Tag war, die Fensterläden, verdunkelte das Zimmer mit den Vorhängen und entzündete die alte Lampe: »Sie leben noch! sie leben wahrhaftig noch!« rief er und warf sich lachend in einen Stuhl. »Paul, Paul, ich glaube, wir sind noch in Erlangen!«

Ich half ihm die Illusion vollständig machen, stopfte zwei zirkelgeschmückte Pfeifen, und als wir sie in Brand gesetzt hatten, zog ich einen Sessel zu dem seinen heran, und wir plauderten wie vor Jahren und hielten uns an den Händen wie Kinder.

Wir schwatzten uns fest, daß wir Ort und Zeit vergaßen. Da klopfte es an der Tür. Werner stutzte, dann rüttelte er mich am Arm, als müsse er mich wecken und rief lachend: »Paul, so wach doch auf! es ist höchste Zeit. Die Kathi weckt zu den Mensuren!«

Aber es war nicht unsere brave Erlanger Magd, die in der Tür stand, sondern meine Schwester, die uns zum Essen rufen wollte und nicht wenig erstaunt war, als sie uns hier in Nacht und Tabakwolken vorfand.

Werner unternahm es, sie mit vielem unsinnigen Schnick-Schnack in die Mysterien dieser Sitzung und die Geheimnisse der Wunderlampe einzuführen, deren unwahrscheinlich blaue Vögel alles lebende Getier an Gaben und Fähigkeiten übertrafen. Er ließ die Schwalben »fliegen« und »singen« und brachte Anna herzlich zum Lachen.

Es gibt keine liebere Art, einen Dritten in den vertraulichen Verkehr zweier Menschen hineinzuziehen, als wenn die zwei sich in des dritten Gegenwart so völlig unbefangen und vertraut geben, als wenn sie unter sich sind.

So ließen wir denn zu dritt auf uns warten, bis meiner Mutter die Geduld riß und sie selbst kam, uns zum Essen zu rufen. Da ließ es Werner wieder Tag werden, und wir setzten uns in heiterster Laune zu Tisch. –

Seitdem war Werner oft bei uns zu Gast, und es war uns allen, als ob er von jeher zur Familie gehörte. –

Und dann kam jene seltsame Zeit für mich, in der ich bemerkte, daß Werner nicht nur meinetwegen kam, und daß Annas Wesen in seiner Gegenwart gesteigerter war. Da erinnerte ich mich an Werners Worte nach der Kirchweih und beobachtete die beiden lieben Menschen still und nachdenklich.

Nun sah ich zum ersten Male, daß Anna ein lieblich erblühtes Mädchen war, und glaubte zu bemerken, daß ihre Art, seit Werner unter uns heimisch war, weicher und frauenhafter geworden war. Ich sah, daß Werner bis tief in die Nacht über den Büchern saß, als sei sein Examen ein Haus, das bis zum Winter unter Dach und Fach sein müsse. Und ich wunderte mich, daß ich ihre offenkundige Neigung zueinander nicht schon seit Wochen erkannt hatte.

Eines Abends saß ich arbeitend in meinem Zimmer, als Werner mich aufsuchte. Er redete lauter Unsinn, drehte unaufhörlich den Lampenschirm und trommelte den Pariser Einzugsmarsch an den Fensterscheiben. Aber er war nicht wie sonst bei der Sache und war trotz all des Geschwätzes so herzlich und freudig erregt, daß ich merkte, wie ihn etwas tiefinnerlich bewegte.

Dann saß er lange still und nachdenklich auf dem Sopha, zog mich endlich zu sich und erzählte mir, was ich seit langem wußte.

In klaren und guten Worten sprach er von seiner Liebe zu Anna, und ich war bewegt wie er. Aber als ich sagte, daß ich ihre Neigung seit langem geahnt, schloß er mir lächelnd den Mund. »Eines weißt du doch noch nicht!«

Ich blickte auf.

»Paul, sie ist seit heute meine Braut.« Er war aufgesprungen und hielt meine Rechte in beiden Händen. »Ich habe mir's ausbedungen, daß ich dir's sagen darf, Paul, und wir haben uns rechtschaffen darum gezankt.« ...

Die Zeit, die nun folgte, war die schönste unseres Lebens.

Es war ein scherzhaftes Symbol, daß Werner am anderen Tage unsere gemeinsame Studierlampe feierlich aus meinem Arbeitszimmer holte und auf den Familientisch setzte. »Damit sich die Schwalben an die veränderten Umstände gewöhnen«, lachte er.

Und wie früher zwei, so saßen jetzt vier Menschen in ihrem Scheine beieinander, fühlten sich eins und freuten sich ihres herzlichen Beisammenseins.

Dieses Beieinandersein war zu schön, um dauern zu können, aber ich weiß, daß jene Zeit die Schönheit des Lebens in ihrer Vollkommenheit war.

Die schöne Zeit nahm ein jähes Ende.

Eines Tages badete ich mit Werner im offenen Rhein. Werner schwamm trotz meiner Warnung zu weit hinaus und ließ sich von der Strömung stromab reißen. Es kostete ihn schließlich harte Anstrengung, ans Ufer zurückzukommen, und er taumelte vor Ermattung, als er endlich den Fuß ans Land setzte. Am Abend fieberte er, und in der Nacht schickte seine Wirtin nach einem Arzt. Als ich ihn andern Tags besuchte, lag er an einer schweren Lungenentzündung darnieder, und der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht, als ich ihm von Werners schwerem Krankenlager in Erlangen erzählte.

Die schwersten Stunden von damals kehrten wieder, nur daß wir jetzt zu dritt um das Liebste bangten, was wir auf Erden hatten.

Aber Werners leidenschaftliches Begehren nach dem Leben war stärker als die Krankheit. Er genas noch einmal. Aber der Genesene, der nach Wochen zum erstenmal sein Bett verlassen durfte, war nur wie ein Schatten des früheren Menschen, und der Arzt drang darauf, daß er den Winter im Süden verbrächte.

Es war ein trauriger Abschied, über dessen Schwere wir uns vergeblich mit gezwungenem Scherze und Plaudern hinwegzutäuschen suchten.

Der Examenstermin war verfallen, und über das, was die Zukunft bringen sollte, stritten sich Hoffnung und bange Angst.

So ging er von uns. – – –

*

Der Winter strich träge hin, und die lange Zeit war für uns drei, die wir zurückbleiben mußten, nichts als ein immer erneutes Warten auf Werners Briefe.

Er schrieb viel. Zuerst an uns drei gemeinsam, später bald an Anna und bald an mich, obwohl er wußte, daß uns jede Silbe von ihm ein gemeinsamer Besitz war. Und diese späteren Briefe waren natürlicher als die früheren, die oft ein farbloses und erkünsteltes Spiel mit Hoffnungen waren, an die er selbst nicht zu glauben schien.

Ich erschrak, als ich zum erstenmal einen Brief durchlesen hatte, der nur an meine Adresse gerichtet war. Ich hatte das Gefühl, als säße Werner mir mit unruhig flackernden Augen gegenüber und spräche in nervöser Hast auf mich ein. Deutlich sah ich ihn vor mir sitzen, aber in seinem Gesichte war ein fremder Zug, der über die Heiterkeit seiner Seele gesiegt hatte. Aus den abgebrochenen, halben Sätzen, aus manchem zusammenhanglos hingeworfenen Wort und mehr noch aus dem, was er nicht schrieb, klang eine immer gesteigerte Unruhe und Ungewißheit über sich selbst.

Dazwischen kamen wieder Briefe, die an uns drei gerichtet waren, sorgfältig gefeilte Sätze, deren Schilderungen von Land und Leuten sich glatt wie stilisierte Feuilletons herunterlasen.

Auch in seine Briefe an Anna kam ein fremder Ton, eine verhüllte Leidenschaftlichkeit, die seiner natürlichen Zartheit widersprach und uns erschreckte.

Meine arme Schwester weinte viel, und wir saßen oft zagend und hoffend beisammen und prüften jede Zeile und jedes seiner Worte mit der Sonde sorgender und verstehender Liebe. Inniger als je fühlten wir Geschwister unsere Zusammengehörigkeit.

Mit der Zeit wurden seine Briefe spärlicher und kürzer, zuletzt warteten wir wohl vierzehn Tage vergeblich auf ein Lebenszeichen. Das war die Zeit, in der über Werners Schicksal die Würfel fielen. Aber damals wußten wir nichts davon.

Jetzt weiß ich, daß er in jenen Tagen einen deutschen Arzt konsultierte und mit leidenschaftlicher Entschiedenheit auf Klarheit drang, die ihm die Ärzte des italienischen Sanatoriums nicht gaben.

Und als er Gewißheit hatte, kam er zu mir.

Es war eines Abends, als ich mit Mutter und Anna aus einem Vortrage heimkehrte. Ich stieg ahnungslos die Treppe hinauf, die zu meinem Zimmer führte, und öffnete die Tür.

Da bot sich mir ein Anblick, vor dem ich zurückprallte.

Werner saß schlafend mit zur Seite gesunkenem Kopf in einem der Sessel am Tisch. Er war unangemeldet mitten im Januar zurückgekommen, und als er mich nicht zu Hause traf, hatte er dort oben auf mich gewartet. So hatte ihn der Schlaf überrascht. Es war fast Mitternacht, und die unbewachte Lampe schwelte und war fast niedergebrannt. Das ganze Zimmer war mit Ruß erfüllt, der einem fast den Atem benahm und alle Gegenstände dicht mit schwarzen Flöckchen bedeckt hatte. Werners Gesicht und Hände waren schwarz davon, und als er bei meinem Eintritt aus dem Schlummer schrak und aufsprang, fuhr ich zurück, als mich seine fieberheißen Augen aus dem entstellten Antlitz wie eine Vision anstierten.

Im selben Augenblick mußte Werner seinen Zustand bemerkt haben. Denn ehe ich noch Atem gefunden hatte, trat er vor einen Wandspiegel und lachte laut und häßlich über sich selbst.

»Werner«, schrie ich in tödlichem Schrecken, »Werner, um Gotteswillen, was tust du hier und was treibst du!?«

Als ich ihn am Arm packte, ließ er sich schlaff in seinen Sessel fallen, barg den Kopf zwischen beiden Händen und schluchzte herzbrechend.

Ich habe keine Ahnung mehr von dem, womit ich in meiner hilflosen Angst auf ihn einsprach, aber mit einmal warf er den Kopf auf und preßte meine Hände schmerzhaft zusammen, als wolle er alle meine Fragen und Zureden und Schelten ersticken.

»Es ist Unsinn, Paul, es ist ja alles Unsinn!« rief er fast schreiend, »ich bin ja nur hierhergekommen, um dir zu sagen, daß das alles Unsinn ist! Das hier« – er schlug mit der flachen Hand auf die Brust – »ist Schwindsucht.«

Sein Aufschrei traf mich wie ein Keulenschlag, und ich starrte in wortloser Betäubung vor mich hin, während er tieferschüttert an meinem Halse hing.

Endlich raffte ich mich zusammen und sprach ihm zu. »Werner, wir müssen miteinander reden. Hier können wir's nicht, Werner. Wir wollen die Nacht in ein Hotel. Das kann ja alles nicht sein.«

Er ließ sich leiten wie ein Kind. Ich half ihm, so gut es ging, sich von dem Ruß zu reinigen, und schlich leise mit ihm die Treppe hinunter. In einem Hotelzimmer saßen wir beisammen, bis der Morgen heraufdämmerte, und ich erfuhr das Wenige, was er zu sagen wußte, und wogegen es keinen Trost gab.

Er warf sich endlich erschöpft auf sein Bett und tat, als ob er schliefe. Aber ich merkte, daß er nur nach Fassung rang. Als er sich in der Gewalt zu haben glaubte, trat er ans Fenster und sprach, nur halb mir zugewendet, auf mich ein. »Ich weiß, ich bin schwächlich und feig heute, Paul. Das mußt du mir verzeihen. Ich bin nur hierhergekommen, um euch Klarheit zu geben, dir und Anna, und um mit Unmöglichem ein Ende zu machen. Ich dachte, ich würde mich beherrschen können. Aber die Spannung der letzten Stunden war zu groß, ich bin unterlegen. Ich fühle jetzt auch deutlich, ich kann Anna nicht gegenübertreten. Ich habe nicht die Kraft dazu, und ich mag nicht so vor ihr stehen, wie du mich gesehen hast. Vor dir schäme ich mich nicht. Tu mir die Liebe und sage ihr, was zu sagen ist, und gib ihr den Ring wieder. Ich reise noch heute wieder ab und will sehen, ob ich zu schreiben vermag.«

Ich fühlte, daß er mit Anspannung aller Kräfte sprach, und wagte ihn nicht zu unterbrechen. Nun hatte er geendet und starrte mit seltsam leeren Augen in den erwachenden Tag und auf den schlanken Turm des Münsters, dessen rötlicher Stein in der Morgensonne festlich wie Brautseide schimmerte.

Da trat ich an ihn heran und legte den Arm um seine Schulter. »Mit Anna will ich reden. Wir aber, Werner, wir bleiben jetzt beisammen. Sieh', eine Stimme ist noch lange keine Gewißheit und ...«

Da wehrte er ab und zwang mich zum Schweigen. »Geh jetzt, Paul, geh! es ist besser. Ich muß allein sein. Ich verspreche dir, ich fahre nicht ohne Abschied. Komm heut' nachmittag wieder zu mir und sprich mit mir von Ännchen und wie sie es aufgenommen hat. Ich bin todmüde und will versuchen zu schlafen.«

Da ging ich von ihm. Durch die Straßen und Gassen rannte ich kreuz und quer, ohne zu wissen wie lange, bis ich gefaßt genug zu sein glaubte, vor meine Schwester zu treten.

Wie Anna es aufnahm, war bewundernswert. Sie ließ mich ausreden, und als ich zu Ende war, erhob sie sich leise und ging aus dem Zimmer. Wir ließen sie ein Stündchen mit sich allein. Dann ging Mutter ihr nach.

Aber sie fand Anna nicht als haltlos weinendes Kind, sondern als einen starken und guten Menschen, der sich zu einem unabänderlichen Entschluß durchgerungen hatte. Meine Mutter mußte ihr den Willen lassen, ob ihr gleich das Herz voll von Sorge und bittrer Angst um ihren Liebling war. Aber wir wußten, daß Anna in all der Zeit auf jener gläsernen Brücke wandelte, die uns ebensowohl in den heitern Garten der Menschheit zurück wie an den armen Strand eines verdämmernden oder nachtgewordenen Lebens führen kann. Wir wußten, daß für sie einer jener Augenblicke gekommen war, in denen wir die Flut des Lebens, die sonst tief unter unsern Füßen in versteckten Kanälen fließt, auf einmal wie durch durchsichtiges Glas giftschäumend unter unseren Sohlen dahinziehen sehen. Wohl dem, der in solchen Stunden ein starkes Wollen in festen, lebenswarmen Händen trägt wie ein Palladium! Wer daran rührt, und täte er es in zagender, sorgender Liebe, vergeht sich mit tempelschänderischer Hand an dem unverstandenen Sakrament des Lebens.

Als ich Werner am Nachmittag aufsuchte, ging meine Schwester mit mir und brachte ihm den Ring wieder, den er ihr am Morgen zurückgeschickt hatte.

Gefaßt und heiter, ohne viele Worte über das zu machen, was ihr als selbstverständlich erschien, trat sie vor ihn hin. »Es wird alles wieder gut. Liebster! Wir lassen nicht voneinander und wollen den Glauben nicht verlieren.«

»Ja, ja!« schrie er fast, ergriff den Ring und bedeckte Annas Hände mit seinen Tränen.

Da sah ich erst, mit welch leidenschaftlicher Glut er sie liebte, und ich empfand eine tiefe Angst.

Noch am selben Tage fuhr er wieder nach Süden. Er litt nicht, daß ich ihn begleitete.

Wenige Tage später erhielt ich einen Brief von ihm. »Was magst Du von mir denken, Paul, daß ich ihr Opfer widerspruchslos annahm! Denke nicht schlecht darum von mir! Es ist ja nur auf kurze Zeit, viel kürzer vielleicht als Du denkst.«

Sonst hörten wir wenig von ihm. Bisweilen eine Karte, ein kurzer Gruß, das war alles. So ging der Winter zu Ende.–

Ich hatte mein Examen hinter mir und plante ein Zusammensein mit Werner auf unbestimmte Zeit. Da meldete uns ein Brief seine Rückkehr. »Die Straßburger Zeitungen schreiben von Frühling. Ich will ihn ein paar Tage mit Euch genießen. Mein Arzt hat es mir erlaubt.« – Wir wußten, daß er uns täuschte.

Vom ersten Tage unseres neuen Beisammenseins merkte ich deutlich, daß Werner sich selbst sein Kommen nicht vergab. Er empfand seine Schwachheit gegen sich selbst als eine Schmach und als Schuld gegen Anna, aber er hatte nicht die Kraft, von uns und von ihr zu lassen. Vielleicht – und ich glaubte das schon damals – trug er sich auch mit einem letzten Entschluß, dessen stets greifbar nahe Ausführbarkeit seine Schwachheit mit eins beenden konnte. Ja, ich bin überzeugt, daß er jedes Beisammensein als einen Abschied empfand und nicht merkte, wie die Tage sich zu einer qualvollen Kette zusammenschlössen.

Er war überaus weich und sensibel geworden. »Schlapp und weibisch« schalt er sich selbst, wenn er mit mir allein war.

Wenn er bei uns im Hause war, saß er meist still in einer Ecke und hörte Anna musizieren. Ich sah, daß er manchmal jäh aufblickte und sie mit den Augen verschlang. Oft stahl er sich heimlich aus dem Zimmer und lief uns davon.

Einmal ging ich ihm nach und fand ihn auf seinem Zimmer. Er war wild und beinahe brutal. »Ich bin ein Lump, daß ich kein Ende mache! ein Lump bin ich, so habe ich sie lieb!« Er versank in ein finsteres Brüten. Plötzlich fuhr er auf: »Mach, daß du fortkommst, ich kann niemand brauchen!« Es war das erstemal, daß er sich mir gegenüber gehen ließ, und ich war erschrocken über seinen Ton.

Als ich trotzdem blieb, duldete er es schweigend. Dann wurde er weich und bat mir ab. »Du weißt nicht, wie das ist, Paul. Ich habe ein allzu kampfloses Leben gehabt. Alles, was ich wollte, war mein. Und nun, wo ich zum erstenmal leidenschaftlich begehre, schlägt mir das Schicksal in den Nacken.«

Seitdem kam es öfter vor, daß er sich mir gegenüber gehen ließ, und ich litt unter seinem ungleichen Wesen, nicht um meinetwillen, sondern weil ich hilflos mit ansehen mußte, wie die schöne Harmonie seiner Seele sich in immer grellere Dissonanzen auflöste. Bald gab er sich resigniert, bald bäumte er sich auf in leidenschaftlichem Begehren, bald quälte er sich mit einem spöttischen Sarkasmus, an den er selbst nicht glaubte.

Die arme Anna litt wohl am bittersten in dieser Zeit, obwohl er sich in ihrer Gegenwart aufs äußerste zusammennahm. Aber dann kamen unbewachte Momente, die blitzartig sein von unfruchtbaren Leidenschaften zerwühltes Innere erhellten.

So blieb er einmal, als wir zu dritt in der Stadt Einkäufe machten, vor einer Kunsthandlung in der Meisengasse stehen und blickte starr auf die Statuette des Marathonläufers, der den Siegeskranz in Händen am Ziel zusammenbrechen will. Er riß mich am Arm: »Siehst du, so am Ziel, im Vollbesitz ... oder wie damals in Erlangen – ja das ist leicht! Aber so voller Drang, mitten im Wollen, im heißesten Begehren ...«

Er hatte Annas Gegenwart vergessen und brach ab, als er mit einmal ihr blaßgewordenes Gesicht vor sich sah. Noch als ich ihn am Nachmittage aufsuchte, war er tief beschämt und quälte sich bitterer mit Vorwürfen, als er es verdiente. »Das ist ja der Fluch meines Hierbleibens und meiner Feigheit: ich bin zwiespältig, ich laufe mit zwei Gesichtern herum, und gerade weil ich mich an eine Maske gewöhnt habe, lasse ich mich unter der Larve gehen und mein wahres Gesicht wird doppelt verzerrt ...« Ein andermal packte er, aus brütendem Schweigen plötzlich auffahrend, meinen Arm und warf in leidenschaftlichen Sätzen hin: »Heut' hab' ich beim Gang durch die Stadt eine Frau gesehen, der man einen Kindersarg aus dem Hause trug. Und die Frau schluchzte mit ganzem Leibe. Mir aber kam plötzlich der Gedanke: die Frau lacht ja nach einem Jahr schon wieder. Und ich sah sie lachen, die beiden Gesichter deckten sich wie Larven übereinander, wie eine Blasphemie, wie ein Hohn auf alles Menschliche – ich kann dir nicht sagen, wie mich das verstört hat...«

Ich wußte, er hatte keine solche Frau gesehen. Er dachte an Anna. Er hing mit allen Fasern am Leben, und seine Liebe litt darunter und wurde mehr und mehr zur Leidenschaft.

In jenen Tagen muß er die Verse aufs Papier geworfen haben, die ich später auf einem zerknitterten Zettel in seiner Rocktasche fand:

»Das ist's, was mich in Dich vernarrt,
Dein Lachen lockt überland!
Mein Scherz ist falsch, mein Lachen hart,
Armselig erlogener Tand!

Dein Lachen ist ein Bergwaldquell,
In den die Sonne blickt,
Und jede Welle rein und hell
Erheitert und erquickt.

Die Träume brannten mir im Hirn,
Ich tauchte sie in den Quell
Wie linnenes Tuch und preßt's auf die Stirn
Und lachte wieder hell.

Und nun, und nun, die Stirn brennt heiß,
Die Augen stier und groß,
Die Tücher dampfen Fieberschweiß,
Ich reiße sie nimmer los!

Ich schrei nach Dir mein herziges Kind,
Wie ein müdegehetztes Tier,
Und ob wir gleich beisammen sind,
Ich sehne mich doch nach Dir ...«

Ein andermal höhnte er, als wir allein waren: »Ah, ein Bräutigam! ein Bräutigam! Gibt es etwas ...« Als ich ihm beschwörend den Mund schloß, sank er in sich zusammen, und es sah sich an, als ob er sich unter seinen Selbstvorwürfen ducke wie ein Hund unter der Peitsche. Nach einer Weile fing er stockend wieder an: »Paul, wenn es drüben eine Hölle gäbe, es müßte die sein, daß man sein eigenes Leben, alle Tage, alle Nächte und alle Gedanken, die man gehabt hat, noch einmal leben müßte, aber offen, offen vor den Augen aller, denen man sich versteckt hat – ah, das wäre ein Theater ...!« Er vergrub seinen Kopf in den Händen.

Ich weiß jetzt, er liebte damals mit einer Leidenschaft, die schlecht war. Manchmal war es, als gönne er sie dem Leben nicht. Und es erbarmt mich, wenn ich daran zurückdenke.

Ich will nicht alle Einzelheiten jener schweren Zeit heraufbeschwören. Es mehrten sich die Augenblicke, in denen er sich auch Anna gegenüber gehen ließ, und er führte ein zerrissenes Leben zwischen Reue und Schwäche.

Und dann kam jener schreckhafte Augenblick, da ich beim Eintritt in unser Wohnzimmer sah, wie er mit halbaufgehobenen Armen vor Anna stand, als wolle er sie an sich reißen und küssen. Aber noch ehe er mich bemerkt hatte, ließ er die Arme schlaff sinken, die flackernden Augen erloschen, und er lief wie gejagt davon.

Meine Schwester schluchzte, und ich empfand, wie tief er sie verwundet hatte, und zürnte ihm.

Noch am Abend brachte mir ein Brief seinen unwiderruflichen Entschluß, mit dem Unhaltbaren ein Ende zu machen. »Es muß sein. Tu mir die Liebe und sag' Du's ihr und bitte ihr ab für mich. Du kannst nicht wollen, daß ich sie liebe, ich, der ich nichts mehr bin als ein räudiges Tier ...«

Ich wollte zu ihm, aber er hatte seine Wohnung gewechselt, und ich brauchte einige Tage, ehe ich ihn fand.

Wollte Gott, ich hätte ihn um einen Tag früher getroffen! Denn nie werde ich darüber hinwegkommen, wie ich ihn fand.

Er saß in einer elenden Vorstadtkammer auf seiner Bettstatt. Der Boden war mit tausend Papierfetzen bedeckt, in die er seine Examensarbeiten, seine Briefe und Verse zerrissen hatte. Sein Gesicht war fahler als sonst und er zerschnitt mit einer Schere, was ihm unter die Finger kam.

Ich starrte ihn wortlos und tieferschrocken an. Als er mich erblickte, erhob er sich und fing mit quälend tonloser Stimme zu reden an, ohne mich anzusehen. Er wolle abreisen, er habe gehofft, ich möchte ihn nicht finden, er fahre noch diesen Abend. Alles in müden schleppenden Sätzen gesprochen.

Nur als ich mit Entschiedenheit in ihn drang, meine Begleitung anzunehmen, wurde er leidenschaftlich erregt. Er wolle mir schreiben, ich solle nachkommen, wenn ich nicht anders könne, nur jetzt müsse er allein sein ... So ging ich von ihm, fassungsloser als er selber, und die Tränen würgten mir in der Kehle.

Auf der Fahrt nach dem Süden erschoß sich Werner. Nur einen kleinen Zettel in versiegeltem Umschlag ließ er für mich zurück. Darauf stand: »Lieber, vergiß das, was sie heute begraben haben. Der Werner, der Dein war, ist ja schon so lange tot. Verzeih' mir, wenn ich sein Andenken geschändet habe und halte Du es rein. Ich konnte es nicht mehr. Verzeih' mir, Lieber, und hilf, daß auch sie mir verzeihen kann. Werner.«


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