Gustav Theodor Fechner
Essays
Gustav Theodor Fechner

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Öffentliche Sitzung am 18. Mai 1849 zur Feier des Geburtstags Seiner Majestät des Königs

Herr Fechner sprach über die mathematische Behandlung organischer Gestalten und Prozesse.

Manche Philosophen sind geneigt, der exakten Behandlung organischer Verhältnisse den Spielraum oder die Berechtigung durch die Behauptung zu verkümmern, daß die organischen Verhältnisse einer mathematischen Behandlung an sich nicht oder doch weniger unterliegen, als die unorganischen. Erstere unterwerfen sich, letztere überheben sich einer solchen Behandlung.

Und es mag, wenn man beide Gebiete oberflächlich gegen einander hält, – wenn man die Leistungen der Mathematik eben so oberflächlich auffaßt – wohl scheinen, als ob diese heutzutage noch ziemlich verbreitete Ansicht im Rechte sei. Aber im Interesse einer exakten Naturforschung liegt, daß sie es nicht sei. Und so ist meine Absicht, im Folgenden durch einige Erörterungen zu zeigen, wie sie in der Tat auf nicht hinreichender Kenntnis des Geistes und der Befähigung mathematischer Methoden beruht. Außerdem mag sie mit an einer nicht allzu triftigen Weise, das organische und unorganische Gebiet sich gegenüberzustellen, hängen. Aber dies bleibe hier dahingestellt. Halten wir uns vielmehr hier nur an einige Punkte, die überhaupt von keiner philosophischen Ansicht über das Verhältnis zwischen Organischem und Unorganischem Maß annehmen können, sondern eher selbst mit maßgebend dafür sein müssen.

Der beschränkende Einwurf, gegen den wir uns zu wenden haben, läßt sich meines Erachtens auf folgende zwei Hauptgesichtspunkte zurückführen: erstens, daß die Freiheit, mit welcher der Geist oder ein, wie immer zu fassendes, ideelles Prinzip in Gestaltung und Bewegung des Organischen walte, einer mathematischen Bestimmbarkeit desselben widerstrebe. Die Mathematik finde ihren Angriff nur in einem Reiche des Seins und Geschehens, das Gesetzen unterliege, welche den Charakter der Notwendigkeit tragen, und der Geist oder das ideelle Prinzip durchbreche solche stets durch sein freies Wirken. Indem aber die Freiheit des Ideellen Einfluß auf das Materielle gewinne, nehme dieses selbst den Charakter des Freien und also Unbestimmbaren an.

Zweitens: daß die organischen Formen, Entwicklungen, Bewegungen, z. B. die Physiognomie eines Gesichts, der Entwicklungshergang in einem Ei, die Verwickelung der Bewegungen in unserm Körper, sich ihrer eigentümlichen Natur nach incommensurabel zur mathematischen Bestimmbarkeit verhalten. So wenig ein strenges Verhältnis zwischen Durchmesser und Peripherie eines Kreises angebbar, so wenig könne durch eine mathematische Formel eine organische Form oder ein organisches Verhältnis genau repräsentiert werden; das Organische werde stets ein Zuviel oder Zuwenig, kurz etwas nicht Zutreffendes gegen das, was sich mathematisch davon aussagen lasse, behalten. Es mag sein, daß der zweite Gesichtspunkt sich mit dem ersten in Beziehung setzen oder von ihm abhängig machen läßt, indes wollen wir hier beide einer besonderen Betrachtung unterwerfen, da doch nicht jeder die Unbestimmbarkeit des Organischen durch Mathematik von Freiheitsgründen ableiten möchte.

Was nun den ersten Gesichtspunkt anlangt, so müßte der daher entnommene Einwand allerdings gewichtig erscheinen, wenn man zu glauben hätte, daß der Geist, die Seele, das ideelle Prinzip, was ich hier aus allgemeinstem Gesichtspunkt nicht scheide, selbst ein rein gesetzloses Wesen sei, und dergleichen Treiben vollführe, was ganz regellos in die Prozesse des Körpers hineinstöre. Wenn man dagegen zugibt, – und im Allgemeinen wird dies überall nur unter verschiedener Fassung zugegeben – daß das organische Bilden und Tun selbst nur sei es der Erfolg oder der äußere Ausdruck eines im Ganzen ordnungsmäßigen ideellen Wirkens ist, so wird von einem ordnungslosen Hineinstören des Geistes in den Körper überhaupt nicht die Rede sein können, sondern die ideelle Ordnung wird selbst auch zum Erfolg oder Ausdruck eine Ordnung im Materiellen oder Leiblichen haben müssen. Nun aber erklärt man eine solche Ordnung selbst für eine freie, das ihr innewohnende Gesetz für ein sozusagen flüssiges, eine Indetermination noch einschließendes, was zwar dem Gange des Geschehens allgemeine Normen setzen, einen allgemeinen Charakter aufdrücken, aber innerhalb dieser Normen, dieses Charakters das ihm Unterliegende nicht hindern könne, sich noch im Besondern unbestimmbar frei zu gestalten, zu entwickeln, zu äußern, von den Gesetzen eines notwendigen Kausalablaufs zu emanzipieren. Und hierdurch komme eine Unbestimmtheit in das Organische, wodurch der Mathematik der feste Boden und sichre Angriff geraubt werde.

Zur Entgegnung will ich hier nicht auf die spinöse Streitfrage über den Vorzug des Determinismus oder Indeterminismus eingehen. Begreiflich, wenn der erste Recht hätte, fiele dieser ganze Einwand von selbst weg. Und es gibt vielleicht eine Fassungsweise des Determinismus, gegen welche die gewöhnlichen Einwände, die ihm gemacht werden, nicht Stich halten. Aber es ist nicht nötig, auf solcher Ansicht zu fußen, unsere Freiheit irgendwie zu beschränken, um der Mathematik ein freieres Spiel zu sichern. Sondern lassen wir die Voraussetzung des Indeterminismus, um hiermit kurz jede den Determinismus abweisende Ansicht zu bezeichnen, gelten. Es möge wirklich aus Freiheitsgründen eine Unbestimmtheit in das organische Geschehen kommen, die sich vom Geistigen auf das Körperliche reflektiert. Nur daß nicht alles unbestimmt im Organischen durch Freiheit werde. Und dies behauptet denn doch, wie wir schon erinnert, niemand. Wie könnte sonst auch von Gesetzen der Logik, Psychologie, Physiologie und einem Charakter des Menschen, der durch alle seine Handlungen durchgeht, die Rede sein. Gibt es aber eine Gesetzmäßigkeit im Geistigen, die sich durch allen unbestimmten und unbestimmbaren Fluß und Wechsel der geistigen Phänomene forterhält und im Fluß und Wechsel der leiblichen Phänomene widerspiegelt, so weit sich Geistiges überhaupt im Leiblichen spiegelt, so verliert die mathematische Behandlung keineswegs ihren sicheren Angriff. Vielmehr sind wir in betreff der Anwendung der Mathematik auf das Organische dann um gar nichts schlimmer gestellt, als in der Anwendung auf das Unorganische in allen den unzähligen Fällen, wo die Bedingungen des Geschehens uns nur teilweise bekannt sind. Auch hier tritt eine Unbestimmtheit ein; aber diese Unbestimmtheit, anstatt die bestimmte Anwendung der Mathematik aufzuheben, gibt ihr bloß eine besondere Form, welche das Maß und die Art der Unbestimmtheit selbst in bestimmter Weise einschließt.

In der Tat vermag die Mathematik das nur teilweise oder von gewisser Seite Bestimmte so gut, ja, man kann sagen, so scharf zu fassen, als das Vollbestimmte, indem sie für die Unbestimmtheit selbst auch ihre Ausdrücke (in unbestimmten Funktionen, Gliedern, Koeffizienten, Exponenten) hat, die in Kombination mit dem Bestimmten jedwede Unbestimmtheit oder Freiheit der Regel oder Regel der Freiheit repräsentieren können. Die Formeln, die so entstehen, entbehren so wenig aller Bestimmtheit als der Charakter eines freien Menschen. Sie lassen in der Anwendung eine unbestimmbare Menge Möglichkeiten zu, zwischen denen sie nicht entscheiden, aber sie lassen nicht alle Möglichkeiten zu, vielmehr nur solche, welche sich innerhalb des allgemeinen Charakters halten, der durch das, was in und an der Formel bestimmt ist, repräsentiert wird. Ob aber dann das Unbestimmte wirklich von Freiheit oder ob es von unserer Unkenntnis der Bedingungen abhängt, kann der Mathematik gleich sein; sie weiß und hat darüber nicht zu entscheiden; aber eben deshalb kann ihr auch aus irgendwelcher Entscheidung darüber keine Beschränkung erwachsen.

Um durch ein möglichst einfaches Beispiel zu erläutern, daß solche Behandlungsweisen bei aller Unbestimmtheit, die sie in der Lösung der Probleme lassen, doch von gewisser Seite wieder ganz bestimmte und schätzbare Resultate liefern können, so betrachte man die Bewegung einer in Schwingung versetzten tönenden Saite. Es würde nicht möglich sein, die Art, wie sie angeschlagen, gezerrt, gestrichen wird, um sie ins Tönen zu versetzen, welche teils sehr wechselnd, teils sehr unregelmäßig sein kann, und wonach sich auch die Bewegung der Saite selbst ändert, überall in Rechnung zu nehmen, auch würde dies für jeden Fall eine neue Bestimmung erfordern. Für diese Unbestimmtheit der Ursachen und mithin auch Folgen wird nun ein unbestimmter Koeffizient in die Formel eingeführt, durch welche man die Bewegung der Saite darstellt, und es bleibt mithin in gewisser Beziehung durch die Formel ganz unbestimmt, wie sich die Saite bewegt, es bleibt ihr sozusagen freigestellt, wie sie sich bewegen will, oder wie wir sie bewegen wollen. Aber doch nicht nach jeder Beziehung frei, denn wie sie sich auch bewegen will, sie muß, so lange sie dieselbe und in derselben Weise gespannte Saite bleibt, dieselbe Schwingungszahl und mithin dieselbe Tonhöhe beibehalten; sie kann insofern bei aller Freiheit nicht aus ihrem Charakter fallen, wobei übrigens nichts hindert, daß diese Tonhöhe diesen oder jenen Klang (timbre) abhängig von feineren Modifikationen in Beschaffenheit der Saite mitführe; was wieder Sache des von uns bis jetzt Nichtbestimmbaren ist.

Ein anderes Beispiel: Wenn man einen Wimpel an einem Schiffsmaste im Winde flattern sieht, so erstaunt man über die mannigfaltigen Bewegungen und Formen, welcher derselbe fähig ist. Es findet eine nicht berechenbare Freiheit oder eine Unbestimmtheit derselben statt, welche die Physiognomie der Freiheit hat; ein Tier, ein Mensch macht bei weitem nicht so mannigfaltige, so wenig vorauszusehende Bewegungen. Doch sind diese Bewegungen, Formen nicht absolut unbestimmt. Die Dimensionen, das Gefüge, die Befestigung des Wimpels setzen den Bewegungen so gut gewisse Schranken, als Menschen und Tieren durch die festen Bedingungen ihrer Organisation geistig und leiblich zugleich gesetzt sind. Es liegt aber ganz im Geiste der Mathematik, Formeln angeben zu können, welche die ganze unbestimmte Möglichkeit jener Bewegungen zugleich mit jenen Schranken derselben, wodurch sie in gewisse Grenzen eingeschlossen werden, repräsentieren. Hat man auch dergleichen Formeln nicht in Bezug auf Schiffswimpel, so hat man sie doch für äquivalente Fälle.

Vielleicht am einfachsten ist es, daran zu erinnern, wie die allgemeine Gleichung z. B. einer Ellipse es noch gänzlich frei läßt, welche von den unendlich verschiedenen möglichen Arten der Ellipse man verzeichnen wolle; aber der allgemeine Charakter der Ellipse ist dadurch fest bestimmt. Will man größere Freiheit, so nehme man die allgemeine Gleichung der Kegelschnitte; so wird es nicht nur freigestellt sein, welche Art Ellipse, sondern auch welche Art Parabel, Hyperbel man zeichnen will, nur aus dem Charakter des Kegelschnittes kann man nicht fallen. Will man noch größere Freiheit, so nehme man die allgemeine Gleichung einer Kurve höherer Ordnung, so wird die Wahl zwischen den verschiedenen Formen nicht nur dieser Ordnung (die Mannigfaltigkeit wächst aber mit der Höhe der Ordnung), sondern auch aller niederen Ordnungen freistehen, sofern jede allgemeine Gleichung höherer Ordnung die Gleichungen aller niederen als besondere Fälle mit einschließt; aber Kurven noch höherer Ordnung (über der gegebenen) werden so gut außer dem Gebiete dieser Freiheit liegen, wie der Mensch bei aller Freiheit sich zu keinem höheren Wesen als eben einem Menschen machen kann. Aber auch die Freiheit, in Niederes überzugehen, kann beliebig beschränkt, ja ganz abgeschnitten vorgestellt werden und nur eine Freiheit der Variation in irgendwelcher höheren Ordnung bleiben, wenn man das Bestimmte demgemäß einrichtet (den Koeffizienten der höheren Glieder nicht gestattet, Null zu werden)Den leitenden Gesichtspunkt obiger Ansicht über die Anwendbarkeit des mathematisch Unbestimmten zur Repräsentation des Freien schöpfte ich zuerst aus einem Gespräche mit meinem verehrten Freunde Prof. Wilh. Weber; da mir der Gedanke an die vielfachen Lösungen, welche Gleichungen höheren Grades gestatten, anfangs näher lag. Unstreitig aber verdient die obige Auffassung den Vorzug..

Kommen wir auf den zweiten Einwand, welcher der ist, daß die organischen Formen, Entwicklungsvorgänge, Bewegungen ihrer Natur nach incommensurabel zu einer mathematischen Fassung seien. Die Physiognomie eines Gesichts soll sich, selbst abgesehen von den Veränderungen, welche die Freiheit in den Zügen hervorbringen kann, nicht ebenso genau durch eine Formel repräsentieren lassen, als die Gestalt des Erdkörpers oder eines Kristalls; der Entwicklungshergang eines Hühnchens im Ei oder die Verwicklung der Blutbewegungen in unserem Leibe nicht ebenso mathematisch darstellen lassen, als der Lauf eines Planeten um die Sonne usw.

Für den ersten Anblick, wenn man das Organische in seinen verwickeltsten Formen dem Unorganischen in seinen einfachsten Formen gegenüberstellt, scheint diese Behauptung etwas für sich zu haben. Ja, man kann wirklich und ganz allgemein zugestehen, daß, welche selbst der einfacheren organischen Formen oder Bewegungen man überhaupt in Betracht ziehen mag, sich für keine einzige eine endlich abgeschlossene mathematische Formel finden wird, durch welche sie genau ausgedrückt werden kann; und man kann dies, wenn man will, wirklich eine Incommensurabilität des Organischen zur mathematischen Bestimmbarkeit nennen. Nun aber zeigt sich näher besehen, daß diese Incommensurabilität den unorganischen Naturformen und Bewegungen ganz ebenso zukommt. Sie kommt den Naturformen und Bewegungen überhaupt und nach demselben Prinzip zu. Das rein Mathematische liegt überall bloß in unserer Vorstellung. Nicht einmal im Dreieck, was auf den Erläuterungstafeln unserer mathematischen Lehrbücher verzeichnet ist, ist es zu finden. Liegt also hier eine Beschränkung für die Mathematik, so bildet sie wenigstens keinen Unterschied zwischen Organischem und Unorganischem. Andererseits hat die Mathematik Mittel, diese Beschränkung ins Unbestimmte zu vermindern, und dies verhält sich wieder gleich in beiden Gebieten.

Die Erde z. B. pflegt mathematisch als eine Kugel oder als ein Sphäroid dargestellt zu werden, welches beides unter endliche Formeln rein faßbare Gestalten sind; aber man vernachlässigt, abgesehen von größeren Ungleichförmigkeiten, zu deren Erkenntnis die neueren Gradmessungen geführt haben, Berge und Täler dabei; die Kristalle werden als durch ebene Flächen regelmäßig begrenzte Solida betrachtet, aber man vernachlässigt kleine Unregelmäßigkeiten dabei, die verhältnismäßig mindestens so groß sind, als die Berge im Verhältnis zur Erde. Also selbst bei diesen scheinbar so einfachen Naturgestalten nur Approximationen. Nun mag aber andererseits die Gestalt, welche vorliegt, noch so kompliziert und unregelmäßig, ja willkürlich verwirrt sein, so steht es stets in der Macht der Mathematik, Formeln aufzustellen, welche die Approximation immer weiter treiben. Es bedarf dazu nur immer komplizierterer und mühsamer zu berechnender Formeln, ja, über gewisse Grenzen wird die Arbeit zu beschwerlich, ohne daß das Prinzip weiterer Annäherung an sich eine Beschränkung erleidet.

So hat man die gröbste Approximation für die Gestalt der Erde, wenn man sie geradezu als Kugel faßt, und dem entspricht die einfachste Formel; eine größere Approximation gewährt es schon, sie als elliptisches Sphäroid zu fassen; dies fordert schon eine kompliziertere Formel; es hindert nichts, Formeln aufzustellen, ja, das Prinzip dazu ist bekannt, welche jede Bergeshöhe und Talvertiefung mit einschließen würden, aber die Formel würde unsäglich weitläufig und die Sammlung der Beobachtungen wie die Arbeit, sie zu berechnen, menschlich unausführbar werden, und immer noch würden die einzelnen Felszacken und Talgruben nicht in die Formel aufgenommen sein; auch diese könnte man aufzunehmen versuchen, aber jede Felszacke hat wieder kleine Rauhigkeiten usf. So kommt man nie zu Ende.

Ganz ebenso im Organischen. Unmöglichkeit völlig genauer Bestimmung, aber Möglichkeit fortgesetzter Annäherung bis zu jedem beliebigen Grade. So ist, um zuerst einfachere Fälle zu betrachten, die gröbste Annäherung der Eiform ein elliptisches Sphäroid; man kann von jedem Ei wirklich das elliptische Sphäroid angeben, welchem es am ähnlichsten ist. Allem Anschein nach genau wird die Kurve des Eies dargestellt durch eine mit der Ellipse verwandte Kurve vierten Grades, welche Steiner bestimmt hat, und deren allgemeine Formel alle verschiedensten Formen der Vogeleier, welche vorkommen können, unter sich befassen magDa vielleicht jemand hiervon Veranlassung nimmt, die Eier ausführlicheren Untersuchungen in dieser Beziehung zu unterwerfen, so teile ich die von Steiner aufgefundene Formel (nach seinen mir mündlich gegebenen Notizen) gelegentlich mit. Seien u und v die Radii vectores einer Ellipse, c eine konstante Größe, so ist die Gleichung der Ellipse bekanntlich u + v = c; die der Eikurve aber ist u + mv = c, wo m auch eine Konstante ist. Die Eikurve unterscheidet sich also bloß darin von der Ellipse, daß statt der Summe der beiden Radii vectores die Summe des einen und eines bestimmten Verhältnisteils vom andern eine konstante Größe ist. Je nachdem m und c und der Abstand der Brennpunkte verschieden gewählt werden, entstehen verschiedene Eikurven, und nach diesen verschiedenen konstanten Werten würden sich dann möglicherweise die Vogeleier unter verschiedene Klassen stellen. Steiner sagte mir, daß er (durch Tatonnement) die Koinzidenz eines Eies (wenn ich nicht irre, Truthahneies) mit einer unter diese Formel gehörigen Kurve (wie ich mich zu erinnern glaube, für den Wert m = 2) bewährt habe. Umfassendere und methodisch angestellte Versuche würden aber sehr erwünscht sein. Transformiert man die obige Gleichung für rechtwinklige Koordinaten, so stellt sich der vierte Grad der Gleichung leicht heraus..

Aber doch immer nur genau insofern, als man die kleinen Unebenheiten des Eies dabei vernachlässigt, wie man die Berge auf der Erde vernachlässigt. Auch für manche Schneckenhäuser hat Prof. Naumann schon die Formeln angegeben, durch welche der Zug ihrer Gestalt, abgesehen von den kleinen Unebenheiten derselben, die überhaupt nicht in das Maß fallen, genau dargestellt wirdEs dürfte von Interesse sein, folgende Stelle aus dem Eingange einer Abhandlung dieses gründlichen Naturforschers (Über die Spiralen der Conchylien, in den Abhandl. der Jablonowsk. Gesellsch. S. 153) hier mitgeteilt zu finden: «Denn es offenbart sich in den meisten dieser Schalgehäuse eine so bewundernswerte Regelmäßigkeit der Gestaltung, und in den Gehäusen einer und derselben Spezies eine so vollständige, bis in das kleinste Detail zu verfolgende Wiederholung desselben Gestaltungstypus, daß diese organischen Gebilde, in Bezug auf Gleichmäßigkeit und Übereinstimmung ihrer spezifischen Konfiguration, die Kristalle der anorganischen Natur bei weitem übertreffen. Ganz vorzüglich aber und in höchst überraschender Weise gibt sich uns diese Geometrie der organischen Natur in den nach gewissen Spiralen oder Spiralschraubenlinien aufgewundenen Conchylien vieler Gasteropoden und Cephalopoden zu erkennen; und wer sich nur einigermaßen mit der Betrachtung solcher Formen beschäftigt hat, ja wer nur einmal den zentralen Durchschnitt eines Nautilus zu bewundern Gelegenheit hatte, dem wird sich unwillkürlich die Überzeugung aufgedrängt haben, daß in diesen Conchylien eine strenge mathematische Gesetzmäßigkeit walten müsse, welche sie eben sowohl als einen Gegenstand der Messung und Rechnung erscheinen läßt, wie die Kristallformen des Mineralreiches..

Man sagt vielleicht, dies sei wohl bei solchen Anfängen der Organisation möglich, ja die man selbst noch halb zum Unorganischen rechnen möchte (Eischale, Schneckenschale), obgleich sie doch durch organische Lebenskräfte gebildet sind. Aber es ist selbst beim menschlichen Gesicht nicht anders. In der Tat hindert gar nichts, wenn man die Mühe nicht scheuen will, für jedes menschliche Gesicht eine Approximationsformel aufzustellen, nach welcher sich das Gesicht mit einem solchen Grade der Genauigkeit würde verzeichnen lassen, daß es jeder vollkommen getroffen nennen würde; und durch Verwandlung gegebener Größen aus dem gegebenen Gesicht ebenso jedes andere zu machen, als man durch Verwandlung gegebener Größen in der Formel einer bestimmten Ellipse aus dieser jede andere Ellipse machen kann. Jeder, der mit der analytischen Geometrie und den Methoden, Beobachtungen zu Formeln zu kombinieren, etwas vertraut ist, wird wissen, daß die Methoden hierzu nicht fehlen. Es würde sich nur darum handeln, eine hinreichende Menge Messungen an dem Gesicht vorzunehmen und diese durch irgendeine Interpolationsformel zu kombinieren. Immer nur eine Annäherung, aber die zu jeder Grenze weiter getrieben werden könnte.

So würde eine Sammlung Porträts berühmter Männer in vollem Ernste durch eine Reihe Formeln, aus a, b, c ... x, y, z vertreten werden können, wonach jeder, der die Sache versteht, im Stande wäre, die Porträts ganz treffend wiederherzustellen. Nur daß die unsägliche Arbeit, diese Formeln zu entwerfen, und der Umstand, daß sie ja doch erst in Zeichnung übersetzt werden müßten, um etwas Anschauliches zu gewähren, dies immer unpraktisch erscheinen lassen wird. Inzwischen würde für reine Profilzeichnungen die Arbeit wohl ausführbar sein, und es wäre möglich, daß man durch Vergleichung der Formeln für Gesichter oder Schädel verschiedener Rassen und Charaktere interessante Beziehungen gewönne, was ich hier nur gelegentlich andeute. Nach dem Geiste der analytischen Geometrie ist z. B. gewiß, daß in dem Maße, als sich das Profil des Gesichts der griechischen Idealform nähert, und in dem Maße, als es sich der tierischen Form nähert, eine andere Veränderung in den Konstanten seiner Gleichung eintritt. Es wäre denkbar, daß bei dem vollen griechischen Profil irgend ein Maximum- oder Minimumwert eintrete, sei es für diesen oder jenen Koeffizienten oder dieses oder jenes Verhältnis der Koeffizienten untereinander. Hätte man nun auch nur gefunden, welchen Werten die Natur bei ihren Annäherungen an die Idealform annäherungsweise zustrebt, so würde man dann eine Formel a priori mit den vollen Idealwerten bilden und hiernach die genaue Idealform verzeichnen können. Ich führe dies natürlich nicht als einen Vorteil für die Ästhetik an, aber als ein erläuterndes Beispiel, was für die Mathematik in diesem Felde erreichbar ist.

Man könnte den Einwand machen, nur der grobe materielle Zug der Form lasse sich auf solche Weise fassen, aber nie der feinere geistige Ausdruck. Allein richtig wäre nur, zu sagen: nie der feinste. Es fällt dies eben damit zusammen, daß auch von der Physiognomie des Erdkörpers usw. sich nie das Feinste mathematisch fassen läßt. Dagegen würde sich z. B. der verschiedene Ausdruck eines Gesichts in Schmerz, Freude, Zorn, Liebe usw., sofern er ja auf deutlich angebbaren Unterschieden in der Gestaltung der Gesichtszüge beruht, recht wohl mathematisch fassen, und das noch Feinere, Individuellere des Ausdrucks in unbestimmbarer Annäherung verfolgen lassen. Denn daß der feinste geistige Ausdruck ein Gesicht doch seiner materiellen Form nach nicht an sich unverändert läßt, wird ja jeder zugeben; nur die Messung und Verfolgung des Feinsten wird zu schwierig und erschöpfend unmöglich.

Bei Charakterisierung der Menschenrassen nach der Schädelform pflegt man nur einzelne Linear-Dimensionen in Betracht zu ziehen; etwas viel Charakteristischeres würde man auch ohne genaueste Bestimmung der Schädelform erhalten, wenn man untersuchte, welche Kurven zweiter Ordnung, oder, wenn man weitergehen will, welche Kurven höherer Ordnung gegebenen Durchschnitten des Schädels am nächsten kommen. Denn obwohl kein Schädeldurchschnitt und kein Teil eines Schädeldurchschnittes etwa eine wahre Ellipse oder Eiform darstellt, so ist doch gewiß, daß jeder Schädel bei gegebenem Durchschnitt einer gewissen Ellipse, einer gewissen Eikurve näher als jeder andern kommt; und so würden sich auch für die mittleren Schädelformen jeder Rasse charakteristische Durchschnittskurven finden lassen.

Sollte wirklich eine wissenschaftliche Physiognomik und Cranioskopie möglich sein, so möchte in der Vergleichung der physiognomischen und cranioskopischen Gleichungen verschiedener Menschen der Keim dazu liegen, weil alle Verhältnisse der Gesichts- und Schädelform in allen ihren Abänderungen und im vollständigsten Zusammenhang auf bestimmteste Weise durch solche Gleichungen ausdrückbar und in einer Weise verfolgbar und bezeichenbar werden, wie es durch bloße Auffassung mittelst der Anschauung und Bezeichnung mittelst der gewöhnlichen Terminologie nie möglich ist. Fände man aber auf solchem Wege nichts von konstanten und brauchbaren Resultaten in Betreff jener Lehren, so würde jeder andere Versuch, dieselben wissenschaftlich zu begründen, von vornherein als noch vergeblicher anzusehen sein, ohne daß inzwischen hiermit die Nutzbarkeit solcher Behandlungsweise für andere Fälle und Zwecke ausgeschlossen wäre. Überhaupt ist das Feld der organischen Morphologie eines der Gebiete, auf dem man sich von der Mathematik künftig noch einmal große Leistungen zu versprechen haben dürfte, da es freilich jetzt zu bebauen erst angefangen worden.

Um nach so manchem, was in dieser Beziehung erst zu erwarten, noch einiger wirklichen Erfolge zu gedenken, erinnere ich u. a. an die Bestimmung der Krümmungen der durchsichtigen Teile des Auges sowie der Netzhautkrümmung, die man teils sphärischer, teils ellipsoidischer, teils paraboloidischer Form gefunden hat; welche Bestimmung für jede feinere Theorie des Sehens wesentlich ist; ferner an die Untersuchungen über die Spiral- oder Quincunxstellung der Blätter, wodurch eine genauere Einsicht in die Gesetzlichkeit der morphologischen Verhältnisse der Pflanzen gewonnen ist.

Bei allen vorigen Betrachtungen haben wir die organischen Gestalten als feste genommen; aber sie sind veränderlich, entwicklungsfähig. Kann nun die Mathematik auch diesen Veränderungen folgen? Ein Jeder, der mit mathematischen Methoden vertraut ist, wird wohl wissen, daß, wenn man die Formeln für die Gestalt eines organischen Wesens als Funktion der Zeit aufstellt, der Entwicklungsgang jeder organischen Gestalt für die Zeit, durch die man ihn verfolgen will, in der Tat ganz ebenso mathematisch dargestellt werden kann, als die Beschaffenheit der Gestalt für irgendeinen bestimmten Zeitpunkt, zwar wieder nie völlig genau, aber mit beliebig wachsender Annäherung. Es gilt wieder nur, die Beobachtungen hinreichend zu vervielfältigen und zur Formel zu kombinieren. So könnte der Entwicklungsgang der Gestalt eines Hühnchens im Ei durch eine besondere Formel dargestellt werden, und durch Änderung von Konstanten in der Formel der Entwicklungsgang jedes andern Hühnchens, ja jedes andern Vogels. Nur die praktische Ausführung ist zu schwierig.

Um an etwas wirklich Ausgeführtes zu erinnern, was hierher gehört, erwähne ich der Untersuchungen von Bravais über das Wachstum der Kiefern in die Dicke (in den Mém. de l'Acad. de Bruxelles. T. XV.) und von Harting über das Wachstum des Hopfens in die Länge (in Tydschrift voor natuurlyke geschiedeniss en Physiologie. T. IX.)Ein Auszug aus obigen beiden Untersuchungen findet sich in Wiegmann's Archiv f. 1844. II. S. 38 und 40. Die Formel für das Wachstum der Kiefer ( Pinus sylvestris) in die Dicke ist folgende: r = an/(1-bn) , wo r den mittleren Durchmesser der Bäume, n die Zahl der Jahre des Wachstums bedeutet; a ist ungefähr dem mittleren Halbmesser der Holzschicht des ersten Jahres gleich, b ist nach den Bodenverhältnissen verschieden..

In beiden Fällen ist bloß eine Dimension des Wachstums in Betracht gezogen; aber nach gleichem Prinzip kann man auch beliebig viele Dimensionen des Wachstums ins Maß nehmen, und es ist immer möglich, die so gefundenen Bestimmungen zu einer allgemeinen Formel zu kombinieren, welche das Gesetz des Wachstums nach allen Dimensionen zugleich, und somit (bis zu beliebiger Annäherung) für die ganze Pflanze umfaßt.

Dasselbe, was für organische Gestalten und Entwicklungen gilt, läßt sich auch ganz ebenso auf jede Art organischer Bewegungen übertragen, und auch in diesem Bezug fehlt es nicht an schon wirklich fruchtbaren Anwendungen der Mathematik, z. B. in der Lehre von den Bewegungen der Gliedmaßen, der Blutbewegung usw.

So ist also die mathematische Bestimmbarkeit im Gebiete des Organischen ganz ebenso gut vorhanden, als in dem des Unorganischen, und in letzterem eben solchen oder äquivalenten Beschränkungen unterworfen, als in ersterem, und nur, sofern die unorganischen Formen und das unorganische Geschehen sich einer einfacheren Gesetzlichkeit mehr nähern, als die organischen, kann die Approximation im unorganischen Gebiete leichter und weiter getrieben werden, als im organischen. Dies wäre der ganze, sonach rein relative, Unterschied. Inzwischen läßt sich nicht einmal behaupten, daß dieser Unterschied immer dieselbe Richtung zwischen beiden habe, denn wie es im Hauptzug sehr einfache Grundformen und Grundverhältnisse im Organischen gibt, so gibt es andererseits auch sehr verwickelte Formen und Verhältnisse im Unorganischen. Ein Felsstück hat oft eine viel weniger regelmäßige Physiognomie als ein menschliches Gesicht, gewiß weniger als ein Ei, und die Gesamtheit der meteorologischen Prozesse auf unserer Erde möchte wohl größere Verwicklungen darbieten, als die der organischen Prozesse in den einfachsten Tieren und Pflanzen, obwohl es auch bei jenen an Approximationsformeln im Einzelnen nicht fehlt. Denn alle einzelnen Witterungsverhältnisse sind nach ihrem allgemeinen Zuge schon unter solche gebracht.

Allgemein kann man sagen, daß jede denkbare Form und jeder denkbare Gang von Bewegungsprozessen mit völliger Genauigkeit mathematisch repräsentierbar ist durch eine konvergierende unendliche Reihe, ja durch verschiedene Formen unendlicher Reihen; nur daß die Kunst des Mathematikers dahin gehen muß, solche Reihenformen aufzufinden, welche schon mit der geringsten Zahl Glieder die größte Approximation gewähren, d.h. den Hauptzug der Gestalt oder Bewegung genau treffen. So läßt sich die Gestalt der Erde genau durch eine unendliche Reihe ausdrückbar halten. Bleibt man bei den ersten Gliedern stehen, so wird man die Gleichung eines reinen Ellipsoides haben usf.

Aus allgemeinstem Gesichtspunkte ist zu erinnern, daß alles, was materielle Größen-, Distanz-, Lagen-, mithin auch Form-, ferner Gewichts-, Bewegungsverhältnisse betrifft, sowie der zeitliche Übergang jedes solchen Verhältnisses in ein anderes, wie auch alle Gesetze, die sich hierauf beziehen, an sich mathematisch, d. h. nach Größenverhältnissen und mittelst Größenverknüpfungen bestimmbar sind; und man sieht durchaus nicht ein, was das unorganische Gebiet in dieser Beziehung vor dem organischen voraus hätte.

Nachdem sich dies nun so verhält, kann es für die Anwendbarkeit der Mathematik als völlig gleichgültig erachtet werden, ob die Regeln, nach denen das Organische sich gestaltet, entwickelt, geschieht, mit denen übereinstimmen , die für das Unorganische gelten. Gesetzt, es ist nicht der Fall, so wird man diese Regeln für das Organische besonders aufzusuchen haben. Es wird eine besondere Morphologie, Mechanik des Organischen entstehen, auch wenn man will, der nun einmal für die unorganische Gleichgewichts- und Bewegungslehre übliche Ausdruck Mechanik nicht mehr anwendbar bleiben; man wird dann natürlich auch nur die in dieser neuen Lehre gültigen Gesetze anwenden dürfen; aber die Mathematik wird darum, daß neue Gesetze des materiellen Geschehens eintreten, noch nicht im Mindesten ihren Angriff darauf einbüßen, sofern nur überhaupt von der Freiheit nicht völlig verschlungene Gesetze irgendwie bleiben, welche auf materielle Verhältnisse Bezug nehmen.

Mit Fleiß und Bedacht habe ich bei dieser ganzen Darlegung vermieden, über das Sächliche der Freiheitsfrage und der Frage nach dem Verhältnis zwischen Organischem und Unorganischem eine Entscheidung geben zu wollen, ja in die Erörterung dieser Streitfragen überhaupt einzugehen, da es vielmehr darum zu tun war, zu zeigen, wie die Möglichkeit, das Organische einer mathematischen Behandlung zu unterwerfen, von der Stellung und Entscheidung jener Fragen ganz unabhängig ist. In der nicht allwärts stattfindenden Klarheit über diesen Punkt scheint mir in der Tat einiger formeller Gewinn zu liegen , indem sich der exakte Forscher hiernach in Betreff der Anwendbarkeit des größten Hilfsmittels, daß er zur genauen Darstellung und Verknüpfung der Erscheinungen kennt, ganz unbeirrt und unabhängig von allen philosophischen Streitigkeiten über jene Fragen finden kann. Mag es eine Freiheit in indeterministischem Sinne geben oder nicht, mag das Organische ganz anderen oder denselben Gesetzen unterliegen, als das Unorganische; nur die Form der Anwendung, nicht die Anwendbarkeit der Mathematik selbst kann dabei beteiligt sein. Aber auch die Form der Anwendung wird sich nicht nach philosophischen Diskussionen, sondern nach der Sachlage und den Kenntnissen von der Sachlage der organischen Verhältnisse in derselben Weise richten können, als es von jeher bei exakter Behandlung der Verhältnisse des Unorganischen der Fall gewesen. Hierüber würde sich noch manches sagen lassen, worauf ich indessen hier nicht weiter eingehe, nachdem die Hauptabsicht dieses Vertrags mit Vorigem erledigt ist.

 


 


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