Gustav Theodor Fechner
Essays
Gustav Theodor Fechner

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Die Welt ist nicht durch ein ursprünglich schaffendes, sondern zerstörendes Prinzip entstanden

Die wichtigste Entdeckung der neuern Philosophie besteht unstreitig in der dialektischen Methode, ja man kann sagen, daß mit ihr die Philosophie sich eigentlich selbst erst entdeckt hat. Aber so hoch sie es auch mittelst dieser Methode gebracht hat, hoffe ich doch, alle bisher dadurch gemachten Entdeckungen durch den Beweis vorstehenden Satzes zu krönen und hiemit die Philosophie selbst noch eine Stufe über ihren gegenwärtigen Standpunkt zu erheben.

Zuvor aber will ich versuchen, den noch Uneingeweihten einen kurzen Begriff von der dialektischen Methode und den Vorteilen derselben zu geben.

Die dialektische Methode läßt sich bezeichnen als die Kunst, zuvörderst Rechts in Links dadurch zu verwandeln, daß man zeigt, ein bloßes Rechts widerspreche sich selbst. Nachdem nämlich das Rechts dies eingesehen hat, schlägt es sofort durch Selbstbewegung in Links als Nicht-Rechts um. Dann ferner das so gewonnene Links wieder in Rechts zu verwandeln dadurch, daß man zeigt, ein bloßes Links widerspreche sich selbst. Nachdem nämlich das Links dies eingesehen hat, schlägt es sofort durch Selbstbewegung wieder in Rechts als Nicht-Links um. Hierdurch ist man dann endlich zu einem Rechts gekommen, welches zwar dasselbe als das erste Rechts scheint, aber doch, bei Strafe dem gemeinen Menschenverstande anheimzufallen, nicht damit zu verwechseln ist, da es ja die Aufhebung und höhere Wahrheit des Links und die höhere Einheit oder Identität des Rechts und Links zugleich, der konkrete Begriff des Rechts, die Wiedereinkehr des Rechts in sich selbst, das seinem Begriffe gemäß gewordene Rechts, die Zusammenschließung des allgemeinen Rechtsbegriffs mit dem Besondern im Einzelnen, gleichsam die Blüte zur Knospe des Links und zum Stengel des ersten Rechts ist.

Wer dies alles, wie nicht anders zu erwarten, wohl begriffen hat, hat hiermit das ewige Verhältnis von Links zu Rechts begriffen und kann fortan, wenn er an einen Scheideweg kommt, unmöglich mehr irren, da, wenn er auch den linken Weg einschlüge, er den rechten aufgehoben mit ginge, Irrtum aber nur die höhere Wahrheit der Wahrheit selbst ist, auch im dialektischen Prozeß nichts darauf ankommt, wohin das gleichgültige verschwindende Moment der Beine, sondern nur wohin der ewige Begriff der Beine kommt.

In anderer Weise kann man auch die dialektische Methode erklären als die Selbstbewegung des Begriffs im Blauen. Der Dialektiker setzt nämlich seinen Begriff ins Blaue, gibt ihm das Negationszeichen als Stock in die Hand und sagt: jetzt mache deinen Weg! Der Begriff findet nichts, worauf sich im Blauen zu stützen, und macht eine Zeit lang vergebliche Anstrengungen, von der Stelle zu kommen; endlich fällt er auf das rechte Mittel, ergreift den Stock und prügelt sich selbst damit von der Stelle; jeder Schlag treibt ihn nämlich einen Schritt vorwärts in der Richtung, die er selber zu gehen Lust hat, ohne daß sich der Dialektiker noch darum zu kümmern und etwas anderes dazu zu tun nötig hat, als das Blaue recht weit und rein zum ungehinderten Fortschritt des Begriffs zu erhalten; was vor allem nötig macht, alles empirische Wissen bei Seite zu räumen.

Die vorige Schilderung ist freilich in so fern nicht ganz treffend, als der Begriff die Negation, mittelst deren er sich im dialektischen Prozeß fortzuhelfen hat, auch aus sich selbst zu nehmen, und weniger in die Weite zu schreiten, als in die Höhe zu erheben hat. In der Tat soll mit dem dialektischen Prozeß durchaus nichts vor sich gebracht werden, nur um die Höhe, immer um die Höhe ist es dem Dialektiker zu tun.

In diesem Betracht nun kann man vielleicht die dialektische Methode noch passender als das Kunststück des Menschen erklären, der sich an seinem Nichtmenschen den Zopf selber aus dem Sumpfe zieht; woher auch offenbar der Ausdruck des Sichselbstaufhebens des Begriffs entlehnt ist. Freilich muß man, da die ganze Bewegung das Prädikat der Ewigkeit tragen soll, nicht erwarten, solche in endlicher Zeit erfolgen zu sehen, sich also auch nicht irren lassen, wenn man nach einiger Zeit den Mann immer noch mit der Hand am Zopfe im Sumpfe stecken sieht. Gewiß ist, daß die ewige Idee, sich darüber emporzuheben, ihn bei seinen Anstrengungen ewig durchdringt, und auf die Idee kommt es überall bei der dialektischen Methode nur an. Endlich reißt doch der Zopf los; die Idee fällt von sich selbst als Natur ab, welche im Sumpfe stecken bleibt, den Fröschen und Molchen d. i. Naturforschern zur Beute, indes der mit dem Zopfe herausgezogene Geist triumphierend in die Höhe geht und die Dialektiker als dienende Engel um sich sammelt.

Eine nähere Erörterung der Vorteile, welche die dialektische Methode zu gewähren vermag, wird dienen, ihr Wesen noch mehr ins Licht zu setzen. Ich betrachte zuvörderst einige praktische.

Einen leeren Beutel kann man dialektisch ganz einfach dadurch zu einem vollen machen, daß man ihn wiederholt umwendet. Zwar hält jeder Dialektiker bloß das Geld aus seinem eignen Beutel für gültig; aber er braucht auch kein anderes, da er es sich eben so beliebig selbst machen, als selbst damit bezahlen kann.

Eine Treppe kann man dialektisch ganz wohlfeil aus einer einzigen Stufe bauen, indem man die erste immer wieder wegnimmt und auf sich selbst setzt. Zwar glaubt man beim Hinansteigen einer solchen Treppe auf Nichts zu treten; aber man kommt doch oben an, und das ist die Hauptsache. Anfangs schwindelt man; zuletzt geht es in Sprüngen.

Sein Vieh mästet man dialektisch dadurch, daß man es wiederholt sich selbst auffressen läßt. Die dialektische Fütterung besteht nämlich nicht darin, dem Tiere Futter in die Krippe zu legen, sondern ihm das Futter möglichst zu entziehen. Hierdurch zwingt man dasselbe endlich, vor Hunger sich Selbst aufzufressen, und nach jeder Selbstverschlingung kommt es noch einmal so dick als vorher zum Vorschein, was man beliebig fortsetzen kann.

Seinen Oberboden füllt man dialektisch dadurch, daß man leeres Stroh mit leerem Stroh drischt, und insbesondere auch seine Schüler dazu anhält. Je leerer das Stroh, desto mehr gibt es beim Dreschen her, und die ganze Schwierigkeit liegt nur darin, das Stroh wirklich vorher ganz leer zu machen; indes gewöhnt sich der dialektisch bebaute Acker allmälich daran, gleich bloß leeres Stroh zu tragen.

Sogar dem Tierreich ist die dialektische Methode zu empfehlen. Ein gewöhnlicher Hund kommt nicht vom Flecke, wenn er sich in den Schwanz beißen will; ein dialektischer Hund aber kommt um die ganze Welt, indem er seinem Schwanze von vorn nachläuft, was unstreitig zu seiner Ausbildung viel beitragen muß.

So viel von den praktischen Vorteilen, welche die dialektische Methode zwar noch nicht geleistet hat, aber theoretisch durchaus zu leisten im Stande ist. Kommen wir jetzt zu den theoretischen Vorteilen, welche sie eben dadurch wirklich geleistet hat, daß sie sich über den Stand erhoben, praktische wirklich zu leisten, insbesondere zu denjenigen, welche uns selbst für unsere wissenschaftliche Aufgabe, der wir nun näher treten, zu statten kommen sollen.

1) Die Begriffe verlieren durch Behandlung mittelst der dialektischen Methode gänzlich ihre bornierte Steifheit und indem sie selbst nicht mehr wissen, wo ihnen der Sinn steht, werden sie dadurch um so geeigneter, in jeden Sinn des Philosophen einzugehen, wie der Falke erst schwindlich gemacht werden muß, um sich nach dem Sinne des Jägers brauchen zu lassen. Indem nämlich der Begriff sich selbst in eine höhere Region aufhebt, hebt er zugleich seine frühere Bedeutung in so fern auf, daß sie nicht mehr stattfindet, aber zugleich auch in so fern, daß er sie wie andere gut aufgehobene Sachen immer wieder beliebig hervorsuchen kann, so daß nicht nur der Begriff des Aufhebens, sondern überhaupt jeder Begriff in der dialektischen Methode mindestens drei Bedeutungen hat, wovon je zwei einander gerade entgegengesetzt sind, und von denen man vorkommenden Falls sich die passendste auslesen kann. Man sagt in dieser Beziehung auch, die dialektische Methode mache die Begriffe flüssig, und sieht es als ein Zeichen ihrer geschickten Anwendung an, wenn sie alles Handgreifliche zwischen den Händen zerlaufen läßt. Wem des Flüssigen zu viel wird, dem steht es frei, es mit der Streusandbüchse der Herbart'schen einfachen Wesen, die Gott zu diesem Behuf mit der dialektischen Methode zusammen geschaffen, auszutrocknen.

2) Die dialektische Methode gewährt durchaus absolute Evidenz und Wahrheit; da nun jeder Philosoph, indem er die Begriffe nach seinem Sinne braucht, eine andere absolute Wahrheit findet, so hat die dialektische Methode vor der mathematischen, die bei jedem Gegenstande nie über eine absolute Wahrheit hinaus kommt, den wesentlichen Vorzug, daß durch sie das Gebiet der absoluten Wahrheiten außerordentlich erweitert wird. Bekanntlich heißt das große Gebot der Wahrheit: eure Rede sei ja ja, nein nein; indem nun immer ein Dialektiker ja ja, ein anderer dagegen nein nein ruft, entwickelt sich so die absolute ewige Wahrheit mit jedem Widerspruch in ihr immer weiter.

3) Die absolute Evidenz und Wahrheit der dialektischen Methode hindert daher auch nicht im geringsten, Alles, was der Erfinder dieser Methode, der große Hegel, mittelst derselben gefunden, für irrig und falsch zu erklären, mit einziger Ausnahme der Methode selbst; ja es wird dies, wenn nicht die Philosophie zu einem starren, toten, verknöcherten Wesen werden soll, mit der Zeit sogar unumgänglich nötig. Dies gibt Jedem, der die dialektische Methode nach ihrem Meister gebraucht, den Vorteil, viel größer als der Meister selbst zu werden, indem er das von ihm Gefundene mitselbst derselben Methode wieder aufhebt, durch die es dieser gefunden, natürlich mit schuldiger Danksagung dafür, daß er, der Meister, ihn die absolut wahre und sichere Methode gelehrt habe, sich selbst von ihm aufheben zu lassen.

Von diesen Vorteilen der dialektischen Methode, insbesondere dem letzten, mache ich nun auch meinerseits im folgenden Gebrauch, indem ich zur Sache komme.

1. Um die ganze Hegel'sche Philosophie mit einem Male durch einen Hauptschlag über sich selbst zu erheben, hebe ich gleich von vorn herein die ganze Grundlage derselben in ihr Gegenteil auf, was offenbar durch den   Entwicklungsgang der absoluten Idee jetzt eben gefordert ist, da es sonst jetzt nicht geschähe. Hegel geht von der absoluten Position des Seins aus, um sie zur Negation aufzuheben; der zeitgemäß gewordene Umschlag verlangt also, daß man künftig von der absoluten Negation des Seins auszugehen anfange, um sie in die Position aufzuheben. Dies rechtfertigt sich nach den Gesetzen der dialektischen Aufhebung zum Höhern zwar von selbst, kann aber auch für den gemeinen Menschenverstand so bewiesen werden, daß daraus nachmals dessen eigene Aufhebung in das Gegenteil entsteht, wodurch noch in anderer Beziehung das Hegel'sche System vervollkommt wird. Denn nach diesem ward bisher gefordert, daß man gleich von vorn herein mit Zurücklassung des gemeinen Menschen-Verstandes in die Philosophie hineinspringe, was Vielen, bei denen dies Erbübel zu fest sitzt, den Eingang sehr erschwerte; da die natürliche Eingangsweise, wodurch die Philosophie zur Weltphilosophie werden muß, doch nur die sein kann, den gemeinen Menschen-Verstand, womit Jeder anfängt, sich durch sich selbst um sich selbst bringen oder in sein philosophisches Gegenteil umschlagen zu lassen, welchem Erforderniß, wie man sehen wird, das Folgende vollkommen genügt.

Ich sage also, um mich anfangs an den gemeinen Menschen-Verstand zu wenden: eine reine Position mag sich anstrengen wie sie will, sie wird es aus sich selbst nie zu einer Negation bringen; es sei denn, daß sie ihr zuvor heimlich in die Tasche gesteckt worden wäre. Dagegen braucht die reine Negation bloß ihr eignes Wesen an sich selbst zu betätigen, sich auf sich selbst zu reflektieren, sich selbst zu negieren, so schlägt sie sofort von selbst in das reine positive Wesen als ihr Widerspiel um, welches nach dialektischen Prinzipien, wo gegenüber und drüber dasselbe ist, auch ihr Höheres ist. Indem sie nun dasselbe Spiel an sich selbst wiederholt, kommt sie hiermit immer weiter oder höher; und produziert dabei Materie und Geist, Süd- und Nordpolarität, kurz alle Sätze, Gegensätze und aufgehobene Gegensätze der Welt. Trifft sie aber ja unterwegs einen Punkt, wo sie nicht mehr vorwärts zu kommen weiß, so gerät sie außer sich,Nach Hegel bekanntlich im Umschlagen des absoluten Begriffes zur Natur. dann geht es wieder.

In der Tat, was kann aus der Negierung einer Negation anderes herauskommen, als ein positives Etwas. Negiert sich aber dies Etwas, so wird nach dem Geiste der dialektischen Methode nicht wieder die erste Negation daraus, sondern das Etwas schlägt in sein Gegenteil um, indem der einmal gewonnene Begriff des Etwas in dem neuen Produkte als aufgehobener stecken bleiben muß. Negiert sich dieser Gegensatz des Etwas wieder, so wird nicht das vorige Etwas, sondern, da es ja immer aufwärts geht, ein schon höher potenzirtes Etwas daraus, in dessen Auffindung sich der Scharfsinn des Philosophen zu beweisen hat. Dieses schlägt wieder in seinen Gegensatz um u. s. f., bis die ganze Welt mit allen Positionen und Negationen, die sie einschließt, da ist.

Natürlich nun ist eine Negierung an sich selbst nichts Schaffendes; sie wird es eben nur dadurch, daß sie sich selbst negiert, hiermit ihr eignes Wesen aufhebt, zerstört. Daß sie dies aber tut, muß in ihrem Wesen selbst liegen; denn warum täte sie es sonst; also ist Zerstörung, Selbstzerstörung, nicht Schöpfung das Urprinzip der Welt. Indem das zerstörende Prinzip anfangs nichts fand als sich selber, woran es seine zerstörende Macht äußern konnte, zerstörte es sein zerstörendes Wesen selbst und ward so erst zum schöpferischen Prinzip. Wie hätte dagegen umgekehrt aus einem schöpferischen Prinzip durch Betätigung seiner selbst an sich selbst ein zerstörendes Prinzip hervorgehen können, was doch in der Welt eben so gut als das schöpferische Prinzip vorkommt; denn alles, was in der Welt entsteht, vergeht auch wieder.

Hiemit hätte ich meine Aufgabe und zugleich die Pflicht erfüllt, welche jedem dialektischen Philosophen obliegt, Gott, der in Betreff der Einsicht in sich und seine Werke nun einmal ganz auf den dialektischen Philosophen gewiesen ist, darüber aufgeklärt zu haben, wie er eigentlich sich und die Welt geschaffen, gezeigt zu haben, welches der Anfang vor dem Anfang sei.

Natürlich konnte nach Vorigem auch das erste Licht nur aus der Negation des Lichts, dem Dunkel, ja aus einem Dunkel, was noch dunkler war, als alles heutige Dunkel, nicht umgekehrt geboren werden; es konnte nur als Selbstaufhebung dieses Dunkels, als Schatten des absoluten Schattens entstehen, daher auch die Alten ganz richtig alles aus der Nacht geboren werden ließen. Sofern nun die im Menschengeiste zum Selbstbewußtsein kommende dialektische Methode demselben nur ein höheres Licht anzündet, kann das Licht, was dadurch dem Menschen zu Teil wird, als der Schatten vom Schatten eines Schattens angesehen werden, wobei zwar der gemeine Menschenverstand nichts sehen kann, der daher ein Talglicht immer vorziehen wird, wohl aber der Schatten des Schattens vom Schatten des gemeinen Menschenverstandes.

Und hiermit gewinnt diese Schrift, welche mit dem einfachen Schatten anhob und mit der dritten Potenz des Schattens endigt, passend selbst ihren dialektischen Schluß als ein in sich zurücklaufender Schatten.

 


 


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