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Achtes Kapitel.
Die Fahrt nach Paris

1

Zuerst war es weiter nichts, als daß der alte Hackendahl am Bahnhof Wannsee Neugierige in schwarzen Massen sich drängen sah. Fahnen wehten, die neue deutsche und die französische Flagge, Militär war da, Musik spielte, und nun stieg auch noch ein Redner auf das Pult und redete ...

Gustav Hackendahl konnte das alles von seiner Droschke ausgezeichnet sehen. Er sah auch das Frauenzimmer im schwarzen Reitdreß, das auf einem Braunen saß. Das Frauenzimmer schien, wenigstens so aus der Ferne, nichts Besonderes, aber der Braune sah gut aus.

Een hübschet Pferdchen, dachte Gustav. Ville zu schade für so ein Frauenzimmer. Det wär wat vor meene Droschke.

Bei einem Taxichauffeur holte er Nachrichten ein. »Wat is denn los?« fragte er.

»Na, Justav«, sagte der Chauffeur, der ihn natürlich, wie alle Berliner Chauffeure, kannte. »Du kommst wohl immer mehr vom Monde! Das ist doch die, die von Paris rüberjeritten is, uns zu besuchen. Ja, det hat se gemacht, immer auf dem Zossen. Der Zosse hätte ich nicht sein mögen, und der ihr Hinterster hätte ich ooch nich sein mögen. Aber nu haben sie's glücklich alle beede ausjestanden, und nu werden se jefeiert ...«

»Jefeiert ...? For wat denn?«

»Na, Justav, deine Leitung müßt 'nen Elektriker haben! Der könnt die janze Stadt Balin damit versorjen! Det sie von Paris rüberjeritten is! Darum wird se jefeiert! Den janzen Wech, und immer bloß uff dem Zossen!«

»Un det is allens? Dafor son Trara?! Na, Mensch, det mach ick und mein Blücher noch alle Tage! Und ick bin fast siebzig! Wenn's weiter nischt is, von Berlin nach Paris – det können wir ooch, wat, Blücher?«

»Denn mach man, Mensch!« lachte der Chauffeur, und zu den anderen Fahrern, die horchend dazugekommen waren: »Hört euch das bloß an! Justav will mit seine Droschke nach Paris fahren, vabrüdern ...«

»Ja, Mensch, Justav, det mach!«

»Da wird dein Blücher aber heiße Füße kriejen, Justav!«

»Mit 'ner Droschke, det is noch besser als Reiten!«

»Ick hör immer Paris. Du meinst doch det Paris, det jleich beim Spandauer Krug liecht, wat, Justav?«

»Immer eisern, Justav! Dir broochen se in Paris jar nich erst aus Eisen zu jießen, dir stellen se jleich so uff'n Sockel, Justav, du hältst!«

»Ick weeß nich«, sagte Gustav Hackendahl erstaunt, »wat ihr euch uffpustet?! Findt ihr wat dabei? Wenn ick det will, denn mach ick det. Und ick jloobe, ick will ...«

Nachdenklich ging er wieder zu seiner Droschke und kletterte auf den Bock. Aus der Ferne sah er, wie der Empfang weiterging. Es kam noch ein ganzer Schwarm von Reitern, begrüßte die Pariser Reiterin, hüllte sie ein, wie die Sonne von Wolken eingehüllt wird – und der Zug setzte sich in Bewegung, in die Stadt hinein, die Musik voran. Die Leute schrien hurra ...

Ick weeß nich, dachte Gustav, ob die in Paris ooch Droschken haben. Aber wenn, det müßte jroßartig sind, so fuffzig Droschken uff eenen Hümpel. Det war doch noch mal wat anderes als immer die Autos – vorne wie wegjehackt sehn se ja doch aus, de Leute möjen saren, wat se wollen ...

Dann bekam er Fahrgäste, drei Fahrgäste, und hatte im Trabe dem Reiterzug nachzufahren. Und hörte sie hinter sich reden: »Allerhand Hochachtung vor dem Frauenzimmer! – Is ja doch 'ne Leistung! – Ja, die Franzosen – haste jesehn, quittengelb ins Jesichte, aber helle wie Jraf Koks!«

Und dachte so sachte, seinen Rappen in Trab haltend: So könnten se nu von dir reden, Justav! Janz wie damals mit dem Fuhrhof wär et ja nich, een bißken Varrücktheit is schon dabei. Aber et wär doch mal wat anderet als det ewije Droschkenfahren – nu mach ick det balde vierzig Jahre! Det wär doch eene Abwechslung – un wenn ick denn nach Frankreich komme, könnte ich jleich Otton mal besuchen ... Ick weeß nich, manchmal denk ick jetzt doch, er war ja nich so dußlig, und von Pferden hat er ooch wat vastanden ...

So gingen seine Gedanken, immer mit dem Zug mit. Und wenn er hörte, wie die Leute hurra schrien, und wenn er sah, wie das Gewühl der Begrüßenden gegen das Brandenburger Tor zu immer dicker wurde, so dachte er: Justav, sei helle, kiek dir det an! Valleicht wird det wat ...

 

2

Der eiserne Gustav hätte die Pariser Reiterin wohl nie gesehen ohne seine Tochter Sophie. Die hatte es dahin gebracht, daß er wieder alle Tage Droschke fuhr. Als Droschkenkutscher sah er den Besuch aus Paris und machte sich Gedanken.

Sophie hätte ja nicht die kühle, berechnende, liebeleere Sophie sein müssen, um es nicht, je länger je mehr, als Last zu empfinden, daß sie, die Herrin der ständig sich vergrößernden Privatklinik, bloß einen Droschkenkutscher zum Vater hatte. Und daß dies alle Patienten erfuhren, nicht einmal durch die Schwestern, das hätte sie bald durch ein Machtwort verhindert, sondern durch den Vater selbst. Der konnte es nicht schnell genug allen Menschen erzählen, daß er der älteste Droschkenkutscher Berlins und der eiserne Gustav sei und daß die Oberin seine Tochter wäre ...

»Bloß früher war se man een Plättbrett, so'n richtiger Miesling – die hat sich erst im Kriege so rausjemacht. Wie die Leute saren: Dem einen sein Tod is dem andern sein Brot. Na ja, det sollte ick ja woll nich saren. Sie sind ja hier ooch Patient, und die Sophie lebt von Ihre Krankheit ...«

Sophie war nicht einmal ganz sicher, daß dies bloß Altersgeschwätz vom Vater war. Oft schien es ihr, als sei es reine Bosheit von ihm, als wolle ihr der Vater eins versetzen oder sie ducken. Wenn ihr solch Geschwätz mal wieder zu Ohren gekommen war und sie ihn zur Rede stellte, sagte er ganz gemütlich: »Aber wat denn, Mächen, wat denn? Ick bin'n Droschkenkutscher, un du hast dir mächtig rausjemacht, det is die reine Wahrheit! Oder genierst de dir, det de bloß di Tochter von'n Droschkenkutscher bist? Ick kann ja saren, det ick noch'n Fuhrhof mit Stücker dreißig Droschken jehabt habe, damals, wie de jeborn bist. Nee, richtig, wie de jeboren bist, waren's noch nich so ville. Aber ick kann Muttern fragen, det ick denn ooch jenau die richtige Zahl sare ...«

»Du sollst überhaupt nicht mit den Patienten reden! Du sollst sie bloß spazierenfahren.«

»Na aber nu! Die sprechen mir doch an! Ick tu, wat die willst, Sophie – also sag, ick soll das Maul halten, wenn die mich anquasseln!«

»Du weißt gut, was ich meine. Meinetwegen sag ihnen, daß du der eiserne Gustav bist, obwohl ich das nicht sehr geschmackvoll finde, aber daß du grade jedem erzählst, die Frau Oberin ist deine Tochter ...«

»Ick sage immer: Frollein Oberin – oder haste'n Mann jehabt, Sophie?«

So gingen die Streitereien. Sophie wurde immer weißer vor Wut, aber der alte Mann blieb ganz gemütlich. Altersgeschwätzig, Wichtigtuerei, Bosheit ... Oh, wie gerne wäre sie ihn wieder los gewesen!

Wenn ich ihn doch erst wieder los wäre! dachte sie oft; doch kam sofort als zweiter Gedanke: Aber es muß von ihm ausgehen!

So versuchte sie, ihn auf Umwegen vom Hals zu kriegen. Die Patientenfuhren wurden seltener, aber die Fuhren von Kohle und Asche und Uringläsern, die Vater nicht mochte, wurden häufiger.

Aber war sie listig, war er schlau. Manchmal hatte sie das Gefühl, er durchschaute sie völlig, als sei sie für ihn aus Glas, und dies war kein angenehmes Gefühl. Zudem jammerte es sie in ihrer Genauigkeit, daß Fuhrwerk und Pferd, für ihr Geld, nicht ausgenützt wurden. Sie gewöhnte sich daran, selbst in der Droschke zu fahren, trotzdem sie zehnmal lieber zu Fuß gegangen wäre. Aber sie glich den Leuten, die sich im Restaurant ein Essen bestellt haben, das ihnen nicht schmecken will: Sie essen es doch, weil sie es bezahlen müssen.

Genauso fuhr sie Droschke, von einem Laden zum anderen, und vergnügliche Fahrten waren das weder für Kutscher noch für Gekutschte, denn nie ging es ihr schnell genug, und das Umwenden war so umständlich, und die Leute guckten und sagten: »Kiek mal, wahrhaftig noch 'ne Kutsche! Die fahren se ins Märkische Museum!« So saß sie oft kochend vor Zorn in dem Halb-Landauer, und immer gereizt, und es fehlte nur wenig, daß es bei diesen Ausfahrten einmal zur Explosion kam.

Die kam, als sie sich eines Vormittags zur Bahn fahren ließ. Vater war auf neun bestellt, und Vater war auch pünktlich gewesen. Wie das aber geht in einem großen Betrieb, dessen Leiterin fort will, und sei es auch nur für ein paar Stunden: Im letzten Augenblick kam alles mögliche dazwischen, und so war es schon neun Uhr zwölf, als sie in den Wagen stieg.

»Los, Vater!«

»Neun Uhr zwölf, Sophie«, sagte der Vater. »Ick jloobe, wir schaffen es nich. Fahr man lieber Unterjrund.«

»Natürlich schaffen wir es. Nimm den Rappen nur ordentlich ran. Du mußt es einfach schaffen! Los!«

»Ick jloobe nich.«

»Also bitte los, Vater!«

»Meinethalben, Sophie, aber schimpf nich uff mir, wenn wir's nich schaffen!«

»Wenn wir es nicht schaffen, tust du es mir zum Tort!«

»Red doch bloß nich so wat, Sophie! Du bist jetzt uffjerecht! Warum soll ick dir denn so wat zum Torte tun, so bin ick ja jar nich!«

Und Vater fuhr los. Er fuhr wirklich wie Blücher, er hielt das Pferd in einem schlanken Trabe. Er kam gut bei den Übergängen zurecht, er wählte die stilleren Nebenstraßen; sie mußte zugeben, er tat alles, damit sie noch zurechtkam.

Schließlich drehte er sich um und sagte ganz vergnügt: »Ick jloobe wirklich, wir schaffen's. Ja, dir zu fahren, det macht dem Blücher andere Laune als so'ne Fuhre Asche!«

»Fahr bloß zu!« rief sie gereizt.

»Is ja noch rot, die Ampel«, sagte er ungerührt, aber fuhr sofort an, sobald gelb kam.

Sie saß hinten im Wagen, gereizt, weil sie das Geld für die Untergrundbahn gereut hatte, gereizt, weil der Vater recht gehabt hatte, daß es eigentlich zu spät gewesen war, gereizt, daß er ganz ungekränkt alles tat, um sie doch noch zur Zeit auf den Bahnhof zu bringen, gereizt über sich, ihn, den Wagen, sein Rattern, über die ganze Welt – gereizt, daß sie ihn immer noch nicht los war!

So kamen sie bis an den Potsdamer Platz. Sie hatten nur noch ein paar Schritte zu fahren, sie kamen bestimmt zur rechten Zeit.

»Ja, icke und der Blücher!« sagte der Vater strahlend und drehte sich nach ihr um.

Wider Willen nickte sie ihm zu.

An dem Verkehrstürmchen mitten auf dem Platz leuchtete das Licht gelb auf.

»Jüah, Blücher!« mahnte der Vater.

Der Rappe fing an zu traben, bog aus der Mündung der Potsdamer Straße auf den Platz ein, trabte munter im Gewühl der Autos und Autobusse, zwischen Fahrrädern und Lastwagen.

In einer Minute würden sie in die schmale Straße am Bahnhof einbiegen.

Und der Rappe ging langsamer, wollte stehenbleiben ...

»Jüah, Blücher, jüah!« rief der alte Hackendahl. »Mach doch los, Mensch!« Und über die Schulter besorgt zur Tochter: »Er wird doch nich ...«

»Was wird er nicht?« rief sie zornig.

Doch schon war der Rappe stehengeblieben, ein Auto wäre fast auf die Droschke aufgefahren. Der Chauffeur fing an zu schimpfen, ein Verkehrsschutzmann lief herbei, ein Knäuel bildete sich – aber unentwegt stand der Rappe in all diesem Trubel, stand und ließ sein Wasser laufen ...

Der Vater schimpfte, die Chauffeure schimpften, der Schupo schimpfte. Jemand faßte in die Zügel des Rappen und wollte ihn wenigstens an den Rand der Fahrbahn führen. Doch eisern stand der Blücher und pißte ...

Für die Oberin Sophie Hackendahl, ein unverehelichtes älteres Mädchen, war es wie einer jener schrecklichen Nacktträume, da man allein, wenig oder gar nicht bekleidet, unter Dutzenden korrekt angezogener Menschen steht ...

Sie hielt im Verkehrsgewühl des Potsdamer Platzes, ohnehin sichtbar genug als einziges Pferdefuhrwerk unter so viel Autos, hielt, alle fuhren eiligst, und dieser elende Gaul ließ sein Wasser laufen! Ihr schien, als höre sie es schon minutenlang pladdern, wenn sie seitlich schaute, sah sie es fließen, strömen ... Und wenn sie um sich blickte, sah sie lachende, spöttische, wütende Gesichter – und ausgerechnet sie in ihrer Oberinnentracht als Zielscheibe aller Blicke! Aber sie war nicht wie im Traum an einer Stelle festgenagelt, nein, das war sie nicht!

»Herr Wachtmeister!« rief sie den Schupo an. »Bitte, bringen Sie mich auf den Bürgersteig.«

»Jewiß doch, Schwester!« sagte der Schupo. »Kommen Se man! Ick versteh, so wat muß Ihnen ja peinlich sind!«

»Wohin willste denn, Sophie?« rief der Vater vom Bock. »Er is ja jleich fertig. Dafor kann er doch nischt. Wer muß, der muß ...!«

Sie sah die Leute lachen.

An diesem Abend löste sie die Beziehungen zum Vater. Es tue ihr leid, aber ein so unzeitgemäßes Gefährt, eine so peinliche Lage – nein, das könne sie ihren Patienten nicht zumuten.

»Und dir selbst nich. Und deiner Kasse ooch nich«, sprach der Vater. »Na laß man, Sophieken. Du wolltest mir ja schon lange los sind, denkste, det ha'ick nich jemerkt? Es is jut zu wissen, ob de Fische pissen. Na, laß man, ha'ick euch jroß jekricht ohne Hilfe, wer ick ooch Muttern durchfüttern ohne Hilfe. Nur denk nich, mir kannste wat vormachen. Und wenn de so jroß wirst mit deine Klinik wie de janze Charité – vor mir bleibste doch immer 'n kleenet, mieset Aas. – 'n Abend, Sophie.«

Von da an fuhr Hackendahl wieder Droschke. Bestimmt nicht gerne, aber bei ihm war es wie beim Blücher: Wer muß, der muß! Und dann bekam er auf diese Weise Gelegenheit, die Reiterin am Wannsee-Bahnhof zu sehen.

 

3

Mit dem Droschkefahren ging es ein wenig besser als in den letzten Jahren. Plötzlich war wieder Geld unter den Leuten, sie verdienten, die Arbeitslosigkeit ging zurück. Es war der Regen der fremden Anleihen, der die Saat begoß nach langer Dürre. Sie schoß auf, wuchs gewaltig. Es fragte sich nur, wie lange die Feuchtigkeit vorhalten würde. So recht traute keiner diesem plötzlichen Wachstum. Es war wie Treibhaus, es mußte bloß ein kalter Wind kommen.

Aber gerade, daß die Leute ihrem eigenen Glück nicht trauten, kam der Droschkenfahrerei zugute. Sie hatten es eilig, ihr Geld wieder loszuwerden. Es brannte in ihren Taschen, sie gaben es gerne wieder fort. Sie hatten Geld für einen Jux übrig. Der eiserne Gustav und sein Blücher hatten wieder zu tun, nicht übermäßig, aber es reichte.

Und es war gut, daß die Fahrerei ohne allzuviel Mühe ging. Hackendahl hatte nach seinen Klinikfuhren nicht mehr den alten Trieb, unter allen Umständen Geld heranzuschaffen. Vielleicht war es das Alter, er saß jetzt oft dösend auf dem Bock und dachte: Wenn's nischt wird mit 'ner Fuhre heute, muß't ooch jehn. Es is ja so lange jejangen, warum soll et nich länger jehn? Und überhaupt, wenn ick bloß will ...

Damit verloren sich seine Gedanken nach Paris zu ... Es war immer noch nichts Festes, noch keine Absicht, nicht einmal ein Plan – es war Spielerei des Hirns, etwas für müßige Stunden, wie man sich irgend etwas ausmalt, sich sagt: Das könntest du tun, das wäre mal nett. Und es dann doch nie tut ...

Muttern hatte er einmal von der Frau, die nach Berlin geritten war, erzählt und gemeint: »Det möcht ick ooch mal machen!«

»Du bist ja verrückt!« hatte Mutter nur gesagt.

»Nanu, wieso denn varrückt?! Meinste, wat so'ne Franzö'sche kann, det kann ick nich ooch?«

»Vater, in deinen Jahren! Ich glaube wirklich, bei dir piept's!«

Er sah wohl, Mutter dachte nicht im Traum daran, daß es ihm Ernst sein könnte. Und da war es wieder ihr völliger Unglaube, der ihn stachelte.

Alle denken se, ick bin varrückt. Det möcht ick denen mal zeigen, wie varrückt ick bin!

Aber von solchen Gedanken bis zur Tat war es weit. Darüber war er sich bald klar, daß er sich nicht einfach auf den Bock seiner Droschke setzen und losfahren konnte. Irgendwie mußte die Sache vorbereitet werden, es mußte Geld für ihn und Blücher dasein, auch für Muttern zum Leben, wenn sie allein zurückblieb.

Einmal sah er in einer Nebenstraße einen großen Handwagen stehen, auf dem Erwerbslose das Modell eines Bergwerks aufgebaut hatten. Er stieg ab und sah sich das an. Sah, wie die Lampen leuchteten, die Bähnchen liefen, die Hämmerchen pochten – es war ein sehr hübsches Modell. Der Groschen reute ihn nicht, für den er sich schließlich eine Ansichtspostkarte von dem Bergwerk kaufte.

»Na, wie jeht denn det Jeschäft, junge Leute?« fragte er die Erwerbslosen.

»Nun, so grade, man schlägt sich durch. Ein bißchen mehr als die Unterstützung bringt es doch.«

So wat müßt ick ooch machen, dachte er im Weiterfahren. Ansichtspostkarten verkoofen. Der älteste Droschkenkutscher Berlins fährt von Berlin nach Paris und retour. Det würden die Leute koofen, so wat macht ihnen Laune ...

So trug er Stein um Stein für einen Entschluß zusammen. Aber das bedeutete immer noch nicht den Entschluß selbst. Ehe sich ein so alter Mann entschloß, mußte es noch anders kommen. Ein Anstoß von außen, irgend etwas, das ihn in Bewegung setzte, etwas besonders Trauriges oder besonders Fröhliches, aber eben etwas Außergewöhnliches ...

Und der Anstoß kam ...

»Mutter!« sagte er. »Ick weeß nich, wat du jetzt immer mit dem Jelde hast! Sonst ham wir doch ooch mit fünf Märkern am Tage dicke jereicht, und nu soll et uff eenmal nich mehr langen?«

»Es ist alles teurer geworden, Vater. Die Butter, das Fleisch ...«

Es ging sehr lange und sehr weinerlich, Hackendahl hörte gar nicht mehr hin. Es war auch nicht so wichtig, was Mutter sagte, Hauptsache, daß sie mit dem Gelde reichte. Aber das schien gar nicht mehr zu klappen ...

»Mutter«, sagte er eine Woche später, »war Heinz hier?«

»Nee, Vater, wieso?«

»Ick weeß nich, es riecht so nach Zigaretten in de Wohnung ...«

Mutter besann sich, dann fiel ihr ein, daß der Gasmann geraucht hatte.

»Det soll er man lieber lassen, sag ihm det man, Mutter«, meinte Hackendahl. »Nachher sticht er uns noch unsre Klamotten an, un wir sind Neese.«

Aber er vergaß es wieder. Er war ja nur wenig in der Wohnung, eigentlich nur die paar Stunden zum Schlafen. Er war zehn, zwölf Stunden auf dem Bock, ganz wie das Geschäft ging, und vorher und hinterher saß er jedesmal seine anderthalb Stunden beim Rappen, wenn der fraß, putzte ihn, tränkte ihn ...

Oft brachte ihm Mutter abends sein Brot in den Stall. Er saß gerne dort, in der alten Werkstatt von dem Kerl, der sich aufgebaumelt hatte – auf den Namen kam er nicht mehr. Er saß da, der Lärm der Straßen war stiller geworden, wieder war ein Tag vorbei – gut, er konnte schlafen gehen. Und langsam stand er auf, hielt dem Gaul noch einmal den Wassereimer hin und ging nun direkt ins Bett, müde, sehr müde.

Aber solche Müdigkeit hält bei alten Leuten nicht lange vor. Es ist mehr eine Altersmüdigkeit, eine Lebensmüdigkeit als Schlafsucht. Jawohl, er schlief zwei, drei, auch vier Stunden, aber dann war er wieder wach. Er lag stille im Bett, um Mutter nicht zu stören, er lag einfach da, wie er aufgewacht war. Es war lange noch nicht das Schlechteste, so zu liegen ...

Man konnte an vieles denken, nicht an die Fahrt nach Paris, das war mehr eine Sache, am hellen Tage darüber nachzudenken. Jetzt in der Nacht dachte er mehr an Vergangenes, Geglücktes und Mißglücktes, an die Kinder, an Pferde, die er gehabt hatte, an Kutscher, die für ihn gefahren waren, an den alten Rabause. An die Militärzeit, an Unteroffiziere und Rekruten – er kann sich auch noch an viele Dinge in seinem Heimatdorf erinnern, aus dem er nach Pasewalk kam. Das Dorf hätte er gern einmal wiedergesehen; er überlegt, ob es sich nicht so einrichten läßt, daß er durchkommt, wenn er nach Paris fährt. Aber es wird sich kaum so einrichten lassen, denkt er, es liegt zu nördlich ...

Es ist komisch mit so einer Wohnung, in der man Jahre gelebt hat: Man kennt sie wie einen Anzug, den man lange trug. Steckt nur irgend etwas in einer falschen Tasche, es zwängt und drängt so lange, bis man es richtig gesteckt hat. Der alte Hackendahl liegt in seinem Bett, es ist dasselbe Bett wie sonst, dieselbe Frau hat es ihm gemacht. Er liegt auch sonst um diese Stunde wach, aber es ist irgend etwas, er weiß selber noch nicht, was ... Die Wohnung zwängt und drängt ihn, sie macht ihn unruhig ...

Er denkt nun nicht etwa an den Zigarettengeruch neulich oder daran, daß Mutter plötzlich nicht mehr mit dem Gelde auskommt, nein. Er ist ohne Verdacht, aber er ist unruhig – komisch ist das!

Eben hat einer gehustet, nicht eigentlich gehustet, mehr angestoßen, wie man im Schlaf mal anstößt, um die Kehle sauber zu machen. Es klang genau wie hier in der Wohnung, etwa in der Kammer, wo Heinz früher geschlafen hat ...

Es kann natürlich unmöglich in der eigenen Wohnung gewesen sein, aber ohne weiter zu horchen, ohne zu überlegen, faßt er seine Frau bei der Schulter, schüttelt sie und ruft: »Du, es is wer in der Wohnung!«

Die Frau ächzt, aber dann sagt sie rasch: »Was du dir einbildest, Vater! Du hast geträumt! Wer soll denn Fremdes in der Wohnung sein?«

»Es ist wer in der Wohnung!« wiederholt er hartnäckig. »Ick spür det doch! Wer is in der Wohnung?«

»Aber, Vater, du träumst ja! Hier ist keiner! Wer soll denn hier sein? Bei uns ist doch nischt zu holen!«

»In Heinzens Schlafkammer«, sagt er hartnäckig. »Ick weeß det, als ob ick es sehe. In Heinzens Schlafkammer is eener!«

Und er tastet nach den Streichhölzern, um die Kerze anzubrennen.

»Vater, Vater, mach uns doch nicht unglücklich! Ja, es pennt einer bei uns. Ich hab's ihm erlaubt, laß ihn pennen, ich schick ihn morgen weg. Oder ich geh gleich, laß mich gehen, ich schick ihn gleich weg, Vater ...«

Sie weint, sie weint ... hält ihn fest ...

Aber Hackendahl hat es jetzt nicht mehr eilig aus dem Bett. »Wen haste denn da in Heinzens Schlafkammer, Mutter, von dem ick nischt wissen soll, den ick nich sehn soll? Wer is denn det wohl, Mutter?«

»Das is'n Schlafbursche, Vater, ich weiß nich mehr, was er macht. Es is ja bloß, daß ich'n paar Groschen in die Hand kriege, weil das Geld nicht mehr reicht. Darum habe ich das gemacht, Vater!«

»Du sohlst ja, Mutter! Det hör ick doch! Denkste, det höre ick nich, wenn du sohlst? Det ha'ick schon jehört, wie de von Jasmann und Zijarette jeredet hast, det war ooch jesohlt – bloß ick habe nich dran jedacht.«

»Es ist wahr, Vater, es ist bloß ein Schlafbursche ...«

»Wejen Schlafbursche würdste mir nich ansohlen, Mutter, wejen Jeld alleene haste mir noch nie belogen. Immer bloß wejen deine Kinder, mit deine Kinder haste immer Durchstechereien hinter meinem Rücken jemacht. Ick weeß jut, wer da pennt ...«

»Vater, geh nicht hin. Tu mir die eine Liebe, geh nicht hin. Laß ihn schlafen, er braucht Schlaf, er ist ganz hin ...«

»Wovon is er denn janz hin? Wat hat der feine Knochen denn, det er bei Muttern in so'ne Kabache unterkriecht, wo er sonst nur in de feinsten Hotels pennt ...?«

»Nichts, Vater! Laß ihn schlafen. Ich sehe, daß er schnell wegkommt. Nächste Nacht haut er ab, ich versprech dir das, Vater!«

»Zu wat denn in de Nacht? Wat hat er denn nu wieder ausjefressen?«

»Ich weiß es doch nicht, Vater. Ich frag ihn nicht. Er ist mein Kind, ich stoß ihn nicht zurück, wenn er kommt! Soll er sich hier ausruhen! Ich will nicht wissen, was er anderen getan hat. Was er mir getan hat, das habe ich lange vergessen.«

»Ick habe keene Bleibe für jetürmte Verbrecher. Er is immer ein Bescheißer jewesen, er wird dir ooch bescheißen, Mutter!«

»Und wenn auch! Soll er doch, Vater, das macht mir nichts. Ich habe keine Rechnung mit ihm, ich schreib nicht an, Vater ...«

»Raus muß er!« sagt der Alte, steht auf und faßt den Leuchter. »Ick schimpf dir nich, Mutter. Ick schimpf ooch ihn nich, hab bloß keene Angst. Det war eenmal, det ick über so wat jeschimpft habe. Damals ha'ick noch jedacht, een schlechter Vogel, der sein eigenes Nest vollmacht. Jetzt weeß ick's anders. Se haben mir det Nest so volljemacht, dieses, und det andere mit's Militär, worauf ich stolz jewesen bin – ick lach bloß noch über solche Kackerei, da kiek ich überhaupt nich mehr hin, nach so was ...«

Aber er sah nicht nach Lachen aus, der Alte, wie er da stand vor dem Bett seiner Frau, den Leuchter in der Hand, sein dickes Gesicht zitterte, sein Bart zitterte ...

»Laß ihn schlafen, Vater«, bat sie, »schlag ihn bloß nicht.«

»Sei nicht doof, Mutter! Wat wer ick'n dreißigjährigen Menschen schlagen! Det hilft nu allens nich mehr. – Nee, du bleibst im Bette ...«

Er geht barfüßig über den kurzen Gang und macht die Kammertür auf. Er hebt den Leuchter, schaut und horcht. Dann geht er näher an das Bett ...

Da liegt der Sohn, der dem Vaterherzen am nächsten stand und vielleicht doch noch immer steht, liegt auf der Seite und schläft. Mutter hätte ruhig dabei bleiben können, daß es ein fremder Schlafbursche ist – am Aussehen hätte Vater ihn vielleicht nicht erkannt. Ein schwammiges, fahles Gesicht, dicke, bläuliche, körnige Tränensäcke, eine bemüht zusammengefaltete Stirne, lange häßliche Stoppeln – der Mund, halb offen, ist feucht von Speichel: ein fremdes Gesicht!

Der Vater läßt sich nieder, er kauert sich neben den Bettrand und leuchtet das schlafende Gesicht an. Er sucht das Gesicht von ehemals, den Jungen, den er liebte, etwas, das so viel leichter war als er, etwas Bewundertes: leicht und schnell – fröhlich! Aber es ist jetzt nur trübe, dumpfe Erde, die er anleuchtet, etwas Zähes, das dem Tode, der Vergänglichkeit verhaftet ist, der Schläfer schläft, als sei er tot ... Wahrscheinlich ist alles Leichte, Fröhliche längst in ihm tot ...

Der Vater richtet sich auf. Er fängt an, die Kleider des Sohnes durchzusehen, Stück für Stück. Nein, dies sind nicht die Kleider von einem, der in ein feines Hotel gehen kann. Wenn er diese Kleider nur noch zwei Monate trägt, so sind sie hinüber ... Stück für Stück nachgesehen, die Schuhe angesehen, die Verbindung zwischen Oberleder und Sohle geprüft, jede Tasche revidiert – halb mechanisch.

Der Vater seufzt, er nimmt das Licht und geht aus der Kammer. Er geht in die Stube, die Frau sitzt im Bett und starrt ihm angstvoll entgegen ...

»Mußt keene Angst haben, Mutter«, sagt er. »Er pennt noch. Jib mal dein Portemonnaie. Haste sonst noch Jeld ...?«

Er sieht seine eigenen Taschen nach, er sucht alles Geld in der Wohnung zusammen, auch das bißchen Wechselgeld, das ein Droschkenkutscher eigentlich immer bei sich haben muß. Dann kehrt er in die Kammer zurück.

Der Sohn schläft weiter. Der Vater steckt das Geld in die Tasche des Anzugs. Dann geht er rasch an das Bett, rüttelt die Schulter des Schläfers und sagt barsch, ganz im alten Kommandoton: »Aufstehn, Erich!«

Mit einem Ruck wird der Sohn wach. Man sieht es ordentlich, wie ihm das Kommando in die Glieder fährt; über zehn, fünfzehn Jahre fort hat der Körper dieses Kommando nicht vergessen. Die Augen öffnen sich, blinzeln, und nun, da sie die Gestalt mit dem Lichte sehen, da der Aufwachende begreift, wer da vor ihm steht, kommt ein Ausdruck von Schrecken über dieses Gesicht, von Angst ...

Ja, jetzt sieht der Vater durch das alt gewordene Gesicht wieder das Kind. An seiner Angst erkennt er den Sohn, an der feigen, kriecherischen Angst, der Angst vor Strafe, wenn er etwas ausgefressen hatte und der Vater geriet ihm darüber.

»Anziehen!« befiehlt der Vater.

Er steht dabei. Der Sohn zieht sich an, nicht übermäßig eilig, man sieht schon, die Angst verfliegt: Der Sohn schämt sich nicht mehr vor dem Vater. Er ist schamlos geworden, und wer schamlos ist, wird gerne frech, wenn er sieht, der andere will ihm nichts tun.

So dauert es nicht lange, daß der Sohn das Maul auftut. Was aber sagt er, der Liebling von ehemals? Was sagt er ...?

»Einmal«, sagt er, »hast du mich vor lauter Liebe in den Keller gesperrt, was, Vater? Und heute setzt du mich vor lauter Liebe auf die Straße, was, kannst mich gar nicht schnell genug loswerden, wie?«

Alles an ihm hat sich vergröbert, Sprache und Ausdruck, Denkart und Ton.

»Ihr seid Väter!« sagt der Sohn verächtlich oder tut wenigstens so. »Ihr habt uns eine feine Suppe eingebrockt! Kindermachen, das habt ihr gekonnt, bloß aus Kindern Kerle machen, das habt ihr nicht gekonnt, weil ihr selber schlapp seid!«

Wort für Wort gelogen, Feigheit und Hinterlist ein jedes Wort. Dem Vater juckt die Faust. Aber er hat der Frau versprochen, ihn nicht zu schlagen. Und reden mag er nicht mit ihm – der verdreht doch jedes Wort im Munde!

Aber der Vater tut etwas anderes, er bläst das Licht aus, und sobald es dunkel ist, wird der Sohn still. Kaum sieht er den Vater nicht mehr, kommt die Angst zurück. Er ist so unsicher, was geschehen kann. Er murmelt einen Fluch, er sagt wütend: »Was soll der Blödsinn?!« Aber er beeilt sich.

Und es ist, als habe der Vater, den er nur wie einen Schatten sieht, im Dunkeln Augen: Kaum hat Erich den Hut auf dem Kopf, so kommt eine Hand aus dem Dunkel, um seinen Nacken, und schiebt den Sohn hinaus auf den Gang. Der ergibt sich, gleich kann er gehen ...

Aber der Vater schiebt ihn an der Flurtür vorüber auf die Schlafstubentür zu. Der Sohn will sich widersetzen, aber das hilft ihm nichts. Die Hand in seinem Nacken ist wie eine Klammer aus zähem Holz, sobald er widerstrebt, drückt sie stärker.

Die Mutter hat das Geräusch gehört. Sie ruft ins Dunkel: »Wer ist denn da?! Vater – Erich – was ist denn?«

Ins Ohr des Sohnes flüstert der Vater: »Du sagst Mutter jetzt adieu! Und dankst ihr, verstanden? Höflich! Anständig!«

Der Sohn will sich wehren, aber die Hand des Alten drückt auf seinen Nacken. Er macht eine wütende Bewegung. Doch drohender sagt die Stimme in seinem Ohr: »Willst du parieren?!«

Dieses alte Befehlswort aus der Kinderzeit tut seine Wirkung. Erich räuspert sich, er ruft: »Ich geh jetzt, Mutter. – Danke – schön! Mutter.«

»Erich!« ruft sie. »Erich, mein Junge! Warum ist denn kein Licht? Komm, gib mir noch einen Kuß! Ach, Erich ... Vater, bring doch Licht ...«

Aber Vater bringt kein Licht, ihn deckt das Dunkel. Im deckenden Dunkel schiebt er den Sohn, den hoffnungslos mißratenen, schlechten Sohn, bis an die Bettkante der Mutter. Er flüstert: »Tu, was sie will!« Er fühlt Wehren, wieder flüstert er: »Ich schwör dir, ich hol sonst die Polizei!« Er drückt den Sohn nieder an der Bettkante, und der Sohn gibt der Mutter den Abschiedskuß ...

»Ach, Erich, mach's gut, ja? Daß sie dich bloß nicht kriegen, paß gut auf, Erich. Adieu, Erich ...«

Sie weint, wieder weint sie. Und in diesem Weinen wird der Sohn vom Vater aus der Stube gebracht. Durch die Tür, auf die Treppe ... Dann läßt ihn die Hand frei, und ehe er dem Zurückgehenden noch ein Wort von seinem Haß hat nachrufen können, ist die Tür zugefallen zwischen Sohn und Vater.

 

4

Am nächsten Abend liest der alte Hackendahl in der Zeitung, daß die Polizei auf der Straße einen Verbrecher, einen Landesverräter erkannt hat. Kein Name ist in dieser Notiz genannt, nichts deutet darauf, daß dieser Mann Erich Hackendahl ist. Aber der Alte hält es zuerst für möglich, später glaubt er fest: Das war Erich!

Er spricht mit niemandem darüber, aber ein paar Tage ist er in Angst, daß die Polizei kommen und nach Erich fragen könnte ... Doch alles bleibt still. Langsam ebbt es in ihm ab. Wut und Trauer verrinnen. Er ist zu alt, um noch lange zornig zu sein, und schon so alt, daß eine wesenlose Trauer in allem mitspukt, was er denkt, spricht, tut.

Aber in all diesen Tagen, da die Aufregung um sein Kind sich legt, da der graue Alltag weiterläuft, in all diesen Tagen denkt er stärker an die Fahrt nach Paris. So viele Jahre ist er mit seiner Droschke durch Berlin gefahren, und plötzlich ist er dessen so überdrüssig. Immer diese kurzen Fahrten, achtzig Pfennig, eins zwanzig; wenn es gut war, ging es für einen Taler bis zum Schlesischen. Und doch alles bloß kleine Hundefuhren, wie mit einem Kinderwagen geschoben, dachte er plötzlich.

Jetzt möchte er einmal weiter fahren, ins Land hinein. Nicht immer durch Steinstraßen. Er möchte die Felder wiedersehen, auf denen er als Junge gearbeitet hat. Er möchte vom Bock seiner Droschke sehen, wie sie pflügen und eggen, die Saat ausstreuen und zuwalzen. Ach, es ist wie Heimweh, das plötzlich über ihn kommt, Heimweh und Wandertrieb ...

Fahren und fahren, immer weiter durch das Land. Alles Land ist Heimat, die Stadt ist dem Landgeborenen nie Heimat geworden ...

Warum muß es denn das eine bestimmte Dorf in der Pasewalker Gegend sein? Jedes Dorf, durch das er fährt, ist irgendwie Heimat. In jedem Dorf ziehen die Leute morgens mit ihren Gespannen aufs Feld, läuten zu Mittag die Glocken, stehen sie in der Abenddämmerung vor den Häusern, schwatzen. Ein Mädchen läuft eilig, mit zwei Eimern klappernd, zum Brunnen. Es muß alles noch sein wie früher, auf dem Lande. Und er möchte es noch einmal sehen!

Nein, die Stadt ist ihm verleidet. Er will fort, fort aus allem Altgewohnten. Ehe der kommt, dem man nicht ausweichen kann, möchte er noch einmal etwas ganz Neues, etwas Niegetanes tun. Er hat so viel an diese Reise nach Paris gedacht, daß sie ihm gar nicht mehr absonderlich vorkommt. Gott, die Leute reisen ja immerzu, sein Lebtag hat er Reisende auf den Bahnhof gefahren – warum soll er nicht auch einmal reisen? Wieso ist das denn verrückt? Das ist etwas ganz Einfaches! Er möchte sich mal zusammenrechnen, wieviel hundertmal er schon nach Paris gefahren ist, wenn er all seine Fahrten in Berlin zusammenzählt! Nichts Besonderes – man muß bloß daraufkommen!

Ick fahr einfach los! denkt er. Da ist doch nischt weiter bei! Wat denn? Laß die doch reden, ick bin verrückt. Je verrückter die mich halten, um so besser! 'ne Ansichtspostkarte von 'nem wirklichen Verrückten kooft jeder!

So wird aus dem vagen Plan in ihm langsam ein fester Entschluß. Dabei fährt er durch den Winter seine Droschkenfuhren weiter. Aber wenn er in die Nähe einer Kartenhandlung kommt, geht er hin und betrachtet die Landkarten oder einen Erdglobus. Er ist erstaunt, wie nahe die beiden Orte aneinander liegen. Is ja man bloß'n Sticksken, denkt er. Jrade 'ne jute Daumenbreite. Ick weeß nich, wat die Leute reden, det muß doch in 'ner Woche zu machen sind.

Das Nächste sind die Ansichtspostkarten, da muß er sich auch erkundigen. Also sucht er und findet schließlich eine kleine Druckerei, die ihm aussieht, als ob er da fragen möchte ...

»Ansichtspostkarten? Natürlich, wird gemacht. Das Tausend 35 Mark. Bei Abnahme von mindestens fünftausend Stück 32 Mark. Eine Unterschrift? Machen wir natürlich auch. Wie soll sie heißen? Der eiserne Gustav, ältester Droschkenkutscher von Berlin, fährt mit der Droschke von Berlin nach Paris und zurück. – Bißchen viel Unterschrift, aber machen wir auch für dasselbe Geld. – Sind Sie det selbst, der eiserne Justav?«

»Det bin ick!«

»Na, Männecken, haben Sie sich det auch jut überlecht, in Ihre Jahre?«

»So alt bin ick noch nich, knappermang siebzig. Und wat is denn da weiter bei?«

»Nee, bei is da vielleicht nischt. Bloß – haben Se denn Erlaubnis? Und Paß müssen Se doch ooch haben? So einfach über die Jrenze ... Ob die überhaupt Pferd und Wagen rüberlassen? Det is doch ooch von wejen dem Zoll, vastehn Se?«

»Meinen Se, det ick Zoll zahlen muß?«

»Und können Se denn franzö'sch? Franzö'sch müssen Se doch ooch können. So mit 'nem Pferd alleene in so'm franzö'schen Dorf ... Wat frißt er denn? Natürlich Hafer – wissen Se denn, wat Hafer uff franzö'sch heeßt? Nachher bringen Ihnen die für den Jaul saure Jurken. Ooch wat Schönet, wat?«

Der alte Hackendahl ist so nachdenklich über all die neu auftauchenden Probleme geworden, daß er auf die sanfte Anpflaumerei gar nicht achtet. »Na, denn danke ick ooch schön«, sagt er und will aus dem Laden.

»Na, wie ist et denn mit de Postkarten?« ruft der Drucker, der zu spät einsieht, daß er sich mit seiner berlinischen Klugschnackerei einen Kunden verscheucht hat.

»Ick werd mir det noch mal beschlafen«, sagt Hackendahl und geht. Er klettert auf den Bock und fährt. Er hält an einer Wartestelle und füttert Blücher. Er kriegt sogar Kundschaft und fährt. Kommt schließlich nach Haus und füttert, ißt selbst und kriecht ins Bette – aber er schläft nicht. Die ganze Zeit über denkt er und rechnet:

Vier Monate unterwegs, denkt er. Da muß ich Mutter mindestens zweihundertvierzig Mark dalassen. Na, zweihundert reicht auch. Nein, doch zweihundertvierzig. Und für mich und den Gaul brauch ich mindestens fünfhundert. Nachtquartier und Stall und Essen und Futter. Und dann noch der Zoll. Und ein neues Geschirr müßte Blücher auch haben. Und die Droschke muß zum Schmied und Stellmacher, sonst gibt das Bruch. Macht alles in allem, schlecht gerechnet, tausend Mark. Tausend Mark sind zehntausend Ansichtspostkarten für einen Groschen. Zehntausend Ansichtspostkarten, die kosten wieder, na, sagen wir, dreihundert Mark. Das sind dann tausenddreihundert Mark. Das heißt, ich muß noch dreitausend Ansichtspostkarten mehr kaufen, sind wieder hundert Mark mehr ...

So geht es in seinem Kopf, tagelang. Er schläft nicht, er ißt nicht.

»Was hast du bloß, Vater?« fragt die Mutter.

»Ach, laß man«, sagt er. »Det wird schon det Frühjahr sind. Det bringt meinen Reißmatüchtig in Gang ...«

Nein, zu Mutter sagt er kein Wort, aber er sieht, daß er die Sache nicht allein bewältigen kann. Tausend Mark, auch nur fünfhundert Mark aufzutreiben, ist unmöglich.

Nu jrade! denkt er. Nu jrade! Det wolln wa doch sehn. Det is allens janz einfach. Man muß sich bloß nich so haben!

Nach langem Überlegen entschließt er sich, auf einem Reisebüro um Rat zu fragen.

 

5

Wie alles, was mit dieser Pariser Reise zusammenhing, überlegte sich der eiserne Gustav es erst einmal gründlich, auf welches Reisebüro er gehen wollte. Für die Büros auf den Bahnhöfen war er nicht. – Die wollen bloß Fahrkarten vakoofen, dachte er. Und wenn ick denn mit Droschke komme, vaasten se mir bloß.

Mit den Dampferbüros war es auch nichts, mit denen, die so ein nettes Schiffchen im Schaufenster hatten. (So wat müßt ick für meinen Enkel Otto zum Spielen haben ...) Schließlich wählte Hackendahl ein Reisebüro, das in einem großen Zeitungshause lag. Er hatte den nicht ganz falschen Eindruck, die müßten auf dem Reisebüro irgendwas mit der Zeitung zu tun haben, und Zeitungsmenschen wußten in der ganzen Welt Bescheid.

So ging denn Gustav Hackendahl irgendeines Tages, plötzlich war es soweit, in dieses lange ausersehene Büro, hing seinen Lackpott an einen Kleiderhaken, stellte die Peitsche daneben, drehte sich um und musterte den Raum und seine Leute. Dann, als er alles geprüft hatte, steuerte er auf einen jungen Mann hinter einem Tisch zu, der ihm ein bißchen alerter aussah als die anderen Kontorschemelreiter. Daß auf dem Schild über dem wohlgesalbten Haupt dieses jungen Mannes »Reiseschecks und Devisen« stand, kümmerte ihn gar nicht.

»Junger Mann«, sagte der eiserne Gustav, »ick will Sie nischt abkoofen. Nur um 'ne Auskunft möcht ick jebeten haben. Ick will mit meine Droschke nach Paris zuckeln, nur so aus Laune, vastehn Se, und da hätt ick jerne jewußt, wie lange det dauert und wat ick da for Jeld und Papiere brooche, und ob ick ooch noch Franzö'sch lernen muß ...«

Hackendahl hatte es fertiggebracht, alle lang gehegten Sorgen und Fragen in einem einzigen Satz unterzubringen. Er schwieg nun und sah etwas kurzatmig auf den jungen Mann.

Der sah wiederum den alten an, nicht ohne Interesse, aber doch auch nicht frei von der echt berlinischen Besorgnis, zum Narren gehalten zu werden. So griff er erst einmal das letzte heraus und fragte: »Würden Sie denn Französisch lernen, wenn's nötig wäre?«

»Na klar, junger Mann«, sagte der eiserne Gustav.

»Wie alt sind Sie denn?«

»Disset Jahr werde ick siebzig. Hat det wat mit meine Reise zu tun?«

»Wenn man älter ist, wird einem das Sprachenlernen saurer«, erklärte der junge Mann.

»So is det? Na, Jüngling, beruhigen Sie sich man. Wat de kleenen franzö'schen Steckkissenkinder lernen können, det kann ick ooch noch.«

Der junge Mann vom Reisebüro sah ihn nachdenklich an. »Sie wollen wirklich mit Ihrer Droschke nach Paris fahren?« fragte er noch einmal. »Das ist kein Flachs von Ihnen?«

»Na, hören Se mal!« protestierte der Eiserne. »Wie komm ick denn dazu, Ihnen anzuflachsen?! Sie sind mir ja janz fremd. Ick werd doch keene fremden Leute anflachsen!«

»Soso«, sagte der junge Mann nachdenklich. »Sie wollen also wirklich nach Paris fahren?«

»Will ick!« bestätigte noch einmal Gustav Hackendahl und wartete geduldig das Ergebnis dieses Nachdenkens ab.

Wenn er aber meinte, der junge Mann dachte über Gelder und Pässe nach, so irrte er sich. Sondern der Jüngling dachte an einen Vetter, Grundeis mit Namen, der zwei Treppen höher in dem Zeitungshause ein höchst unseliges Leben als Redaktionsvolontär führte. Der Jüngling dachte natürlich nicht einen Augenblick daran, daß die Pariser Fahrt dieses Greises ernstlich in Frage käme. Aber er fand, dieser alte Droschkenkutscher war eine ziemlich komische Kruke. Vielleicht konnte Vetter Grundeis einen Artikel aus ihm machen, altes Berlinertum und echt Berliner Humor – so was lasen die Leute gern ...

»Hören Sie mal!« sagte der Jüngling also nachdenklich.

»Wat denn?« fragte Hackendahl hoffnungsvoll.

»Ich weiß da einen Herrn oben auf der Zeitung, zu dem werde ich Sie mal schicken. Der weiß mit so was besser Bescheid.«

Aber Hackendahl war mißtrauisch. »Ick hab doch nischt mit 'ne Zeitung. Ick will 'ne Reise machen, und Sie sind doch Reisebüro, nicht wahr?«

Und der Berliner verstand sofort das Mißtrauen des Berliners. Beruhigend sagte er: »Wenn der Herr oben nicht Bescheid weiß, können Sie ja immer wieder zu mir kommen. Aber der weiß Bescheid, der ist der richtige Mann für Sie. Ich werd Sie bei ihm telefonisch anmelden, Grundeis heißt er. Dritter Stock, Zimmer 317.«

»Det hab ick immer jedacht, det Jrundeis det Richtige für mich is«, sprach der alte Hackendahl, und vielleicht machte es gerade dieser Name, daß er sich trotz seines Mißtrauens abschieben ließ und oben im Wartezimmer der Redaktion ganz geduldig auf den jungen Grundeis wartete.

Was den jungen Grundeis, den brandroten Grundeis, Grundeis, den Fuchs, nun anging, so war er schon manches Jahr Redaktionsvolontär, und wenn er nachdenklich die Hosenhintern seiner Vor-Gesetzten betrachtete, so mußte er sich sagen, daß wenig Aussicht für ihn bestand, in absehbarer Zeit aufzurücken. Die saßen, und wie sehr er auch rannte, wenn er irgendwo anlangte, saßen sie schon da: All sein Rennen trug ihm keinen Sitzplatz ein. Und darauf zu warten, bis so ein alter Sitzer welk und dahingerafft wurde, dafür war Grundeis zu temperamentvoll.

Auch kam er um vor unbefriedigtem Ehrgeiz. Immer, wenn was Wirkliches los war, ließ man ihn zu Haus. Niemand sagte von ihm: »Das ist der, der dasunddas geschrieben hat«, sondern sie stellten ihn schamlos vor: »Dies ist unser junger Windhund, läuft wie Nurmi, ein ganz großer Renner! Schreiben? Ja, schreiben tut er auch. Ich muß mal irgendwas von ihm gesehen haben – im Papierkorb.«

Vor Ehrgeiz kam er um, der Grundeis. Manchmal rannte er nachts durch die dunkle Stadt und flehte zum Himmel, daß ihm vor der Nase irgend etwas passierte, es konnte nicht außergewöhnlich und schrecklich genug sein. Aber es geschah nie etwas, nicht die kleinste Sache.

Dann wurde er wieder von schrecklicher Apathie befallen. Und wenn die ganze Welt einfiele, die Stelle, wo er stünde, würde intakt bleiben – davon war er fest überzeugt.

Als sein Vetter ihm per Telefon von dem verrückten alten Droschkenkutscher, der nach Paris fahren wollte, erzählte, hatte er äußerlich ganz ruhig gesagt: »Was so'n oller Mann sich einbildet! Mit 'ner Pferdedroschke, das ist doch gar nichts! Ja, wenn's mit 'nem Kinderroller wäre. – Na, meinethalben, schick ihn mir mal rauf!«

Aber innerlich war ihm plötzlich glühend heiß geworden. Das konnte etwas sein, das konnte etwas ganz Großes sein, die Chance seines Lebens! Ein Artikel über Berliner Humor? Knif, kommt nicht in Frage! Kakfif, kommt auf keinen Fall in Frage! Sondern es kam darauf an, was das für ein Kerl war. Verrückte Einfälle kann jeder haben, es kam auf den Mann, nicht auf den Einfall an. Der Mann mußte an seine Verrücktheit glauben, er mußte sie nicht verrückt finden, und er mußte der Mann sein, sie durchzuführen ...

Grundeis sah sich den Mann an. Er verschleppte den alten Hackendahl in ein einsames Redaktionszimmer, und dort nahm er ihn in die Zange. Er brachte ihn zuerst zum Schwatzen, und als der alte Mann völlig leergelaufen war, als er bereits zum dritten Male sein bißchen Plänemacherei erzählt hatte, brachte Grundeis alle Einwendungen, die ihm nur einfielen, zählte alle Schwierigkeiten auf, zerpflückte erbarmungslos alles, machte alles madig ...

Und beobachtete dabei sein Opfer.

Er sah den alten Mann vom Zeitungsstandpunkt an. Er überlegte sich, wie er sich auf Photos machen würde, ob er das Zeug zu einer populären Figur hatte, ob er reden konnte, Mutterwitz besaß. Er dachte nach, ob er wohl schon verkalkt wäre, wie er sich in einer schwierigen Situation verhalten würde, bei einer Ansprache, einem Festessen, einem Achsenbruch. Ob er kränklich sei.

Aber vor allem prüfte er ihn darauf, ob er durchhalten würde, ob er leicht klein beigab, ob er mutlos zu machen war, ob er sich von dem beeinflussen ließ, was die anderen sagten, ob er einen festen Kern in sich hatte, und ganz besonders, ob er wirklich besessen war von seiner Idee ...

Und als der alte Hackendahl auf die zehnte Einwendung hin bloß mit unerschütterlicher Sturheit gesagt hatte: »Det denken Se sich man so schwierig, junger Mann. Wenn't erst soweit ist, jeht allens von alleene ...« – da war er überzeugt, den Mann von der nötigen Hartnäckigkeit gefunden zu haben, einen eisernen Mann, eben den eisernen Gustav ...

Er sagte also: »Na schön, ich werde mir mal die Sache ein bißchen überlegen. Denn so einfach ist das doch nicht, Herr Hackendahl. Kommen Sie mal in einer Woche wieder. Und die Hauptsache, vorläufig dichthalten, keinem was erzählen.«

Die beiden sahen sich an, und plötzlich grienten sie, der alte Mann wie der junge.

»Der unten vom Reisebüro hat Ihnen woll jesagt, ick hab'n Trall?« fragte Hackendahl ganz zufrieden.

»Na ja, so junge Leute, die noch nischt von der Welt gesehen haben wie wir beide!« grinste der junge Grundeis.

Damit trennten sie sich im besten Einvernehmen.

Der alte Hackendahl dachte, die Sache sei nun in Gang, und er wäre seine Sorgen los. Aber für den jungen Grundeis fingen die Sorgen erst an. Denn dies war eine Sache, das roch er, und dies konnte eine große Sache werden.

Aber so schön das war, eins war schlimm: Grundeis war nur Redaktionsvolontär, das heißt Windhund, das heißt gar nichts. Ein Garnichts aber kann keine große Sache starten, und wenn er sie hundertmal für seine Sache ansieht. Er brauchte die Zeitung dafür, nicht nur ihr Geld (das war gar nicht so schlimm), sondern ihre Beziehungen, ihren ganzen Apparat, ihre Verbindungen mit der Provinz, ihren Vertreter in Paris ... eben die ganze Zeitung.

Die aber, die diesen Apparat in Gang setzen konnten, das waren die lieben Kollegen, das heißt die Sitzer, die Vordermänner, die Neidhammel und Bremser jedes fremden Ruhms. Wenn die von der Sache erfuhren, so wurde sie entweder verfahren – aus Mißgunst. Oder sie starteten sie aus eigener Kraft, und dann wurde dem Windhund als Belohnung nur ein magerer Knochen hingeworfen, etwa die Durchfahrt durch Brandenburg. Er aber wollte die fetten Bissen: den Start in Berlin, den Grenzübertritt, den Empfang in Paris und die Rückkehr nach Berlin ... alles!

Der ahnungslose eiserne Gustav! Wenn er an Grundeis dachte, so meinte er, der werde wohl Mühe haben wegen Paß und Postkarten, wegen Haushaltsgeld für Muttern und wegen Taschengeld für ihn. Aber von dem wirklichen Umfang und von der wirklichen Art der Sorgen des Herrn Grundeis machte sich Vater Hackendahl nicht die geringste Vorstellung.

Wie kriege ich die Sache fest in die Hand? Darüber grübelte Grundeis Tag und Nacht, und wenn ihm Paß oder Geld einfielen, so sagte er wie Vater Hackendahl: »Das wird sich alles schon finden – wenn ich nur erst die Sache fest in der Hand habe!«

In diesem schrecklichen Zwiespalt dachte Grundeis an einen Mann, den sie im Zeitungshaus mit den vielen Zimmern nur »das Legehuhn« nannten, das Huhn, das goldene Eier legt. Dieser hochangesehene (und noch viel höher bezahlte) Mann hatte keine andere Aufgabe, als Einfälle zu haben. Er war der Mann der Ideen – und wenn die Herren Redakteure und Chefredakteure völlig verzweifelt waren, dann liefen sie zu ihm und jammerten: »Es fällt rein gar nichts mehr vor, und niemandem fällt noch was ein. Sag uns bloß um Gottes willen, was machen wir für unsere Osternummer? Was für eine Deckelzeichnung rätst du zum Fasching für unsere beliebte Wochenschrift; durch welchen glänzenden Einfall bremsen wir den Verkaufsrückgang unseres Magazins? Was würde den Leuten wohl so gefallen auf der ersten Seite unserer Zeitung? Hast du nicht wieder was Nettes für die Hausfrauen? Für die kleinen Mädchen? Und die jungen Männer? Durch unseren saudämlichen Roman haben wir die Herren Friseure in ihrer Standesehre beleidigt – wie können wir sie wieder versöhnen? Der Filmstar Eva Lewa ist nun schon von vorn, von hinten, von oben und unten, ausgezogen, angezogen und bekleidet photographiert – sag uns bloß, wie sollen wir ihn jetzt noch bringen?«

Und auf all diese Fragen legte das Legehuhn Ei um Ei, hatte Einfall und Idee, mal dauerte es eine Weile, mal ging es schneller, aber meistens kam was. Und da die Einfälle gut waren und den Leuten gefielen, so war er ein wirkliches Huhn, das goldene Eier legte, er kostete nicht nur Geld, er brachte auch Geld!

Zu diesem Manne, der ein völlig ehrgeizloses Leben führte, ging der flammendrote Grundeis. Er fand ihn in der Ecke eines Bierstübels, wo der dicke Mann betrübt vor einem Glase Bier saß.

»Setze dich, Windhund!« sprach er. »Und red nicht. Ich glaub, es will mir was einfallen ...«

Der junge Grundeis setzte sich, bestellte sich flüsternd auch ein Pils und sah achtungsvoll auf den großen Mann, der jedenfalls jetzt nicht nach glücklichem Mann aussah, denn sein Gesicht wurde immer trübseliger. Allmählich fing der Dicke immer mehr zu stöhnen an, er rutschte hin und her auf dem Stuhl, wischte sich die Stirne ab, ächzte, warf was von seiner Zigarrenasche ins Pils, wollte es wieder herausfischen und vergaß es, weil er das Notizbüchel aus der Tasche riß ...

Groß, ferne und unendlich einsam sah er den jungen Grundeis an, fing an zu kritzeln, hielt inne, sah ihn noch einmal an und steckte das Notizbüchel wieder in die Tasche ...

»Ich dachte, es war was«, sagte er. »Aber es war nichts. Es fallt mir nichts ein, an einem Donnerstag fallt mir nie was ein, und in diesem Beisel schon gar nicht!« Mißgünstig betrachtete er das Bierstübel. »Wenn ich nur immer wieder hierhergehe, wo mir nichts einfallt? Der Mensch ist sich selbst das größte Rätsel. Hast du die Asche in mein Pils getan, Windhund? Was willst, schieß los!«

Worauf Grundeis vom alten Hackendahl erzählte, seinem Plan und seinen eigenen Sorgen, daß er die Sache auch selbst behielte.

»Die Sach«, sprach das Legehuhn, und es klang, als hätte er schon zehn Jahre darüber nachgedacht, »mußt ganz klein beginnen, mit bloß 'ner Notiz. Und fahren laßt deinen Fiaker zum ersten April, oder zum zweiten April, daß du immer sagen kannst, es ist ein Aprilscherz gewesen, wenn's die Leut nicht fressen. Fressen's aber die Leut, kannst größer drangehen, und schmeckt's ihnen noch immer, kannst in Paris groß rangehen, kommst auf die erste Seit, mit Schlagzeile und eigenem Photo ... Und das ist ja immer euer innigster Herzenswunsch, daß ihr euch selber im Bild seht in eurem eigenen Blattel, wo ihr so viel Bilder von ehrlichen und unehrlichen Leuten reinbringt ...«

»Sie meinen also, man soll's machen? Es ist was dran?« fragte Grundeis.

»Du Lackl, meinst, ich versäß hier die Zeit mit dir wegen Windeiern?! Komm, zahl die Zeche, das wird dich lehren, mich um Rat fragen! Sieben Pils und vier Zigarren hab ich gehabt. Komm, jetzt gehen wir zum Direktor und lassen uns das Geld bewilligen ...«

Zu zweien gingen sie weiter, zurück in das Zeitungshaus, zum Direktor Schulze. Das war der Mann, der alle Gelder zu bewilligen hatte, und wie ein böser Höllenhund saß er über seinen Schätzen. Der reizendste Einfall lockte ihm kein Lächeln ab, immer jammerte er: »Aber, meine Herren, das ist doch nichts für die Provinz! Wir verlieren den ganzen Absatz in der Provinz. Da steck ich kein Geld rein!«

Schlug man ihm aber was anderes vor, so schrie er: »Det is doch nischt für meine Berlina, da kenn ick doch meine Berlina besser, und Hamburch geht auch nicht mit. Ja, Geld ausgeben ist leicht, und Geld verdienen noch leichter, aber Geld zusammenhalten, das ist die Kunst, meine Herren!«

Zu diesem bitteren Skeptiker gingen also die zwei, das Legehuhn und Grundeis. Grundeis allein wäre ja nie in das Heiligtum von Direktor Schulze gelassen worden, dafür war er viel zuwenig. Aber das Legehuhn genoß hier großes Ansehen, und so schlüpfte Grundeis mit durch.

»Direktorchen«, sprach das Legehuhn. »Der rote Windhund hier hat 'ne Idee geschnappt grade fürs Frühjahr, wenn's warm wird und die Leute die Zeitung abbestellen, und sie wird über den ganzen Sommer reichen ...«

»Reden Sie nicht«, sagte der Direktor. »Ich kenn Sie doch! Sagen Sie, was die Idee kosten soll!«

»Hunderttausend Mark, brutto für netto«, sprach das Legehuhn kühl, und Grundeis steckte sich rot an, denn mit mehr als fünftausend hatte er nie gerechnet.

Direktor Schulze beobachtete argwöhnisch die Gesichter. »Hunderttausend Mark«, sagte er mißbilligend. »Haben Sie überhaupt schon mal hunderttausend Mark auf einem Tisch gesehen?«

»Nein, aber auf einem Scheck, Direktorchen, wissen Sie nicht mehr, die Filmrechte aus Amerika?«

»Daß Sie immer mit Ihren kleinen Erfolgen protzen müssen! Für achtzigtausend Mark wird's auch zu machen sein.« Wieder sah er die Gesichter an. »Ich bin sogar überzeugt, es geht auch für siebzig.«

»Sagen's fünfundsiebzig, Direktorchen, und ich erzähle Ihnen den Quatsch ...«

»Ich sage gar nichts. Erst will ich hören, und dann muß ich die Herren Direktoren befragen, und dann den Aufsichtsrat, und dann die Chefredakteure. Und was soll überhaupt der junge Mann dabei?«

»Der ist die andere Bedingung; wenn der die Sache nicht in die Finger kriegt, wird nichts draus.«

»Siebzigtausend Mark und so'n junger Mensch! Haben Sie schon mal siebzigtausend auf einem Tisch gesehen?«

»Doch ja!« sagte Grundeis. »Sogar in der Tasche gehabt – nämlich in der Inflation.«

Ein bleiches, mattes Lächeln erschien auf den Gesichtern der beiden Abgebrühten. Es war, wie wenn die Sonne für einen Augenblick aus einem Schneehimmel schaut. Es war, wie wenn ein Säugling nach endlosem Brüllen endlich an die Brust gelegt wird und in sein Brüllen mischt sich ein erstes fernes Lächeln ...

»Na, reden kann man ja mal über die Sache«, sagte Direktor Schulze. »Setzen Sie sich doch, meine Herren. Zigarre? Na schön! Hoffentlich ist es was mit Liebe – Liebe ist jetzt wieder sehr gefragt.«

 

6

Aus dem alten wurde ein neues Jahr, der Januar wurde zum Februar, der alte Hackendahl ging umher wie sonst, fuhr Droschke, saß bei seinem Blücher und sah ihm beim Fressen zu, brachte etwas Geld nach Haus, wenig oder gar nichts, ganz wie sonst – und sagte kein Wort.

Jetzt hätte er schon mal den Mund auftun und von seinen großen Plänen und Absichten sprechen können, es war alles bestens geregelt mit den Herren im Zeitungshaus, und er hatte sogar einen Vertrag unterschrieben – aber er sagte nichts. Manchmal saß er Muttern am Tisch mit der Wachstuchdecke gegenüber beim Essen, er kaute und sah sie dabei an mit seinen großen kugeligen Augen, die immer mehr rote Äderchen bekamen, sah sie an, starrte ...

»Was kuckst du denn so, Vater?« fragte Mutter. »Was hast du denn? Immer kuckst du jetzt so!«

»Ick habe jar nischt, det is et ja jrade!« sagte Vater Hackendahl dann verdrossen. »Ick denk bloß nach.«

»Worüber denkst du denn so nach, Vater? Und grade beim Essen! Beim Essen soll man nur essen, sonst bekommt dir's nicht.«

»Über jar nischt denk ick nach«, sagte Hackendahl wieder.

Aber er dachte doch nach. Er dachte immerzu darüber nach, wie er's ihnen beibrächte, Muttern und der ganzen Familie, wie er's ihnen mundgerecht machte, das mit seiner Fahrt nach Paris. Er hatte nicht gerade Angst, daß sie ihn hindern könnten, er hatte sein Lebtag getan, was er wollte. Aber er hatte Angst vor ihrem Geschwätz, vor Mutters Klagen, vor dem ewigen Gedröhne und Gestöhne. Nicht einmal zum Schlafen würde er noch seine Ruhe haben.

Also ließ der Vater es, es würde sich schon alles finden. Wenn es soweit war, würden sie es schon merken. Und eigentlich war es am besten, sie merkten es möglichst spät, dann hatten sie um so weniger Zeit für ihr Gerede!

So ging es wirklich schon auf den März zu, als Irma in einer Zeitung die Notiz fand, daß ...

Sie las, und sie wunderte sich. Sie lief zu der Mutter, las ihr vor, und nun wunderten sich beide. Vater hatte doch gestern noch mit seiner Droschke vor der Ladentür gehalten und hatte den kleinen Otto ein Stückchen mitgenommen, und Vater hatte kein Wort gesagt!

»Es muß ein Irrtum sein«, sagte Irma und starrte noch immer fassungslos die Zeitung an. »Aber hier steht es doch klar und deutlich, und sonst stimmt auch alles!«

»Heinz weiß sicher davon«, piepste die Quaasin kläglich. »In so was halten Männer immer zusammen!«

»Heinz? Keine Ahnung hat der, bestimmt nicht!« rief Irma empört.

Und nun veruneinigten sich die beiden über die Frage, ob ein Mann mehr zu seinem Vater oder zu seiner Frau hielt, und verloren über diesem Streit ein wenig den Anlaß aus dem Auge.

Aber am Abend, als Heinz nach Haus gekommen, ziemlich müde auf seinem Notbett sitzend, an seinen Stiefeln hantierte, fragte ihn Irma doch ziemlich kriegerisch: »Sag mal, liest du eigentlich gar keine Zeitungen?«

»Wieso?« fragte er, erstaunt über ihren Ton.

»Hast du denn das nicht gesehen?« fragte Irma und zeigte mit einem Finger auf eine Notiz.

Es war bloß eine Zehnzeilennotiz, eine richtige Grundeis-Notiz. Sie lautete aber:

 

Ältester Berliner Droschkenkutscher
fährt nach Paris.

Gustav Hackendahl, mit seinen siebzig Jahren der älteste Droschkenkutscher von Berlin, wird Anfang April zu einer Fahrt nach Paris starten. Er will die ganze Fahrt hin und zurück in seiner Pferdedroschke, die die Nummer 7 trägt, zurücklegen. Wie wir aus Paris hören, wird die dortige Droschkenkutscher-Innung dem mutigen Berliner, der mit Recht den Namen »Eiserner Gustav« trägt, einen festlichen Empfang bereiten.

 

»Nun schlägt es dreizehn«, sagte Heinz Hackendahl, starrte auf die Zeitung und traute seinen eigenen Augen nicht. »Das ist doch unmöglich!« murmelte er fassungslos.

Irma beobachtete ihn kritisch, aber kritisch oder nicht, Heinz war bestimmt ganz ahnungslos gewesen, und so hatte sie der Mutter gegenüber recht behalten. »Ich dachte, du müßtest es erfahren, Heinz!« sagte sie vorsichtig.

Plötzlich fuhr der Blitz aus der Wolke. »Du hast es gewußt!« schrie er. »Vater hat mit dir davon gesprochen! Natürlich hast du davon gewußt – hinter meinem Rücken!« Er wurde bitter: »Und so was nennst du Ehe!«

»Erlaube mal!« rief Irma empört. »Keine Ahnung habe ich gehabt. Ich habe gedacht, daß du mit Vater ... Das heißt, Mutter meinte ...« Sie verschwieg lieber, was Mutter meinte. »Ich habe schon gedacht«, sagte sie, »vielleicht ist es bloß ein Aprilscherz.«

»Aprilscherz!«rief er. »In diesen Zeiten ... Und im Februar! Was du dir bloß alles einbildest.« Er sah noch einmal in die Zeitung. »Es kann ja sein«, sagte er dann ruhiger, »daß Vater so einem Zeitungstiger in die Hände gefallen ist. Aber es klingt ernst, es klingt, als steckte etwas Richtiges dahinter. Was machen wir bloß, Irma?«

»Sprich doch mal mit Vater«, schlug sie vor.

»Natürlich«, sagte er. »Bloß, wenn Vater sich was in den Kopf gesetzt hat, und die bestärken ihn noch darin! Für die ist es doch bloß Geschäft!« Er seufzte. »Ich gönne ja Vater alles – nur, es sind nicht die Zeiten für so was. Für solche Witze!« Und er sah mißbilligend auf die Zeitung.

Irma schwieg. Sie war nicht der gleichen Ansicht wie ihr Mann, aber als kluges Eheweib schwieg sie dort, wo sie doch nichts ändern konnte.

»Red doch mal mit Vater«, sagte sie schließlich noch einmal.

»Ja, das will ich tun«, sagte er und stand auf.

Er ging eilig, er fand den Vater im Stall.

Der warf hochsehend einen raschen Blick auf den Sohn, bückte sich dann wieder und fettete dem Rappen sorgfältig die Hufe ein. »Na, Bubi?« sagte er dabei. »Ick seh dir schon an, wat de saren willst. Aber sag besser jar nischt. – Der Blücher soll nu ooch weg. Se saren ja, er hält die Fahrt nach Paris nich aus. Ich krieg 'nen neuen. Es is schade um den Blücher, det war een jutet Pferdchen. Janz wat anderet als der olle Schimmel. – Weeßte noch, der Schimmel, Bubi?«

Heinz schwieg. Also war es richtig, war nicht einmal ein Aprilscherz, der Vater wollte wirklich nach Paris fahren!

Der Vater, mit den Hufen beschäftigt, sah von unten her, von der Seite her, listig auf den unmutigen Sohn.

»Na, sag wat!« meinte er schließlich. »Een oller Mann will ooch mal wieder 'nen Spaß haben – bloß oll sein, det is ooch man triste, Bubi, det kannste mir jlauben!«

»Die Brüder von der Zeitung legen dich rein, Vater«, sagte Heinz. »Die machen doch so was nicht um deinetwillen!«

»Nee, nee, Heinz, da beruhige dir man. Ick hab 'nen janz richtijen Vertrag mit denen!«

»Einen Vertrag?! Was denn für einen Vertrag?«

»Och, nischt weiter! Bloß, det ick mir vapflichte, die Fahrt nach Paris und zurück in de Droschke zu machen, det se alle Unkosten tragen und mir 'nen neuet Pferd schenken. Für Muttern kriege ick fünfhundert Mark, und wat ick aus Ansichtspostkarten und sonst mache, jehört mir ooch, bloß, det se alleine über mir drucken dürfen und det se Bilder machen dürfen von mir, det is doch keen schlechter Vertrag nich?«

Heinz Hackendahl sah wohl: Der Vater war aufgeräumt und glücklich über seinen Vertrag. Aber er bat doch: »Vater, mach es bloß nicht! Tritt zurück, sag, du bist krank geworden, du fühlst dich zu schwach ...«

»Aber warum denn? Haben Mutter und ick mal keene Sorjen! Wat ick for Blüchern krieje, dürfen wa ooch behalten ...«

»Aber, Vater, du hältst das nicht aus! Denk doch mal, in deinen Jahren, in Wind und Wetter auf dem Bock ...«

»Nu kiek mal an«, grinste der Alte. »Wat ick plötzlich for besorgte Kinder habe! In Wind und Wetter uff'n Bock! Det de mir det nie jesagt hast, wenn ick hier in Berlin uff de Tour jehe.«

Heinz biß sich auf die Lippen. »Laß es sein, Vater«, bat er dann wieder. »Du hältst es doch nicht aus, du blamierst dich, die ganze Familie ...«

Er hielt inne. Der Alte war so plötzlich mit dem Kopf hochgefahren, daß sogar der Rappe zusammenschreckte.

»Hoho!« beruhigte ihn der Alte. »Laß man, Blücher, vor de Doofheit von de andern mußte nich erschrecken ...«

Und zum Sohn: »Wat heißt hier blamieren?! Darf ick nich tun, wat ick will? Ha 'ick dir jehindert, deine Dummheiten zu machen?! Ick weeß 'ne Zeit, da biste imma in 'ne jewisse Villa jeloofen, janze Nächte biste fort jewesen – ha'ick dir an deine Dummheiten jehindert? Laß du mir meine machen!«

Er funkelte den Sohn zornig an. Er war wieder der alte Hackendahl, der aus der Kaserne, der vom Fuhrhof, weder Zeit noch Alter hatten ihn zu Brei schlagen können.

»Ick blamier die Familje? Ick weeß andere, Jeschwister von dir, die haben de Familje janz anders blamiert, die haben den Namen in 'nen Dreck jezogen. Ick weeß, Bubi, du bist nicht schuld dran, du bist 'nen anständijer Kerl. Aber hinjeloofen biste ooch nich zu deine Jeschwister und hast se anjeschnauzt: ›Laßt eure Dummheiten, ihr blamiert mir!‹ Det machste bloß bei deinem Vater!«

Er sah den Sohn an und schüttelte den Kopf.

»Steh nich so, Bubi! Wat soll denn det?! Laß 'nen ollen Mann doch det Vajnüjen. Wenn de Leute über mir lachen, dir muß et doch nich weh tun.«

Der Sohn sah vor sich hin, halb bezwungen. »Na, Vater«, sagte er endlich.

»Siehste, Bubi, ick weeß doch, du bist 'nen vanünftiger Kerl. Und nu tu deinem ollen Vata mal wirklich 'nen Liebesdienst. Jeh ruff zu Muttern und puhl ihr det sachte bei mit meine Reise. Se ahnt wat, aber sie weeß noch nischt Jewisset. Na, mach schon. Uff dir hört se doch am liebsten. Sei ma nett, Bubi, wat?«

 

7

Und aus dem Februar wurde der März, und näher zog schon der April, und alle hatten Zeit genug, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß der alte Vater noch eine weite Reise tun wollte. Es kam ihnen ganz unwahrscheinlich vor, denn der eiserne Gustav ließ sich nicht das geringste von Reisefieber anmerken. Er kletterte alle Tage wie sonst auf den Bock seiner Droschke und mühte sich, sein tägliches Geld zusammenzufahren.

Nur den neuen Gaul, den er aus unbekannten Gründen »Grasmus« getauft hatte, sah er manchmal bedenklich an. »Ick weeß nich«, sagte er dann wohl, »is ja'n janz schönet Pferdchen, ooch willig, aber zweitausend Kilometer – so in eine Tour weg, ick weeß nich ...«

Und er tastete ihm die Beine ab, immer wieder sorgenvoll das Haupt schüttelnd.

Dann, im März, sah es doch so aus, als sollte aus allem nichts werden. Denn der alte Hackendahl wurde krank, zum erstenmal in seinem Leben wurde er wirklich krank. Er bekam die Grippe. Natürlich hatte er so lange abgestritten, daß ihm auch nur das Geringste sei, bis er einfach nicht mehr konnte. Mit vierzig Grad Fieber lag er im Bett, klapperte mit den Zähnen und stöhnte: »Det mir det passieren muß! Nie krank jewesen und nu jrade jetzt, wo ick de erste Reise in meinem Leben vorhabe! Aber ick jebe nich nach! Ick lasse mir nich rinlejen! Mutta, jib mir noch mal von dem Tee! Wat kann ick noch tun? Ick will allens tun, wat sin muß – bloß, ick muß nach Paris! Det hat doch sonst allens keenen Zweck jehabt, wenn ick nich nach Paris komme!«

In dieser Krankenzeit bekehrte er sie alle. Wenn es ihm noch so jämmerlich ging, er wollte nach Paris ...

»Heinz, bewegste den Zossen ooch jut? Sag dem Fleischer, er soll'n ruhig mal mit anspannen, wenn er uff'n Schlachthof fährt. Grasmus darf keene steifen Knochen kriejen. Jott, wenn ick nu doch nich nach Paris komme!«

»Du kommst nach Paris, Vater, bestimmt kommst du nach Paris!« sagte sogar die Mutter, die entsetzt gewesen war beim Gedanken an diese Fahrt.

»Na, Rotkopp«, grinste der Alte, aus Fieber, Frösteln und Schweiß. »Wat, nu jeht Ihnen der Jewisse mit Jrundeis? Wat?! Na, lassen Se man, in meinem janzen Leben, wenn ick wat jesagt habe, denn ha'ick det jesagt. Darin bin ick immer eisern jewesen. Sie wissen ja, eiserner Justav ...«

»Wir könnten vielleicht eine kleine Notiz bringen«, sagte Grundeis kläglich, »daß Sie krank geworden sind und ein bißchen später fahren, was meinen Sie?«

»Ach wat, später! Für so'n ollen Mann jibt's kein Später. Wat de tun willst, tue jleich! Ick fahre – uff Tag un Stunde, det sare ick Ihnen!«

»Aber es sind nur noch drei Wochen!« stöhnte der Unselige.

»Drei Wochen – det is et ja jrade! Bin ick in eene Woche krank jeworden, wer ick doch woll in drei Wochen jesund wern! Det war ja noch schöner! Weene man nich, Mutter! Weene nich, gräm dich nich, in Paris, da siehste mich nich!«

Und der Alte legte sich höchst zufrieden in seine Kissen zurück, lächelte und schlief ein.

»Das wird nie was im Leben!« stöhnte der rote Grundeis.

»Vater muß wieder werden«, sagte der von seinem Herzen überwundene Heinz, »den Spaß soll er doch noch haben!«

»Ich hätte Vatern die Fahrt doch so gegönnt!« weinte die Mutter.

»Er kommt bestimmt durch«, sprach Irma. »Den bringt nichts um.«

Weene nich, gräm dich nich, in Paris, da siehste mich nich, lächelte der alte Hackendahl im Schlaf.

 

8

Vor dem Haupteingang des Zeitungshauses hielt die festlich geschmückte Droschke Nummer 7. An ihrer Hinterseite war eine große Tafel befestigt:

Gustav Hackendahl
der älteste Droschkenkutscher Berlins
fährt in dieser Droschke
Berlin – Paris – Berlin

Eine Kapelle spielte, Neugierige blieben stehen, lasen, lachten, gingen weiter, der Braune Grasmus versuchte teils mit, teils ohne Erfolg, seine Blumenzier aufzufressen, aber vom Droschkenkutscher selbst war nicht das geringste zu sehen.

Der war noch im Zeitungshaus und nahm Abschied.

Herr Direktor Schulze gab ihm die Hand und wünschte Hals- und Beinbruch. »Und denken Sie daran, wieviel wir ...«

Er hatte sagen wollen: »Wieviel wir in Sie reingesteckt haben ...«

Aber angesichts des festlichen Kreises bezwang er seinen niederen Geldsinn und sprach: »... wieviel wir von Ihrer Gesundheit erwarten!«

»Det is allens wieder im Lote«, sprach der eiserne Gustav unerschüttert. »Nehmen Se ooch 'ne Postkarte, Herr Direktor? 'nen Jroschen det Stück.«

Schneeweiß und zitternd überwachte Grundeis seinen Schützling. Wie benahm er sich? Wirkte er? Hätte man den Vollbart nicht doch kürzen müssen? Übertrieb er es nicht mit dem Ansichtskartenverkauf?

Ach dieser Mann, dieser alte Mann – er fuhr in die Welt, und in seine Fahrt waren Glück und Erfolg des jungen Menschen einbeschlossen! Und er ahnte nichts davon! Er dachte nur an sich! Wahrhaftig, nun drehte er Herrn Generaldirektor Klotzsche ein ganzes Dutzend Ansichtskarten an und weigerte sich, das Dutzend billiger zu geben!

Er übertrieb es wahrhaftig! Und wie würde es erst in Paris gehen?! Fremde Sprache, fremde Menschen! Oh, hätte ich mich nie darauf eingelassen!

Aber vielleicht war er gerade gut? Hier lachten alle! Alle sahen den alten Mann in seinem blauen Kutschermantel mit dem weißen Lackzylinder freundlich an. Vielleicht hätte man die Sache doch größer aufziehen sollen? Auf der Straße waren viel zuwenig Neugierige, die meisten hatten es doch wohl für einen Aprilscherz genommen. Aber das goldene Leghuhn war gegen alle Vorschußlorbeeren gewesen ...!

Grundeis schwitzte, wurde bleich, rot, ach, er hatte viel mehr Angst als der Weltreisende!

Nun wurde dem noch ein Blumenstrauß überreicht. (Wie wird er sich benehmen?) Es ist die Sekretärin vom Herrn Generaldirektor, die es tut, ein hochwichtiges Frauenzimmer! (Man hätte ihn warnen müssen. Ach, dieser ahnungslose Knabe, man kann ihn nicht vor allem warnen, was ihm auf der Fahrt geschehen wird!)

Gustav Hackendahl starrt abwechselnd Strauß und Spenderin an. »Wat soll ick denn damit?« fragt er. »Wat denn? Blumen? Frißt mein Zosse nicht. – Da nehmen Sie'n!«

Und schon hat Grundeis den Strauß.

Gott sei Dank! Ein erster großer Heiterkeitserfolg, alle sind erfreut, die Vorgesetzten lächeln, die Untergebenen lachen. Ausgezeichnet!

Es naht das goldene Leghuhn, fetter und kummervoller als je. Er schüttelt dem eisernen Gustav die Hand, würdevoll, als kondoliere er mit tiefempfundenem Beileid. Was fragt der Hund, der hinterlistige – will er dem alten Mann ein Bein stellen?

»Parlez-vous français?« fragt er.

Und »Yes!« antwortet unerschüttert Gustav Hackendahl.

Brüllendes Gelächter.

Heiter zieht der Zug von Zimmer zu Zimmer, der Ansichtskartenverkauf geht blendend. Die erste ahnungsvolle Autogrammjägerin naht ...

»Wat denn, Frollein? Wat denn? Meinen Namen soll ick Ihnen uffschreiben? Zu wat denn? Det Sie nachher drüber schreiben, Sie haben mir hundert Piepen jeborgt, wat? Nee, so doof is der eiserne Justav nich! Heh, Sie, Rotkopp, schreiben Sie mal hier Ihren Friedrichwillem hin, Sie passen ooch besser zu 'ne junge Dame!«

Wiederum gut! Nein, er ist wirklich nicht doof, der alte Hackendahl, er findet sich in die Situation. Er ist nicht ängstlich, er weiß, was sie von ihm erwarten. Nur keine Feierlichkeit – ein bißchen Spaß, sie lachen so gerne, sie sind jedem dankbar, der sie zum Lachen bringt. Nun also, werden wir lachen ...

»Warten Sie doch! Drängeln Se nich so, junger Mann!« wird Grundeis angefahren. »Ick komme noch zeitig nach Paris. Mein Sonderzug fährt nich ohne mir. Erst muß ick Jeld wechseln ...«

Er leert seine Taschen aus, der Kassierer muß ihm die Groschen einwechseln.

»Det jeht ja, det Jeschäft! Fast fünfhundert Stück hier im Hause vakooft! Na, ick bin janz zufrieden mit euch junge Leute hier. Wenn ick wieder'n Ufftrag zu vajeben habe, laß ick'n euch zukommen!«

Er kann es nicht lassen, er blüht jetzt auf. Das echte Berliner Mundwerk, nicht in Berlin, sondern in einem Dorf bei Pasewalk geboren, feiert Orgien ...

 

9

Es ist fast elf Uhr, als der eiserne Gustav wieder auf den Bock seiner Droschke steigt. Grasmus hat indes den Festschmuck völlig verwüstet. Aber es ist keine Zeit, ihn in Ordnung zu bringen, die Musiker schimpfen schon: »Wegen deiner Bummelei stehen wir uns hier Eisbeene, Justav!«

Jetzt triumphieren sie ihm mit Musik voran. Der Braune tänzelt bei dem ungewohnten Lärm. Gustav zieht seinen Zylinder und grüßt zu den vielen Fenstern des Verlagshauses hinauf, die alle mit lachenden Gesichtern besetzt sind.

In der Droschke sitzt ein Ehrengast, nicht einmal die Taxuhr wird für ihn angestellt. Er darf gratis fahren, der Ehrengast – und die Kollegen im Zeitungshaus sehen ihm teils wohlwollend, teils neidisch nach.

Gustav Hackendahl dreht sich um. »Na, wie ha'm wir det jemacht, Herr Jrundeis?«

»Für den Anfang ausgezeichnet! In die erste Beilage kriege ich Sie bestimmt!«

»Sehen Se, wat de Leute kieken – die kieken nich bloß wejen die Musike. Die kieken meinswejen.« Er seufzt, dann sagt er: »Manchmal is det Leben ebent doch janz scheen, Rotkopp!«

»Und ob!« sagt Rotkopf begeistert.

»Eigentlich«, meint Hackendahl nachdenklich, »müßt ick alle Ecken runter vom Bock und'n paar Ansichtskarten vakoofen, aber es hält zu sehre uff! – Macht Ihnen det was aus, Herr Jrundeis, wenn Se denen so'n paar Karten aus'm fahrenden Wagen rauslangen?«

»Werden Sie bloß nicht geldgierig, Herr Hackendahl!« sagt Grundeis. »Sie fahren nicht zum Erwerb – Sie fahren doch zum Vergnügen!«

»Na ja, wie Se meenen. – Ick will ja hoffen, et wird'n Vajniejen!«

Und nun sind sie vor dem Berliner Rathaus angelangt, vor dem Roten Haus.

»Na denn!« sagt Hackendahl und klettert vom Bock. »Denn jeben Se mal det Buch her, Herr Jrundeis.« Er nimmt den in Leder gebundenen Band. »Jawoll, denn wird uns anders sind, wenn wir erst wieder hier antreten, und det Buch is voll, wat. Kiekt man orntlich, Jungens! Jawoll, könnt ihr Muttern erzählen, ihr habt den varrückten Droschkenkutscher jesehn, der nach Paris fährt ... Denn freut sich Muttern, det in Berlin die Varrückten immer noch frei rumloofen dürfen. Na, kommen Se, Jrundeis!«

Aber Grundeis will nicht mit ins Rathaus.

»Sie sind ja angemeldet. Ich habe noch was zu besorgen.«

Hackendahl muß allein gehen. Eine Behörde ist etwas anderes als ein Zeitungshaus, ein Beamter etwas anderes als ein Redakteur. Hier wird von Gustav Hackendahl nicht das geringste Aufheben gemacht.

»Na, geben Sie schon her! Bloß Arbeit hat man mit euern verrückten Ideen. Und nachher hört man nie wieder von euch. Also schön: elf Uhr fünfunddreißig, am 2. April meldet sich der Droschkenkutscher Gustav Hackendahl, durch Reisepaß ausgewiesen, Einspänner-Pferdedroschke Nummer 7, hier auf dem Rathaus der Stadt Berlin und gibt an, nach Paris fahren zu wollen. – In Ordnung, was?«

»Na ja, denn is det woll in Ordnung«, seufzt Hackendahl, ein wenig enttäuscht über diesen Empfang. »Aber wenn ick zurückkomme, denn macht ihr mir andere Jesichter, vastanden?«

»Los! Ab! Raus! Wir haben hier keine Zeit für so'nen Quatsch! Hier wird nämlich richtig gearbeitet, Männecken!«

»Ach nee!« grinst Hackendahl. »Arbeeten tut ihr ooch? Ick dachte immer, ihr schmiert bloß Papier voll!«

Und damit macht er, daß er fortkommt, denn ein gereizter Beamter ist gefährlich. Aber er ist gar nicht einverstanden. So'ne Brüder! schimpft er bei sich. Die wachen ooch nie uff! Na, wartet, wenn ick erst wiederkomme!

Sein Ärger vergeht, als er unten ist. Viele Neugierige stehen jetzt da, Schutzleute müssen ihm die Fahrbahn frei machen ... Nun kommt Grundeis gestürzt, springt in den Wagen ...

»Los!« ruft er. »Aber halten Sie den Gaul fest, jetzt sollen Sie mal was hören!«

Und kaum hat sich die Droschke in Bewegung gesetzt, so beginnt ein ohrenbetäubendes Tuten, Hupen, Heulen um den ganzen Platz herum. Alle Autos hupen, sie scheinen in einem bestimmten Takt zu hupen ...

»Die Berliner Chauffeure bringen Ihnen ein Ständchen!« schreit Grundeis in Hackendahls Ohren. »Hören Sie nicht: ›Muß i denn, muß i denn zum Städtelein hinaus ...‹?«

»Nich de Bohne!« schreit Hackendahl zurück. »Det is doch: ›Wem Jott will rechte Junst erweisen!‹ Det is doch jenau zu hören! Mensch, sind Sie aber unmusikalisch!«

Der Lärm wirkt ansteckend. Wie rasend bimmeln die Elektrischen, die Jungen pfeifen auf zwei Fingern, die Menschen schreien sich lachend an, Fetzen des Marsches, den die Kapelle spielt, wirbeln durch den Tonsalat. Mit zornroten Gesichtern rennen die Schupos herum und brüllen die Chauffeure, diese Unruhestifter, an.

Den Zylinder schwenkend, fährt der alte Hackendahl durch den Trubel. Allmählich schwillt der Lärm ab, die Kapelle bläst noch einen Tusch. Hackendahl tippt den Braunen mit der Peitsche an. Grasmus fängt an zu traben, und sich umdrehend, fragt Hackendahl: »Na, Herr Jrundeis, wie is't? Fahren Se noch mit? Bis jetzt waren Se mein injeladener Jast, aber von nu an heeßt et Taxe ...«

Und damit drückt er auf den Hebel der Taxuhr, das Frei-Schild verschwindet, und wie eine simple Droschke fahren sie nun durch die Stadt. Tausendmal ist der Alte so gefahren, heute hängt ein bißchen Grün am Wagen, und hinten ist ein Schild, das die Leute nicht sehen oder zu spät sehen ...

»Bis Potsdam müssen Sie aber heute noch kommen«, sagt Grundeis mahnend.

»Potsdorf?! Ick fahr heute bis Brandenburch, Herr Jrundeis«, sagt Hackendahl voller Verachtung. »Da würde ick ja schön spät nach Paris kommen, wenn ick heute schon in Potsdorf in de Falle kriechen wollte.«

Der Braune trabt schneller.

»Der denkt, det jeht nach Haus. Det jeht ooch nach Hause, Grasmus, aber denn noch'n Ende weiter. Haste schon mal von Paris jehört, Grasmus? Faule Jejend, die Jäule sollen da nur Mais kriegen, Grasmus!«

»Warum nennen Sie den Gaul eigentlich Grasmus, was heißt denn das?«

»Weeß ick nich. Det steht uff 'm Zettel vom Verkäufer!«

»Grasmus?«

»Natürlich, haben Sie wat jejen den Namen? Er macht ebent aus Gras Mus.«

»Halten Sie an, Hackendahl! Mir wird schlecht! Erasmus hat da sicher gestanden.«

»Weeß ick nich. Wat heeßt denn Erasmus?«

»Erasmus war ein frommer Mann.«

»Nee, nee, Rotkopp, da bleib ick lieber bei Grasmus. Fromm und denn nach Paris – det is nich! Aber, Herr Grundeis, die Droschke sieht nach jar nischt aus, die Leute kieken sich überhaupt nich nach um.«

»Na ja, hier sind sie Droschken noch gewöhnt. Seien Sie erst mal draußen ...«

»Nee. Nee, det muß'n bißcken nach wat aussehn. Und ick weeß ooch schon, wat ick tue ...«

So hält er denn vor dem Laden der Witwe Quaas und kauft den gesamten Fahnen- und Fähnchenvorrat auf. »Det haben Sie zu zahlen, Grundeis. Det sind Unkosten, laut Vertrag. Wat, Frau Quaas, wie is't, wollen wir hier noch einen scherbeln, als der Schwiegervater die Schwiegermutter nahm ...?«

»Herr Hackendahl, Sie sind doch sonst ein ernster Mann ...«

»Heute nich. Heute jeh ick uff Reisen. Heute fahr ick nach Paris. Is der Heinz da? Natürlich nich! D. u.: dauernd unterwejens. Und grüßen Sie ihn schön, er soll machen, det det anders hier aussieht, bis ick wiederkomme. – Irmchen? Irmchen is plätten? Tüchtige Frau! Können Se ooch von mir grüßen! Nee, warten tu ick nich mehr. Ick habe det eilig nach Paris. Feste anmachen die Fahnen, Rotkopp! Det soll doch 'ne Weile halten. Und in jede Stadt, wo ick komme, koof ick mir 'ne Stadtfahne zu. So wat muß doch'n bißken jefällig aussehn. Da muß man ebent Sinn for haben. Ansichtskarten jefällig? Der varrückte Droschkenkutscher mit de varrückte Idee Berlin – Paris – Berlin, Stück'n Jroschen. Een janzer Lackpott voll Varrücktheit und was daruntersteckt for'n Jroschen ...«

»Der Mann ist ganz durchgedreht«, piept die Witwe Quaas.

»Nu man weiter!« mahnt Grundeis. »Sie wollen doch noch bis Potsdam.«

»Bis Brennabor, Rotkopp!« sagt Hackendahl, fährt aber wirklich los. Dann dreht er sich um. »Wissen Se, Herr Jrundeis, wenn det erst überstanden wäre, jetzt mit Muttern! Mutter denkt immer, ick halt es nich durch. Ick komm nich wieder, sagt se. – Jott, da steht se!«

Wirklich, da steht sie, am Rand des Bürgersteigs. Eigentlich steht Mutter nicht, sondern sie sitzt auf einem Sack Hafer, der hier eingeladen werden soll, gewissermaßen als eiserne Ration für Grasmus.

Um Mutter stehen viele Menschen. Und siehe da: fünf, sechs Pferdedroschken halten hier auch. Es ist nicht so überwältigend wie beim Roten Haus – es ist eben Wilmersdorf, es ist Wexstraße. Aber es ist doch ganz schön.

»Mutter, wat machste? Hier, mitten uff de Straße ... vor alle Leute ...«

»Was schadet denn das, Vater, wo du uns doch unter die Leute gebracht hast. Da, iß ... Und der Grasmus muß auch noch fressen. Das lasse ich mir nicht nehmen ...«

Und Gustav Hackendahl, der eine Person des öffentlichen Lebens geworden ist, setzt sich in eine Ecke der Droschke und ißt noch einmal Eisbein mit Sauerkraut und Erbsenpü. Und Frau Hackendahl sitzt in der anderen Ecke der Droschke und weint und versichert, daß sie ihn nie lebend wiedersehen wird, und bindet ihm Warmhalten auf die Seele und immer gut warm essen und nicht soviel trinken!

»Aber wiedersehen tu ich dich nicht ...«

Ab und zu unterbricht Gustav sein Essen und verkauft Ansichtskarten. Auf dem Bock aber sitzt der junge Grundeis, hat das Notizbuch auf den Knien und komponiert seinen ersten Riemen. Es ist vielleicht kein dichterischer Gegenstand, schwer nur ließe sich ein Sonett darüber machen, auch keine Ode, keine Terzinen. Aber es scheint ihm doch was wie Leben, irgend etwas Unverwüstliches, was? Dies alte Ehepaar da hinten in der Droschke, Weinen und Essen, Verzweifeln und über trockene Strümpfe reden ... (Natürlich werden sie mir die schönsten Sachen wieder rausstreichen!)

Endlich, es ist schon fast drei Uhr geworden, setzt sich die Droschke in Bewegung, aus Berlin heraus, westwärts, nach Paris zu ...

 

10

Die Droschke Nummer 7 ist durch Berlin gefahren, und nun ist sie fort.

Viele Menschen haben sie hindurchfahren sehen, sie haben ihr zugelacht und nachgewinkt, und dann haben sie wieder an anderes gedacht. Kaum einer, der an diesem Nachmittag, an diesem Abend noch etwa sagt: »Hast du auch die Droschke gesehen mit dem Kutscher, der nach Paris fahren will? Der olle Mann hat Mut!«

Der alte Mann hat wirklich den Mut. Er ist nun aus Berlin herausgekommen, Grasmus trabt munter, es geht gegen Potsdam zu und dann nach Potsdam hinein. Auf der Polizeiwache, wo er sich die Durchfahrt bescheinigen läßt, lachen sie. »Das wird Ihnen noch über werden! Wo wollen Sie denn hier übernachten?«

»Bei euch? In Potsdorf? Ick übernacht nur in bessere Städte! Ick fahr heut noch bis Brennabor!«

»Dann müssen Sie sich aber ranhalten! Geben Sie Ihrem Braunen Saures!«

»Wird jemacht, Herr Oberwachtmeister, und danke ooch schön. Hier habt ihr 'ne Karte, die könnt ihr bei euch uffbammeln, det ihr ooch saren könnt, der eiserne Justav is bei euch jewesen!«

Dann fährt er wieder weiter, die Dämmerung, der Abend, die Nacht bricht herein. Er kommt über die Havel, er kommt nach Werder. Bis hier ist er ein paarmal gefahren. Nicht oft, aber doch ein paarmal in den vielen Jahren, da er Droschke fuhr. Das waren noch die fetten Zeiten, da brachte solche Fuhre zwanzig Mark, und zwanzig Mark waren damals mehr als heute. Auf dem Heimweg waren immer alle von dem Obstwein knille. Man mußte aufpassen, daß man nicht mit knille wurde. Man hatte aufzupassen, daß man seine Fuhre richtig durchsteuerte. Nun, man hatte sie richtig durchgesteuert – bis hierhin!

Wenn er jetzt zurücksieht, erblickt er über Berlin einen großen strahlenden Schein, es ist, als flösse aus den Wolken Licht auf diese Stadt. Dort, wo er fährt, ist alles dunkel, und dort, wohin er fährt, ist auch alles dunkel. Aber er weiß, daß er nicht nur von einem Lichtschein fortfährt, sondern daß es auch einem anderen Lichtschein entgegengeht, einem Schein, der noch größer sein soll als der hinter ihm.

Wenn man so etwas weiß, macht es nichts, daß man gerade im Dunkeln fährt, man muß nur wissen, daß es ins Helle, zum Licht geht. Es gab eine lange Zeit, da fuhr man völlig im Dunkel. Hinter sich Dunkel, vor sich Dunkel, um sich Nacht. Er kann sich noch sehr wohl an seine Nuttenfuhren erinnern. Er hat es durchgesteuert, irgendwie, er weiß eigentlich nicht mehr wie, aber plötzlich war es dann alle. Und nun fährt er der fernen, fernen Helle entgegen.

Wenige denken jetzt noch in Berlin an ihn, kaum ein paar ...

Da ist die Frau, sie sitzt am Fenster und sieht auf die Straße. Die Gaslaternen brennen, nur noch wenig Menschen sind unterwegs.

Sie ist immer eine weinerliche, mutlose Frau gewesen, aber heute abend ist sie richtig traurig. Sie sitzt in ihrem Stuhl, es wird immer später, sie möchte ins Bett. Aber sie wagt es nicht, sie wird immer trauriger. Eigentlich ist ja nichts gegen sonst verändert: wie oft hat Vater Nachtdroschke gefahren! Es ist nicht das Gefühl, daß nun kein Mann mehr im Hause ist ...

Sondern es ist etwas Trauriges, etwas Todtrauriges. Wie er zuerst davon geredet hat, dachte sie, er ist verrückt. Und wie Heinz ihr davon erzählt hat, hat sie gehofft, der Junge gibt es nicht zu. Und wie er krank geworden ist, hat sie geglaubt, es wird nichts daraus ...

Und nun ist doch etwas daraus geworden ...!

Wieder hat er seinen Willen gekriegt. In ihrer ganzen Ehe weiß sie kein einziges Mal, wo er nicht seinen Willen gekriegt hätte. Immer hat sie nachgeben müssen. Das ist etwas Schreckliches, das ist wirklich etwas Todtrauriges. Sie macht Vatern keine Vorwürfe, Vater ist immer gut zu ihr gewesen. Sie wünscht auch nicht, daß irgendwas mit seiner Fahrt schiefgehen möchte – nein, sie gönnt Vatern alles! Nur, sie hätte gern ein einziges Mal ihren Willen gekriegt im Leben! Sie möchte ein einziges Mal wissen, daß sie recht behalten hat. Sie hat sich mit den Kindern gegen ihn verbündet, sie hat ihm nie geholfen – und doch hat er immer recht behalten. Er hat hundertmal, tausendmal unrecht gehabt mit seiner Starrköpfigkeit, mit seinem Anschnauzen – und immer hat er recht behalten! Sie möchte nur wissen, wie das kommt. Es ist ungerecht verteilt im Leben ...

Sie seufzt. Todtraurig sitzt sie und starrt auf die immer einsamer werdende Straße. Sie hat kein Licht gemacht, sie sitzt in der dunklen Stube. Jawohl, in einer dunklen Stube saß sie von eh und je, und nie hatte sie Licht gemacht. Das war ihr nicht gegeben.

Dies ist ein Mensch, der an den eisernen Gustav denkt, auf seiner Fahrt nach Paris ...

   

Irma und Heinz sitzen am Abendbrottisch, das Kind Otto schläft schon.

»Vater war noch hier mit seiner Droschke«, berichtet Irma.

»Was hat er denn gesagt?« fragt Heinz.

»Ich war nicht hier, ich war plätten. Er hat Mutter all ihre Papierfahnen abgekauft und damit seinen Wagen geschmückt.«

»Der Mann war ganz durchgedreht«, piepst die Quaasin, die schon im Bette liegt, aus dem dunklen Nebenzimmer. »Mit mir hat er auf der Straße tanzen wollen! So habe ich den Mann noch nie gesehen!«

»Also fidel war er«, sagt Heinz nachdenklich. »Es war vielleicht doch gut, daß wir ihm seinen Willen gelassen haben.«

»Natürlich war es gut«, bestätigt Irma. »Vater hat endlich mal wieder eine Freude gehabt!«

»Aber wenn er wiederkommt? Was macht er dann? Fährt er dann wieder Droschke, und wo bleibt dann seine Freude?« Er bricht ab, versinkt in Gedanken.

Dies sind zwei andere Menschen, die an den alten Hackendahl denken.

   

Die Abendzeitungen hatten natürlich eine kurze Notiz über die Droschkenkutscherfahrt Berlin – Paris – Berlin gebracht. So gab es vielleicht doch noch einige Leute mehr, die an den alten Mann dachten.

Etwa ein paar frühere Kutscher von ihm. »Mutter, das ist der olle Hackendahl, eiserner Gustav nannten wir ihn, für den ich kurz vor dem Kriege gefahren bin, du weißt doch noch? Dreißig Droschken hatte der Mann zu fahren, und jetzt macht er so was! Da sieht man, was aus den Leuten wird!«

Oder Rabause, der jetzt die Pferde in einer Brauerei versorgt. Er ist alt geworden, aber er weiß noch genau, wie alles war, in seinem Kopf hat sich nichts verwischt. Sieh da, denkt er. Zu Otto hat er immer gesagt, bloß Arbeit und Pflichterfüllung – und nun macht er so'nen Quatsch! Das sollte Otto bloß wissen!

Oder die Tochter Sophie, die Oberin. Sie streicht das Zeitungsblatt glatt und denkt: Gottlob, daß sie mich hier Frau Oberin nennen, daß keiner von den Patienten den Namen Hackendahl weiß. Es war damals wirklich die höchste Zeit, daß ich ihn heraussetzte! Es ist natürlich eine Alterserscheinung bei ihm, Heinz könnte auch besser auf Vater aufpassen, er gehörte in eine Anstalt ...

Nein, alles in allem: Wenn der alte Mann auf der Chaussee wüßte, wie in der großen Stadt unter dem Lichtschimmer an ihn gedacht wird, viel Ermunterung käme ihm nicht daher. Aber die Dinge, kleine wie große, werden nicht durch den Glauben vollbracht, den die anderen an uns haben, sondern allein durch den Glauben in der eigenen Brust. Glaubt einer nur fest genug an sich selbst, werden die anderen schon kommen – irgendwann sind sie dann alle da (und haben es immer gewußt!).

Eine aber denkt wirklich an den Alten. Sie war einmal sein Liebling, sie war hübsch und sauber, aber das ist sie nun schon lange nicht mehr. Sie sitzt in einer Kneipe am Alexanderplatz, heute ist ihr Arbeiten und Geldverdienen unwichtig. Sie hat die Notiz in der Zeitung gelesen, sie war am Vormittag unter den Neugierigen am Zeitungshaus. Sie hat sich ein paar Postkarten durch einen Jungen kaufen lassen. »Der älteste Droschkenkutscher von Berlin ... Gustav Hackendahl, genannt der eiserne Gustav ... Berlin – Paris – Berlin ...«

Dann ist sie der Droschke bis zum Roten Haus gefolgt, sie hat das Autohupenständchen gehört; sie ist der Droschke weiter nachgegangen bis dort, wo sich die Musikkapelle von ihr trennte. Bis dort, wo sie ihr im Trabe entschwand ...

Der Vater hat sie nicht gesehen, sie aber hat den Vater gesehen. Es ist etwas in ihr aufgeflammt, etwas wie Begeisterung, wie Stolz und Vertrauen. Etwas wie: Ich bin vor die Hunde gegangen, aber der Alte lebt noch. Der Alte ist unverwüstlich, er reißt uns alle heraus ...!

Gott, wie er da auf dem Bock saß, mit seinem rotblondgrauen Vollbart, wie er gelacht hat, wie er mit dem jungen Herrn Witze gerissen hat, wie er seine Ansichtskarten verkauft hat, wie er die Zügel in die Hand nahm, und der Braune ging sofort los – nicht umzubringen, unverwüstlich!

Er reißt uns alle heraus ...

Irgend so was, keine Entschuldigung für sie, kein Freipaß, nichts derart. Mit ihr ist es weit gekommen, tief gekommen, sie ist fast nichts mehr, sie ist verbraucht, alle. Ein paar Monate noch, dann kommt Eugen aus dem Zet, sie sehnt den Tag, vor dem sie zittert, herbei. Sie wird an der Tür stehen, an der Zuchthaustüre zu Brandenburg an der Havel, hoffentlich duldet er sie!

Sie denkt daran, daß er blind ist, und sie denkt daran, wie sie aussieht. Sie hofft nicht, ihn betrügen zu können; trotz seiner Blindheit wird er spüren, daß sie kein Geschäft mehr ist, daß sie zu tun hat, sich allein zu ernähren. Aber sie hofft, er wird sie trotzdem annehmen. Er wird sie schon irgendwie verwerten, ihm wird etwas einfallen, was er sogar noch aus ihr machen kann – bis sie ganz wertlos geworden ist.

Das alles ist nicht so wichtig – so oder so, es dauert nicht mehr lange. Aber sie hat es doch noch erlebt, daß es trotzdem weitergeht mit dem Leben und mit den Hackendahls. Es ist ein tröstliches Gefühl, daß der Stamm noch lebt und grünt, wenn auch der Ast zerbrochen wurde.

Später kommt ein Mann an ihren Tisch, heute ist es ihr nicht recht. Aber sie ist kein freier Mensch. Sie darf wegen des Wirtes den Gast nicht vor den Kopf stoßen, sie hat eine kleine Schuld beim Wirt.

Der Mann gibt einen Likör und ein Bier für sie aus, er gibt noch mal was zu trinken für sie aus. Er möchte sie gerne in Schwung bringen, er selber ist schon mächtig in Schwung. Aber es ist weggeworfenes Geld, mit der ist nichts los. Sie zeigt ihm eine Karte. »Das ist mein Vater!« sagt sie stolz.

»Na, da haste ja Schwein gehabt«, sagt er und starrt blöde die Karte an. Er versteht nicht mehr so recht, was das soll, die Ansichtspostkarte und die Nutte ...

»Fidel wollen wir sein!« schreit er. »Für det Jeld können wir doch ebensojut fidel wie traurig sind. Mensch, Budiker, schmeiß 'nen Jroschen ins Akkordion. Komm, Mädchen, wa tanzen ...«

Und da sie noch immer die blöde Karte anstarrt, reißt er die Karte entzwei. Nun gibt es Geheul und Kratzen und Keilerei und noch mal Geheul und einen Schupo, der beide zur Wache nimmt.

Dies ist wiederum eine, die an den alten Hackendahl auf seiner Fahrt denkt. Aber eine große Hilfe ist sie auch nicht, das kann man nicht sagen. Vielleicht haben ihre Gedanken es gemacht, daß er beim Einfahren in die Stadt zu den hohen, düsteren Wänden emporsieht. Aber an Eugen Bast, diese Art Schwiegersohn, denkt er nicht.

Ein Krankenhaus, überlegt er. Oder ein Kittchen. Det die hier in det Kaff so'n großet Kittchen brauchen. Na, wer weeß ...! Allet schon dunkel. Ick muß machen, det ick in de Stadt komme, sonst find ick keen Quartier for mir un Jrasmussen. Und es is doch noch vadammt maikühle. De Pfoten sind mir janz steif. Na, in Paris wird et wärmer sind ...

Er fährt weiter.

   

Aber noch einer denkt an ihn; und der denkt wirklich mit aller Intensität an den alten Hackendahl, der wünscht ihm nur Gutes!

Der junge Grundeis hätte schon um fünf Uhr nach Haus gehen können, sein Artikel war längst abgesetzt und gematert. Er hatte auch schon den Bürstenabzug gelesen, und natürlich war er genauso verstümmelt, wie man dies von der Ahnungslosigkeit und Mißgunst der lieben vorgesetzten Kollegen erwarten konnte!

Darum hätte er gut nach Haus gehen können.

Aber er konnte eben doch nicht, er war zu ruhelos. Er rannte hin und her in dem riesigen Haus, er verlor sich in dunklen, verlassenen Stuben, und er störte die Nachtredakteure, bis sie mit Tintenlöschern nach ihm warfen. Er stand in der Setzerei herum und hinderte alle und war bei der großen Rotationsmaschine im Wege, die nun schon sauste und klapperte beim Druck der Morgenzeitungen, jener Morgenzeitungen, die seinen ersten großen eigenen Artikel den Berlinern zum Kaffee servieren würden. Den ersten Artikel, der mit seinem Namen gezeichnet war – Grundeis stand darunter.

Fürwahr, es sah trefflich aus: Grundeis stand darunter.

»Haben Sie das gelesen?« fragte er den Meister lässig.

»Stehen Sie hier nicht länger rum, Herr Grundeis!« schrie der Meister. »Lesen – was Sie sonst woll noch alles für Ihren Drecklohn verlangen! Lesen sollen wir den Mist auch noch – es ist doch wahrhaftig genug, daß wir euern bürgerlichen Dreck drucken!«

Denn der Meister gehörte leider einer anderen Partei an und druckte nur mit Gift und Galle das Geschreibsel der Widersacher.

Ruhelos irrte der junge Grundeis weiter, und immer wieder dachte er an den alten Mann auf der Chaussee, der durchaus noch bis Brandenburg hatte fahren wollen, und Potsdam wäre für den ersten Tag doch auch genug gewesen! Und er dachte daran, daß mit dem alten, dem sehr alten Mann all seine Zukunftsaussichten auf Vorwärtskommen und Erfolg über die dunklen Straßen rollten und daß, wenn dem Alten etwas geschah, verschuldet oder unverschuldet, ihm, dem Jungen, in diesem Hause bestimmt nicht wieder eine Chance gegeben würde!

Und er dachte sich aus, daß der Alte krank werden könnte (er war es ja eben erst gewesen), oder daß ein Auto die Droschke anfahren könnte (es kam alle Stunden vor), oder daß der Alte sich betrinken könnte (er hatte so'ne verdächtige Nase), oder daß ein Rad vom Wagen abgehen könnte (die Folgen waren unabsehbar), oder daß er gegen eine Verkehrsbestimmung sich versündigte (und statt nach Paris ins Kittchen kam), oder daß der Gaul Kolik bekommen könnte ...

Je mehr er sich wegen seiner eigenen Torheit verwünschte, seiner Torheit, sich solchen Quatsch auszudenken, statt sich gemütlich zu einem Abendschoppen im Kollegenkreis niederzusetzen; wegen seiner Torheit, nicht einfach denken zu können: Nun, Schicksal, nimm deinen Lauf; wegen seiner Torheit, diesen ausnahmsweise verruchten Beruf gewählt und sich nun auch noch ausgerechnet selbst die Zuchtrute einer Pariser Landpartie aufgebunden zu haben – während alldem wird er immer unruhiger und strubbelköpfiger und verrückter. Und weiß das gut. Und es wird doch noch schlimmer.

Er wühlt in seinen roten Haaren, er klappert mit dem Kleingeld in der Tasche. Wie von Erinnyen gehetzt, jagt er durch die Gänge und Zimmer – und wenn er daran denkt, wieviel Zeit vergehen wird, bis Herr Hackendahl in Paris einzutreffen geruhen, und daß er all diese Tage und Nächte so herumzittern wird, dann wird er erst ganz verrückt!

Ruhig! spricht er zu sich. Nur Ruhe, alter Junge, ein Reporter muß ruhig Blut haben! Ein Zeitungsmann muß sich bei einem Mord kaltblütig Notizen machen können! Du bist viel zu aufgeregt, Grundeis! Du mußt dich abreagieren!

Und er begibt sich in das Zimmer der Lektoren, wühlt (sie werden am nächsten Morgen sehr erfreut sein) in den dort aufgehäuften Romanmanuskripten, nimmt sich eines, liest eine halbe Seite, sagt: »Mist!« Nimmt das nächste, liest zehn Zeilen, sagt: »Bockmist!« Das dritte macht er gar nicht erst auf, er sagt über den Deckel weg, stöhnend aber innig: »Scheiße, oh, so eine verfluchte, verdammte Scheiße! Wer soll denn das aushalten?!« Meint aber diesmal nicht das Manuskript ...

Das läßt er einfach fallen – es fällt in den Papierkorb, wohin bekanntlich bei gut geordneten Zeitungsredaktionen Manuskripte nie fallen. Der junge Grundeis aber ist aufgesprungen, das Licht hat er natürlich brennen lassen, er ist längst weiter.

Zehn Zimmer weiter sucht er in einem Kursbuch. Der Satz »Wer soll denn das aushalten?!« hat ihn auf den Gedanken gebracht, daß er es gar nicht nötig hat, das auszuhalten. Um diese frühe Nachtstunde muß noch ein Zug nach Brandenburg (Havel) gehen!

Natürlich geht noch einer, und obwohl es gar nicht pressiert, stürzt er wie ein Wilder auf die Straße, wirft sich keuchend in eine Autotaxe und stöhnt: »Potsdamer Bahnhof!«

Der Chauffeur bekommt einen tiefen Eindruck von solcher Eile, er jagt mit dem Wagen in vier Minuten zum Bahnhof, er denkt: Der Junge muß an ein Sterbebett!

Und Grundeis stürzt an den Schalter, rennt mit der Fahrkarte die Treppe hinauf, stürmt den noch leeren Zug, belegt ein Abteil, stürzt wieder hinaus, trinkt was, kauft 'ne Zeitung, hinein, hinaus, kauft Obst, hinein, hinaus, hinein ... Endlich fährt der Zug.

Für eine Stunde, für fast fünfviertel Stunden ist er eingesperrt in diesen verdammten Personenzug, der in jedem Kaff hält, der auch in Potsdam hält! Er hat dem Hackendahl gesagt, er soll nur bis Potsdam fahren, aber auf den weisen Rat der Jugend hört das Alter natürlich nie. Der Mann hat sich in den Kopf gesetzt, bis Brandenburg zu fahren – er übertreibt es schon am ersten Tage!

Düster starrt er auf seine Fahrkarte. Auf der Fahrkarte steht zu lesen, daß die Strecke Berlin – Brandenburg zweiundsechzig Kilometer lang ist, und er hat mit diesem alten Steinesel ausgemacht, daß er im Tagesdurchschnitt fünfunddreißig Kilometer fahren soll. Und einem solchen Idioten hat er sein Lebensglück anvertraut!

Eine tiefe Verzweiflung erfaßt ihn: Selbstverständlich wird alles schiefgehen. Alles, was er anfaßt, geht todsicher schief. Der dicke Oberlehrer Blei hat schon auf der Penne zu ihm gesagt: »Grundeis, du brauchst nur mal was zu wissen, dann ist es auch todsicher Quatsch.« Und als die Mutter ihm für das Sommerfest den weißen Anzug mit dem blauen Matrosenkragen anzog und ihn auf den Klavierdrehstuhl stellte, damit er sich bestimmt auch nicht schmutzig machen konnte, bis es losging – wer hat versucht, stehend den Sessel zum Drehen zu bringen, und hat so lange gedreht, bis die Holzspirale zu Ende war, und er mit Sitz, Spirale und weißem Anzug auf die Erde stürzte ...?!

Er! Immer er! Noch nie ist ihm in seinem Leben etwas gelungen. Seine Devise lautet für ewige Zeiten: Grundeis geht mit Grundeis! –

Wehmütig schleicht er durch die dunklen, darum aber nicht weniger holprigen Straßen der Stadt Brandenburg. Wehmütig, zaghaft drückt er die Nachtklingeln der Hotels, wartet geduldig und ergeben, bis ihm verschlafene Wesen ungnädig ihr »Nein, nicht angekommen!« entgegenschleudern, und schleicht sachte weiter, zum nächsten Hotel.

Ach, es ist ja aussichtslos! Wäre eine Bank da, er setzte sich am liebsten auf diese Bank, hätte Mitleid mit sich und wartete geduldig auf das einzige, auf das er feste Aussicht hat: seine Auflösung.

Aber keine Bank ist da. Statt ihrer trifft er eine Art Nachtwächter, und dieser Mann gibt ihm Auskunft, daß der Droschkenkutscher aus Berlin eingetroffen und von ihm ins »Schwarze Roß« gelotst worden ist ...

»Ganz munterer alter Knabe, bloß'n bißken verfroren. Hier gleich um die Ecke, Herr. Ich zeig Ihnen den Weg ...«

Trübselig zottelt Grundeis neben seinem Führer her. Das Ganze ist natürlich ein Mißverständnis, oder die Konkurrenz hat noch einen Droschkenkutscher auf die Tour geschickt. Sein Droschkenkutscher sitzt bestenfalls in Potsdorf, wenn er nicht in einen Chausseegraben gefallen ist ...

Bloß aus Gefälligkeit, seinen Führer nicht zu enttäuschen, geht er mit dem guten Mann mit. Aber es ist natürlich kein Gedanke daran, daß er das »Schwarze Roß« betritt – auf den Leim kriecht er der Konkurrenz nun doch nicht! Womöglich sitzt der dicke Willy vom Abendblatt drin – nein, unter keinen Umständen!

Schon vom Vorraum des »Schwarzen Rosses« hört er brüllendes Gelächter.

»Die Herren sind heute mächtig aufgedreht«, sagt der Oberkellner und lächelt auch recht aufgedreht. »Der Berliner Droschkenkutscher macht ihnen soviel Spaß!«

Kaum läßt sich Grundeis Zeit, seinem Führer ein Trinkgeld in die Hand zu drücken, schon stürmt er in die Gaststube.

Und wie er ihn nun da sitzen sieht, den Ollen mit dem braunen, jetzt vor Wärme und Grog glühenden Gesicht, dem stattlichen Vollbart, im Kreise der Brandenburger Honoratioren, wie er ihn da erzählen hört: »Und ick sare zu dem Zossen, dem Blücher: jüah! – Da fängt det Aas doch an mit Rückwärts jehen, mit Zoofen, meine Herren ...«

Wie er ihn da so sieht ...

Da möchte er sprechen, er, der einzige, der wirklich Anteil an ihm nimmt ...

Er möchte die Arme breiten und sprechen: Göttlicher Greis! Schiff meiner Sehnsüchte und Hoffnungen – schiffe glückhaft zum Hafen!

Er sagt aber nur: »Na, Hackendahl, doch geschafft? Sie sind doch der eisernste Gustav von ganz Berlin!«

 

11

Die Droschke mit dem alten Droschkenkutscher fährt durch Deutschland. Und je weiter das Jahr vorrückt, aus dem nassen, kalten, stürmischen April der warme, sonnige, heitere Maimonat wird, je weiter der Wagen sich von Berlin entfernt, die kargeren, ernsteren Gefilde der Mark verläßt, je mehr er über die Provinzen Sachsen und Hannover sich den fröhlichen Rheinlanden nähert – um so stürmischer, um so begeisterter werden die Empfänge.

In Magdeburg noch ist es nur eine Rekordfahrt: Ein Kilometerzähler wird gestiftet und eingebaut in die Droschke, damit die Dauer der Rekordfahrt auch genau zu bemessen sei. Und der Rekordfahrer, der alte Hackendahl, grübelt nur darüber, ob Grasmus die Fahrt auch aushalten wird. Er ist oft schlapp, der Grasmus; die Dorfställe, in denen er die Nächte gemeinsam mit Kühen oder Schweinen zu verbringen hat, gefallen ihm nicht. »Der Zosse muß sich doch wälzen können, meine Herren!« sagt Hackendahl vorwurfsvoll.

In Hannover noch ist es immer nur eine Sorgenfahrt: Sturm und Regen haben den alten Mann durchkältet, durchnäßt. Werde ich es durchhalten? ist jetzt seine heimliche Sorge. Und die neue Stiftung, ein Gummimantel, wird dankbar begrüßt.

Aber aus dem April wird der Mai, Dortmund und Köln nahen, die Menschen werden aufgeschlossener, fröhlicher – und aus der Rekordfahrt, aus der Sorgenfahrt wird ein fröhlicher, lachender, begeisterter Triumphzug!

Nun gehen am Tage vorher schon die Gemeindediener durchs Dorf, sie schwingen ihre Glocke, sie rufen aus:

»Morgen kommt der Berliner Droschkenkutscher auf seiner Fahrt nach Paris durch. Empfangt ihn, begrüßt ihn, ehrt ihn!«

Und sie empfangen ihn, begrüßen ihn, ehren ihn! An diesem Durchfahrtstage zieht kein Bauer mit seinem Gespann zu Felde, die Schule fällt aus, geschlossen stehen die Klassen mit ihren Lehrern am Weg, Fahnen wehen, kleine Mädchen halten Sträuße bereit und wiederholen angstvoll die Verschen, mit denen sie den fremden alten Reisenden begrüßen sollen.

Und dann kommt der alte Mann. Verstaubt, aber mit vielen Fahnen und Blumen geziert, zockelt die Droschke durch das Dorf. Der alte Mann sitzt oben, sie winken ihm zu, sie jubeln ihm zu. Die Verschen werden aufgesagt, es gibt Willkommtrünke, Steigbügeltrünke – und das Dorf fühlt sich hochgeehrt, wo der Alte vom Bock steigt und seine Mahlzeit im Dorfkrug nimmt, während der Braune, vor der Tür an einen Ring gebunden, immer reichlichere Hafermahlzeiten abhält. Sie ersinnen sich besondere Geschenke für den Kutscher, sie können sich nicht genugtun mit Überraschungen für ihn: Hier wird, während er drinnen ißt, draußen sein Wagen von dem würdigsten Bauern des Dorfes durchgeschmiert, dort beschlagen sie ihm vor der Schmiede seinen Grasmus neu!

Und wie die Dörfer, so die Städte! Hackendahls Einzüge in Dortmund, in Köln gleichen den Triumphzügen eines siegreichen Feldherrn. Von heute auf morgen ist aus dem unbekannten Droschkenkutscher eine fast sagenhafte Figur geworden, von der jedes Wort belacht, jedes Geschichtchen weitererzählt wird. In der Stadt Dortmund sind hundertfünfzigtausend Menschen zu seinem Empfange bereit, die ganze Schupo ist auf den Beinen, die Durchfahrt zu regeln, und doch kommt der Verkehr zum Erliegen. Kopf an Kopf stehen die Menschen, den Durchfahrenden zu sehen. Das Fernamt stellt für zwei Minuten den Telefonverkehr ein, damit all seine Damen doch wenigstens aus dem Fenster den alten Mann sehen können. Sämtliche Pferdedroschken der Stadt geben ihm das Ehrengeleit. Die Fuhrherreninnung veranstaltet Ehrentrünke. Vor den Gastwirtschaften stehen die Wirte und halten überschäumende Biergläser für ihn bereit oder Humpen voll Wein. In seine Droschke werden Geschenke gehäuft: Zigarren, Wein, Likör, aber auch Lebensmittel, Räder von Käse, Tönnchen mit Heringen. Die Sträuße füllen den Fond. Ein listiger Ehrgeiziger zieht im letzten Augenblick ein Tau über die Straße, damit der Parisfahrer vor seinem Hause auch bestimmt halten muß!

Der alte Hackendahl zeigt sich all dem gewachsen. Staunend sieht Grundeis auf seine Schöpfung, Grundeis, der Erfolgreiche, der seiner Zeitung nicht genug Artikel über diese Siegesfahrt liefern kann, Grundeis sieht staunend auf einen noch viel Erfolgreicheren. Solche Begeisterung hätte er nie, auch in seinen kühnsten Träumen nicht, erwartet.

Aber auch nicht solche Sicherheit des alten Mannes. Er tut immer, was die Leute von ihm erwarten, oder wenigstens sind die Leute stets von dem begeistert, was er tut.

Wenn er am Kölner Dom vorüberfährt, und sie starren alle auf ihn und erwarten, daß er etwas tut, was er wohl tut – was in aller Welt kann ein alter Droschkenkutscher wohl angesichts von Tausenden tun, wenn er am Kölner Dom vorüberfährt? Er sieht den Dom an, die Gaffer, wieder den Dom, wieder die erwartungsvollen Gaffer ... Und steht auf und schwenkt den Lackzylinder, Mutters Milchpott, er schreit: »Hoch lebe der Kölner Dom!«

Und alle jubeln, alle sind begeistert.

Wenn aber eine reklametüchtige Eisenfabrik ihm feierlich für seinen Grasmus vier funkelnagelneue Hufeisen überreichen läßt, dann sieht er die Hufeisen an, den Grasmus, den Geschäftsführer im Bratenrock ... Er schüttelt den Kopf: »Nee, nehmen Se die Dinger man wieder! Die passen Grasmussen nich. Der hat 'ne viel kleinere Schuhnummer!«

Drückt die Eisen dem Geschäftsführer in die Hand und fährt los.

Und wieder jubeln sie, wieder sind sie begeistert.

Was sehen sie in ihm, daß sie so begeistert sind, daß sie in der Stadt wie auf dem Lande zusammenströmen, ihn durchaus sehen wollen, alles herrlich finden, was er tut? In immer tollere Empfänge sich hineinsteigern? Was bringt sie dazu?

Nun gut, er ist ein sehr alter Mann, ein Siebziger, der etwas unternommen hat, was schon für einen Dreißiger, einen Vierziger nicht einfach ist.

Aber das ist es nicht allein.

Und er ist einer der letzten Droschkenkutscher, in ihm fährt noch einmal eine alte, absterbende Zeit durchs Land: Sie jubeln dem zu, was ihre Väter waren.

Nun gut, aber auch das ist es nicht allein.

Und nach einer langen Zeit von ewigem Haß, Zwietracht, Zorn fühlen sie gerade wieder ein freundlicheres Gefühl für den alten »Erbfeind« drüben, jenseits des Rheins. Wie ein Versöhnungsbote fährt er zu den Franzosen, ihrem Boten jubeln sie zu – aber auch das ist es nicht allein.

Sondern es ist dies, daß sie sich selber in ihm grüßen, ihren eigenen Lebenswillen, ihre eigene unverwüstliche Lebenskraft. Dieser alte Mann, aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gekommen, hat unendlich viel durchgemacht. Man muß nur in sein Gesicht sehen, dieses faltige Gesicht wie ein scholliger Acker, Jahr um Jahr säte neue Enttäuschung, schlimmere Niederlage, bitteres Entbehren ein.

Aber die Augen sind hell geblieben, der Mund findet immer noch ein Witzwort. Alles, was geschah, hat ihn nicht weich schlagen können, er ist wahrhaft der eiserne Gustav, er hat das Hoffen nicht verlernt. Wenn neunundneunzig Dinge mißlungen sind, kann das hundertste doch gelingen, wir fahren. Wir lachen – wir geben nie die Hoffnung auf. Wir können wohl einmal fallen, aber wir müssen nicht im Dreck liegenbleiben. Wir müssen uns darum nicht aufgeben, wir fahren doch weiter!

Etwas von diesen Gedanken bewegt die Jubelnden, daß sie so sehr jubeln.

Was aber bewegt den alten Mann, der, aus der Stille eines abseitigen, völlig privaten Lebens gekommen, sich plötzlich im Mittelpunkt der Teilnahme eines ganzen Volkes sieht?

Nein, er verliert nicht den Kopf. Weder wird er größenwahnsinnig noch verschüchtert. Dazu ist er zu lebenspraktisch. Er war nie ein Träumer. Er sagt: »Jott, die Leute ...!«

Er versteht sie und ihre Begeisterung nicht; heimlich verfüttert er die Sträuße an Grasmus und seine Stallgefährtinnen, die Kühe; heimlich verhökert er die Geschenke, die Zigarren, die Weine, die Liköre, die Heringe, die Käse an seine Quartiergeber; nie vergißt er den Ansichtskartenverkauf. Es ist ihm zu oft schlecht gegangen, er sieht eine Möglichkeit, eine allerletzte, noch ein bißchen Geld für sich und Muttern zusammenzubringen, und er tut es. Man muß sich nicht genieren, aus einer Sache Geld zu schlagen, die den Leuten Spaß macht – er kommt gar nicht auf den Gedanken, sich zu genieren. (Und das eben gefällt den Leuten wieder.)

Aber er ist nicht so begeistert wie sie. Er trägt ja die Last der Fahrt, und er ist wirklich alt. Je weiter er kommt, um so näher kommt er der Grenze, dem fremden Volk, der fremden Sprache – im geheimen ängstigt er sich. Aber darüber spricht er mit keinem Menschen, auch mit dem brandroten Grundeis nicht.

Je begeisterter sie sind, um so unmöglicher kann er zurück. Er hat schon jetzt Heimweh nach Berlin. Seit seinen frühen Mannesjahren ist er nie mehr aus der Stadt gekommen. Die Berliner, wie sie denken und sprechen, die Straßen und Plätze der Stadt, die Haltestellen der Droschken, die Schupos – das alles ist sein Lebensatem geworden, nahrhaftes Brot, nach dem er jetzt immer Hunger trägt. Als sie einmal ein Schlagerlied von Berlin spielen, von der Straße Unter den Linden, die wieder grün wird, muß er in den Stall laufen, um bei Grasmus die Tränen zu verbergen. Er, der sich nicht erinnern kann, je geweint zu haben!

Aber das alles kommt und geht. Es bleibt nicht. Was bleibt, sind die Jubelnden. Er fährt durch sie, er ist alt, er sieht auf sie herab – von ferne her. Dunkel ist ihm, als bestätigten sie das, was er sein Lebtage gewollt hat. Trotz seines Abstiegs vom Fuhrherrn zum kleinen Kutscher, trotz seiner Mißerfolge mit den Kindern, trotzdem ihm fast alles mißglückt ist im Leben, trotzdem sie jung sind und er alt – trotz alledem jubeln sie ihm zu. Weil er durchgehalten hat, weil er eisern gewesen ist, weil er sich nie aufgegeben hat. Weil er immer geglaubt hat, es hat einen Sinn zu leben, weiterzuleben, auch wenn es einem schlecht geht.

Sie bejahen sein Leben, er das ihre ...

Sie jubeln – und er fährt weiter.

Und nun nähert er sich der Grenze.

 

12

Bei Diedenhofen überschreitet er dann die Grenze, verläßt zum ersten Male in seinem Leben deutschen Boden. Und siehe, da ist er noch einmal, der Jüngling aus dem Zeitungshaus, der brandrote Grundeis. »Na, Vater Hackendahl, heut wird's richtig, was? Kann ich melden: Wir überschritten die Grenze?«

»Na wat denn? Natürlich doch! Wat denn sonst?«

»Angst haben Sie nicht? Mich sehen Sie nun vor Paris nicht wieder!«

»Angst? Vor wat soll ick denn Angst haben? Mir beißt keener! Aber det sare ick Ihnen, jetzt koofen Se mir erst uff Jeschäftsunkosten eenen neuen Striegel und 'ne neue Kartätsche fürs Pferdeputzen!«

»Kommen so lausige Zeiten?«

»I wo! Aber im letzten Kaff, wo Grasmus und icke übernachtet ham, da ham mir doch die Schweine, diese Schweine, glattweg Striegel un Kartätsche uffjefressen. Reine wechjepriemt, es is nich zu sagen! ›Ihr füttert ja eure Schweine hier ulkig‹, hab ick den Leuten jesagt; ›wenn ihr die mal schlachtet, von der Wurscht braucht ihr mir ooch nischt abjeben‹, habe ick jesagt.«

Lachend fährt Hackendahl über die Grenze, dem Häuschen mit den französischen Zollwächtern und Soldaten zu. Von Angst kann keine Rede mehr sein, dem jungen Mann hat er es gesteckt!

»Bonjour!« begrüßt er, lange vorbereitet, die Franzosen.

Sie lachen. »Guten Tack!« rufen sie. »Guten Tack!«

Vom Schlagbaum aus sieht Grundeis zu. Und muß gleich eingreifen, denn schon sind auf beiden Seiten die fremden Sprachkenntnisse erschöpft. Und es ist gar nicht einfach mit dem Zoll. Bürgschaft muß hinterlegt werden, daß Wagen und Pferd spätestens in einem halben Jahr Frankreich wieder verlassen, Verpflichtungen müssen unterschrieben werden. Der eiserne Gustav ruft über den Schlagbaum: »Na, wenn ick vorher sterbe, müssen Se selbst die Droschke zurückfahren, Rotkopp!«

»Tu ich, mach ich. Gerne! Aber Sie sterben doch nie, Hackendahl, unverwüstlich!«

Und er sieht dem alten Mann lange nach, sieht ihm noch nach, als er ihn schon längst nicht mehr sieht. Grundeis ist nicht mehr Redaktionsvolontär, er ist emporgestiegen wie ein strahlender Meteor. Die Fünfzeilennotizen muß nun jemand anders schreiben ...

Aber dem noch Unerreichten gegenüber hat man stets nur wenig erreicht. Grundeis fleht jetzt, daß der alte Mann Paris erreicht. Die Empfänge in Paris, die Artikel über Paris werden alles bisher Geschriebene übertreffen. Nur noch Paris! Bitte! Bitte! fleht Grundeis in sich das Schicksal an, während er der entschwundenen Droschke nachstarrt.

Und die Droschke fährt und fährt. Es ist nicht so schlimm, wieder einmal hätte man keine Angst haben müssen. Denn die Leute hier sind Lothringer, sie sprechen deutsch, sie können sich mit ihm verständigen. Es sind natürlich nicht die jubelnden Empfänge wie in Deutschland. Es geht alles leise, fast bedrückt zu. Es ist, als lebe hier, zehn Jahre nach Kriegsende, der Krieg noch viel stärker als in Deutschland, das doch das besiegte Land sein soll ... als lebe er als Druck stärker bei den »Siegern« ...

Dann sieht Gustav Hackendahl nicht nur in den stilleren Gesichtern der Bewohner, wie sehr der Krieg in diesem Lande noch lebendig ist. Von Conflans-Insray bis Chalons-sur-Marne, viele Tage lang rollt sein Wagen über alte Schlachtfelder, durch zerschossene Dörfer, zwischen stundenweiten Friedhöfen. Er kommt durch Verdun, einmal stand in den Zeitungen der ganzen Welt tagtäglich dieser Name Verdun, in die Herzen aller Daheimgebliebenen war er eingegraben als der Schauplatz unerhörter Anstrengungen und Opfer ...

Jetzt ist es bloß ein Städtchen mit zwölftausend Einwohnern. Aber um die Lebenden wohnen die Toten, die Gräber von fünfhunderttausend Toten bedrängen die Wohnstätten der zwölftausend Lebenden!

Er fährt hindurch, er fährt hindurch. Viele Tage fährt er hindurch. Er hat gelernt, daß schwarze Kreuze deutsche, weiße Kreuze französische Kriegsgräber bedeuten. Neben den Landstraßen liegen die Friedhöfe; wo er hinsieht, liegen die Gräber, sie steigen über Hügel und Berge, die Täler sind erfüllt von Kreuzen. Wie viele schwarze Kreuze!

Es ist nicht zu vermeiden, daß er an Otto denkt, der einmal sein Sohn war. Er ist auch hier gefallen, in dieser fremden Erde muß er liegen ... Er versucht sich an den Ortsnamen zu erinnern. Viele Namen weiß er noch, unauslöschlich durch die Heeresberichte eingeprägt: Bapaume, Somme, Lille, Péronne ... Aber den Namen von Ottos Friedhof weiß er nicht mehr, wenn er ihn je gewußt hat ...

Manchmal hält er Grasmus an, er steigt schwerfällig vom Bock, geht über den Graben, auf einen der Friedhöfe, irgendeinen, geht die endlosen Kreuzalleen entlang, bleibt hier stehen oder dort – gleichviel. Er steht dann eine Weile, manchmal kommen Friedhofswärter, Gärtner an ihn heran, suchen zu erfahren, welches Grab er sucht. Er schüttelt den Kopf, es kommt nicht darauf an.

Es ist jedes Grab recht und keines. So nahe stand ihm der Sohn nie, daß es ein bestimmtes Grab hätte sein müssen ... Sie alle, die hier liegen, waren viel jünger als er, als sie sterben mußten, er ist unendlich viel älter als sie. Und jetzt sind sie zeitlos geworden, aber er ist noch immer in der Zeit, er möchte beinahe fragen, warum?

Wenn er da so steht, kommen die Touristen in Scharen an ihm vorüber, von Führern geleitet, alle Sprachen hört er ... Wenn er weiterfährt, wenn die Droschke über die langen, grauen Straßenbänder schaukelt, rasen die großen Aussichtsautobusse an ihm vorüber, vollgestopft mit Engländern, Amerikanern ... Die Führer tuten in ihre Megaphone ... In Trupps und einzeln weht das an ihm vorüber ... Neugierige und Trauernde, Leere und die immer noch ganz von Trauer erfüllt scheinen ... Noch immer wehen Witwenschleier, noch immer knien Mütter an den Gräbern ihrer gefallenen Söhne ...

Er fährt weiter, immer weiter. Er fährt durch die Ruinen, die künstlich als Ruinen erhalten werden, die Schaulustigen sollen auch etwas anderes als Gräber zu sehen bekommen. Auf den Wegweisern steht: »Zu den Schlachtfeldern«. Neben den Friedhöfen sind Hotels erstanden, damit die trauernden Lebenden nahe bei ihren Toten wohnen können. Noch immer wird der Boden durchwühlt nach Waffen, nach Granaten, und noch immer werden Tote gefunden, Skelette, die die Friedhöfe weiter vergrößern. An den Wegen sitzen die Andenkenverkäufer, Bleistifte, Vasen, Aschenbecher aus Patronenhülsen und Granaten werden verkauft.

Die Toten halten alle Äcker besetzt. Es wird nicht mehr gepflügt, gesät, geerntet – sondern die Toten ernähren die Lebenden. Eine ganze Provinz lebt von ihnen, lebt vom Krieg, der vorüber ist und der doch nicht vorbei ist.

Hier bereiten die Menschen dem alten Hackendahl keine jubelnden Empfänge. Sie sehen sich kaum nach der Berliner Droschke um. Hier sind sie die seltsamsten Gestalten gewohnt, Besucher aus aller Welt, Neugierige aus Australien, Trauernde aus Asien, dunkle Gestalten aus Afrika.

In den Herbergen muß er Quartier nehmen wie jeder andere Besucher. Schwer ist es oft, Stall und Futter für den Braunen zu finden. Er muß zahlen wie alle ...

Oft trifft er Deutsche. Sie gehen auf die Friedhöfe, sie nicken ihm zu. Ach ja, sie haben von ihm gelesen. Schön – wie lange ist er schon unterwegs? Sehr gut. Ja, nun müssen sie weiter, sie müssen ihre Toten suchen. Es ist so schwer, hier unter all den Toten einen bestimmten Toten zu finden! Alle Gräber gleichen einander! Hat er hier auch jemanden von seiner Familie? Einen Sohn? Ja, natürlich, jeder hat hier irgendeinen Toten zu liegen, es gibt wohl kaum eine Familie, die verschont ist! Hat er das Grab schon gefunden? Nun, er wird es schon finden, sie geben hier gerne Auskunft ...

Aber er sucht nicht mehr. Er meint, es kommt nicht so genau darauf an. Alle Gräber gleichen einander, alle Toten gleichen einander. Traurig ist er nur über die unendlich vielen Toten, daß aus soviel Opfer und Mut nichts wurde als Zusammenbruch, Elend, Streit ...

Langsam fährt er weiter. Noch nie ist er sich so alt und verbraucht vorgekommen wie gerade jetzt, ein Alter, ein noch Lebender zwischen Millionen Jungen, schon Toten.

 

13

Am 4. Juni, zwei Monate und zwei Tage nach seiner Abfahrt aus Berlin, hält Gustav Hackendahl Einzug in Paris. Er hält wahrhaftig Einzug – Paris empfängt ihn wie einen Fürsten.

Die jubelnden Begrüßungen seiner Fahrt durch Deutschland wiederholen sich, die Pariser können sich nicht genugtun in Ehrungen des alten Mannes. Die Straßen sind übervoll, die Pariser Droschkenkutscher empfangen den Berliner Kollegen, die Pariser Studenten spannen ihm Grasmus aus und ziehen die Droschke im Triumph durch die Stadt. Auf dem Bock thront der alte Hackendahl, im Fond sitzt der junge Grundeis.

Alles ist lachend, beschwingt, übermütig, es ist doch nicht so wie in Deutschland! Hier grüßen sie nicht den alten Mann, der schlimme Zeiten überdauerte, ohne den Mut zu verlieren, hier ist es Sport, hier ist es Verbrüderung: Die Fahrt selbst ist es und das fremde Volk, das man grüßt, ehrt.

Es gibt feierliche und übermütige Diners, der junge Grundeis hat ausgezeichnet vorgesorgt. Empfang beim Botschafter, Empfang bei der englisch-amerikanischen Presse, feierliche Ansprachen, aber auch lachende Mähler mit den Studenten. Die Überreichung des Goldenen Ehren-Hufeisens, an der Kette um den Hals zu tragen. Grasmus darf im Saal stehen und zuschauen, in einer Porzellankrippe wird ihm ein vielgängiges Haferdiner serviert ...

Hackendahl blüht auf, der Alterstrübsinn verschwindet, sein Ruhm erstrahlt von neuem. Er dichtet den Vers: »Was Lindbergh mit dem Flugzeug hat vollbracht, hat der eiserne Gustav mit der Droschke auch gemacht!«

Aber Grundeis übertrumpft ihn; alle Zeitungen bringen das Bild des jungen Redakteurs. Er sitzt in der Droschke sieben. Darunter steht die Unterschrift: »Wie ich von Berlin nach Paris komme, Kollege? Ich nehme mir einfach 'ne Droschke!«

Gelächter, Jubel und Trubel. Zwei Zentner Sträuße im Hotelzimmer. Geschenke über Geschenke. Andenken für Muttern aus Paris. Regimenter von Champagnerflaschen. Der Siebzigjährige steigt in ein Flugzeug, sieht sich die Welt von oben an. Er macht alles mit, unverwüstlich, lachend ...

Etwas Besonderes ...? Etwas ganz Besonderes ...?!

Bei einem übermütigen Frühstück wird der Gedanke geboren: Wettfahrt zwischen dem ältesten Berliner und dem ältesten Pariser Droschkenkutscher. Die Strecke geht über dreihundert Meter.

Großartig!

Nur großartig? Bedenken kommen. Wer soll gewinnen? Wer darf gewinnen? Die Gefühle sind noch so leicht verletzlich: Darf der Deutsche den Franzosen schlagen, besiegen, hier in der Hauptstadt Frankreichs? Unmöglich! Aber darf der Gast besiegt werden, er, der Siebzigjährige, der tadelfrei eine solche Leistung vollbracht hat? Ebenso unmöglich!

Endlose Beratungen. Verschwörungen – Beschwörungen. Schließlich die Lösung, streng geheim, durch Schwüre besiegelt: Die Gegner werden ehrenwörtlich verpflichtet, gleichzeitig ans Ziel zu kommen ...

»Sehn Sie's ein, Hackendahl, es geht nicht anders! Blamieren Sie uns nicht! Zügeln Sie Grasmus! Bedenken Sie, unser Botschafter ... Die französische Nation ... Es könnte Konflikte geben, die diplomatischen Beziehungen der beiden Länder, offiziell ein wenig gebessert ... Sie sehen es ein?«

Hackendahl sieht es ein, er gibt sein Ehrenwort.

Der andere gibt auch sein Ehrenwort.

Das Marsfeld ist abgesperrt, zu Tausenden stehen die Neugierigen, von den Blauen in Schranken gehalten, viele Studenten mit ihren Mädchen. Sie jubeln, als die beiden Gegner auffahren, diese Gefährte aus alter Zeit, und ringsum parken die Autos! Sie jubeln den beiden zu; der eine zieht seinen schwarzen Lackhut, der andere den weißen Zylinder. Nebeneinander fahren die beiden Wagen auf, Hackendahl mit Grasmus, der Gegner mit einem knochigen, langbeinigen Schimmel ... Die Wetten für Deutschland stehen günstig ...

Grundeis beschwört noch einmal Hackendahl: »Sie wissen, was Sie versprochen haben!«

»Wenn Se ooch eenmal mit Jrasmussen reden wollten, Herr Jrundeis! Er is so übermütig! Die jeben ihm zu fressen und zu fressen, und aus'm Stall kommt er nich. Ick kann ihn kaum halten ...«

»Blamieren Sie uns nicht, Hackendahl! Ich beschwöre Sie ...«

»Ick tu, wat ick kann, Herr Jrundeis. Valassen Se sich bloß uff mir ...«

Den Gäulen zwar nicht, aber beiden Fahrern wird ein Glas Champagner gereicht. Sie winken sich zu, von Bock zu Bock geben sie sich noch einmal die Hand. Grasmus beschnuppert neugierig seinen Gegner. Ach nein, nicht so neugierig wie gefräßig. Er will dem Schimmel die Girlande abfressen. Der Schimmel legt die Ohren nach hinten und zeigt drohend seine langen gelben Zähne ...

Brausender Jubel.

Der Startschuß ertönt. »Na, denn man los, Grasmus!« sagt Hackendahl und hält die Zügel stramm, damit der Braune nicht gleich zu sehr losgeht ...

Der andere hat auch, eingedenk seines Ehrenwortes, den Schimmel zurückgehalten. Achtsam das Auge auf den anderen, um ihm nicht voranzukommen, aber auch nicht hintennach zu bleiben, beginnen sie das Rennen – im langsamsten Schritt!

Gelächter, Rufe ... Anfeuerungen ...

Ick trau ihm nich, sagt Hackendahl zu sich, immer das Auge auf den anderen gerichtet. Nachher legt er los, und ick bin zweiter Sieger! Immer langsam voran ...

Der Feind denkt nicht anders, es wird eine Langsamkonkurrenz ...

Rufe ... Geschrei ...

»Nu aber los! Schiebung!«

Grundeis taucht, rot im Gesicht, neben der Droschke auf: »Los, Hackendahl, Sie müssen doch fahren! Fahren, Mensch!!«

»Ick trau mir nich. Wenn Grasmus erst läuft ...«

»Trab, nur Trab, Hackendahl, ich beschwöre Sie ...«

»Da jeht er hin!«

Ein erzürnter Student, von Nationalstolz fiebernd, hat dem Schimmel seine Mütze gegen die Augen geschleudert. Der Schimmel hat einen überraschenden Satz getan und jagt los, in voller Karriere ...

»Schuft!« schreit Hackendahl. »Betrüger!«

Jetzt bekommt Grasmus die Peitsche zu spüren. Aufrecht steht Hackendahl. »So haben wir wiederum nicht gewettet. Besiegen lassen wir Deutsche uns noch lange nicht von euch! Los, Grasmus!«

Schlag auf Schlag, hier wie dort! Vergessen sind alle Ehrenwörter. Die Kutscher treiben, die Menschen treiben. Grundeis schreit: »Los, Hackendahl! Deutschland voran!«

Und sein Kontrahent, der Vertragspartner mit dem Ehrenwort, schreit ihm wütend ins Gesicht: »Vive la France, en avant la France!«

»Deutschland!«

»Frankreich!«

»Los!«

»Schneller doch, Hackendahl, Mensch! Gib ihm!«

Wie die alten Droschken rütteln und schütteln, wie sie wacker dahinbrausen! Die Pferde springen im Geschirr, die Peitschen schwingend, stehen die Kutscher aufrecht, der Braune holt auf, der Schimmel bleibt zurück ...

»Siehste woll, du wortbrüchijet Aas!« schreit Hackendahl zornig.

Er ist jetzt auf der Höhe des anderen, nahe ist das Ziel ... Der Schimmel will nicht mehr, der Braune wird es schaffen, Deutschland macht das Rennen ...!

Und ein Krachen!

Die beiden Kutscher, die nur füreinander Augen hatten, nicht für den Weg, sind mit ihren Wagen zusammengefahren. Rad hängt im Rade, die Kutscher wanken, wollen fallen, einer greift um Halt nach dem anderen ...

Und so gehen sie durchs Ziel, eng sich umschlungen haltend, gleichzeitig, getreu dem gegebenen Worte!

 

14

Es ist Herbst geworden, als Gustav Hackendahl sich wieder seiner Heimatstadt nähert. Sein rotgelber Bart wurde grau, der bei der Abfahrt weiße Zylinder ist von Namenszügen und Stempeln völlig bedeckt, schmutzigschwarz ist er.

Kaum wiederzuerkennen ist der ganze Mann, der junge Grundeis geht staunend um ihn herum. »Mensch, Justav, wat haste dir verändert! Ordentlich mager sind Sie geworden!«

»Zweiundzwanzig Pfund ha'ick abjenommen. Mutter wird uff mir schimpfen. Mutter war immer jejen die Fahrt!«

»Aber wieso denn? Am Essen kann's doch nicht gefehlt haben, Hackendahl! Sie sind doch überall wie ein Fürst empfangen!«

»Ach, Essen! Aber die ewigen Leute! Jott, Herr Jrundeis ick kann Ihnen jar nich sagen, wie leid mir de Leute sind. Ick kann se jar nich mehr sehen, ick bin schon immer hintenrum jefahren, wo't irjend jing. Immer Jubel und immer eiserner Justav ... Und wat is schließlich mit einem los? Jar nischt is mit einem los! Bruch is et!«

»Na, erlauben Sie mal, Hackendahl!«

Grundeis wird eifrig, der Berliner Empfang, die Krönung der Fahrt, scheint bedroht. So müde ist der alte Mann, so mißvergnügt, so verbraucht!

Er redet ihm gut zu. Er sei eben reisemüde, das sei ja zu verstehen. Aber er habe doch immerhin etwas geleistet, er solle nur in die Zeitung schauen. Ganz Berlin freue sich auf seinen Empfang.

»Jott, die Balina, die wollen ooch imma wat Neuet sehen. Wenn Se denen 'nen jrün anjestrichenen Affen zeijen, denn loofen die jenauso wie nach mir!«

»Sagen Sie das bloß nicht, Hackendahl! Das wissen Sie ganz gut, was Sie geleistet haben! Und was Schönes haben Sie doch auch in den letzten Monaten vor sich gebracht! Für Ihren Lebensabend müssen Sie sich nicht sorgen!«

»Ach wat, Lebensabend! Ick brooch keenen versorchten Lebensabend! Ick bin froh, wenn ick wieder Droschke fahren kann! Janz richtig – wie früher. Inkognito, verstehn Se! Det Kognito ha'ick über!«

»Hackendahl, Mensch, eiserner Gustav, seien Sie doch noch einmal eisern! Sehen Sie sich in den Zeitungen das Empfangsprogramm an, da werden Sie schon anderer Stimmung werden!«

Hackendahl schießt ihm einen schiefen, bösen Blick zu. »Reden Se bloß nischt von Zeitungen! Mit de Zeitungen bin ick böse! Wat die allens über mir schreiben!«

»Aber wieso denn? Was wird denn Böses von Ihnen geschrieben?«

»Ach, reden wa nich davon! Aba et hat mir mächtig jejiftet.«

»Na, was denn? Nun mal raus damit, Hackendahl.«

»Det ick zu fein für Droschke jeworden bin, det ick im Auto von Paris nach Hause jefahren bin, det haben die jemeinen Hunde von mir jeschrieben«, bricht es aus Hackendahl. »Sie nich, Jrundeis, det weeß ick, Sie machen so'nen faulen Zauber nich mit! Aber die andern! Ick will Ihnen saren, wie es jewesen is. Ick habe mir festjesetzt bei einem Schoppen, die Jungens wollten mir durchaus nich weglassen. Und da hat sich een Kolleje erboten, is mit de Droschke vorausjefahren, det ick doch mein Tagespensum mache. Und die ham mir ins Auto nachjefahren – zwei Stunden weit. Un nu soll ick zu fein für Droschke sind! Zwei Stunden ins Auto und über fünf Monate in de Droschke – zu jehässig sind die Leute! Man mag jar nischt mehr tun, es wird doch nischt anerkannt!«

Der junge Grundeis hätte lachen und weinen mögen über den Greis, der nicht nur müde, nein, vor allem in seiner Eitelkeit verletzt ist. Der alte Mann ist wie ein großer Junge, er schmollt ...

Aber Grundeis darf nicht weinen, auch nicht lachen. Der Empfang, der große, ehrenvolle Empfang, für den ihm die ganze erste Zeitungsseite freigehalten wird, steht auf dem Spiele! In seiner jetzigen Stimmung ist der eiserne Gustav imstande, eisern hintenrum nach Haus zu fahren und die Leute auf sich warten zu lassen.

So redet Grundeis denn mit Menschen- und Engelszungen, er streichelt die wunde Eitelkeit, und schließlich gelingt es ihm, den alten Mann wieder in Gang zu bringen. Nicht die großen Ehren locken ihn, keine Musikkapelle, kein Festessen, kein Ehrentrunk, nicht der Empfang durch den Bürgermeister ...

Aber daß er zum Schluß der Fahrt dorthin gehen kann, von wo er ausgegangen ist, auf jenes Stadtbüro, dessen Beamter mit lieblosen Reden den ersten Stempel in das Fahrtenbuch gedrückt hatte, das versöhnt ihn, das macht ihm Laune und Appetit: Das ist doch das Allerschönste!

»Mensch, Rotkopp – da ham Se recht! Ick war ja'n Dussel, wenn ick dem Bruder det schenkte! Will der mir angrobsen, von wejen ville Arbeit und Dummheiten! Dem wer ick det aber zeijen! For wat zahl ick denn meine Steuern?! Der lebt doch von mir, so'n Bruder! Dem will ick det aber zeijen, wie er mir zu behandeln hat! Ick freu mir, Rotkopp, jetzt freu ick mir noch einmal wirklich!«

 

15

Ja, es wäre doch schade gewesen, wenn Hackendahls trübe Stimmung ihn um seinen Berliner Empfang gebracht hätte. Die Berliner hatten gelesen, wie ihr Landsmann in Dortmund und Köln, in Paris und in Magdeburg empfangen worden war, und da konnten sie sich natürlich nicht lumpen lassen. Wie immer in solchen Fällen übertrieben sie es ein bißchen: dreihunderttausend Menschen, von denen vor einem halben Jahre kaum einer daran gedacht hätte, auch nur eine Mark an eine Fahrt in dieser Pferdedroschke zu wenden, jetzt waren sie auf den Beinen und wendeten einen halben Arbeitstag an den Mann. Die Schupo war vollzählig angetreten für Absperrungen, Verkehrsregelung und Bändigung der Massen – es war wirklich eine schöne Sache! Hinterher hätte es dem eisernen Gustav leid getan, wenn er hintenrum gefahren wäre ...

Aber er fuhr nicht hintenrum, mittendurch fuhr er. Die Charlottenburger Chaussee war schwarz von Menschen, am Großen Stern standen sie wie die Mauern, und Unter den Linden war eigentlich nur für einen ein Durchkommen, und der hieß Gustav Hackendahl.

Da fährt er dahin, die Linden entlang – alle Menschen jubeln ihm zu. In seinen kühnsten Träumen, als er noch ein wohlbestallter Fuhrherr war, hat er es sich nicht träumen lassen, daß seine Heimatstadt ihm je so zujubeln könnte.

Als er an dem französischen Reisebüro vorbeikommt, hält er an, er winkt durch den Tumult, er steht auf. Die Musik schweigt, er schwenkt seinen Lackpott, er schreit, er brüllt: »Vive la France!«

Und sie brüllen mit: »Vive la France!«

Jawohl, es lebe das Gastland, das den Mitbürger so freundlich aufgenommen hat, aber es lebe vor allem dieser Mitbürger! Er ist ein großartiger alter Bursche, einer der Unseren, einer wie wir: Leben wir mit ihm! Unverwüstlich, großartig, nicht tot zu kriegen – wir Berliner!

Und Gustav Hackendahl fährt weiter, am Schloß vorüber. In der Königstraße wird das Gedränge lebensgefährlich, wäre Grasmus nicht auf Volksgedränge dressiert, es würde schiefgehen. Aber so kommen sie durch, siehe, nun fahren wir vor dem Roten Hause vor.

Im gleichen Augenblick fangen die Hupen aller Chauffeure zu tuten, zu schreien, zu dröhnen an – diesmal hat kein eifriger Grundeis sie bestellen müssen, diesmal schreitet kein empörter Schupo ein. Auf dem Bock stehend, singt der eiserne Gustav mit, was die hupen. Diesmal hört er die Melodie ohne weiteres heraus: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen«, so hupen sie.

Vor dem Rathaus erwarten sie ihn. Es ist ein Bürgermeister der Stadt, der den eisernen Gustav dort begrüßt, der den schlichten Mann des Volkes als Versöhner zweier Völker in einer wohlgesetzten Ansprache feiert und dann dem schlichten Mann den Ehrentrunk der Stadt kredenzt.

Ehrentrünke ist Gustav Hackendahl gewohnt. Er trinkt den Becher leer, aber als sie eine Antwortrede von ihm erwarten, sagt er bloß: »Entschuldigen Sie man bloß einen Momang, meine Herren!« und läuft ins Rathaus.

Er läuft die Gänge entlang, er weiß noch die Zimmernummer. Sein Fahrtenbuch hat er in der Tasche, das wird dem Bruder nicht geschenkt! Warte, mein Junge!

Er stößt die Tür auf, er stürmt ins Büro. »Nanu, wo is'n der, der sonst hier saß?!«

»Wen meinen Se denn? Wen wollen Se denn? Wieso kommen Se denn überhaupt so reingeballert? Ach Jott, Sie sind ja der eiserne Justav! Ich kenn Sie doch aus der Zeitung! Das ist aber eine Ehre, Herr Hackendahl – was können wir hier denn für Sie tun?«

»Ick hätt jerne die Bescheinijung von meine Rückkehr, hier in det Buch. Ja, nu is et voll. Aber ick hätt et jerne, det et derselbe Herr, der damals meine Abfahrt ... Is der denn nich mehr hier?«

»Obersekretär Brettschneider? Kannten Sie ihn persönlich? Ja, das war ein reizender Herr ... Leider, Herr Hackendahl, an der Grippe, verstehen Sie, schon im Mai. Kam noch aufs Büro – und sechs Tage drauf, was soll ich Ihnen sagen, weg! Schade, was?«

»Ja, sehr schade!« sagt der alte Hackendahl, und er findet es wirklich sehr schade, daß der Gegner vor ihm ausgerissen ist. Ein bitterer Tropfen im Freudenbecher, das Menschenherz ist seltsam: Ganz Berlin jubelt ihm zu, aber den einen gestorbenen Berliner vermißt er.

Dann geht die Fahrt weiter, das große Zeitungshaus erwartet ihn. Es will doch seinen erfolgreichen Fahrer feiern und das tut es denn auch. Generaldirektoren und Direktoren, Chefredakteure und gewöhnliche Redakteure (zu denen jetzt auch der brandrote Grundeis zählt) erwarten ihn, begrüßen ihn, feiern ihn ...

Und dann geht es nach soviel Ehrungen zu einem Festessen, Eisbein, Sauerkraut und Erbsenpü. Sein Leibessen wird dem erfolgreichen Bürger Berlins vorgesetzt, rechts vom eisernen Gustav sitzt ein Filmstern und links sitzt Mutter. Wahrhaftig, sie haben Muttern hierher in das große Zeitungshaus zu einem Festessen verschleppt, Mutter, die doch nie mehr irgendwo hingeht!

Mutter hat ein neues seidenes Kleid an, sie begrüßt ihren Gustav und sagt weinerlich: »Gott sei Dank, daß du wieder da bist, Vater. Die Leute rennen einem ja das Haus nach dir ein. Und alle bringen sie was; die ganze Wohnung liegt voll Papier und Geschenke und Kartons – wo soll ich denn mit dem Zeug alles hin? Und gestern war eine da, die wollte dir einen Piepmatz bringen, weißte, einen echten Harzer Kanarienroller. Aber ich hab sie wieder weggeschickt, wer weiß denn, wie so eine das meint. Ich hab ihr gesagt: ›Wenn's bei Vater piept, so ist das Familiensache, da brauchen Sie sich nicht einzumengen!‹ Aber ich glaube nicht, daß es bei dir piept, Vater, bloß so ... Die Leute sind manchmal so gehässig!«

Aber Mutter ist nicht die einzige, die heute Reden hält, auch Herr Direktor Schulze erhebt sich und hält eine Ansprache, die klingt, als hätte er sie von derselben Firma bezogen wie der Bürgermeister der Stadt Berlin. Und nun erhebt sich der eiserne Gustav – er bringt seinen Trinkspruch aus: »Berlin – Paris – Berlin. Jedacht! Jemacht! Ausjeführt und heute vollbracht!«

Jubel und Beifall.

Weitere Trinksprüche, festliches Hin und Her, Händeschütteln und nicht nur das. Es findet sich auch eine Gelegenheit, dem alten Hackendahl einen Briefumschlag in die Tasche zu stecken. Viel Sorgen braucht er sich um sein Auskommen wirklich nicht mehr zu machen, der alte Mann ...

Und allmählich wird es Abend, Nacht. Mutter drängt zum Aufbruch. Ihr ist Angst um die Wohnung mit den vielen schönen Sachen darin. Noch gibt es Streit, sie wollen ihn durchaus im Auto nach Haus fahren, jemand wird den Grasmus schon nachbringen.

Aber er will nicht. Mit all der alten eisernen Starrköpfigkeit weigert er sich, im Auto zu fahren. Mutter – schön, die kann vorausfahren, aber er fährt mit der Droschke ...

»Mutter, hab dir bloß nich so! Bin ick von Paris heil rüberjekommen, wer ick woll noch det Stückchen Weg bis in die Wexstraße schaffen ...«

Natürlich setzt er seinen Willen durch. Er sieht sie abfahren, dann geht er zur Droschke, zu Grasmus. Ein paar Setzer helfen ihm, die Girlanden, die Fähnchen, die Tafel, die Geschenke abzunehmen und in einem Winkel zu verstauen ...

»Den Schraps hol ick mir'n andermal. Ick möchte jetzt mal wieder janz inkognito durch Berlin zuckeln. Wie'n richtiger Droschkenkutscher. Ick hab die Leute dicke ...«

So fährt er denn los. Erst sieht er vorsichtig auf die Menschen: ob sie ihn nicht doch erkennen? Aber es ist Nacht geworden, und die Menschen haben es eilig, sie sehen kaum hin nach der Pferdedroschke, die da langsam die Straße entlangzuckelt.

So recht behaglich sitzt der eiserne Gustav auf seinem Bock. Ist das mal schön, wieder als richtiger Droschkenkutscher durch Berlin zu fahren! Klick-klick macht die Taxuhr, es klingt so heimatlich! Es war ganz gut, daß er das mit Paris gemacht hat, aber am allerschönsten ist es doch, jetzt wieder die Straßen entlangzufahren, die alten, hundertmal befahrenen Straßen ...

Ein Schupo, der von Berufs wegen bessere Augen haben muß als die gewöhnlichen Einwohner der Stadt, erkennt den Droschkenkutscher, und eingedenk der Ehrungen des Vormittags grüßt er ihn stramm und militärisch.

»Mensch!« ruft Hackendahl. »Von wann biste denn? Det is doch lange vorbei! Wülste det etwa nu alle Tage machen, wenn ick uff Fuhre jehe? Die Verzierung stoß dir lieber rechtzeitig ab!«

Und vergnügt fährt er weiter. Wenn die denken, er gibt jetzt das Fahren auf, jetzt, wo er ein bißchen Geld hat, kein Gedanke! Fahren ist das Schönste von der Welt, in Berlin fahren, heißt das, als richtiger Droschkenkutscher, heißt das.

Nun, als er weiterfährt, hat er bloß noch einen Wunsch – und kaum denkt er so recht an ihn, geht er auch schon in Erfüllung.

»Männecken, Kutscher, he! Helfen Se mir doch mal den Korb in de Droschke! Zum Zoo! Ick wollte ja mit der Elektrischen, aber die Brüder sagen, der Korb is zu jroß. Machen Se's aber nich zu teuer, Kutscher!«

»Nee, nee, det soll Sie kein Rittergut kosten. Na, denn man los, Jrasmus!«

Und glücklich fährt er weiter, dem Zoo zu. Sein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Berlin hat ihm Handgeld gegeben, es wird auch weiter gutgehen.

Manchmal dreht er sich um und schielt nach seinem Fahrgast, ob der gar nicht merkt, mit welch berühmtem Mann er fährt. Aber der Fahrgast, ein kleines, etwas kümmerliches Männchen, viel zu klein und viel zu kümmerlich für den schweren Reisekorb, läßt sich nichts merken. Trübselig starrt er vor sich hin, wahrscheinlich denkt er darüber nach, wie teuer eine Droschke ist, und wie billig die Elektrische gekommen wäre. Na, der wird Augen machen!

Wer aber Augen macht, ist der alte Hackendahl.

Denn als er am Bahnhof Zoo dem Männchen den Korb aus der Droschke heben hilft und dabei stolz-vergnügt fragt: »Na, wissen Se ooch, mit wem Se jefahren sind? Mit dem eisernen Justav sind Sie jefahren, wissen Se, der die berühmte Tour Berlin – Paris – Berlin jemacht hat!«

Da sagt das Männecken: »Reden Se bloß nich. Mann, wat jeht mir det an? Fassen Sie lieber meinen Korb an. Ick muß noch den Zug nach Meseritz kriegen. Paris – wenn ick bloß so wat höre! Bleibe im Lande und nähre dir redlich! Eine Mark zwanzig für so'n Augenblick Fahrt, mit der Elektrischen hätt's keenen Fuffziger jemacht ...«

Und damit verschwindet der kleine gekränkte Mann, läßt ohne Umstände den berühmten Droschkenkutscher als Wachtposten bei seinem Korbe – und die Leute rennen vorüber, sie stoßen Gustav Hackendahl an, sie haben es eilig, ihre Züge zu bekommen, sie sehen ihn nicht an, sie haben ihn schon wieder fast vergessen: den berühmten eisernen Gustav!

 


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