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Die Spur im Schnee

Wenn ich nicht wüßte, daß ich vor wenigen Tagen auf natürlichem Wege mit Pferd und Schlitten hier einpassiert bin, so würde ich es für unmöglich halten, daß jemand von außen in die Einsamkeit des tiefverschneiten Winkels gelangen könnte. Man weiß hier nichts mehr von Himmel und Erde. Das unablässige Flockengeriesel sperrt jede Aussicht. Das Tal ist so tief und verlassen, daß schon die schneebelasteten Wipfel des Fichtenwaldes auf den Höhen ringsum unerreichbar und unsichtbar in dem schweren, dämmergrauen Rauch verschwinden, der wie eine ewige drückende Nacht mählich vom Himmel auf Berg und Tal herniedersank. Und solange sie währt, bin ich ein Gefangener dieses verträumten Thüringer Walddörfchens, aus dem kein erkennbarer Weg mehr hinausführt, auf dessen weichem Schneefeld weit im Umkreis keine andere Spur als etwa der baldverwehte Eindruck eines Vogelfußes zu sehen ist. Ich frage mich manchmal, ob die Raben, die ich zuweilen von meinem Fenster aus wie tote, schwarze Klumpen im weißen Schnee liegen sehe, noch jemals mit verdrießlichem Krächzen vor dem langvergessenen Klang heller Schlittenglöckchen entfliehen werden.

Ein einsames Hausen zu zweit, dessen Ende niemand absehen kann, ist aus dem geplanten kurzen Besuch bei meinem alten Schulfreunde, dem Pfarrherrn, geworden. Ein Hausen zu zweit, obwohl noch ein dritter Bewohner im Hause sein Wesen treibt, ein Mensch, der mir bisweilen vorkommt wie die Seele dieser schwermütigen und unergründlichen Stille, von der ich bisweilen glaube, daß er uns verläßt und in nichts verschwindet, wenn der drückende Alp dieser dämmernden Tage weicht.

Es ist ein blasser, langaufgeschossener Knabe von vierzehn Jahren. Und wenn ich an ihn denke und mir ihn vorstellen will, merke ich, daß ich mir eigentlich nichts in Erinnerung rufe als ein paar graue Augen von gewöhnlicher Größe und gewöhnlicher Farbe, an denen nichts auffallend ist als ihre tiefe, hoffnungslose Traurigkeit. Eben tönt vom Kirchplatz herauf das Johlen und Kreischen der Bauernjungen, die sich mit Besen und Schippen soviel Raum geschafft haben, als zu ihren Schneeballschlachten und Raufereien nötig ist; und ohne auf den Platz hinauszutreten und nach den obersten Fenstern des Pfarrhauses hinaufzuschauen, weiß ich, daß sich jetzt dort oben ein blasses Kindergesicht an die Scheiben drückt. Unter der Stirn, die durch den leichten Druck noch etwas weißer wird, blicken jene müden, hoffnungslosen Kinderaugen wie auf etwas Unverstandenes oder Unsichtbares, ich weiß nicht auf was.

Es ist immer wieder dasselbe traurige Bild, Tag für Tag, und ist fast etwas Alltägliches geworden, etwas so Alltägliches, daß schon nicht mehr einer den andern anstößt, wenn sein Blick zufällig hinauffliegt und die seltsam unlebendige Gestalt streift.

Wenn ich vorhin gesagt habe, daß ich in diese Einsamkeit gefahren bin, um meinen Freund zu besuchen, so ist das nur halb wahr, ich bin eigentlich um des Kindes willen gekommen, mit dem mich so wenig wie den Pfarrherrn irgend etwas verknüpft außer jenem seltsamen Bande, das auch den Fremden mit einem Unglücklichen und Leidvollen verbindet.

Es war vor zwei Jahren, als ich den Knaben zum ersten Male sah. Oder ich bilde mir wenigstens ein, ihn damals gesehen zu haben. In Wirklichkeit habe ich vielleicht nichts gesehen als einen hochgeschlossenen Schlitten, in den vor einer gaffenden Menge ein in hundert Decken und Hüllen gewickeltes Etwas gehoben wurde. Aber ich habe auch in die Augen der Mutter gesehen, die denen des Kindes gespensterhaft ähnlich waren.

Ich war damals einige Tage im Dorf, um als Gerichtskommissar ein Verbrechen zu untersuchen, das das allgemeinste Aufsehen erregt hatte. Es gab nur noch wenig aufzuklären, aber diese wenigen noch unbekannten Umstände erschütterten mich mehr als die Tat selbst, die bereits auf allen Bierbänken breitgetreten wurde.

Ich weiß es noch, als wäre es heute gewesen, wie ich hier vor dem Pfarrhaus meinem Schlitten entstieg und mir die Dorfgasse hinab mühsam einen Weg durch die Gaffer bahnte, bis dorthin, wo die Gendarmen die Dorfstraße absperrten. Es war wenig genug zu sehen. Von der Steintreppe eines kleinen Bauernhäuschens liefen zu der Schwelle einer baufälligen Hütte auf der andern Seite der Straße zahllose Fußspuren über den Schnee, der schon gefroren war und vor Kälte glitzerte. Und auch die Fußspuren waren eingefroren und schienen nicht mehr verweht werden zu können. Als ich mich darüberbeugte, sah ich, daß es immer wieder dieselben Füße waren, die scheinbar ruhelos oder spielend zwischen den beiden Häusern in zahlloser Menge hin und wider liefen. Es war deutlich immer dieselbe Spur eines schmalen, nackten Kinderfußes. Und dieser hundertfältige Abdruck des Knabenfußes im Schnee der Dorfstraße sollte die Spur des Verbrechens sein, das ich aufklären sollte. Ich erinnere mich noch deutlich, wie mir unwillkürlich das Herz klopfte, als der mich begleitende Gendarm mir das zuflüsterte.

Und auch das weiß ich noch wie heute, wie plötzlich aus der mir von den Gendarmen freigegebenen Hütte ein unsinnig verzweifeltes Weib herausstürzte und, ohne auf die Gaffer zu achten, mitten auf der Straße stand und zu Boden stierte, bis sie sich schließlich niederwarf und den Abdruck des kleinen unbeschuhten Kinderfußes mit unablässigen Küssen bedeckte.

Erst am andern Tage konnte ich aus der Verzweifelten etwas herausbringen, wenig genug, aber doch hinreichend, um mich im Tiefsten zu erschüttern.

Aber ich will dieses wenige geordnet erzählen. –

Es gab seit drei Tagen keine Hütte im Dorf, in der nicht von dem gewaltsamen Tode des Forstläufers Anton gesprochen wurde. Es war kein Zweifel, daß er von einem Wilderer erschossen war, aber von dem Täter selbst fehlte jede Spur, und die vielen Vermutungen taten das ihrige, die allgemeine Verwirrung und Beängstigung zu vermehren. In dem ärmeren Teil des Dorfes, wo zumeist Holzfäller und Tagelöhner hausten, gab es wohl keine Hütte, an die sich der Verdacht nicht heranwagte. Daß dort soviel Wilddiebe wie Mannspersonen wohnten, wußte jedermann, und niemand hatte bisher etwas Besonderes dabei gefunden. Das war so gewesen seit jeher.

Zwei Tage lang war die Untersuchung mit der äußersten Heimlichkeit geführt worden. Als sich jedoch die besondere Spur, die man verfolgt hatte, als trügerisch erwies, entschloß man sich kurzerhand zu einer rücksichtslosen Haussuchung in den verdächtigen Hütten. Das Mittel war in Anbetracht der inzwischen verstrichenen Zeit hoffnungslos genug, aber es konnte wenigstens nicht mehr verderben, als schon verdorben war.

Ich will nicht erzählen von dem verbissenen Spott der Verdächtigten, nicht von dem Gezeter der Weiber und von den Flüchen der Männer. Genug, es wurde trotz aller Erregung und Verwirrung nichts zutage gefördert, das irgendeinen Anhalt gegeben hätte.

Der Tag ging früh zu Ende, und eine tiefe, graue Dämmerung sank über das Dorf. Es muß ein Abend gewesen sein wie der heutige. Der Schnee, der seit einigen Stunden unaufhörlich fiel, kam nicht in einzelnen wirbelnden Flocken oder zitternden Fäden hernieder, sondern es war, als ob Wolke auf Wolke schwer und leblos in kaum unterbrochener Folge herniedersänke. Wer im Dorfe geboren war, der wußte, daß man morgen kaum mehr einen Weg aus dem Flecken hinausfinden würde. Der Ort selbst war wie ausgestorben, nur hinter den dichtbeschlagenen Fenstern der beiden Dorfschenken schimmerte ein mattes Licht. Die Weiber sparten zu Haus das Öl und hockten in der Dämmerung in leise schwatzenden Gruppen um warme Kachelöfen und machten sich mit allerhand Vermutungen und alten Geschichten gruslich. Das Dorf hielt unter dem niedergehenden Schnee, der langsam wie in schweren Decken darüber hinsank, so still und tot, daß man hätte glauben können, der Himmel wolle den ganzen verfemten Ort unter ewiger Schneenacht begraben.

Auch in jenen kleinen Hütten am Ausgang des Dorfes, durch die die Haussuchung wie ein schreckhaftes Gespenst gegangen war, brannte noch kein Licht. Es war, als ob hier alles Leben unter dem lastenden Verdacht erstickt sei.

In einer dieser Hütten erwartete auch Frau Striegler den heimkehrenden Gatten, der noch nichts von der Schande wußte, die ihm widerfahren war. Sie saß mit ihrem einzigen Kinde, einem schmächtigen zwölfjährigen Knaben in der ärmlichen Hütte am erkalteten Herde, an dem wenigstens noch eine Erinnerung von Wärme zu haften schien. Zu der Arbeit, die ihnen durch lange Gewöhnung mechanisch von der Hand ging, bedurften beide kein Licht. Die Frau umwickelte kleine, papierene Christbaumsterne mit bunten Wollfäden, während der Junge weiße und gelbe Glasperlen zu Schnüren reihte, die man dann in der nächsten Stadt um ein Spottgeld als Christbaumschmuck verkaufte.

Der Mann, der im benachbarten Ort auf Tagelohn arbeitete, ließ ungewöhnlich lange auf sich warten, und die Minuten schlichen den Bedrückten träge und endlos hin. Der Kleine, dem das Treiben der Männer, die heute alle Winkel im Haus durchstöbert hatten, völlig unverständlich war, hockte verschüchtert in seiner Ecke und blickte wieder und wieder in die verweinten Augen der Mutter, die grübelnd vor sich hinstarrte und entgegen ihrer Gewohnheit die Hände lange Zeit untätig im Schoße ruhen ließ. Ab und zu wagte er sich mit einer scheu geflüsterten Frage hervor. Warum sie geweint habe? oder was die Männer heute gewollt hätten? Alsdann trieb ihn die Mutter unwirsch zur Arbeit an, und er reihte wieder mechanisch Perle an Perle, während ihm allmählich schwere Tränen die Augen zu füllen begannen.

Endlich vermochte er das drückende Schweigen nicht mehr zu ertragen, er ließ den Kopf hängen und fing bitterlich an zu schluchzen. Die Mutter zog ihn an sich heran und fragte ihn aus. Aber als er nun, um doch einen Grund für seine Tränen zu haben, wehleidig über den armen Anton zu jammern anfing, der ihm so schöne Vögel zu schnitzen gewußt hatte und der nun erschossen im Walde gefunden worden war, schob sie ihn fast heftig von sich und verbot ihm das sinnlose Weinen.

Und dann kam der Vater nach Hause. Aber er kam nicht allein. Er war begleitet von Nachbar Karst, der mit einer zahlreichen Familie das Häuschen jenseits der Straße bewohnte. Der Mann schien seltsam aufgeregt und ging ohne Gruß an Strieglers Frau vorbei in das große Hinterzimmer, das den Eheleuten als Wohn- und Schlafraum diente. Striegler ließ den andern voraus und schob seine Frau, die ihn tieferschrocken mit Fragen bestürmen wollte, hastig zurück. »Laß uns allein, Kathrin!« Es klang rauh und gewürgt und im selben Augenblick war er gleichfalls im Nebenzimmer verschwunden, dessen Riegel man ihn vorstoßen hörte.

Das arme Weib war erdfahl geworden und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Einen Augenblick verspürte sie den Drang, die Tür aufzureißen, aber dann schleppte sie sich wankend zum Herd zurück und ließ sich schwer auf einen Schemel fallen. Sie hatte Mühe, sich auf sich selbst zu besinnen. Aber die Ahnung, die sich ihr dann aufdrängen wollte, war so furchtbar, daß ihr der Herzschlag zu stocken schien. Sie vermochte nichts mehr zu denken, sondern starrte nur dumpf und regungslos auf die Glastür des Nebenzimmers, durch deren dünne Vorhänge jetzt der gelbliche Schein einer Öllampe schien.

So saß sie lange Zeit und merkte nichts davon, daß das Kind seit langem bettelnd an ihren Händen fingerte und ihre Backen streichelte. Erst als der zu Tode geängstigte Junge in ein lautes, nervöses Weinen ausbrach, erwachte sie aus ihrer Erstarrung, drückte erschrocken ihre Hand auf seinen Mund und zog ihn auf ihren Schoß.

Das Kind verstummte und starrte nun mit der Mutter auf die lichtbeschienene Scheibe wie auf eine gespenstische Erscheinung. Und doch war kaum etwas zu sehen oder zu hören. Man sah durch die dünnen Vorhänge nur etwas wie die dunklen Schatten zweier Männer, die am Tische saßen und die Köpfe zusammengeneigt hatten. In der tiefen angstvollen Stille konnte man hören, daß sie aufgeregt miteinander flüsterten, aber es war kein Wort zu verstehen. Nur bisweilen sah man, wie der eine oder der andere den Kopf mit einem straffen Rucke hochwarf oder wie sich einer erhob und ruhlos im Zimmer auf und nieder ging. Dann verstummte auch das Flüstern, und man hörte nichts als einen müden, schweren Schritt, der bisweilen aussetzte und zu überlegen schien. Der Schatten des im Zimmer auf und nieder Wandernden verschwand von der hellen Scheibe und erschien wieder darauf wie eine finstere Drohung.

Der Junge blickte lange Zeit wie gebannt auf die Scheibe und die Schatten, die der Mutter ein so tiefes Entsetzen einzustoßen schienen, und es packte ihn ein jähes, immer wachsendes Grauen vor dem Rätselhaften und Unheimlichen, das dicht vor seinen Augen geschah. Er war leichenblaß und zitterte wie Espenlaub, aber er vermochte nicht zu schreien noch zu weinen. Auch die Mutter rührte sich nicht, und wenn das Flüstern und die Schritte im Nebenzimmer erstarben, war es so still, daß man den Schnee draußen niedergehen hörte.

In eine solche Stille klang auf einmal der harte Schlag der Kirchenuhr. Die Frau zählte mechanisch, es waren elf Schläge. Da plötzlich schien sie das Kind zu bemerken, dessen Körper ihr zitternd und kalt wie der einer Leiche an der Brust lag. Sie stand auf und trug den Kleinen, der schlaff und willenlos alles mit sich geschehen ließ, in die Kammer, in der er zu schlafen pflegte, entkleidete ihn und deckte ihn zu. Dann hielt sie sich eine Weile, als ob ihr schwindle, an der kleinen eisernen Bettstelle, blickte in die heißen, hilflosen, bittenden Kinderaugen und beugte sich endlich nieder und küßte, was sie seit Jahren nicht getan, den Jungen lange, lange auf die Stirn. Unter der ungewohnten Liebkosung schien der Kleine aus seiner Erstarrung zu erwachen und fing bitterlich an zu schluchzen. Die Mutter ließ ihn ruhig gewähren und saß regungslos an seinem Lager, während er eng an sie geschmiegt an seinen Tränen schluckte und sein Körperchen unter dem stoßweisen Schluchzen erbebte. Bisweilen hielt er gewaltsam mitten im Weinen inne, und dann hörte man auch hier durch die dünne Brettertür das unheimliche Flüstern der Stimmen im Hinterzimmer.

Als der Junge endlich vor Erschöpfung in Schlummer fiel, ging die Mutter leise aus dem Zimmer und setzte sich wieder zum Herd. Und nun merkte sie erst, daß es bitterkalt war und saß fröstelnd und furchtsam im Dunkeln und wartete und wartete. So verrann langsam Minute um Minute. – –

Der arme Junge wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er tief in der Nacht mit einmal von dem knarrenden Geräusch einer Tür geweckt wurde. Er schlotterte noch von der Aufregung der wilden Träume, die ihn gequält hatten, und fühlte, daß seine Backen naß von Tränen waren. Er suchte sich auf sich selbst zu besinnen und fuhr plötzlich jäh zusammen, als die Stimme des Vaters im Nebenzimmer ihn zu sich selbst zurückrief.

»Kathrin, ich habe mit dir zu reden.« Die Stimme klang unnatürlich ruhig und seltsam kraftlos.

Striegler hatte eben seinen nächtlichen Gast aus dem Hause gelassen und war, mühsam nach Fassung ringend in das Zimmer zurückgekommen, in dem ihn sein Weib angstvoll erwartete. Der Frau entfuhr unwillkürlich ein Kreischen, als sie in des Mannes verstörtes Gesicht sah, in dem dicke Schweißtropfen standen.

Der unerklärliche Schrei der Mutter schnitt wie ein Messer in die Seele des Kindes. Und da klang wieder die hohle Stimme des Vaters, die barsch sein wollte und keine Kraft dazu hatte: »Halt's Maul! Soll der Junge aufwachen?«

Eine Weile war es sehr still, daß das Kind das Klopfen des eigenen Herzens hörte. Die Eltern mochten wohl aufhorchen, ob sich etwas in der Kammer rührte. Aber es regte sich nichts. Der Junge hockte, ohne seine Stellung zu verändern, totenstill vor Angst in seinem Bette. Erst als die Stimmen drüben wieder laut wurden, kletterte er wie ein Dieb von seinem Lager und preßte schlotternd vor Kälte und Bangigkeit sein Ohr horchend an die dünne Wand.

Und jetzt jagte sich drüben Rede und Gegenrede, bald die dumpfe, marklose Stimme des Vaters, und bald die angstvolle, zitternde der Mutter. »Sie haben das Gewehr gefunden. Im Wald droben.«

»Um Gottes willen, Du –«

»Schrei' nicht so!«

»Um Gottes Barmherzigkeit, was für ein Gewehr –?!«

»Dem Karst sein's.«

Eine lange Weile war's still, und diese Stille war, als ob jemand aufatme oder als ob jemand nach Mut und Atem ringe, war befreiend und bedrückend zugleich. Dem kleinen Horcher schlugen die Zähne aufeinander, daß er glaubte, man müsse es drüben hören. Mit einmal hatte er verstanden, wovon die Eltern redeten, und das Entsetzen würgte ihn an der Kehle.

Jetzt fing der Vater wieder an zu reden, und die Worte klangen etwas fester, so als ob er sein Weib an den Händen halte.

»Kathrin, der Karst hat's nicht getan... Es hat ein anderer sein Gewehr gehabt an dem Tag – –« Und wieder ein Ringen nach Atem. »Ich habe das Gewehr gehabt an dem Tag –«

»Gott, o Gott! Du – bist ein Mörder?!« Das gellte in kreischendem Entsetzen von dem Munde der Frau. Das Kind hatten beide vergessen. Und als der unglückliche Junge, vor dessen Augen sich alles im tollsten Tanze zu drehen schien, taumelte und kraftlos zu Boden stürzte, hörte niemand den dumpfen Fall des kleinen Körpers.

Drüben redeten sie weiter, wohl eine Stunde lang. Der Mann sprach davon, wie an Flucht nicht zu denken sei, weil sie alle seit Tagen beobachtet würden, sprach davon, daß die Kugel, die man aus des Forstläufers Lungen geschnitten habe, in das Gewehr passen werde, sprach davon, wie alles gekommen sei, plötzlich und ohne seinen Willen, als der Forstläufer ihn auf frischer Tat ertappte und auf ihn anhielt, sprach von dem, was unausbleiblich kommen werde und wie man's tragen müsse. Und die Frau wußte nichts, als zu schluchzen und zu jammern und sinnlos zu betteln, obgleich niemand da war, der die geringste Bitte hätte erfüllen können. Und der Mann sprach davon, daß er sich selber stellen wolle, ehe man den Karst als Besitzer des Gewehrs ermitteln und verhaften werde. – – –

So verging Viertelstunde auf Viertelstunde.

Der ohnmächtige Junge kam allmählich wieder zu sich. In das Gefühl einer völligen Leere, das er zuerst empfand, klangen erst fern und wirr, und dann lauter und deutlicher die erregten Stimmen der Eltern. Da mit eins hatte ihn das Schrecknis wieder mit seiner ganzen Furchtbarkeit in Bann. Das Stimmengewirr im Nebenzimmer klang nur noch wie ein sinnloses Rauschen und Brausen, in das er ebensowenig Ordnung zu bringen vermochte wie in seine Gedanken. Vor seinem fiebernden Gehirn jagte ein Bild das andere. Bald sah er den alten Anton im Kampfe mit dem Vater, bald sah er nichts als Blut, und dann wieder tauchte es daraus hervor wie die Gestalt eines Henkers, der dem Vater das Haupt abschlug, oder wie die Gestalt des alten Anton, der aus einer tiefen Wunde blutete und mit verzerrtem Gesicht drohte – – die schrecklichen Bilder nahmen kein Ende, er konnte ihnen nicht entfliehen – er durfte nicht schreien. – – –

Der Junge befand sich in sinnverwirrender Todesangst. Er wollte um Hilfe schreien und brachte kein Wort über die Lippen. Endlich raffte er sich auf, um in sein Bett zurückzukriechen und sich unter den Decken zu verbergen. Aber auch das vermochte er nicht. Es ging ihm, wie es einem wohl bisweilen in der Nacht geht, er vermochte, zumal in dem Taumel, der ihn beherrschte, unmöglich die Richtung zu finden, in der sein Bett stand. Er tappte durch das finstere Zimmer und tastete nach den Wänden, während das Grauen in ihm immer höher und entsetzlicher aufschwoll.

Er fuhr zusammen, als er schmerzhaft mit den Zehen gegen einen Stuhl stieß, aber das Entsetzen drohte ihn in die Knie zu werfen, als er jetzt den Vater sagen hörte: »Still –! Ich glaube, der Junge ist aufgewacht ...«

Er duckte sich zusammen und rührte sich nicht und empfand ein tödliches Grauen bei dem Gedanken, sein Vater könne zu ihm ins Zimmer treten und ihn anrühren. Es war ein Gefühl des Entsetzens, gegen das es keine Rettung gab. Und plötzlich merkte er an dem kalten Luftzug, der ihn anwehte, daß er dicht am offenen Fenster stand. Ohne zu wissen, was er tat, schwang er sich auf das Gesims und stand plötzlich mit klopfendem Herzen, nur mit dem Hemd bekleidet, auf der Straße, ohne ein Gefühl der Kälte.

Es ist ein müßiges Geschwätz, darüber zu reden, ob der Junge die sinnlose Torheit im Irrsinn oder aus Todesangst begangen hat. Wer wäre hier imstande, beides voneinander zu trennen!

Die Eltern lauschten noch geraume Zeit, und als alles still blieb, fuhren sie fort miteinander zu reden, müder jetzt und mutloser, noch lange Zeit, ohne zu ahnen, was das unselige Kind indessen für ein Martyrium litt. Wer begreifen will, was weiter geschah, der muß die zahllosen, irren Spuren der kleinen Füße mit Augen gesehen haben, die wie die Spur eines verlaufenen Kindes oder eines zu Tode gehetzten Tieres über die Straße herüber und hinüber liefen.

Es hatte aufgehört zu schneien, und der grauende Morgen brachte eine empfindliche Kälte. Aber noch empfand sie der Junge nicht. Er stand einen Augenblick wie betäubt auf der Straße, und vielleicht geschah es zufällig, daß sein Blick auf das Haus des Nachbars fiel. »Der Karst –« durchzuckte es ihn, und er lief auf das Haus zu, bis er davor stand und nun plötzlich empfand, daß er nicht wußte, was er da solle. Es war nur das instinktmäßige Gefühl gewesen: dort ist einer, der um all deinen Jammer weiß, dort ist einer, der helfen muß. Nun empfand er seine Torheit; was tat er hier mitten in der Nacht vor verschlossener Tür? Und dann lief er zurück zu der elterlichen Schwelle, über die ihn das Grauen getrieben hatte, das ihn jetzt nur noch stärker anhauchte. Nur nicht wieder dahin zurück! nur nicht zurück dahin, von wo er entflohen war! Und so lief er vom Elternhaus zum Nachbarhaus und vom Nachbarhaus zum Elternhaus, und griff beim Karst an den Klingelzug und ließ ihn zitternd wieder fahren. Und nun empfand er die bittere Kälte. Er drückte sich weinend gegen die Schwelle des Vaterhauses, und die Angst vor dem Sterben in Nacht und Kälte jagte ihn wieder auf. Hier oder dort mußte er unterschlüpfen. Aber wo? Bald entschloß er sich hierfür, bald dafür, und immer wieder schien das Gewählte das Grauenvollste und das andere das Leichtere zu sein. Und so ging das jammervolle Hasten hin und her, hin und her ... Und zuletzt wußte er nicht mehr, was er tat, er lief wie ein toller Hund, der nirgends Ruhe findet, hierhin und dorthin, bis er endlich taumelnd zusammenbrach. –

So mochte er etwa ein halbes Stündchen gelegen haben, als einer der streifenden Gendarmen, der die Straße passierte, ihn wenige Schritte vor dem Vaterhause ohnmächtig auffand. Er erschrak jäh über das unbegreifliche Bild, beugte sich zu dem Knaben nieder, den er gut kannte, und befühlte den steifgefrorenen Leib. Schon wollte er seinem ersten Impuls folgen und an der Türglocke des Strieglerschen Hauses läuten, als er sich der Gefährlichkeit seiner Lage bewußt wurde. Er überlegte einen Augenblick, dann setzte er seine Signalpfeife an den Mund, die seinen in der Nähe streifenden Kollegen herbeirief. Kopfschüttelnd entschlossen sich endlich die beiden, die Strieglers zu wecken.

Und dann spielte sich in dem dämmerig-kalten Morgen eine Szene ab, die mit ihrem Jammer das halbe Dorf aufweckte und zusammenlaufen ließ.

Als Frau Striegler, die zuerst gleich ihrem Mann an eine Überrumpelung glaubte, begriffen hatte, worum es sich handelte, vergaß sie alle Vorsicht und alle Furcht, die sie eben noch um ihren Mann empfunden hatte. Sie warf sich händeringend über den vermeintlichen Leichnam ihres Kindes und schrie ihrem Manne vor all den Fremden leidenschaftliche Anklagen ins Gesicht:

»War's denn noch nicht genug, was Du getan?! Sieh her, daran bist Du schuld! Du bist schuld! Auch Dein Kind hast Du gemordet –!« sie wußte kaum, was sie tat.

Der Mann hatte indessen kaum für einen Augenblick die Besinnung verloren. Leichenblaß zwar, aber straff aufgerichtet, stand er in der Tür seines Hauses und blickte auf das Durcheinander. Er sah die Blicke, die ihm die Dörfler zuwarfen, sah, wie die Gendarmen bereits die ersten Absperrungen vornahmen, und er wußte, daß alles verloren war. Aber es berührte ihn nicht mehr. Es sah einen Augenblick aus, als wolle er zu seinem Kinde gehen, aber dann zögerte er wieder und warf den Kopf auf; er wollte all den Gaffern, die von fern standen, nicht das Schauspiel bieten, wie die Frau den Mann von der Leiche des Kindes zurückstieß. So ging er ruhig auf die Gendarmen zu. »Macht's kurz, Leute! Ich habe den Anton erschossen und entlauf' euch nicht mehr. Aber seht erst nach dem Kinde, ob ihr's noch mal zum Leben bringt.«

Dann wurde er abgeführt. Er mühte sich, den Neugierigen trotzig ins Gesicht zu sehen, da bemerkte er, wie einer sich vorbeugte und seinen Nachbar anstieß, und wie beide auf den Schnee der gesperrten Straße niederblickten. Und er sah zu Boden und sah die zahllosen Abdrücke des kleinen Fußes. Da befiel ihn ein Zittern, und er stöhnte auf. – –

Er sollte Frau und Kind nicht wiedersehen.

Die Frau machte ihrem Leben gewaltsam ein Ende, und die schwere Erkrankung des Knaben wich einer stümperhaften Heilung, die nur den Leib zu retten vermochte. Die milde Güte des Pfarrherrn nahm das verwaiste Kind ins Haus, aber was ist all das Unglück gegen das lebendige Leid, das unter uns wandelt! Was will es heißen, daß die Ärzte versichern, das unglückliche Kind habe in seinem Dämmerzustand keine Spur von Erinnerung an das Vergangene! Was will das heißen, wenn ein Blick in die müden, hoffnungslosen Augen des schwermütigen Knaben, dessen ruheloser Schritt jetzt zu meinen Häupten erklingt, mir sagt, daß diese arme hindämmernde Seele nichts ist als ein ewiges Gefühl leidvoller Ratlosigkeit? nichts als eine endlose Trauer, die ihn bis zu seiner Auflösung verzehren wird? Seine Seele ist wie eine Uhr, die in der schmerzvollsten Schicksalsstunde stehen blieb, um von nichts mehr zu erzählen als von dieser einen, traurigen Stunde, Um ihn herum wirft das Leben, das er seit jener Nacht, in der es ihn vergewaltigte, nicht mehr versteht, seine Wellen, als wäre nichts geschehen. Selbst die Liebe, die dem Unglücklichen entgegengebracht wird, scheint er nicht zu empfinden. Ist dieser Gedanke nicht wie eine mahnende Vaterhand, die sich warnend auf unsere Schulter legt?

Guter Pfarrherr, du weißt, wie hoch ich dir's anrechne, daß du damals nach der seltsamen Entlarvung des verbrecherischen Wildschützen nicht von der Kanzel herab über Gottes unerforschlichen und allweisen Ratschluß salbadertest, der die Wahrheit auch durch Kinder und Unmündige an den Tag bringt; aber tiefer noch würde ich dich verehren, wenn du von den Augen deines hinsiechenden Hausgenossen jene Predigt abzulesen und zu verkündigen verständest, daß wir unsere Herzen rein bewahren sollen, weil ein einziger Fehltritt Wunden schaffen kann, die alle irdische und himmlische Liebe nicht wieder zu schließen vermag.

Ich habe heute gesehen, daß deine Pfarrkinder auch schon an diesem Knaben vorübergehen können, ohne daß ihr Herz zu ihm spricht. Sie gehen an ihm vorbei, blind und stumpfsinnig, wie wir an allen Rätseln und Offenbarungen des Lebens vorübergehen.


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