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Fünftes Kapitel.
Welche Hand müßte nicht verdorren ...?

1

Es dauerte dann aber doch noch über eine Woche, ehe es zu einer Aussprache zwischen Vater und Sohn kam. Zu einer anderen Zeit wäre es Heinz wohl aufgefallen, daß der Vater gar nichts von seinem Ausbleiben über Nacht und von seinem überhaupt jetzt recht ungeordneten Leben sagte. Aber wichtigere Ereignisse als ein zürnender oder schmollender Vater gingen jetzt fast spurlos an Heinz Hackendahl vorüber ...

Denn er lebte in einer verzauberten Welt. In der Stadt schossen sie immer weiter, obwohl sich die Unabhängigen und Regierungssozialisten geeinigt und sogar so etwas wie eine Regierung mit Ministern und Staatssekretären gebildet hatten. Und in der Stadt und in den Vororten plünderten sie immer weiter; die längste Zeit hingen vor den Läden die eisernen Rolljalousien und Scherengitter, trotzdem sie gegen die neue Art des Einbruchs mit Handgranaten wenig Schutz boten.

Heinz sah das alles auf seinen vielen Wegen durch die Stadt. Und er hörte und las von dem Streit um eine einzuberufende Nationalversammlung – die Arbeiterräte waren dagegen, teils, teils, aber die Soldatenräte waren dafür, teils, teils. Und all die alten Parteien, die Fortschrittlichen und die Nationalliberalen und das Zentrum und die Konservativen, sie waren plötzlich alle wieder da und forderten ihre Anhänger auf, die neue Regierung zu unterstützen. Und die hob den Belagerungszustand auf und die Pressezensur und amnestierte alle politischen Straftaten und versprach Freiheit jeder Religion und Meinungsäußerung, und versprach den Achtstundentag und die Bekämpfung der Wohnungsnot und gebar die Erwerbslosenunterstützung und sicherte zu den Schutz des Eigentums und der Person und versprach eine ausreichende Volksernährung ...

Und sie mordeten und stahlen und hungerten, und die Schlangen vor den Lebensmittelläden wurden immer länger. Heinz Hackendahl sah das alles, aber er war ja ein Verzauberter, und was ihn vor einer Woche noch leidenschaftlich beschäftigt hätte, das merkte er kaum, daran ging er vorüber. Er lebte nicht mehr recht auf dieser Welt ...

Darum sah er auch kaum hoch, als der Vater eines Tages zu ihm sagte: »Wann machste eigentlich dein Maturum?«

»Ich weiß nicht, Vater, wohl erst Ostern.«

Die Wahrheit aber war, daß es Heinz wirklich nicht wußte, denn er war einfach nicht mehr in die Schule gegangen.

»Denn kümmer dir mal darum! Bis Ostern will ick dir meinswegen noch hierbehalten und füttern – aber denn is Schluß!«

Nun doch ein wenig aufmerksam geworden, sah Heinz in des Vaters Gesicht. »Dann wird es also nichts mit dem Studium?«

Er sah den Vater aufmerksam an, und das Gesicht des Vaters rötete sich. Aber dann sagte der alte Hackendahl gar nicht bullrig: »Vom letzten Jeld habe ick mir den Rappen jekooft. Hast'n schon jesehen?«

Heinz nickte.

»Ein feinet Pferdchen«, sagte der Alte etwas wärmer. »Det macht Laune. Un vom allerletzten hab ick Muttern und mir freijemietet, det Haus bin ick ooch los – und nu is't zappendüster!«

»Dann ist die Kriegsanleihe auch weg?«

Der Alte nickte und sah den Sohn erwartungsvoll an.

Aber der lächelte bloß. Er dachte an Erich – aber wozu sollte er dem Vater von Erich erzählen?! Vater hatte seine eigenen Sorgen, und Erich hatte seine Sorgen, und er, Heinz, früher Bubi genannt, hatte die allergrößten. Aber das war jedes Mannes eigene Sache.

So nickte er dem Vater nur zu und sagte: »Ich werde mal mit Professor Degener darüber sprechen. Vielleicht kann ich doch Notabitur bauen, dann bist du mich früher los, Vater!«

Nahm die Mütze und ging.

Der Vater sah ihm nach. Dann sagte er zu Mutter in der Küche: »Ick hab doch recht jehabt, Mutter, der Heinz wird ooch nich anders wie die andern. Aber der Rappen macht mir Laune. Schwarz is ville besser als Weiß ... Weiß wird immer dreckig, aber Schwarz, det hält!«

 

2

Heinz Hackendahl stand, die Hände in den Taschen seines recht abgeschabten Überzieherchens, unschlüssig auf der Straße. Er konnte zur Stadtbahn, er konnte aber auch zu seiner Freundin Irma gehen. Schließlich konnte er tun, was er dem Vater gesagt hatte, und sich bei Professor Degener nach den Aussichten seines Maturums erkundigen.

Gerne wäre Heinz zur Stadtbahn, ungern zu seiner Freundin Irma, die er seit jenem schicksalhaften Abend nicht wiedergesehen, gegangen. Aber unanständig wäre der Weg zur Stadtbahn, anständig zur getreuen Freundin gewesen – was ein rechter Fuchs ist, der findet immer einen Ausweg: Heinz Hackendahl tat beides nicht, sondern ging zu Professor Degener.

Der Professor saß am Schreibtisch; er streckte ihm die dünne, blauädrige Hand hin, sah ihn mit seinen fritzisch strahlenden blauen Augen an und fragte, ob eine Zigarette angenehm sei? »Den Tee trinken wir nachher alle zusammen.«

Heinz Hackendahl lehnte die Zigarette ab, überlegte nicht weiter, was »alle zusammen« hieß, und stürzte sich in ein ziemlich lahmes Gestotter von Kranksein und Nichtzurschulegehen und Abitur.

Professor Degener machte eine vage Handbewegung. »Krank sind jetzt alle. Zur Penne«, er sagte richtig Penne, »gehen jetzt alle unregelmäßig. Was Sie zum Abitur brauchen, das wissen Sie. Schriftliche Prüfung wird im Februar sein. Meiner Kollegen wegen würde ich empfehlen, sich dann und wann in der Klasse sehen zu lassen.«

All dies wurde rasch und ein wenig verächtlich hervorgestoßen, als sei es völlig belanglos. Heinz Hackendahl fand es auch nicht wichtig. Schön, war auch das in Ordnung.

Er hatte die Einladung zum Tee vergessen, stand auf und dankte dem Professor, er hatte es plötzlich eilig, zu gehen.

Der Professor hielt ihm zögernd die Hand hin. »Was ich noch fragen wollte. Haben Sie vielleicht einen Ihrer Kameraden in letzter Zeit gesehen?«

»Nein, leider nicht.«

»Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, werden Sie eine ganze Menge zu sehen bekommen. Wir haben hier täglich eine Art Tee.«

Aber Heinz hatte wirklich keine Zeit ... Es zog, es zerrte ...

»Natürlich! Haben Sie übrigens von der Geschichte in Köln gehört? Von dem Arbeiter- und Soldatenrat ...?«

In Köln hatten tolle Zustände geherrscht: Die Stadt war innerhalb dreier Tage überschwemmt, ertrunken in regellos zurückflutenden Truppenteilen, in Flüchtigen aus dem linksrheinischen Gebiet. Alles starrte von Waffen, alles wollte essen, trinken; die Minderwertigkeit triumphierte und wollte huren und plündern.

Da war dieser Arbeiter- und Soldatenrat eingesprungen, er hatte Kordons gebildet, die Leute entwaffnet, versorgt, weiterbefördert ...

»Alles für nichts, wenn man so sagen will, Hackendahl. Denn wenn doch alles kaputt ist ...«

Heinz Hackendahl schwieg. Er hatte vergessen, daß er es eilig hatte. Aber er war dennoch nicht ganz hier, er glich einem Reisenden, der die Wartezeit zwischen zwei Zügen versitzt. Er hat Zeit, aber er hat doch keine Zeit, mit seiner Zeit etwas anzufangen, er reist schon weiter, in Gedanken ...

Der Professor sah ihn an, er sagte lauter: »Wenn das Blut krank wird, stürzen sich die gesunden Blutteile über den Eindringling. Es gibt einen Kampf. Ist der Eindringling stärker, stirbt der Mensch, sind aber die gesunden Blutkörper in der Übermacht, wird der Mensch wieder gesund.«

Er dachte nach, er meinte: »Ich könnte mir denken, daß solch ein Kampf augenblicklich in Deutschland gekämpft wird. Es kommt auf die gesunden Blutkörperchen an, auf jedes einzelne ...«

Der Lehrer schwieg. Dann, nach einer Weile, fing Heinz Hackendahl an, von dem Offizier in der Wandelhalle des Reichstags zu erzählen, jenem Mann, der inmitten eines Wirrwarrs Befehle erteilt hatte, unangerührt von dem Wirrwarr.

Professor Degener nickte. »Sehen Sie, das ist auch so einer, Hackendahl. Nein, ich weiß seinen Namen nicht. Irgendein Unbekannter. Man kann sich denken, wie ihn das Getriebe der Geschäftemacher anwidert. Aber darum ist er doch für Ordnung. Vielleicht erreicht er nicht mehr, als daß seine Leute regelmäßig zu essen kriegen – aber das entmutigt ihn nicht. Er weiß, daß Ordnung und Sauberkeit etwas Gutes sind, und Unordnung und Schiebertum schlimm. Es beirrt ihn nicht, daß die anderen schlimm geworden sind ...«

»Aber was soll aus alledem werden?« fragte Heinz Hackendahl.

»Das wissen wir nicht. Nur kein Untergang. Ihr Offizier im Reichstag und die Leute in Köln – sie kämpfen für eine Sache, die sie noch nicht einmal kennen. Manchmal ist es dem Menschen sehr gut, Hackendahl, daß er nur ein so kurzes Stück seines Weges vorausschaut ... Vielleicht würde sonst auch der Offizier verzweifeln, wenn er wüßte, wie lang noch der Weg ist, bis etwas erreicht wird. Er sieht in die Nähe, er sorgt dafür, daß seine Leute zu essen haben und daß ihre Fußlappen in Ordnung sind; er paktiert nicht mit der Unordnung.«

Heinz Hackendahl wurde ein wenig rot. Alles, was Professor Degener gesagt hatte, konnte mit direkter Beziehung auf ihn gesagt sein ... Es konnte nicht geleugnet werden, daß eine große Unordnung in Heinz' Leben gekommen war ... Nein, der Umfang dieser Unordnung war gar nicht mehr zu überschauen ... Aber es war ja ausgeschlossen, daß der Professor hiervon auch nur etwas ahnte ...?

Professor Degener schien von der Verwirrung seines Schülers nichts zu merken, er lächelte, er erzählte: »Gleich werden Ihre Klassenkameraden kommen, Hackendahl. Einige, die sich um mich geschart haben. Auch wir gehen nicht ganz regelmäßig zur Penne. Ich habe manchmal direkt Beklemmungen, wenn ich das Lehrerzimmer betrete. Ich fürchte, meine Kollegen denken nicht günstig von mir; eigentlich müßte ich wohl einen Tadel haben und in den Karzer geschickt werden ...«

Der Professor lächelte, und Heinz Hackendahl wurde von der alten schwärmerischen Liebe zu diesem seltenen Mann erfaßt, der so jung geblieben war wie die jüngsten seiner Schüler.

»Ich muß Ihnen gestehen, daß auch wir ein bißchen für Ordnung zu sorgen suchen. Das heißt, ich bin nur der Berater Ihrer Kameraden, ich eigne mich nicht für diese kriegerischen Dinge ...

Wir sammeln Waffen, mein lieber Hackendahl, erklärte der Professor und lächelte, halb traurig und halb listig. »Stellen Sie sich vor: Statt sie mit dem zweiten Aorist zu schinden, halte ich meine Jungen mit der Jagd auf Waffen in Atem. Die Arbeit ist nicht übermäßig schwierig, aber umfangreich. Es gibt Soldaten, Heimkehrer, die lehnen ihre Büchse – sagt man Büchse? – einfach an die nächste Wand oder schenken sie dem ersten, der sie darum fragt. Sie sind ihrer Waffen so überdrüssig! Und dann sind da die Güterbahnhöfe mit den Waggons voller Maschinengewehre und Minenwerfer und Feldgeschütze. Die Leute haben es eilig, nach Haus zu kommen, nach Frau und Kindern zu sehen, man kann es ja verstehen ... Und da stehen die Waggons dann für jeden bereit, für die Unordentlichen wie für die Ordentlichen.«

Heinz nickte eifrig. Es war seltsam, man kam immer in den Bann dieses Lehrers, er mochte nun über die Gewänder der griechischen Frauen oder über Waffen reden ...

»Das heißt«, sagte der Professor plötzlich ganz vergnügt, »bis zu Feldgeschützen und Minenwerfern versteigt sich unser Ehrgeiz nicht. Einige schwere Maschinengewehre – das war bisher unser Höchstes. Ich will immer von Ihren Kameraden wissen, wie schwer sie sind, sie sollen sich doch nicht zuschanden schleppen, aber sie verraten es mir nicht. Sie haben auch keine Ahnung, Hackendahl, das ungefähre Gewicht ...? Ich bin doch sehr bekümmert ...«

Heinz wußte es auch nicht. Außerdem war er der Überzeugung, daß der Professor nicht die Spur bekümmert war. Er neckte ihn bloß ... vielleicht wegen seiner Unbeteiligtheit?

»Die Sache ist nicht ganz ungefährlich, Hackendahl. Die Menschen haben so seltsame Vorurteile ... Wenn ein Uniformierter, ganz gleich in welcher Uniform, mit einem Gewehr spazierengeht, ist alles in Ordnung. Aber ein Schüler, ein Gymnasiast, ein Junge ... Und dann die Herren Eltern ...«

Der Professor seufzte jetzt wirklich. Dann gab er sich einen Ruck. »Aber das ist egal. Die Hauptsache ist, in aller Verwirrung finden die Jungen einen Sinn. Ihr Sinn ist heute Waffen zu sammeln, recht viel, mit möglichst wenig Kosten.«

»Und wofür sammeln Sie diese Waffen, Herr Professor?« fragte Heinz Hackendahl.

Die Augen des Lehrers flammten auf. Aber er fragte ganz ruhig: »Sie sind ziemlich weit weg von uns, Hackendahl? Sie beschäftigen sich mit sehr anderen Dingen?«

Heinz wurde rot, verwirrt, ärgerlich ...

»Aber es ist keine Schande, in Verwirrung zu geraten. Es ist nur eine Schande, in Verwirrung zu bleiben, in Unordnung ...«

Ein schrecklicher Lehrer, Belehrer. Heinz Hackendahl war empört, er wollte gehen. Er wollte sich verteidigen und blieb.

Der Professor erklärte: »Es ist komisch, nie hat mich einer von den Jungen bisher gefragt, warum wir die Waffen sammeln. Vielleicht haben sie sich einfach gesagt, daß weniger Waffen in unbekannter Hand um so weniger Gefahr für die Allgemeinheit heißt. Vielleicht haben sie überhaupt nicht darüber nachgedacht ...«

»Aber Sie, Herr Professor ...«

»Ja, mein Sohn, ich sehe auch nur das bekannte kurze Stück Weg. Ich sage mir, daß all die Truppen, die jetzt zurückkommen, noch nicht die Front sind. Die Front ist noch draußen, Hackendahl, vergessen Sie das nicht. Die Front, die vier Jahre gegen die ganze Welt standgehalten hat, die unbekannte Front, von der wir hier im Binnenlande immer nur einzelne zu sehen bekommen haben. Jetzt kommt sie geschlossen zu uns zurück, und wir wissen gar nichts von ihr. Vielleicht braucht die Front Waffen ...?«

»Wofür denn? Der Krieg ist doch aus!«

Es war ihm, als spreche er mit der Stimme seines Bruders. Er wollte es nicht sagen und sagte es doch.

»Wir haben erst einen Waffenstillstand. Ein Waffenstillstand ist noch kein Friede.«

»Wir werden nie wieder kämpfen«, rief Heinz. »Der Krieg muß aus sein! Es muß endlich Friede werden!«

»Ein Gewaltfriede? Ein Friede für Sklaven?«

»Aber wir können doch nicht mehr!«

»Was wissen Sie, was wir können?!« Jetzt leuchteten die blauen Augen ganz fritzisch, der Professor war zornig. »Haben Sie nur einmal versucht, was Sie können?! Und Sie wollen von uns, für uns reden?!«

Die Villa in Zehlendorf, ja, und der Bruder mit seinem klugen, skrupellosen Gerede. Der Luxus, Wein in geschliffenen Gläsern, und die schöne, unbegreiflich schöne Frau, Traum der Erde für ein Gymnasiastenherz, ach, für jedes Männerherz, Sterngefunkel im Haar ... Und sie legt die weißen kühlen Arme um die Schultern der Brüder und spricht von Idealisten und Egoisten. Und schon bedeutet dieser Unterschied nichts. Denn wir alle, wir möchten den Traum der Erde in unserem Arm halten, wir möchten ihn träumen, ihn besitzen – verweile doch, du bist so schön! In der kalten Novembernacht herumlaufen und sich mit schweren Waffen abschleppen – aber aus vielen Lichtern leuchtet das Haus, Wärme und Gepflegtheit, nein, das ist es nicht! Das nicht!

Sondern es ist die Süße einer Stimme, die nie erfahrene Leichtigkeit des Lebens, Zauber und Verführung ...

Was hatte ihm der Professor für eine Schularbeit gegeben? Es ist keine Schande, in Verwirrung zu geraten, es ist nur eine Schande, in ihr zu verharren.

Draußen ging die Klingel.

»Ihre Kameraden«, sagte der Professor ganz friedlich. »Ihre Kameraden. Bleiben Sie ruhig hier, Hackendahl, Sie gehören dazu.«

 

3

Die Schüler kamen herein, eilig oder langsam, manche weiß, manche rot von der Kälte. Aber alle aufgeregt, glücklich erregt.

»Tag, Hackendahl! – 'n Abend, Professor!«

»Trau schau – der Heinz hat auch hergefunden!«

»Sieh da, sieh da, Timotheus!«

»Vorzüglich, alter Aaskäfer!«

Heinz schüttelte die Hände. Ihm war seltsam zumute, wie im Traum. Die alten, die altgewohnten Gesichter – seit sieben oder zehn oder vierzehn Tagen nicht gesehen und schon fremd geworden. Oder war er fremd geworden?

Ein paar liefen in die Küche des Professors, um Tee zu kochen – selbstverständlich war Professor Degener Junggeselle –, andere berichteten: die und die Waffen ausspioniert, die und die erworben ...

»Was ist mit Handgranaten, Herr Professor, verstehen Sie was davon? Wann sind die schußfertig?«

»Schußfertig, du Riesenroß! Ich sage dir ...«

»Herr Professor, in der Artilleriestraße kann man Pistolen kaufen ...«

»Auch am Schlesischen Bahnhof ...«

»Überall, du Affe!«

»Laßt mich doch ausreden: fünf bis fünfzehn Mark das Stück, Brownings, Mauser, Armeerevolver, Leuchtpistolen ... Ich finde, Pistolen sind besonders gefährlich, weil sie jeder heimlich in der Tasche tragen kann. Andere Waffen sieht man ...«

Der Professor seufzte: »Wieviel Geld wollt ihr wieder, ihr jungen Schurken? Mein ganzes Vermögen geht drauf ...«

»Vielleicht erst mal fünfhundert Mark?«

»Fünfhundert Mark! Auf der Bank sehen sie mich schon an wie einen Bankrotteur. Na schön, Hoffmann, kommen Sie hier morgen früh um elf vorbei ...«

»Herr Professor, ich hab Bekanntschaft mit 'nem Dachschützen geschlossen. Will sich zur Ruhe setzen, die Luft ist ihm zu dicke geworden. Fünfzig bis hundert Mark, leichtes MG. Machen wir ...?«

»Unbedingt, Bertuleit! Dachschütze! Pfui Deibel! Morgen früh um elf ...«

Es war eine seltsame Welt, eine verzauberte Welt, eine wahnsinnig gewordene Welt. Heinz Hackendahl hörte staunend zu. Ein leichter Unwille kam in ihm auf, daß er von all dem ausgeschlossen war. Manchmal war es ihm, als sähe ihn Degener prüfend von der Seite an, dann wurde der Unwille stärker. Was hatte das für einen Sinn? Eine Spielerei – sie sollten lieber an Essen für die Hungernden denken! Er dachte an die Schlangen zu Tode erschöpfter Frauen vor den Lebensmittelläden, von Frauen, die vier Jahre lang für das Leben ihrer Kinder gekämpft hatten – und nun, da der Friede nahe war, dachten die hier nur an Waffen!

Ein Friede für Sklaven? Nun gut, es gab einen alten Spruch: »Lieber Sklav als tot!« O Gott, nein, nein, so mußte Erich ihn umgedreht haben! Es hieß ja: »Lieber tot als Sklave.« Einen Sklavenfrieden wollte auch er nicht ... Aber was sollen wir denn tun? Waffen sammeln? Wir haben ja keine Hände mehr, die diese Waffen halten wollen! Wir können nicht mehr kämpfen! Wirre, jagende Gedanken! Verwirrung, Unordnung ... Lieber nichts tun, als etwas Falsches tun? Lieber etwas Falsches tun, als gar nichts tun?

Und nun eine schrille Stimme, natürlich die Stimme des beliebten Porzig, der eben eingetreten ist: »Herr Professor, ich möchte darauf aufmerksam machen, daß sich im Reichstag ein Zimmer befindet mit dem Schilde: ›Erich Hackendahl‹. Ich war nämlich heute im Reichstag, habe mir die Schweinerei da mal angesehen! Ein ganz frisches Pappschild!«

Einen Augenblick ist es totenstill im Zimmer, alle sehen auf Heinz Hackendahl. Der hat eine Bewegung gemacht, er versucht so etwas wie ein höhnisches Lächeln, aber er fühlt voll Wut, wie er blutrot wird.

Doch sofort vergeht die Röte in namenloser Erbitterung. Ein Haß steigt in ihm auf. Blitzschnell jagt es durch seinen Kopf: Ja, so sind sie, diese – Idealisten! Wer nicht für mich ist, der ist wider mich. Alle verdächtigen sie, die nicht – Waffen sammeln wie sie selbst! Bloß, weil Erich da ein Zimmer hat, bloß darum verdächtigen sie ihn! Erich könnte dort doch wirkliche Arbeit leisten, etwas Nutzbringendes, Anständiges. Es hieß doch so, er macht den Sicherheitsdienst ...?! Ach, das ist ja alles Unsinn, ich weiß ja, er tut nichts Anständiges, er ist ein kalter Streber, ein Genießer ... Aber was hat das mit mir zu tun, warum verdächtigt er mich?! Wenn er das hier so schreit, heißt es doch, daß auch ich verdächtig bin?!

Da sagt in die Stille hinein der Professor: »Ich verstehe nicht, was Sie wollen, Porzig? Unser Klassenkamerad heißt doch Heinz Hackendahl, nicht Erich!«

Und sofort verwandelten sich alle Gesichter, die so fremd auf Heinz sahen. Sie wurden freundlich, die Gespräche gingen weiter, Hoffmann schlug Heinz auf die Schulter und sagte: »Dämliches Roß, dieser Porzig!«

Kunze meckerte fröhlich: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?!«

Und schließlich kam Porzig selbst, stellte sich wichtig vor Heinz auf und erklärte großspurig und doch verlegen: »Nimmste mir doch nicht übel, Hackendahl, was? Verstehste doch, daß wir alle hier gewaltig mit dem Feuer spielen und ungeheuer vorsichtig sein müssen? Klar, was? Das sind ja hier alles keine Juristen, aber mein alter Herr ist Ober-landes-gerichts-rat, und da weiß ich mit dem Strafgesetzbuch Bescheid! Professor Degener ist ja auch bloß ein Kind – na, du verstehst schon! In Ordnung, was, Hackendahl?«

Und Heinz versicherte, daß alles in Ordnung sei. Aber er hatte dies Gefühl gar nicht, sondern saß ein wenig mühsam lächelnd in all der Freundschaft, in all dem Vertrauen, und immer wieder dachte er:

Es stimmt ja doch nicht, was Degener gesagt hat. Das ist wohl Erich, und ich bin Heinz. Aber wir sind beide Hackendahls, wir haben einen eisernen Vater, darum sind wir zu weich geraten. Und sie mögen mich alle noch so freundschaftlich ansehen und noch so sehr tun, als ob ich dazu gehörte ... Ich gehöre doch nicht dazu, und ich will es auch gar nicht. Ich will nur eines: möglichst schnell zur Stadtbahn und nach Dahlem fahren! Das ist es, was ich will, und ihre ganze Waffensucherei ist mir bloß lästig ...

Und nach einer Weile stand er denn auch auf und sagte allen auf Wiedersehen, und nur als er vor Degener stand, kam plötzlich ein Schuldgefühl über ihn, und er sagte, was er noch eben gar nicht hatte sagen wollen: »Ich vergesse auch nicht das mit der Verwirrung, Herr Professor!«

Der Professor schüttelte unwillig seinen Löwenkopf mit der roten Mähne und sagte: » Kalos K'agathos«;, Schüler Hackendahl – das weißt du doch noch: Nur was gut ist, ist schön, nicht wahr?«

Und das war nun freilich das Allerrätselhafteste und Traumhafteste an diesem Professor Degener. Denn von Tinette konnte er wirklich nichts wissen, und doch klangen seine Worte gerade so, als habe er Tinette ein Zeugnis ausgestellt, dieser Lehrer!

 

4

Kaum hatte Heinz geklingelt, war das Mädchen schon an der Tür und sagte vorwurfsvoll: »Die gnädige Frau hat schon viermal nach Ihnen gefragt!«

Und kaum war er aus dem Mantel, kaum sah er in den Spiegel – dieser verdammte Schlips war also wieder zu einem Knoten zusammengekrochen! –, da kam Tinette schon über die Diele: »Aber Henri, wo bleibst du bloß? Ich habe dir doch gesagt, um drei! Und nun ist es vier! Ich dachte, du bist zuverlässig, und Erich ist unzuverlässig – nun bist du also der Unzuverlässige?«

Heinz war wütend. Sie hatte kein Wort von drei Uhr gesagt. Aber was hatte es für einen Sinn, ihr zu widersprechen? Dies Mädchen stand auch noch dabei – warum stand es eigentlich noch da und starrte ihn an, als sei er das große Wundertier aus Hinterindien und Belutschistan?! Es sollte sich schämen!

Tinette legte die Hände auf den Rücken, sah ihm nahe ins ärgerliche Gesicht und fing leise zu lachen an. »Was machst du für ein Gesicht, Henri? Genau das Gesicht wie eben draußen vor der Pforte, ich habe dir fünf Minuten lang zugesehen! Wolltest du nicht zu mir ...? Warum bist du so wütend? Sieh mich doch an, Henri, Henri – genau wie der Erich, wenn er wütend ist: Ihr beiden seht mich nie an, wenn ihr zornig seid! Aber ich, ich funkle die Menschen an!«

Wieder lachte sie. Das schreckliche Mädchen stand noch immer da, es hatte den Überzieher, diesen schäbigen Überzieher, jetzt über dem Arm. Tinette war schrecklich, sie sprach über alles vor jedermann! Ja, sie war vollkommen schamlos, sie war ohne eine Ahnung von Scham, genau wie die Natur, und sie war ebenso selbstverständlich!

»Gnädige Frau, soll ich dem Herrn den Mantel bringen?«

»Ja, tun Sie das, Erna. Es ist dir doch recht, Henri? Es ist nämlich ein Herr gekommen, der sich für deinen Mantel interessiert ...«

Heinz machte eine wütende Bewegung, dann sah er das Mädchen mit seinem Mantel über die Diele gehen ... »Was will sie denn mit meinem Mantel?«

»Dummer Henri, dummer, dummer Henri! Genierst du dich vor Erna? Sie denkt ja doch: Da ist der junge Herr schon wieder, der sich in die gnädige Frau verliebt hat! Du hast dich doch in mich verliebt, Henri ...?«

Er schrie wütend: »Nein! Nein! Nein!«

Sie lachte. »Siehst du! Aber das schadet ja auch nichts, liebe mich ruhig, Henri. Du willst doch nichts, du bist doch ein Deutscher, du willst mich doch dem Erich nicht wegnehmen, ich bin dein deutsches Gretchen – nein, nicht Gretchen. Gretchen bekommt ein Kind ...«

Sie lachte.

Schamlos, schamlos wie die Natur! Sie warf alles in ihm durcheinander, sie scheute vor nichts zurück. Aber vielleicht war sie nicht schamlos, vielleicht war sie einfach gemein?

Und, als hätte sie seine Gedanken erraten, ließ sie plötzlich seine Schulter los. »Also geh, Henri. Du willst mich also auch allein lassen? Ich bin doch den ganzen Tag allein ... Also geh, bitte!«

Wieder Theater, wo war denn sein Mantel? Sollte er ohne Mantel gehen?! War sie so hingerissen von dieser kleinen Auseinandersetzung mit dem siebzehnjährigen Schwager, daß sie ihn ohne Mantel in die graue Nässe laufen lassen wollte? Alles Theater! Aber vielleicht gab es eine ganz kleine Möglichkeit, daß es ihr doch leid tat? Vielleicht doch?!

Plötzlich war ihre Hand ganz nahe bei seinem Mund ... Sie sah ihn so seltsam an ... Ja, es gab vielleicht doch eine ganz kleine Möglichkeit, daß sie ihn wirklich gern mochte ... Nichts von der glühenden, herrlichen Qual, die er für sie empfand, aber doch richtig gerne hatte ... Er legte seine Lippen auf diese Hand, er atmete den leisen Duft, seine Lippen tranken diese Hand ein ... Sie wanderten über sie, unersättlich ...!

»Oh!« sagte sie mit sehr ernsten Augen. »Du lernst ja etwas, Henri! Dies hätte Erich nicht sehen dürfen.«

Dann waren sie bei dem Herrn, zu dem Heinzens Mantel gebracht worden war, einem sehr gepflegten Herrn mit blondem Spitzbart. Es stellte sich heraus, daß dieser Herr im Cutaway ein Schneider war, den die gnädige Frau bestellt hatte, und dieser Herr hatte, nach den Angaben der gnädigen Frau, bereits einen Anzug mitgebracht.

»Denn so kannst du unmöglich noch länger herumlaufen, Henri!«

Der mitgebrachte Anzug paßte tatsächlich.

»Gnädige Frau haben ein ganz französisches Auge für Schick und Maß!«

Aber die eigentlichen Anzüge sollten erst noch kommen, nach Maß natürlich und aus englischen Stoffen ... Und dann ein schwerer Winterüberzieher in Ulsterform ...

Weiß und wortlos stand Heinz dabei und hob die Arme, wenn der Herr im Cutaway ihn darum bat, um Maß nehmen zu können ... Und Heinz dachte: Dies ist ja der Abgrund der Schmach, daß ich mich von Erichs Geliebter mit Erichs Geld einkleiden lasse!

Aber es war erst der Anfang der Schmach, der erste Anfang ...

Jedoch quälender noch als diese Schmach war ihm das Gefühl seiner eigenen Feigheit, daß er es nicht wagte, vor dem Schneider einen Streit mit Tinette heraufzubeschwören. Daß er sich nicht einfach weigerte. Daß er sich ohne Gegenwehr hin und her schieben ließ, daß er gehorsam Bescheid gab, ob breite oder schmale Revers, ob ein- oder zweireihig ...

Dann verabschiedete sich der Schneider. Er trug wahrhaftig eine Perle im Schlips, und wahrhaftig küßte er der gnädigen Frau die Hand, ihm aber schüttelte er sie nur. Er ging, rascheste Erledigung zusagend.

Einen Augenblick sahen die beiden ihm stumm nach, dann sagte Tinette mit ihrer süßesten Stimme, daß Henri nun seinen Anzug nehmen und mitkommen solle. In Erichs Zimmer werde sie schon ein passendes Oberhemd finden ...

Worauf Heinz losbrach und schrie, er denke nicht daran, und sie losbrach und schrie, sie wolle keinen ungepflegten, schlecht angezogenen Sauerkrautmenschen um sich. Und es war ein Geschrei von meinem Geld und von seinem Geld und von ihrem Geld und von Körperpflege und von Appetitlichkeit und von den berechtigten Ansprüchen schöner Frauen und von Begleitung auf Besorgungen durch jüngere, gut angezogene Kavaliere ... Es war ein uferloses Geschrei ...

Aber dann hatte dieses Geschrei eben doch ein Ufer, denn plötzlich rief Tinette mit einer ganz anderen, sehr hohen, überaus erstaunten Stimme: »O Gott, Henri, ich glaube, mein Schuh ist auf! Hilf mir doch mal!«

Und sie setzte ihren Fuß in einem grauen Wildlederschuh auf die Kante eines Stuhls.

Er brach mitten im Schreien ab und starrte verblüfft auf den kleinen Fuß. Sie sah ihn hilflos an, und zögernd griff er nach dem Fuß. Aber die Schnalle wollte nicht zugehen, er mochte ziehen, wie er wollte, er bekam den Einschnitt nicht über den Knopf. Ganz nahe war dieser Fuß, der nackter als nackt in dem blaugrauen dünnen Seidengewebe war. Der Schuh war tief ausgeschnitten, er sah gerade noch den Zehenansatz, und das schien ihm schön ... Ein Duft stieg von diesem Fuß auf, Duft von Leder und Parfüm und von dieser Frau, von allen Frauen, aus der Ewigkeit her ...

Da warf er seinen Mund auf diesen Fuß, und er hörte sie leise über sich lachen und dachte: Abgrund der Schmach, und küßte und küßte ...

Er hörte sie leise lachen und küßte ... Und er dachte: Ich will nicht, und küßte weiter ... Und er dachte: Sie will dich ja nur dahin bringen zu tun, was sie will, und küßte weiter ...

Die Woge aber stieg und stieg.

Und plötzlich dachte er: Wenn ich jetzt nicht aufhöre, bin ich für ewig verloren. Und sie ist nichts, für das man ewig verlorengehen mag ... Da erspähte er eine Sekunde Freiheit und riß seinen Mund von ihrem Fuß und sah nur die Tür an, nicht sie, und stürzte fort, aus Zimmer und Haus, ohne Mantel und Hut ...

Aber noch auf der Straße meinte er, ihr Lachen zu hören ...

 

5

Natürlich kam er wieder, immer kehrte er zu ihr zurück.

Er kam wütend wieder, um ihr Vorwürfe zu machen, oder er kam verlegen, stand in ihrer Nähe und nahm jedes freundliche Wort von ihr dankbar auf wie ein begnadigter Schuldiger. Er war streitsüchtig oder sanft; die Laune, ihr alles, alles zu erzählen, überkam ihn, und einmal saß er viele Stunden und las ihr aus seinen Lieblingsdichtern vor. Ein andermal half er ihr, neugekaufte Wäsche in einen Schrank zu ordnen, und der Anblick dieser noch nie gesehenen, sanftfarbigen, leichten Seidendinge verwirrte ihn so, daß er nur mühsam und fast heiser reden konnte.

Natürlich träumte er von ihr. Erst konnte er nicht einschlafen, die Erinnerung an ein Stück Bein, das sie achtlos vor ihm hatte sehen lassen, an den sanften Ansatz ihrer Brust, den er, hinter der Sitzenden stehend, halb widerwillig erspäht, verwirrte ihn, quälte ihn, beunruhigte ihn. Dann, wenn er doch eingeschlafen war, verloren diese Gesichte das Spezielle, Konkrete, Anschauliche. Sein Traum führte ihn in eine Welt, in der jedes Ding hinter seinem eigentlichen Gesicht ein zweites, verruchtes zu haben schien: Die Wunden und Verwachsungen der Bäume wurden obszön, aus der Blüte der Blumen sah der Stempel und wartete auf Befruchtung, die ausgestreckte Hand eines Wegweisers schien auf seine Mitte zu deuten.

Er haßte das. Ohne religiös zu sein, empfand er dies doch als eine Sünde. So an die Freundin des Bruders zu denken, so von ihr zu träumen, demütigte ihn. Ich liebe sie doch nicht so! wiederholte er sich hundertmal. Ich will sie doch Erich nicht stehlen, ich bin kein Dieb ...

Eine Wut überkam ihn, wenn er immer häufiger, immer stärker erfuhr, daß sein Körper ihn stets von neuem überlistete, ihm immer schwerere Niederlagen beibrachte. Er sagte: »Ich will nicht so an Tinette denken. Es ist ekelhaft, es entwürdigt sie und mich!« Er wehrte sich, er kämpfte.

Dann, ganz plötzlich, mitten in seinen Kämpfen, gab er jeden Widerstand auf, ließ sich fallen. Er saß etwa mit Erich und Tinette beieinander. Mit diesem rätselhaften Bruder Erich, der die ständigen Besuche des Bruders bei seiner Geliebten ganz selbstverständlich zu finden schien. Und mit dieser noch rätselhafteren Frau, von der er nie begriff, warum sie ihn eigentlich immer um sich haben wollte, ihn, der nicht besonders klug war, der nicht besonders gut aussah, der ungepflegt und schlecht angezogen war.

Er saß also bei ihnen, und er beobachtete Erich aus einem Augenwinkel, wie er da saß und seinen Whisky trank und von den neuesten Tagesereignissen berichtete ... Und plötzlich packte es ihn, und er stand auf, machte sich am Kaminfeuer zu schaffen, und sich wieder aufrichtend, stand er hinter des Bruders Freundin und sah in ihren Brustausschnitt. Mit einer trotzigen Verzweiflung sah er die sanfte Brust sich heben und senken, und dazwischen starrte er zu dem Bruder hinüber, nicht verlegen, sondern herausfordernd: Ich schäme mich gar nicht! Ich tue es grade! Grade! Grade!!

Oder es war bei einem seiner seltenen Gastspiele im Gymnasium zwischen den Mitschülern. Sie saßen alle so furchtbar ehrbar und langweilig da, Oberlehrer Schneiders Stimme knarrte, es roch nach Schulstaub und Ungewaschenheit und Tinte und Papier ... Und ganz bewußt, ganz wachen Willens stellte er sich Tinette vor, er stellte sie sich langsam, voller Genuß vor, wie sie gestern abend vor einer Truhe gekniet hatte: Der Rock straffte sich über ihrem Schoß. Er sah deutlich die langen Schenkel und das Dreieck, das sich unter dem Rock abzeichnete, dort, dieses geheimnisvolle Dreieck, von dem man immer träumen konnte ...

Voller Hohn sah er auf die anderen. Sie lebten ihr dummes Leben weiter, stumpfsinnig, sie dachten an Schularbeiten, an Abitur und an Waffensammeln – kindische Beschäftigungen! Er aber war ein Mann, er ging jeden Tag zu einer schönen Frau. Er lebte ein Leben voller Sünde, Geheimnis, Laster; sie aber klierten Hefte voll, und wenn Schneider sagte: »Gut, Porzig!« – dann war der glücklich! Solche Kindsköpfe waren sie, und solch ein Mann war er.

Oder aber er lief mitten aus einer Unterhaltung mit Bruder und Tinette von der Diele. Er schlich in ihr Schlafzimmer, kniete nieder neben ihrem aufgeschlagenen Bett und vergrub sein Gesicht in ihrem Pyjama ... Er roch den schwachen, unbestimmbaren Duft, einen Duft, schien es ihm, von den Urgeheimnissen des Lebens her, Verführung und Sünde, Quelle und Spiel, ewig unenträtseltes Geheimnis, nie ausgeschöpfter Brunnen ...

Aber dies geschah erst später, geschah nicht schon zu Anfang, sondern erst, als er noch tiefer in ihren Bann geraten war. Denn er wurde immer mehr ihr Spielzeug, ihr Diener, ihr Sklave. Er ließ, zuerst mit sehenden Augen, im Kampf nach. Dann stürzte er sich geschlossenen Auges in den Abgrund.

Er war ja männlich (wenn auch noch kein Mann), und sie weiblich (und sehr Weib). Es lag in seinem Wesen, nicht jeden Tag neu über dieselben Dinge streiten zu können. Er wurde dessen so müde. Wenn er fünfmal die gleichen Beweise wiederholt hatte, ekelte es ihn, sie ein sechstes Mal auszusprechen.

Ihre Streitlust aber blieb immer frisch. Sie konnte jeden Tag von neuem anfangen, immer wieder dasselbe sagen, jede Stunde, jede Minute. Sie gab nicht einen Schritt breit nach. Sie wiederholte ihm so oft, daß er seine Nägel pflegen müsse, bis er anfing, die Nägel zu schneiden, zu bürsten, die Nagelhaut zu entfernen – all diese kleinen Dinge, die ihm erst so langweilig, so unnötig, so zeitraubend schienen.

Schließlich fand er sogar Vergnügen daran. Er gab nicht nur nach, um seine Ruhe zu haben, um nicht immer wieder das gleiche Geschwätz zu hören. Sondern es war ein Vergnügen, bei ihr zu sitzen, eine halbe Stunde lang, eine Stunde lang. Sie manikürte ihre Nägel, er manikürte die seinen. Sie plauderten dabei, es war etwas wie Kameradschaft; sie gab ihm Ratschläge, half ihm, nahm seine Hand in die ihre, schnitt einen Nagel gefälliger, sprach ganz ernst, völlig ausgefüllt von diesen Dingen.

Er begriff allmählich, wie wichtig all dies im Leben bestimmter Frauen ist. Daß es für eine gepflegte Frau wirklich fast unmöglich ist, einen ungepflegten Mann zu lieben, ja, ihn auch nur zu ertragen.

Darum, als sie ihn schließlich lachend fragte: »Nun, Henri, dummer Junge, habe ich nicht recht gehabt mit deinen Nägeln? Bist du jetzt nicht schick?«

Da gab er lachend zu, daß sie recht gehabt hatte, daß er jetzt schick war, todschick ...

Er gab nach. Er prüfte gar nicht mehr, ob sie denn wirklich recht hatte, ob manikürte Nägel notwendig für ihn waren; er saß bei ihr – also gut! Sie hatte recht!

Und als sie ihm zehn-, zwanzig-, dreißigmal wiederholt hatte, daß er den neuen Anzug anziehen, daß er zur Anprobe müsse, daß kein Mensch, der etwas auf sich gebe, so herumlaufe wie er, daß er für jede Frau so unmöglich sei, daß sie niemanden habe, mit dem sie Spazierengehen könne – da gab er schließlich auch nach.

Zuerst sagte er: »Aber nur der eine Anzug, den er mitgebracht hat!«

Und sie war damit auch einverstanden.

Aber dann ergab sich, daß der Anzug nicht richtig saß: Er beutelte im Rücken. Sie stellte Heinz zwischen zwei Spiegel, sie zeigte es ihm so lange, bis auch er sah, der Anzug beutelte im Rücken ... Nein, es war unmöglich, so konnte er doch nicht herumlaufen, er mußte zum Schneider!

Da er nun aber doch zum Schneider kam, sollte er wenigstens seinen Winterüberzieher anprobieren. Es war jetzt doch Winter – nun gut, die Deutschen nannten es vielleicht noch nicht Winter. Aber für sie war es Winter, und jedenfalls konnte er doch nicht ohne Mantel mit ihr Spazierengehen. Sie wollten doch miteinander Spazierengehen, nicht wahr, lange Wege miteinander machen? Also!

»Aber es ist unmöglich, Tinette, ich kann das nie bezahlen!« »Sei nicht dumm, Henri! Der Schneider wird die Rechnung in einem halben Jahr senden – vielleicht bist du dann ein reicher Mann ...«

»Aber versteh doch, Tinette, es ist ganz unmöglich ...«

»Das soll unmöglich sein, daß du in einem Jahr reich bist? Sieh dir doch Erich an, Erich ist bestimmt in einem Jahr reich! Was dein Bruder kann, wirst du doch auch können!«

»Aber ganz im Gegenteil, Tinette! Ich glaube, Erich hat schreckliche Geldsorgen.«

»Erich ...? Geldsorgen ...?«

Sie war aus allen Himmeln gefallen, noch nie schien ihr solch ein Gedanke gekommen.

»Da er doch damit gerechnet hat, daß Vater ein reicher Mann ist.«

Sie lachte, lachte ihm ins Gesicht. »Oh, Henri, du blinder Weltfremder – das ist doch alles längst vorbei! Jetzt schwimmt Erich gradezu im Gelde, ich sage dir, er ertrinkt! Vor ein paar Tagen erst hat er diese Villa gekauft und bezahlt. Bezahlt, bares Geld – ich weiß nicht mehr wieviel, es war ein dicker Herr, der es bekam. – Und du, du willst dir von deinem Bruder nicht mal ein paar Anzüge schenken lassen?«

Er sah sie argwöhnisch an, er war überzeugt, sie log. »Woher soll denn Erich auf einmal so viel Geld haben? Doch höchstens gepumpt!«

»O nein, sage das nicht! Erich ist wirklich tüchtig, er hat jetzt irgendwelche Lieferungen ...«

»Was denn für Lieferungen?!«

Es wurde immer unmöglicher, entfernte sich aber auch immer mehr von den Anzügen. Erich, einundzwanzig Jahre, frisch aus dem Felde gekommen, Sicherheitsdienst im Reichstag, aber doch auch wieder nicht Sicherheitsdienst – und nun plötzlich hochverdienender Lieferant!

»Was für Lieferungen?!«

»Bitte, das stimmt! Und ich finde es nur richtig, daß seine Freunde auch etwas für ihn tun. Er ist ihnen doch nützlich, er arbeitet für sie!«

»Aber, Tinette, ich bitte dich, höre doch ... Was kann er denn liefern? Er hat doch nichts!«

»Er kauft eben ein! Er hat irgendein Regiment zu versorgen und zu beköstigen, das haben sie ihm übertragen. Und er soll so tüchtig sein! Neulich war ein Freund von ihm hier, er sagte, Erich hat Butter herangeschafft wie noch keiner, trotz der Blockade, dänische Butter – oder war es russische? Ich weiß nicht mehr. Aber jedenfalls ...«

»Also ist mein lieber Bruder Erich nun auch Schieber geworden. Ich finde ...«

»Jetzt sei aber ruhig, Henri! Seit vierzehn Tagen elendest du mich mit diesen Anzügen ...«

»Ich dich? Du mich!«

»Du sagst, du weißt nicht, wie du sie bezahlen sollst. Ich sage dir, Erich schenkt sie dir, ich habe das längst mit ihm besprochen.«

(Wieder etwas ganz Neues. Also wußte Erich davon? Aber sie log, sie log bestimmt!)

»... Dann sagst du, Erich hat kein Geld für solche Geschenke. Ich sage dir, er hat Geld, er verdient enorm. Und nun schimpfst du ihn Schieber! Ja, mein lieber Junge, du verlangst also, daß Erich auf eine dir genehme Weise Geld verdienen soll ...«

»Ich verlange gar nichts ...!« Er schrie fast. »Ich will nichts mehr davon hören! Ich ...«

»Sehr gut! Das ist also endlich erledigt! Bitte, denke nun aber daran, daß es erledigt ist. Du ahnst nicht, wie sehr ich diesen ausgewachsenen, blanken Anzug von dir schon über habe! Und nun komm, ich habe für dich Oberhemden und Wäsche besorgt ...«

Heinz floh. Er rannte aus dem Hause. Er war verzweifelt, wütend.

Wird sie denn nie etwas verstehen?! dachte er. Ich kann hundertmal nein sagen. Ich kann ihr nein in die Ohren brüllen, sie versteht ja! Aber ich mache es nicht mit, ich gehe nicht wieder hin, oder wenn ich doch wieder hingehe – ich schwöre, diese verfluchten Anzüge werde ich nie tragen! Wäsche hat sie für mich kommen lassen! Aber ich werde nie ... Ich bleibe jetzt zu Haus, ich muß sowieso arbeiten, sonst geht es mit dem Abitur auch noch schief ...

(Was sonst schiefging, bestimmte er nicht genauer, aber er hatte ein sehr deutliches Gefühl davon, daß ziemlich alles schiefging ...)

Nein, eine Woche mindestens werde ich jetzt regelmäßig in die Penne gehen und gewaltig ochsen. Sie soll sehen!

Er malte sich aus, was sie sehen würde ... Wie sie sich erst wundern, dann sorgen würde, daß er überhaupt nicht mehr kam, ohne ein Wort fortblieb ...

Ich werde ihr eben doch fehlen. Wenn sie mich auch nicht liebt, sie ist doch an mich gewöhnt. Sie kann nicht allein sein ... Und das alles kaputtzumachen wegen ein paar dämlicher Anzüge! Sie versteht doch alles, sie müßte doch verstehen, daß es unmöglich ist ...

 

6

Zu Hause, die Eltern hatten Besuch. Aber Besuch konnte man es eigentlich nicht nennen, sondern eine Tochter war heimgekehrt. Nach vier Jahren Abwesenheit war die Schwester Sophie heimgekehrt, die Oberschwester, aus ihrem Lazarett im Osten ...

Da saß sie in ihrer blaugrauen Schwesterntracht, eine Rote-Kreuz-Brosche auf der sehr rund gewordenen Brust, irgendein Orden oder Ehrenzeichen war etwas seitlich gesteckt. Sophie, Heinzens Schwester, älteste Tochter des Hauses Hackendahl – völlig vertraut und doch völlig verändert!

Die Sophie von früher war ein spitznasiges, ziemlich übellauniges Geschöpf gewesen, mager und schwächlich. Die Oberschwester von heute war fett, mit einem weißen, losen Gesicht, wie aufgeschwemmt von den Dünsten der Krankenzimmer. Wenn sie etwas gesagt hatte, schloß sie den Mund und preßte die Lippen aufeinander, als schmecke sie etwas.

Ist die ekelhaft geworden! dachte Heinz verblüfft. So ein Mittelding zwischen Nonne und sturmerprobter Freundin vieler Männer! Die hat aber Angeben gelernt!

Sie hatte ihm, sitzenbleibend, die fette, weiße Hand gereicht. »Also du bist Bubi, zu dem man jetzt Heinz sagen muß. Ja, ja. Daß du groß geworden bist, brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Ja, ja. Und auf der Schule – hast du da Erfolge? Kommst du voran?«

»Danke!« sagte Heinz trocken und setzte sich.

Ein absolut unausstehliches Frauenzimmer – sie tat so, als sei er ein ganz kleiner Junge und sie die alte liebreiche Tante! Es war komisch, aber warum hatte ausgerechnet er nur unausstehliche Geschwister? (Daß seine Geschwister ihn ebenfalls unausstehlich finden könnten, auf den Gedanken kam er nicht.)

Sophie fuhr fort in ihrer Ansprache: »Und hier geht alles weiter gut? – Ja, das sehe ich natürlich, ihr habt euch verkleinert. Nun, wir haben alle unsere Opfer bringen müssen, an Gut und Blut. Der arme Otto ist ja auch gefallen. Ja, ja.«

Sie schloß den Mund fest, es sah aus, als schlösse sie den Sargdeckel für Otto ...

Der Vater fragte: »Und wat willste nu machen, Sophie? Det siehste ja, hier können wir dich nich ooch noch durchfüttern; Bubi hat schon seine Kündigung zu Ostern ...«

Gustav Hackendahl lachte. Heinz fand, der Vater hatte sich in der letzten Zeit gewaltig geändert. Nicht, daß er im allgemeinen Verfall weiter verfallen wäre, nein, es war, als habe ihm die letzte Zeit einen Ruck zu sich hin gegeben. Er schien über alles innerlich zu grinsen, sich über Welt und Kinder lustig zu machen ...

»Nein«, antwortete Oberschwester Sophie langsam, »ich glaube nicht, daß ich euch zur Last fallen muß. Herr Oberstabsarzt Schwenke hat mir bereits den Operationssaal angeboten. Es gibt ja leider auch hier genug zu tun. Traurig, ja, ja.« Sie senkte die weißen, bleichen Augenlider. Was sie gesagt hatte, war unbestreitbar richtig gewesen, aber sie hatte es auf eine Art gesagt, die Heinz einfach widerlich fand ...

»Auch das Mutterhaus hat Pläne mit mir ... Nun, ich werde sehen. Es hat alles Zeit, aber es ist fast ausgeschlossen, daß ich euch je zur Last fallen werde.«

Der Mund schloß sich.

»Is ja jut, mein Mächen«, sagte der Vater Hackendahl. »Ick vasteh schon, det du dein Schäfchen aufm trockenen hast. Biste eben tüchtjer jewesen als dein oller Vater. Der is nu wieder janz jemeener Droschkenkutscher ...«

Sie vermied eine direkte Antwort. »Ich bin ja nun ziemlich lange nicht in Berlin gewesen«, sagte sie, »und vielleicht irre ich mich – aber hast du früher eigentlich schon so stark berlinert, Vater?«

»Du merkst auch allens. Mächen.« Hackendahl grinste. »Nee, früher, als ick noch'n richtijes Lohnfuhrunternehmen hatte, da ha'ick mir bemüht, frisiert zu sprechen, aber jetzt, als so'n kommuner Droschkenkutscher ... da lohnt et doch nich, wat. Mächen ...«?

»Ach so. – Ja, ja. Ich verstehe, Vater.« Die Nonne senkte die Lider. »Früher hast du immer den – wie sagten die Leute doch? – den eisernen Gustav gespielt. Und jetzt ist es also der urgemütliche Berliner? Originell, Vater. Wirklich sehr originell!«

»Jespielt?« fragte der Vater. »Nee, da irrste dir, Sophie. Spielen tun hier janz andere, un ick weeß ooch wat. Mir kannste nich jraulich machen! Der eiserne Justav bin ick immer jewesen, un der bleibe ick ooch! Un mit dem balinern, det paßt eben besser zu meine jeminderte Lebensumstände ...«

»Ja, ja«, sagte Sophie. »Ich verstehe vollkommen, Vater.« Und dann, wohl um abzulenken: »Und was macht Evchen? Wo steckt Eva? Du hast nie mehr von Eva geschrieben, Mutter!«

Die Mutter zuckte zusammen, sie sah ängstlich auf den Vater. Eva – der Name wurde vor ihm nie mehr genannt.

Der Vater hatte auch wirklich die Stirn zusammengezogen. Aber er antwortete dann ganz friedlich: »Eva? Von der war ooch nischt Jutes zu schreiben.« Er gab sich einen Ruck. »Die is 'ne Nutte jeworden, det is se!«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Sophie hatte nicht gezuckt, sie saß still da, ein weißes Bild unter der Schwesternhaube, die Hände im Schoß.

»Entschuldige, Vater«, sagte sie schließlich. »Nur noch eine Frage: Bist du mit ihrem Lebenswandel nur nicht einverstanden oder ist sie wirklich, was das Wort sagt?«

»Natürlich! Richtig 'ne Nutte, mit allem, was dazu jehört, Schein und Lude ...« Nur an dem mühsamen Sprechen merkte Heinz, wie schwer es den Vater doch ankam, so von seinem früheren Liebling zu reden. »Von einverstanden un Lebenswandel keene Rede nich: Det is so!«

»Und nun reden wir darüber kein Wort mehr«, sagte Frau Hackendahl ungewöhnlich entschlossen. »Du regst Vatern bloß auf, Sophie.«

»Von Uffrejung kann jar keene Rede sind«, sagte Vater Hackendahl zornig. »Jeder nach seine Talente!«

Wieder entstand Stille. Keines der vier Familienmitglieder wagte das andere anzusehen.

»Ja, ja«, sagte Schwester Sophie dann gedankenverloren. Und etwas lebhafter: »Und Erich? Wie geht es denn Erich?«

»Da mußte Heinz nach fragen. Der steckt alle Tage bei ihm.«

Vater Hackendahl stand nun doch auf. Es kam Heinz ganz unerwartet, daß sein Vater von diesen Besuchen wußte. Natürlich hatte er der Mutter dies und jenes von Erich erzählt; daß sie es dem Vater aber weitererzählt hatte, war ihm neu.

Der Vater stülpte seinen Lackpott auf, Heinz half ihm in den Kutschermantel, und Hackendahl nahm die Peitsche aus dem Winkel beim Schrank.

»Ick will meinem Rappen un mir ein bißken die Beine vertreten«, erklärte er. »Na, denn uff Wiedersehn, Sophie. Hat mir sehr jefreut, mach's jut. Un eh du was Neues anfängst, vajiß nich, jut zu überlejen, wo du am meisten rausschindest! Tjüs, Mächen, tjüs Muttern. – Heinz, du könntest mal Muttern 'n Zentner Preßkohlen holen, wenn's dir nich zu ville Umstände macht, heeßt dat!«

Damit ging Vater Hackendahl. Er war wirklich immer noch eisern, nur hatte er sich, statt zu bullern, auf das Beißen verlegt.

Auch Sophie hatte es gemerkt. »Ich weiß nicht, Mutter«, sagte sie, nachdem sie achtsam das Klappen der Etagentür abgewartet hatte. »Vater hat sich doch sehr verändert. Das klingt ja grade, als wenn er böse mit uns Kindern wäre. Ich habe ihm doch bestimmt nichts getan. Und ich bin etwas geworden – es ist gar nicht ausgeschlossen, daß ich bald Oberin werde ...«

»Das ist ja alles ganz schön«, sagte die Mutter, »aber ein Kind sollte auch mal an seine Eltern denken. Die letzten zwei Jahre hast du dreimal geschrieben!«

»Wenn ihr das freilich übelnehmt!«

»Ich weiß doch nicht, Vater spricht nie von so was. Aber Kinder, die sich ein bißchen um ihre Eltern kümmern, haben wir nicht!«

»Aber Mutter! Ich versteh dich nicht. Ich hatte Verwundete zu versorgen. Hunderte, Tausende. Manchmal haben wir fünfzehn Stunden hintereinander im Operationssaal gestanden ... Da kann man hinterher einfach nicht schreiben ...«

»Du wirst in zwei Jahren wohl auch mal 'ne freie Stunde gehabt haben ...«

»Da habe ich geschlafen. Ich mußte schlafen, Mutter, um mich arbeitsfähig zu erhalten. Die Verwundeten gingen vor. Ich wußte aus deinen Briefen, ihr wart gesund ...«

Sophie kriegte die Mutter natürlich herum. Mutter war wirklich weich, sie hörte immer auf den, mit dem sie gerade redete. Heinz saß still dabei, hörte zu und bewunderte die Schwester, wie geschickt sie die Mutter nach den Verhältnissen der Eltern aushorchte. Er war ganz überzeugt, Sophie hatte ähnliche Absichten gehabt wie Erich. Nun, da sie erfahren hatte, es war nichts, aber gar nichts hier zu holen, würde sie nicht durch häufige Besuche lästig fallen.

Später ließ sie sich von Heinz ein Stück Wegs bringen. Sie hatte ihn darum gebeten, die Straßen seien so unsicher, nicht einmal eine Krankenschwester sei vor Belästigungen sicher ... Aber das war nur Vorwand, davon war Heinz überzeugt; Sophie sah nicht mehr so aus, als könnten ihr Männer große Angst einjagen. Nein, jetzt sollte er ausgeholt werden – und richtig, nun mußte er von Erich berichten.

Bei Heinz nahm sie sich viel weniger in acht, sie zeigte ganz unverhohlen ihr Interesse ...

»Ja, Erich ist klug, der wird schon vorwärtskommen ... Großartig, einundzwanzig Jahre und schon an der Futterkrippe! Ja, ja. – Er weiß, daß man Geld verdienen muß. Völlig richtig. Sehr klug. Also sag mir noch einmal seine Adresse ... Ja, ich suche ihn bestimmt bald auf. Solch eine Verbindung muß man benutzen. Ich habe so meine eigenen Pläne, vielleicht kann ich ihn dafür interessieren ...«

Völlig aufgekratzt ging Heinz nach Haus. Das würde er Erich heute abend noch erzählen, auf diesen Besuch würde er ihn unter allen Umständen vorbereiten. Erich würde sich köstlich amüsieren!

 

7

Also ging er wieder in die Villa. Aber so verlogen war er doch nicht, daß er sich einredete, es geschah, um dem Bruder Nachrichten von Sophie zu bringen. Nein, er protestierte, er kämpfte mit sich, aber schließlich gab er nach.

Als Bruder Erich feixend zu ihm, der in der Pracht seiner neuen Kleidung dahinwandelte, sagte: »Na, Bubi, für einen so krassen Idealisten siehst du eigentlich verdammt materialistisch aus!« – da hätte er ihn am liebsten geschlagen vor Wut und Beschämung.

Aber er gewöhnte sich, der Mensch, dieses anpassungsfähigste Geschöpf des Erdballs, gewöhnt sich an alles. Zumal eigentlich keiner etwas Besonderes an seinem veränderten Aussehen zu finden schien ...

Die Mutter sagte: »Na, wenigstens für dich tut Erich was – wenn er auch nicht den Weg zu uns findet.«

Und der Vater, mit seinem neuen grimmigen Humor: »Wenn et dir peinlich ist, mir zu jrüßen, von meinswejen brauchste nich wegkucken oder dir hinter 'ne Litfaßsäule vakriechen. Ick kenn dir einfach nich.«

Nein, sie fanden alle nichts Besonderes dabei. Bei den Mitschülern stieg er sogar erheblich im Ansehen. Er bekam, wer weiß woher, den Ruf, eine reiche Freundin zu haben, und so jung waren sie ja nun, trotz Notzeit und Waffensammeln, doch, daß der Umgang mit einer schönen, reichen Frau ihre Schülerherzen wie ein Traum verführte ...

Aber wenn es alle selbstverständlich, ja, sogar beneidenswert fanden, in ihm blieb eine Stimme wach, die immer wiederholte, daß Schmach doch Schmach sei ...

Natürlich stellte es sich sofort heraus, daß diese Anzüge überhaupt nicht auf Spaziergängen getragen wurden. Einmal, ein einziges Mal gingen sie fünf Minuten weit in den winterlichen Grunewald. Aber Tinette verlangte zornig sofortige Umkehr. Dies sollte ein Wald sein? Besen, häßliche, struppige Besen, verkehrt in die Erde gesteckt, waren das! Ein Boden, der die Schuhe sofort mit Sand und Nadeln füllte! Und sie schwärmte von irgendwelchen Parks, dort im Westen, von ihren weichen, lockeren Laubmassen, von gelb bekiesten Wegen ...

»Auch dort ist jetzt Winter, Tinette!«

»Winter? Was redest du, Henri! Nie ist dort wirklich Winter – in den Menschen, meine ich! Ihr seid hier alle Wintermenschen, trübe, kalt. Aber wir sind immer fröhlich, bei uns ist immer Frühling!«

»Immer fröhlich – das gibt es ja gar nicht, Tinette!«

»Gibt es nicht – ach, du solltest sehen ...« Sie stockte, dann brach es doch aus ihr hervor: »Wenn die Franzosen doch nicht nur bis zum Rhein vorrückten, wenn sie doch bis hier kämen! Man hätte endlich Menschen, mit denen man lachen kann! Hier ist man ewig allein – ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht soviel gefroren wie hier in diesen paar Monaten!«

»Und damit du mit irgendeinem Leutnant lachen kannst, soll Deutschland die Franzosen im Lande haben? Armes Deutschland!«

»Was geht mich das an?! Hätte ich gewußt, wie ihr wirklich seid – ich wäre nie hierhergekommen. Aber ich bin auf Erich hereingefallen – ich habe geglaubt, ihr anderen wäret auch ein bißchen so wie er. Aber nichts, nichts.«

»Nun, wenn es so schrecklich ist bei uns, Tinette, kannst du ja zurückkehren in deine Heimat. Erich wird dich auch nicht festbinden können!«

Heinz fühlte sich persönlich verletzt.

»Das ist es ja eben – ach, Henri, bist du dumm! Glaubst du, ich kann zurück? Nicht eine Stunde bliebe ich, Erich könnte noch hundertmal mehr Geld verdienen! Aber ich kann ja nicht zurück, vorläufig bestimmt nicht ...«

Und sie erzählte ihm, daß man drüben, daheim die Frauen ächte, die sich mit Deutschen eingelassen hatten.

»Ich würde nie wieder ein Engagement kriegen. Verhungern könnte ich! Man würde mich steinigen.«

Und ich? Ich?! hätte er fragen mögen. Bin ich dir denn gar nichts?!

Aber warum fragen, da er doch die beschämende, entwürdigende Antwort schon wußte?! Er war nichts wie ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, der Gefährte langer, grauer, einsamer Stunden, jemand, den man sofort und völlig vergaß, wenn etwas Amüsanteres kam.

(Und vielleicht war man doch ein klein bißchen mehr. Jemand, den man quälen, an dem man seine Macht erproben konnte – ein Diener, ein Sklave, ein Höriger. Ja, hörig, ja, die Schmach, die man schon nicht mehr fühlte, die gemeinsame Schmach: Zugefügtes und Erlittenes, das zusammenband!) Dies war also der einzige Spaziergang, der zustande kam. Später ging man auch täglich fort, in die Stadt, erst nur am Tage, weil Erich des Abends heimkam, dann auch am Abend, weil Erich bis in die tiefe Nacht hinein arbeitete! Dieser Erich, weich, liebenswürdig – aber von einer unbeirrbaren Zähigkeit, wenn es galt, Geld zusammenzuraffen. Der Schwache, der sogar stark sein konnte, wenn es um Geld ging!

Was dachte er, wenn er Freundin und Bruder immer beisammen sah? Es konnte ihm ja nicht verborgen bleiben! Sie versteckten sich nicht, jeder Dienstbote wußte Bescheid, Tinette rief Erich auf seinem Büro an und erbat sich den Wagen für Besorgungen mit Henri.

Was dachte er?

Ach, dieser Liebenswürdige war so undurchschaubar, er war viel schwerer zu verstehen als Tinette. Heinz wollte es gar nicht, aber er mußte doch immer wieder über den Bruder nachdenken. Was ging in ihm vor? Erich war doch nie ein sorgender Bruder gewesen, er arbeitete wirklich (natürlich gemeine Schiebungen, aber auch Schiebungen machen in bestimmten Augenblicken Arbeit!), und er sah, wie Freundin und Bruder dieses sein erarbeitetes Geld ausgaben, als sei es nichts!

»Ihr amüsiert euch doch gut? Ihr langweilt euch doch nicht? – Komm einmal her, Heinz!«

Und er steckte dem Bruder eine Rolle Scheine in die Hand, irgendeine ganz unsinnige Summe.

»Mach keine Geschichten, Bubi. Es ist unmöglich, daß du ständig ohne Geld in der Tasche herumläufst. Tinette sagt mir, du gehst zu Fuß von Dahlem in die Wexstraße? Was für ein Unsinn, nimm dir ruhig ein Auto. Ich mag ein Egoist sein, aber den Altruismus, mit dem du dich Tinettens annimmst, erkenne ich voll an.«

Er lächelte – war es nun hohnvoll oder freundschaftlich. Oder einfach müde und abgekämpft. Vielleicht war er auch froh, die Freundin beim Bruder in sicherer Obhut zu wissen. Sie mußte ja einen Gesellschafter haben, und jeder andere Mann war eine größere Gefahr als dieser siebzehnjährige Schuljunge.

Oder war alles doch ganz anders? Viel schwieriger, viel komplizierter: viel gemeiner?!

Nicht zu enträtseln, unverständlich ... Heinz hatte gedacht, Frauen seien sehr schwer zu verstehen, und sicher wußte er von Tinette sehr wenig, aber von dem Bruder, von seinem eigenen Bruder Erich, und wie es in ihm aussah, wußte er gar nichts ...

 

8

Statt der Spaziergänge wurden also Besorgungen gemacht. Es war erstaunlich, wie viele Dinge eine Frau wie Tinette ständig zu besorgen hatte, eine wie lange Zeit sie bei diesen Besorgungen zubringen konnte. Besorgungen, das war nach Heinz' Begriffen bisher eine sehr lästige, zeitraubende Hausfrauenpflicht gewesen: Die Mutter ging mit der Einholtasche los und mußte stundenlang vor einem Laden wegen eines Pakets grauer Nudeln anstehen.

Jetzt fuhr man im Auto, im Vorüberfahren sah man die Frauen noch immer vor den Lebensmittelläden in langen Schlangen stehen, grau, stumm, mit Elendsgesichtern.

Eine Falte ihres Rockes lag auf seinem Knie, in der Bewegung des Wagens stieß ihre Schulter manchmal leise an seine. Sie öffnete den Mund, er sah sie sprechen, die schön geformten Zähne – oh, gut!

Sie fuhren zu Schneiderin und Modistin – drei Wochen nach der Revolution gab es schon wieder in gewissen eleganten Straßen sehr elegante Läden mit sehr französischen Namen, mit Damen, die sich Madame Soundso und Mademoiselle Diesunddas de Paris nannten, und die die herrlichsten, immer kürzer werdenden Pariser Modeschöpfungen verkauften.

Da saß er denn auf irgendeinem Hockerchen oder in einem tiefen Sessel und durfte zusehen, wie Madame anprobierte und aufprobierte. Überraschend bemalte Mädchen auf langen, stolzen Beinen gingen ab und zu. Sie brachten Kleider und trugen Kleider fort, unter dem strammsitzenden Rock schaukelte anmutig-lässig das Gesäß – und bei Tinette stand eine andere, etwas ältere, aber noch sehr gut aussehende Dame, und die beiden redeten immer aufgeregter, immer rascher miteinander ...

Sie nahmen den Hut in die Hand, probierten ihn auf, sahen sich im Spiegel, in zwei Spiegeln, in fünf Spiegeln – legten den Hut verächtlich zurück auf den Tisch, nahmen einen anderen, probierten ... Kehrten zum alten zurück, rückten ihn etwas nach rechts, ein bißchen tiefer nach links, bogen die Feder hoch, wieder herunter ... Und plötzlich wandte sich die ältere Dame fast leidenschaftlich an Bubi und bat, Monsieur möge doch sagen, wie dieser Hut Madame kleide, aber seine wirkliche, ehrliche, unverfälschte Meinung!

Während Heinz schwerfällig, aber ganz bereitwillig ein sachlich fundiertes Urteil über diesen Hut zusammenzubringen versuchte, sahen die beiden gespannt, ernst auf seinen Mund, als spreche der Gott der Mode (falls es einen geben sollte) selbst zu ihnen. In demselben Augenblick aber, da er den Mund geschlossen hatte, wandten sie sich von ihm ab, vergaßen ihn völlig, als existiere er überhaupt nicht, nahmen den Hut vom Kopf, setzten einen anderen auf – und schienen nie zum Ziele zu kommen.

Heinz jedenfalls begriff nie, warum schließlich doch ein Hut gekauft wurde, wieso gerade dieser, warum er dann geändert, zurückgeschickt, wieder geändert, umgetauscht wurde – nichts begriff er. Alles blieb rätselhaft.

Bei der Schneiderin peinigten ihn andere Dinge. Nachdem Tinette zu Anfang noch in einer Ankleidekoje verschwunden war, vergaß sie das beim dritten, vierten Male schon vollkommen. Er sah sie aus dem Schalenwerk ihrer Kleider auftauchen, immer schlanker, immer verführerischer. Schließlich stand sie da, in langen, seidenen Strümpfen, in Seidenhöschen und mit irgend etwas über der Brust. Sie hob die Arme, und das Kleid glitt, leise raschelnd wie eine trockene Schlangenhaut, über sie. Dann verwandelte, enthüllte sie sich von neuem ...

Hundertmal schwor er sich, nicht hinzusehen. Er saß vornübergebeugt, die Zigarette in der Hand, er besah sich die Lichtreflexe auf seinen untadeligen Schuhen, die er alle Morgen in der Wohnung des väterlichen Droschkenkutschers selber putzte – dann sah er doch hoch. Da stand sie! Verführerischer, als wenn sie nackt dagestanden hätte! Er schloß die Augen – und sah doch wieder hin, die süße Qual immer von neuem zu fühlen!

Bald begrüßten ihn die Mädchen dieser Geschäfte mit einem vertrauten, fast schwesternhaften Lächeln, als gehöre er ganz dazu. Manchmal saß eine einen Augenblick auf der Lehne seines Sessels und versicherte, daß Madame heute wieder einmal blendend aussehe, und eine Figur zum Verlieben! Die Brust vielleicht eine Spur voll – aber die Männer lieben das grade, nicht wahr? Lächeln ... Fortgleiten, mit dem sanften Schaukeln des Gesäßes ...

Heinz zerbrach sich den Kopf darüber, was diese Mädchen wohl von ihm dachten, ob sie ihn für den Geliebten oder den Bruder von Tinette hielten – ob auch sie es darauf anlegten, ihn zu quälen. Ob sie wußten, was er wirklich war: ein Höriger, ein Sklave, der nicht mehr die Kette zu tragen braucht, weil ihn viel festere unsichtbare Ketten halten ...

Immer tiefer hinein, immer rascher den Abgrund hinab ...

Wenn sie dann wieder zu Haus waren, wollte sie erst recht nicht allein sein. Sie wollte mit ihm plaudern, ihm von tausend Dingen erzählen, die sie beobachtet hatte, von denen er nichts gesehen hatte.

Sie nahm ihn in ihr Ankleidezimmer mit, sie zog sich vor ihm um. Manchmal war ihr Mädchen dabei, manchmal waren sie allein ... Sie lachte. Sie plauderte, er brauchte nur ein Ja oder Nein einzuwerfen, er brauchte nichts zu sagen. Er saß da, verzweifelt und berauscht. Er fühlte sich selbst wie ein Tier, das vor Hunger fast toll ist, das die Nahrung ganz nahe sieht, aber auch die tödliche Falle, die um die Nahrung aufgebaut ist ... Er zitterte, er verabscheute sich und sie, aber sich am meisten – und doch hätte er nicht eine Stunde dieser Quälereien missen mögen!

Einmal – als er es nicht mehr ertrug, als er fast stöhnend, fast brüllend vor Schmerz rief: »Ach, Tinette – bitte, bitte, Tinette ...!« – wandte sie sich zu ihm.

»Aber das tut dir doch nichts, mein Freund?« lächelte sie. »Du bist doch wie mein Bruder, wie?!«

Sie trat auf ihn zu, er stürzte vor ihr auf die Knie und küßte verzehrend den schmalen Streif weißen Fleisches zwischen Strumpfband und Höschen ...

Sie lachte, mit den Fingern verwirrte sie sein Haar, sie sagte ganz unbekümmert: »Ach, Henri, das wirst du gewöhnt! – Du weißt doch, nur im Feuer beweist der Soldat seinen Mut!«

Lachend machte sie sich von ihm los, lachend ging sie an den Ankleidetisch zurück; als hätte sie alles sofort wieder vergessen, plauderte sie weiter ...

Immer tiefer hinab, immer schneller hinab.

Er dachte nur an sie. Er träumte nur von ihr. Nein, noch immer wollte er sie nicht besitzen. Ein Sklave hat keinen Besitz. Seine Demütigung, seine Schmach – sie waren sein Besitz, seine Lust.

Er geht dahin. Manchmal ist er sogar stolz – stolz, daß er diese Welt entdecken darf. Er überlegt nicht einen Augenblick, ob diese Welt auch des Entdeckens wert ist.

Er kommt in die Villa, er geht in ihr Schlafzimmer. Sie liegt im Bett – vielleicht schläft sie noch, langsam wird sie unter seinem Blick wach. Sie reckt sich, sie gähnt – aus der Wärme des Bettes kommt ihre Hand, die er küssen darf. Oder sie streckt das Bein unter der Decke vor, sie behauptet, sie habe einen Krampf, er muß es massieren ...

Bruder wie Schwester, Gefangene des eigenen Triebes, Hörige, leidend an der Lust, lüstern nach Leid: Eva Hackendahl wie Heinz Hackendahl – immer tiefer hinab!

 

9

Während das Jahr 1918 unter blutigen Kämpfen zu Ende ging, das neue Jahr 1919 mit noch blutigeren Kämpfen, wilderen Streiks begann –, während Heinz auf seinem Wege nach Dahlem zwanzigmal auf Waffen durchsucht wurde, jetzt von Bürgerwehr, jetzt von Noskitos, nun von Spartakisten, an der nächsten Ecke von Unabhängigen –, während in die Straßen Berlins die Stacheldrahtverhaue des Schützengrabenkrieges ihren Einzug hielten und überall Schilder hingen: »Halt! Wer weitergeht, wird erschossen!« –, während sie mit Kanonen auf Polizeipräsidium und Schloß und Marstall schossen und die Matrosen bei einem Löhnungsappell erledigten –, während sie um Nationalversammlung oder Rätestaat kämpften und um mildere Waffenstillstandsbedingungen bettelten –, während die Spartakisten den Arbeitern den Sechsstundentag versprachen, und Liebknecht und Rosa Luxemburg erschossen wurden –, während der Hunger stieg, der Mord stieg, die Not stieg – und die Truppen aus dem Felde heimkehrten, sich auflösten, in der Masse untertauchten. Elendsgrau zu Elendsgrau kam, und nur einzelne kleine Verbände unter Waffen blieben, mit Willen der Regierung, unter Duldung der Regierung oder auch spottend der Regierung –, während sich die allgemeine Sterblichkeit in Berlin »nur« verdreifachte, die Sterblichkeit an Lungenkrankheiten aber verachtzehnfachte ...

Während alledem lernt Heinz Hackendahl unter Tinettens Führung das Berliner Nachtleben kennen. Es gibt in diesem Winter sehr viele Bars in Berlin, und jede Woche kommen neue dazu, aber sie gleichen einander alle. Es sind Kuppelhöhlen, es sind Nuttenbetriebe; es wird sehr hastig und sehr viel getrunken, als stehe schon ein anderer hinter jedem, ihm das Glas von den Lippen zu nehmen ...

Da sitzt also Heinz Hackendahl, siebzehnjähriger Primaner, in der Bar. Seine Dame ist nicht tiefer ausgeschnitten als die Damen alle, die hier zwischen den Tischen hin und her gehen und verführerisch flüstern – aber sie ist auch nicht weniger tief ausgeschnitten. Die Jazzkapelle, möglichst mit mindestens einem Neger (entlaufen von den rheinischen Besatzungstruppen), lärmt, und nun singen sie alle englisch ... Sie trinken und sie lachen ... Heinz fühlt, wie der Sekt ihn beschwingt, wie er immer rascher redet, Tinette will sich ausschütten vor Lachen ... Jetzt ist er frei, lachend, sich selbst verspottend erzählt er ihr, wie schüchtern er zuerst war, wie er nie gewagt hat, sie gerade anzusehen. Aber jetzt sitzt er hier bei ihr, den Sektkelch in der Hand, im Licht ...

Plötzlich bricht die Musik ab. Eilig, polternd rollen eiserne Läden. Der Herr Geschäftsführer bittet mit gepreßter Stimme die Herrschaften, einen Augenblick ruhig zu sein ... Eine kleine Ansammlung von Arbeitslosen stehe vor dem Lokal ... Sofort werde die Polizei kommen ...

Und ehe sie noch haben fragen können, ehe sie noch den Kelch aus der Hand auf den Tisch haben niedersetzen können, geht das Licht aus ... Dunkelheit, Schwärze ... Langsam werden die Enden der Zigaretten rötlich-hell, eine Frauenstimme lacht schrill auf, ein Herr sagt wütend: »Verdammter Quatsch!«

Dann ist es still drinnen, denn von draußen, durch die eisernen Rolljalousien, dringt ein Gesumme, ein böses, feindliches Gesumm wie von einem empörten Bienenschwarm, anschwellend, abebbend – und dazwischen meinen sie lautere Stimmen zu hören ...

Plötzlich begreifen alle, daß dies nicht eine zufällige Arbeitslosenversammlung auf dem Platz vor der Bar ist, sondern daß dies eine Demonstration der Arbeitslosen gegen die Gäste dieser Bar ist. Sie verstehen die Schreie draußen ... »Schieber raus!« schreien die.

Plötzlich fliegt die Tür zur Straße auf. Glas splittert.

»Kein Gast ist im Lokal – mein Ehrenwort!« schreit die Stimme des Geschäftsführers.

Und das Licht flammt auf. (Natürlich ist einer der Kellner im Bunde mit den Demonstranten; man kann noch so hohe Trinkgelder geben, immer wird man verraten!) Drei, vier Feldgraue stehen im Eingang, sehen in die erschrockenen Gesichter ...

»Kommt alle mal raus«, sagt einer der Feldgrauen, böse grinsend. »Wir wollen euch zu gerne gute Nacht sagen ...«

Starr saßen die Gäste, ein Herr rief laut: »Es ist doch unerhört!« – und brach ab, als ihn der Blick des Feldgrauen traf.

»Nun, wird's bald?!« rief der, schon drohender. »Oder soll ich ein bißchen nachhelfen, was?!« Und er faßte nach dem Koppel, an dem Handgranaten hingen.

Ein Herr stand auf. »Ich stelle fest, daß ich Frontkämpfer bin«, sagte er. »Ich habe das E. K. Ich verlange, daß Sie das den Leuten draußen sagen!«

»Erzähl's ihnen selber, mein Junge!« Der Feldgraue gab dem Herrn einen Stoß, daß er zur Tür taumelte. Ein zweiter Feldgrauer half ihm mit einem neuen Stoß auf die Straße. Man hörte ein dumpfes Aufbrausen, dann Schreie, dann einen Schrei ...

»Ich gehe nicht raus!« rief einer. »Ich lasse mich nicht totprügeln! Es muß hier einen Hinterausgang geben!«

»Los mit dir!«

Der Feldgraue griff zu. Der Herr schlug zurück. Es gab einen kurzen Tumult, dann flog auch dieser hinaus, und wieder wurde das lautere Brausen hörbar.

»Mann, seien Sie vernünftig«, bat einer. »Ich zahle Ihnen hundert Mark, wenn Sie uns auf das Klo lassen. Oder auf den Hof ...«

»Ich dreihundert!«

»Tausend!«

»Biete fünfhundert, Bubi! Ich habe Geld bei mir!« flüsterte Tinette. »Biete auch tausend ...«

»Tausend ...«

»Ach nee, da könnten wir ja reiche Leute werden! Aber ich will kein Geld von Schiebern ... Unsere Kinder verhungern, und ihr Schweinezeug sauft Sekt ...!«

»Los, los!« riefen die Feldgrauen. Sie hatten sich vermehrt, von draußen waren noch andere gekommen, auch Zivilisten: böse Gesichter, bleiche Faltengesichter, rohe Gesichter ... Sie rissen den Gästen die Stühle fort, schoben sie zum Eingang ...

»Rollt das Lokal von hinten auf! Achtet auf die Türen! Laßt keinen aufs Klo! Laßt euch nicht von den Weibern rumkriegen!«

»Meine Sachen! Mein Pelzmantel!« schrie eine Frau, sich wild wehrend.

»Hol sie dir morgen, Schatz! Ich glaub nicht, daß dein Pelzmantel heil bleibt!«

Ein Herr stieg auf einen Stuhl.

»Es ist Wahnsinn, uns so einzeln herausstoßen zu lassen. Jeder kriegt das Zehnfache ab. Ich schlage vor, wir gehen alle dicht hintereinander, immer ein Herr, dann hinter ihm eine Dame. Los ... Ich gehe voran. Komm, Ella, halte dich direkt hinter mir – und dann so schnell wie möglich durch! Oskar, du hinter Ella!«

»Du bist an der Front gewesen, Kamerad, warte mal!« sagte der Feldgraue. »Was saufst du hier bei den Schiebern Sekt ...? Warte mal ...!«

»Haben wir nicht auch im Schützengraben gesoffen?!« rief der Herr böse. »Gehst du nicht auch manchmal in eine Destille und kippst einen ...? Dies hier ist meine Destille!«

»Warte doch – ich lasse dich über den Hof, Kamerad!«

»Danke! Ich will, was die anderen bekommen! Alle hintereinander! Los, Ella!«

Er lief hinaus, andere ihm nach. Durch die offene Tür klang lauter das Brüllen der ungeduldigen Menge ...

»Los, Tinette, wir dürfen nicht die letzten sein!«

Sie war sehr bleich, aber nicht vor Angst ...

»Hol meinen Mantel!« befahl sie. »Mach keine Geschichten! Ich gehe nicht halbnackt auf die Straße!«

Sie traten aus der Tür.

»Wieder ein Kerl mit einer Nutte!« grölte einer.

Der kaum erleuchtete Platz brüllte mit tausend Mündern, schrie, drohte, lachte, spottete, schlug ... Dicht gedrängt stand die Masse, dunkle Gesichter, sehr viele Frauen ...

»Nur schnell, Tinette! Halte dich direkt hinter mir! Laß um Gottes willen nicht den Riegel von meinem Jackett los!«

Gerade stürzte mit hochgehobenen Armen ein Herr durch die schmale Gasse, die durch die Menge führte. Heinz eilte ihm nach. Wie der andere schützte er mit einem Arm das Gesicht, zog den Kopf zwischen die Schultern. Er fühlte am Gewicht, daß Tinette an ihm hing.

Dann war er zwischen den Leuten. Sie schlugen ihn, sie schrien ihn an: »Schieber! Speckjäger! Verräter! Drückeberger! Lude! Nuttenschwein!« Eine Frau spie nach ihm ... Blind für alles, die Schläge vor Erregung kaum fühlend, drängte er vorwärts, nur bemüht, nicht den Anschluß an den starkknochigen Herrn vor ihm zu verlieren ...

Der drängte kräftig voran! Wie ein Sturmbock ging er durch die Menge, nur darauf bedacht, ohne Aufenthalt voranzukommen, prellte mit seinen breiten Schultern, die ihn aufhalten wollten, antwortete nie, schlug nie zurück – und kam vorwärts, unaufhaltsam vorwärts ...

Im Toben, im Schreien, im Anspucken, im Schlagen war es Heinz ein Trost, daß er manchmal stärker, manchmal schwächer, aber stets das Ziehen von Tinettes Hand in seinem Rücken spürte. Zurücksehen konnte er nicht, etwas sagen auch nicht. Einmal schrie er auf, ein Weib hatte nach ihm gestochen, mit einer Stricknadel wahrscheinlich, an dem deckenden Arm vorbei. Einen Augenblick fühlte er in der Backe einen brennenden Schmerz, dann kam lindernd das Rieseln von Blut ...

Nahm das nie ein Ende? Es war doch nur ein ganz kleiner Platz, ein Dreiecksplatz; sonst überquerte man ihn in zwei Minuten! Jetzt war es ihm, als sei er schon Stunden unterwegs! Immer weiter, immer tiefer hinein – und die Schläge, die Beschimpfungen verloren nichts an Kraft ... Irgend jemand stellte ihm ein Bein, fast wäre er hingeschlagen. Diesmal rettete ihn die haltende Hand im Rücken.

Und plötzlich war es vorbei – noch ein schwacher, zögernder Schlag ... Er sah, wie der große Herr vor ihm kehrt machte, auf den bleichgesichtigen Bengel zu, der eben geschlagen hatte ...

Hier standen nur noch Zuschauer, die der Spektakel angelockt hatte. Der Platz lag hinter ihnen, sie waren in einer Straße ...

»Du schlägst mich, du Lauselümmel?!« schrie der Herr, rasend durch die erlittene Demütigung. »Komm, jetzt schlage ich!«

Er drang auf den zurückweichenden Bengel ein, die Leute murrten ...

»Los, los!« drängte Tinette. »Nur fort von hier! Ich habe genug!«

Sie eilten nebeneinander, mitten auf der Fahrbahn, weiter. Noch sahen Gesichter auf sie, neugierige, schadenfrohe, erschrockene. Dann bogen sie um eine Ecke. Heinz nahm Tinettens Arm. »Wollen wir nicht gleich ein Auto nehmen?« keuchte er atemlos. »Hast du viel abbekommen, Tinette?«

Sie stieß seinen Arm zurück.

»Faß mich nicht an!« schrie sie fast. »Du bist auch einer von diesen – Deutschen!«

»Aber, Tinette! Es sind Arme, Halbverhungerte – sie wissen nicht, was sie tun! Und vielleicht war es wirklich nicht ganz richtig von uns, jetzt in solch ein Lokal zu gehen. Du verstehst doch, die Leute haben Schreckliches auszuhalten. Sie müssen ja neidisch sein ...«

Er sprach abgerissen, aufgeregt. Trotzdem sie ihn geschlagen und beschimpft hatten, fühlte er sich zu Recht geschlagen und beschimpft. Er stand auf ihrer Seite, weil er sie verstand – noch in ihren Verirrungen war er ihr Bruder. Noch in seiner Verirrung – denn auch ich bin verirrt, fühlte er. Vielleicht schlimmer als die ...

»Was sagst du, Tinette ...?«

»So seid ihr!« rief sie erbittert. »Weil ihr selbst grau seid und trübsinnig und dumpf – darum haßt ihr alles Licht, allen Frohsinn, alles Lachen. Ihr möchtet die ganze Welt so trübe und grau machen, wie ihr seid! Ihr erschlagt alles Fröhliche ...«

Auch wir waren einmal fröhlich; es stimmt nicht, was sie sagt, denkt er. Es ist alles nur verlorengegangen in diesen schrecklichen Jahren. Oder waren wir nie wirklich fröhlich ...?

Sie sagt fieberhaft: »Ihr Deutsche – ihr liebt nur eins: den Tod. Immerzu redet ihr vom Tod, vom Sterben; man muß sterben können, sagt ihr. Ihr Dummköpfe, sterben kann jeder! Leben muß man können, das Leben muß man verstehen – ach, das schöne, fröhliche Leben bei uns daheim! Ich habe noch nicht einmal richtig lachen können, seit ich hier bin!«

»Das ist nicht wahr!« rief er. »Tinette, Tinette – wie oft hast du uns fröhlich gemacht mit deinem Lachen!«

Sie hörte nicht auf ihn. »Darum habt ihr diesen Krieg mit uns angefangen, weil ihr das Lachen haßt, weil ihr das Leben haßt. Ihr möchtet, daß die ganze Welt langweilig und ernsthaft ist wie ihr ... Aber ihr habt den Krieg verloren!«

Sie sah ihn funkelnd an. Sie standen im Licht eines Lokals – sie sah ihn an, als sei er der Feind, er der Ernsthafte, der Trübe, der Traurige, der den Tod liebt und das Leben haßt ... Sie sah die Schmarre auf seiner Backe ...

»Ach, hast du was abgekriegt?! Siehst du, da hast du deinen Denkzettel von einer deiner Schwestern! Und du sagst: Sie wissen nicht, was sie tun! Ich würde ihnen beibringen, was ich von ihrem Tun denke!«

»Komm doch weiter, Tinette«, bat er. »Das kann dir nicht gut sein ... Komm nach Haus ... Erich wird unruhig werden ...«

»Nach Haus?!« fragte sie. »Du denkst, ich gebe nach?! Nie!« Sie sah um sich, sie sah das Schild des Lokals. »Bar Napoli« las sie. »Da gehen wir rein!« befahl sie. »Nun grade! Jeden Abend werde ich jetzt in Bars gehen – nun grade!«

»Komm doch nach Haus!« bat er. »Was sollen wir da? Es ist doch bloß langweilig. Die Stimmung ist weg. Nicht, daß ich Angst hätte ...«

»Kommst du mit, oder kommst du nicht mit? Ich gehe auch allein ...«

»Bitte, Tinette ...«

»Ob du mitkommst?«

»Sei doch vernünftig, Tinette, es hat keinen Sinn ...«

»Also gehe ich allein. Aber wenn du mich heute abend im Stich läßt, Henri, brauchst du nie wieder zu kommen, verstehst du?«

»Nein! Nein! Nein! Ich tue es nicht ...«

»Gut! Bleibe bei deinen Grauen, werde auch grau! Werde wieder schmutzig und ungepflegt – dann gehörst du zu ihnen!«

»Tinette!«

Sie war schon durch die Tür. Fort. Gegangen.

Er starrte ihr nach. Dann nahm er mechanisch sein Taschentuch, fing an, sich das Blut von der Backe zu reiben. Er sah zögernd auf das Lokal. Plötzlich merkte er, daß er ohne Mantel und Hut hier stand; es war kalt, Januarfrost, er mußte seinen Mantel holen ...

Langsam machte er kehrt, er ging den Weg zurück zu der anderen Bar.

Sie waren kaum eine Viertelstunde fort, aber der kleine, trübe Dreiecksplatz vor der Bar ist schon leer. Dunkel liegt das Lokal. Vor der zerbrochenen Eingangstür steht ein Polizist im Gespräch mit einem Zivilisten ...

»Ihre Sachen?« fragte der Polizist. »So, waren Sie auch in dem Lokal? Bißchen jung noch für so was, wie?«

Der Zivilist und der Polizist sahen beide Heinz an, prüfend und mißbilligend.

»Ich will nur meine Sachen«, sagte er hartnäckig. »Wenn es sich machen läßt ...«

»Im Lokal ist keiner mehr«, sagte der Polizist. »Die sind alle schon nach Haus. Haben Sie denn viel Dresche abgekriegt?«

»Es läßt sich tragen.«

»Wenn Sie mir'n Taler geben«, schlug der Zivilist vor, »gehe ich mit Ihnen rein, und Sie holen sich Ihre Sachen. Ich bin nämlich Kellner. Haben Sie die Garderobenmarke?«

»Habe ich«, sagte Heinz und ging hinter dem Mann her.

»Da ist noch ein Damenhut auf der Nummer«, sagte der Kellner. »Das ist wohl eine Verwechslung.«

»Nee, stimmt schon«, meinte Heinz und gab dem Manne Geld. Er hatte vorhin nur Tinettens Mantel vom Haken genommen. »Machen Sie sich keine Gedanken, ich bringe der Dame ihren Hut. Das stimmt schon ...«

»Wo ist sie denn?« fragte der Kellner argwöhnisch.

»Wo soll sie sein? In 'ner Bar!«

»In 'ner Bar? Schon wieder in 'ner Bar?!« Der Barkellner war entrüstet. »Na, wißt ihr, was zu toll ist, ist zu toll. Da kann man sich nicht wundern, wenn die Leute wütend werden ...«

Heinz war es egal, was der Mann sagte. Es war ihm auch egal, daß ihn der Schutzmann noch einmal von hinten anrief. Das Hütlein der Mademoiselle Sowieso vorsichtig auf den Fingerspitzen balancierend, ging er über den Platz, zurück zur Napoli-Bar. Er ging durch die Bartür, legte ab an der Garderobe, gab auch den Hut ab, trat ins Lokal. Auf einem Barschemel hockte Tinette, er setzte sich neben sie.

»Ich habe eben noch deinen Hut geholt, Tinette«, sagte er.

Sie drehte sich nach ihm um. Ihr Mund lächelte, aber ihre Augen waren ernst. Nein, sie waren nicht ernst, sie waren böse, als sie sagte: »Also bist du doch wiedergekommen! Ich wußte es doch, Henri. Man soll den Kampf nicht aufgeben, bis eine Partei völlig besiegt ist, nicht wahr? Komm, stoß an. Besiegter, auf deine völlige Niederlage!«

Er stieß an mit ihr, ohne ein Wort – aber er stieß an.

 

10

Mit sehenden Augen ging er seinem Untergang entgegen, mit einer blödsinnigen Verbissenheit schritt er von Niederlage zu Niederlage. Taub für alle Warnungen, die von außen und die von innen, schamlos, ohne auf ihre Beschimpfungen, auf das immer spöttischere Lächeln des Bruders zu achten, klammerte er sich stets fester an Tinette ...

Eines Abends kam der Bruder ungewohnt zeitig heim. Er brachte ein Mädchen mit, irgendein Wesen in schwarzem, hochgeschlossenem Kleid, mit bleichem, wie gedunsenem Gesicht und einem glatten dunklen Madonnenscheitel ...

Zu vieren aßen sie zu Abend, es wurde wenig geredet, aber viel getrunken. Irgend etwas lag in der Luft, es wurde etwas vorbereitet, von dem Heinz nichts wußte. Die anderen drei aber schienen im Einverständnis ...

Immer wieder stand Erich auf, gab den Leuten auf der Diele Anweisungen, von denen er halblaut berichtete ...

»Nein, gar kein Oberlicht ... Am besten lassen wir nur das Kaminfeuer brennen ...«

Oder: »Der Geiger ist eben gekommen, er wird oben auf der Galerie sitzen. – Nein, er braucht kein Licht, er ist ja blind ...«

Oder: »Noch etwas von dem Roastbeef, gnädiges Fräulein?«

»Nein, danke. – Ich nehme vorher kaum etwas ...«

»Natürlich, ich hatte nicht daran gedacht ...«

Heinz hörte dies alles, überlegte flüchtig und dachte schon nicht mehr daran. Er war in einer schlimmen Verfassung. Den ganzen Nachmittag hatte Tinette nichts von ihm wissen wollen ... Stundenlang hatte er in der Bibliothek gesessen, hatte ein Buch in die Hände genommen, hineingestarrt und schon wieder hingelegt ... Dann war er auf die Diele hinausgetreten und hatte in das Haus gelauscht. Ein-, zwei-, dreimal hatte er an ihre Türe geklopft, wurde aber fortgewiesen ...

Was er noch nie getan hatte: Er war an Erichs Likörschrank gegangen und hatte sich rasch hintereinander ein paar Schnäpse eingeschenkt, irgendwelche. Es kam ihm nicht auf den Geschmack, es kam ihm auf die Betäubung an. In diesen langen grauen, immer graueren Nachmittagsstunden war ihm sein ewiger Zustand zwischen Verlangen und Erfüllung ganz unerträglich erschienen.

Es geht nicht mehr so weiter, hatte er immer wieder gedacht. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende ... Schließlich war er an das Telefon gegangen und hatte sich eine Autotaxe vor das Haus bestellt. Als er zu ihr hinaus wollte, war ihm Tinette in den Weg getreten.

»Du kannst jetzt nicht fort, Henri. Ich brauche dich.«

»Das sah den ganzen Nachmittag nicht so aus!«

»Du hast getrunken! Pfui! Minna, geben Sie dem Chauffeur ein Trinkgeld, Herr Henri fährt nicht ...«

»Ich fahre doch – bleiben Sie hier!«

»Du fährst nicht – schicken Sie die Taxe sofort weg.«

»Ich gehe also. – Adieu, Tinette!«

Plötzlich lachte sie hell auf. »Auf Wiedersehen, du alter, böser Junge! – Komm heute abend wieder. Nicht wahr? Ich habe doch eine Überraschung für dich!«

Sie war hinter ihm hergelaufen, sie hatte ihre weißen Arme um seinen Hals gelegt. Was sie noch nie getan hatte, sie hatte ihn auf den Mund geküßt. »Lauf, lauf doch, du Böser! Nicht wahr, du kommst wieder? Henri ...«

Fast wäre er geblieben; hätte sie es verlangt, er wäre geblieben. Aber sie hatte sich schon wieder umgedreht, ihr Kimono wehte, so eilig lief sie zurück in ihr Zimmer.

So war er gegangen. Er stieg in die Taxe. Das beseligende Gefühl ihres Armes, der ihn hatte zurückhalten wollen, war noch bei ihm, er fühlte noch den Geschmack ihres Kusses auf den Lippen. Es war, als hätte sie die Kette klirren lassen, da der Sklave fliehen wollte, diese Kette, die seine Füße zu nahe beieinander hielt, als daß er je aus ihrer Nähe hätte kommen können ...

Es war eine Schmach, so von ihr geküßt zu werden, sie rief ja seine Sinne auf gegen seinen Kopf – und doch ...

Der Wagen hielt. Langsam stieg Heinz aus. Trotzdem es schon dämmerte, brannte in dem kleinen Laden noch kein Licht. Mühsam unterschied er im Schaufenster die verstaubten Papierfähnchen, Fähnchen von Siegen, die schon längst vergessen waren. Der Stapel mit den Feldpostkartons lag noch immer umgestürzt. Wie immer bimmelte die blecherne Ladenklingel endlos, und wie immer kam trotzdem niemand, ehe er nicht ein paarmal kräftig »Hallo« gerufen hatte. Es war dann Frau Quaas, die kam, kaum unterschied er im Dunkel des Ladens ihre bekümmerte Gestalt.

Es war so seltsam, hier wieder zu stehen, auf der Stätte der Jugendfreundin, nach allem, was geschehen war, was er erlebt hatte, woher er jetzt kam ... Nun brannten in der Dahlemer Villa schon viele Lampen, alles war strahlend hell, er aber stand hier im Dunkeln – warum war er hierhergefahren? Was erwartete er von der Kleinen, die nichts verstand? Hilfe ...? Er wußte doch, daß Hilfe nur von innen, nie von außen kommen konnte ...

Dann faßte ihn die Erinnerung an jenen Kuß im Torweg an ... Wie aus weiten Fernen kam es daher, eine Erinnerung an Reinheit, an Jugend, ihr feuchter Mund ... Noch waren nicht alle Feuer verbrannt, noch trugen die Bäume ihre Blätter – stand er darum hier?

»Ich möchte, Frau Quaas«, sagte er unsicher ins Dunkle hinein, »zwei Schreibfedern. Bremer Börse. E. F. Sehr spitz. – Ich heiße Heinz Hackendahl.«

Die Frau im Dunkeln war ganz still, sie rührte sich nicht, sie machte keinen Versuch, ihm zu antworten oder ihm das Verlangte zu geben.

»Nun, Frau Quaas«, fing Heinz wieder an, und er sagte es fast befangen. »Wollen Sie mir meine Federn nicht geben?«

Keine Antwort.

»Ich möchte gerne Irma sprechen«, sagte Heinz. »Sie haben doch verstanden, Frau Quaas. Ich bin Heinz Hackendahl. Sie kennen mich doch.«

Plötzlich, hier im Dunkeln, schien es ihm ganz ungewiß, ob sie auch nur das verstanden hatte.

»Gehen Sie aus meinem Laden«, sagte Frau Quaas plötzlich. Sie sagte es mit ihrer alten, weinerlichen Stimme, und doch war etwas Festes in dieser Stimme. »Bitte gehen Sie sofort aus meinem Laden.«

Er war verblüfft. »Aber, Frau Quaas! Bitte, rufen Sie Irma, das muß ein Irrtum sein ... Ich möchte nur ein paar Worte mit Irma reden ...«

»Sie sollen aus meinem Laden gehen«, beharrte sie. »Ich habe das Recht, die Polizei zu rufen, wenn Sie mich weiter belästigen, ich weiß das. Ich will Sie nicht in meinem Laden haben, Sie sind ein schlechter Mensch!«

Heinz tastete nach einem Stuhl. Er wußte, hier mußte ein Stuhl stehen. Er stand immer hier; Frau Quaas brauchte ihn, um vom obersten Regal den Karton mit Glanzpapier für die Kinder herunterzuholen. Heinz fand den Stuhl, er stand an der gewohnten Stelle, aber sonst war alles hier ungewöhnlich, verändert ...

»Ich habe mich gesetzt, Frau Quaas«, sagte er. »Ich gehe nicht eher, als bis ich mit Irma gesprochen habe!«

»Dann sitzen Sie nur!« rief sie höhnisch – für eine so ängstliche Frau war sie wirklich ungewöhnlich mutig. Nun fiel die Tür zu, und er saß allein im Laden.

Er hätte jetzt gehen können. Er konnte doch nichts ausrichten – und was wollte er hier überhaupt ausrichten? Ein paar Worte mit Irma wechseln, die Freundin der Kindertage sehen und wiederum feststellen, daß sie ihn nicht halten konnte, daß er doch wieder zu der anderen, der Schönen, der Bösen zurückkehren würde? Versunkene Gärten der Kindheit – unwiederbringlich versunken –, du hast noch das Rauschen ihrer Bäume im Ohr, auf der Wange fühlst du noch die Wärme ihrer Sonne, die dir doch nie wieder so rein und warm aufgehen wird.

Nein, es hatte keinen Zweck, hier noch zu warten. Irma war bestimmt nicht in der Wohnung, er fühlte es. Und doch blieb Heinz sitzen, die Villa in Dahlem mochte noch so strahlend erhellt sein, die schöne Frau mochte noch so sehr locken – er blieb.

Er saß in dem kalten, dunklen, staubigen Laden; eine Hand schlug langsam blätternd die Seiten seiner Jugend um, einer armen Jugend ohne Ideale, voller Hunger nach allem, was Leib und Seele nähren konnte ... Und doch sprach er zu jeder Seite: Verweile doch, du bist so schön!

Nichts verweilt. Draußen tutete ungeduldig der Chauffeur des Autos. Wir sind nicht auf dieser Welt, zurückzuschauen, wir haben unsere Straße weiterzugehen, eben dahin, oder aufwärts, oder den Berg hinab. Nur verweilen dürfen wir nicht. Heinz stand auf, er sprach ein paar Worte mit dem ungeduldigen Fahrer, gab ihm Geld, dann ging er in den Laden zurück.

Jetzt war Frau Quaas wieder im Laden, sie stand auf dem Stuhl, sie hielt ein brennendes Streichholz in der Hand, mit dem sie das Gaslicht anzünden wollte. Bei seinem Eintritt ließ sie das Streichholz fallen, es glimmte einen Augenblick auf der Erde und erlosch.

Frau Quaas, auf dem Stuhle stehend, rief kläglich: »Oh, bitte, bitte, gehen Sie! Sie quälen mich so ... Bitte, gehen Sie ...«

»Ich quäle Sie ...«, sagte er unentschlossen. Dann rasch: »Wo ist Irma? Ich will nur ein paar Worte mit ihr reden ...«

»Irma ist nicht hier, Irma ist bei Verwandten ... Es ist wahr, Heinz, bestimmt!«

»Sagen Sie mir bitte, wo Irma ist, Frau Quaas. Ich muß Irma sprechen ...«

»Sie können nicht mit Irma sprechen ... Irma ist auf dem Lande, bei Hamburg ... Nein, ich gebe Ihnen die Adresse nicht. Sie haben sie schon einmal beinahe getötet ...«

»Beinahe getötet ...«, wiederholte er zweifelnd und horchte dem Klang der Worte nach, die ihm sinnlos erschienen.

Er stand unten, Frau Quaas noch immer oben auf ihrem Stuhl, beide im fast völlig Dunkeln. Von Zeit zu Zeit brannte Frau Quaas ganz mechanisch ein Streichholz an, vergaß es und ließ es fallen, ehe sie das Gas angezündet hatte.

»Höhnen Sie noch!« rief sie jetzt, empört über seine zweifelnde Frage. »Sie müssen doch wissen, daß mein Mädel Sie geliebt hat. Sie haben sich doch geküßt! Fast gestorben ist sie, als Sie all die Tage und Wochen nicht kamen ...«

»Frau Quaas ...«, bat er.

Sie hörte ihn nicht. »Und die Nacht damals«, rief sie, »als es anfing, als sie um vier nach Haus kam, den ganzen weiten Weg von Dahlem her war sie in der Kälte zu Fuß gelaufen, und sie liegt endlich im Bett und zittert und klappert mit den Zähnen ... Und ich denke noch, sie hat sich bloß erkältet, und mache ihr eine Steinkruke heiß ... Aber sie sagt: ›Das ist es nicht, Mutter, er liebt jetzt eine andere. Mit mir ist es aus ...‹«

Jetzt weinte die alte Frau oben auf ihrem Stuhle heftiger. »Es tut mir sehr leid«, sagte Bubi leise. »Ich habe nicht gewußt, Frau Quaas, daß es der Irma so ernst war ...«

Ihr Weinen brach sofort ab.

»Nein, das haben Sie natürlich nicht gewußt, Herr Hackendahl!« rief sie. »Aber haben Sie überhaupt einmal darüber nachgedacht?! Sie haben Irma geküßt, sie hat es mir selber erzählt, aber dann ist eine andere gekommen, und Sie haben Irma sofort vergessen. Ob es ihr ernst war? Das ist Ihnen ja ganz gleich! Sie interessiert nur, was Ihnen ernst ist ... Ich sage es ja, Sie sind ein böser Mensch ...«

»Guten Abend, Frau Quaas«, sagte Heinz Hackendahl. »Wenn Sie der Irma schreiben, sagen Sie ihr, es täte mir sehr leid ...«

Einen Augenblick stand er zögernd an der Tür, die Klinke schon in der Hand. Dann sagte er es doch noch: »Ich bin nämlich kein schlechter Mensch, Frau Quaas«, sagte er. »Ich bin nur ein schwacher Mensch. – Vorläufig noch ...«

Ehe sie noch etwas hätte antworten können, war er gegangen.

 

11

Und nun saß er eben doch wieder im Speisezimmer der Villa und aß Roastbeef mit jungen Gemüsen. Das bleiche Fräulein aber mit dem dunklen Madonnenscheitel aß kein Roastbeef, weil es das »vorher« nie tat, mochte dies nun bedeuten, was es wollte.

Ungewohnt schweigsam saßen sie bei Tisch, kaum ein Wort wurde gesprochen. Manchmal klirrte sachte ein Löffel gegen das Porzellan, und der Ton verklang in einem völligen Stillschweigen.

Wie Verschwörer, dachte er. Aber auf was verschwören wir uns?

Er sah zu Tinette hinüber. Sie hielt ihr Weinglas in der Hand, ließ den Wein im Glase kreisen und sah diesem Spiel zu, mit sanftem, rätselhaftem Lächeln. Dann sah er das fremde Fräulein an, plötzlich entdeckte er, daß ihr Gesicht dick mit weißem Puder bestreut war. Die rotgemalten Lippen leuchteten aus der Weiße wie blutig – ihm war es, als säße er einer Gestorbenen gegenüber, die geheimnisvoll wieder dem Grabe entstiegen war.

»Ich war heute nachmittag bei Irma, Tinette«, sagte er laut, um den Bann zu brechen.

»Gewiß, Henri«, antwortete Tinette gedankenlos. »Es ist schon recht.«

Dann schwiegen sie wieder alle.

Durch die Tür kam, von einem seiner geheimnisvollen Gänge, die brüderliche Liebe, Erich. Seltsame Töne klangen von der Diele her, jetzt schrill, nun sanft und voll ... Heinz wäre fast aufgesprungen von seinem Stuhl. Dann fiel ihm ein, daß dies der Geiger war, der draußen sein Instrument stimmte ...

Der Bruder berichtete halblaut, daß die Dienstboten schon das Haus verlassen hätten ... »Sie haben alle Urlaub bis morgen früh ... Minna deckt nur noch schnell ab, wenn wir fertig sind, und geht dann auch ...«

»Gut, mein Freund«, sagte Tinette. »Wir sind fertig. Wenn du noch etwas möchtest ...?«

Erich sah prüfend die Gerichte auf dem Tisch an, als überlege er, was er noch essen möchte. Aber plötzlich machte er eine rasche Bewegung. »Nein, danke«, sagte er. »Ich esse nichts mehr ... Wenn ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen darf, gnädiges Fräulein ...«

Das fremde Mädchen ging dem Bruder nach durch die Tür. Plötzlich sah Heinz: Das Mädchen ging wie eine Königin. Nein, wie wir manchmal im Traum zu gehen meinen, wenn der Leib schwerelos geworden ist, und man meint fliegen zu können. So ging dieses Mädchen.

Tinette und Heinz waren allein ...

»Was soll das eigentlich heute alles bedeuten?« fragte Heinz fast kriegerisch. Aber es war nur ein Versuch, und ein vergeblicher, die Verzauberung, die auch ihn gefangenhielt, zu lösen.

»Nicht wahr? Wir müssen dir sehr geheimnisvoll vorkommen ...?« fragte Tinette. Und lachte auf. Dann stand sie auf und ging ihm voran auf die Diele.

Im Kamin brannte ein großes, lohendes, sehr helles Feuer ... Drei Sessel standen weit von ihm entfernt, der Tisch vor dem Kamin fehlte, der große Perser mit seinen sanften, leuchtenden, seidigen Farben lag da wie eine Wiese.

»Setze dich, Henri!« sagte Tinette und deutete auf den seitlich stehenden Sessel. Er setzte sich.

Sie stand neben ihm, sah auf ihn herunter; er sah ihr rätselhaftes Lächeln, das nur im Ausdruck der Augen zu liegen schien ... Ihre Finger tasteten um sein Handgelenk, fühlten nach seinem Puls ...

»Klopft dein Herz auch so, Henri?« flüsterte sie. »Fühl doch, wie meines klopft!«

Sie führte seine Hand an ihre Brust. Es war warm und süß, ferne und dunkel klopfte das fremde Herz ... Heinz schloß die Augen. Da war das Summen wieder, das Summen des eigenen Blutes, und die ganze Welt schien mitzusummen ...

»Ich gehe jetzt, gnädige Frau ...«, sagte Minna von der Tür her.

Heinz öffnete die Augen. Er sah das Mädchen in der Tür stehen; mit seinem ausdruckslosen, hölzernen Gesicht sah es zu den beiden hin.

»Es ist gut, Minna«, sagte Tinette. Sie hielt weiter Heinzens Hand auf ihrer Brust, immer das gleiche rätselhafte Lächeln in ihren Augen. »Vergessen Sie nicht, die Haustür abzuschließen. Gute Nacht, Minna.«

»Gute Nacht, gnädige Frau.«

Minna war gegangen. Tinette legte sachte seine Hand auf die Seitenlehne des Sessels zurück.

»Wo nur Erich bleibt ...?« flüsterte sie.

Sie ging zu dem mittleren Sessel, setzte sich. Sie saß, leicht vornübergebeugt, das Auge auf die Flammen gerichtet. Manchmal fiel mit einem dumpfen Laut ein Scheit von der Höhe des Haufens auf den Rost – dann leuchteten die Flammen heller. Sie warfen ihren Schein auf ihr Gesicht, das von innen zu leuchten schien – es war das schönste Gesicht der Welt.

Nie wieder werde ich eine Frau so lieben, fühlte Heinz. Und in dieser Stunde liebe ich sie am stärksten ...

Erich kam. Er sah auf Bruder und Freundin, die weit voneinander in ihren Sesseln auf das Feuer starrten – und lächelte. »Sie kommt gleich«, sagte er dann.

»Es ist gut, mein Freund«, antwortete Tinette, ohne den Kopf zu bewegen.

Aber Heinz wandte sich gereizt an Erich. »Willst du mir nicht endlich erklären«, sagte er böse, »was all dies Theater soll?! Wer kommt gleich? Warum sind alle Dienstboten fortgeschickt? Was soll diese Geheimnistuerei?«

»Wieso? Hat dir denn Tinette nicht Bescheid gesagt?« Erich tat sehr überrascht. Aber ein so guter Lügner er auch war, manchmal log er doch ungeschickt.

Heinz merkte es sofort. »Stell dich noch an!« sagte er ungnädig.

»Ich finde es ganz reizend von Tinette«, sagte Erich unverändert liebenswürdig, »daß sie dich hat überraschen wollen. Aber etwas Geheimnisvolles ist nicht dabei, Bubi. Ich kann es dir ruhig verraten. Mein lieber Junge«, er beugte sich nun doch flüsternd ganz nahe zu Heinz, als dürfe nicht einmal Tinette hören, was er dem Bruder sagte. »Mein lieber Junge, du wirst ein ganz großes Erlebnis haben. Die junge Dame, die du eben gesehen hast, ist die schönste, die begabteste, die gefeiertste Tänzerin von Berlin. Ich habe sie gewonnen für uns, sie wird ganz allein für uns drei tanzen ... sie tanzt Chopin, Bubi!«

Heinz war völlig verblüfft. Das war alles? Darum diese Geheimnistuerei?! Was bedeutete Tanzen für ihn? Das bißchen Geschiebe in den Bars, das er in den letzten Wochen kennengelernt, dann noch ein sehr kriegsmäßiges Lämmerhüpfen auf der Penne ...

»Nun schön, Erich«, sagte er. »Also Tanz. Wirklich reizend von dir. Jetzt verstehe ich auch, warum sie vorher kein Roastbeef mochte.«

Erich machte eine wütende Bewegung.

Heinz rückte in seinem Sessel zurück und sah seinen Bruder herausfordernd-überlegen an, den Bruder, der jetzt nicht mehr freundlich, sondern sehr geärgert aussah.

»Du verstehst noch nicht«, sagte Erich. »Sie tanzt nicht nur so ... Sondern ...« Er brach ab, sah Heinz wieder geheimnisvoll an.

»Sondern?« fragte der spöttisch und fühlte doch, der Bruder hatte ihm noch nicht alles erzählt, bewahrte wirklich noch ein Geheimnis.

»Sondern sie tanzt ...«, fing Erich zögernd an.

»Es wird Zeit!« klang es plötzlich von Tinettens Sessel herüber. »Es wird Zeit ...!«

Tinette saß ganz zurückgelehnt in die weite, weiche Höhlung des Sessels, der Mund war halb geöffnet, die Augen fest geschlossen. Es sah aus, als schliefe sie, spräche aus dem Schlafe ...

»Es wird Zeit!« rief sie ein drittes Mal, fast singend, aber für was es Zeit wurde, das sagte sie nicht.

»Ja, es wird wirklich Zeit«, sagte plötzlich auch Erich. »Entschuldige, Bubi, du wirst ja sehen. Vielleicht wird auch Tinette ...«

Aber er sprach nicht weiter, er ging zu dem dritten Sessel, drüben, jenseits Tinettens; er entschwand dem Blick von Heinz. Dann wurde es ganz still auf der weiten Diele. Nur ab und zu knisterte ein Scheit im Kamin, und Funken stoben, sehr rot ...

Heinz saß wütend in seinem Sessel, wütend, und doch fühlte er, daß er selbst nicht mehr ganz frei war von der Erwartung der beiden anderen. Tanzen – nun schön, aber wegen ein bißchen Tanzen würden weder Erich noch Tinette so geheimnisvolle Vorbereitungen treffen! Die Dienstboten aus dem Haus – und vielleicht würde auch Tinette ... hatte Erich gesagt ...

Hört mal, will er gerade sagen, da merkt er, daß der Geiger (der blinde Geiger!) oben zu spielen angefangen hat, und sagt nichts ... Sondern horcht ...

Klare, silberne Klänge – und plötzlich wendet Heinz, als sei er angerufen worden, den Kopf, und da sieht er sie die Treppe hinabkommen, sie, die Fremde – mit dem königlichen Gang, sie, bei der er zum ersten Male gesehen, daß der aufrechte Gang des Menschen etwas Göttliches ist, das ihn von allen anderen Wesen unterscheidet ...

Mit diesen göttlich bewegten Gliedern steigt sie die Treppe hinab – und sie ist völlig nackt. Er schließt die Augen – ist es denn ein Traum, der ihn narrt? Aber nein, natürlich ist sie nackt, sie muß nackt sein, wer so geht, so die Glieder rührt, für den sind alle Kleider nur ein Hemmnis!

Sie steigt die Treppe hinunter, ganz dicht geht sie an Heinz vorüber, wie eine weiße Flamme, etwas Schönes, Schweigendes, Stilles – und stille steht sie vor dem Feuer im Kamin. Die Geige oben fängt an, sie zu rufen, zu locken ... Sie aber steht still da, den Kopf gesenkt, als höre sie in sich, als höre sie, wie Heinz, die Töne der Geige nicht von oben kommen, sondern in sich ...

Was ist geschehen? Wann fing sie an sich zu regen? Sie biegt sich, ihre Hände bewegen sich, ihre Arme gleiten – und es ist doch schon wieder vorbei ... Die weiße Flamme springt, sie biegt sich. Ein Windstoß scheint sie fortzuwehen, auszulöschen. Aber schon ist sie wieder da, weißer und königlicher als je. Und nun, o Wunder! scheint sie sich, mit geschlossenen Füßen, ohne Bewegung, von der Erde zu lösen, emporzusteigen, schwerelos ...

Was ist das? Warum ist sie stehengeblieben? Steht nur und lauscht, während die Geige dort oben immer weitersingt? Sie tanzt nicht mehr, stille steht sie und lauscht. Sie wartet. Immer neu tanzt der Lichtschein über ihren Leib, gleitet über die Hüften, hebt die Spitze der Brust aus dem Dunkel und eilt weiter, ihren Arm zu erhellen, den sie jetzt hebt, winkend, lockend ...

Langsam bewegt Heinz Hackendahl den Kopf nach der Seite. Wem winkt sie denn? Wen lockt sie denn?

Er sieht Tinette – sie ist aufgestanden aus ihrem Sessel, sie steht da. Langsam, wie im Schlaf, streift sie die Kleider von sich, eines um das andere, sie läßt sie hinabgleiten zur Erde, eines um das andere. Sie steigt aus dem Rock, der an ihr hinuntergleitet und nun um sie liegt wie eine dunkle Schale, die abfiel. Abfiel von einer silbernen Frucht. Denn da steht sie, immer schlanker, immer silberner ...

Ich muß die Augen schließen, denkt er. Ich ertrage es nicht ... Ich will sie nie so sehen, ich könnte es nie vergessen ...

Er aber starrt immer weiter, sieht sie dastehen, silbern, geträumtes Bild, aus den Wolken wahrhaftig herausgetreten, die ängstlich behütete Venus seiner Schülerträume.

Wie ruft und lockt jetzt die Geige! Die Welt grüßt sie, das Leben ruft sie. Was wir geträumt hatten, es wurde Wahrheit, über all unsere Träume hinaus ...

Die beiden Frauen gleiten aufeinander zu, sie strecken einander die Hände entgegen – aber was tritt dazwischen? Eine ist entglitten, eine faßt nach der anderen. Locken und Suchen, Fliehen und auch Verlocken. – Sie nähern einander wieder ... Leise klingt die Geige, leise knistert das Feuer ... Eine im Arm der anderen ...

Aneinandergelehnt scheinen sie sich in die Gesichter zu schauen, in den Augen zu suchen – nach was?! Beide lächeln jenes rätselhafte Lächeln, das Tinette schon den ganzen Abend gelächelt ... Ein Lächeln aus Urzeiten her, jenes wissende, traurige Lächeln über das Verwehen alles Irdischen, die Schalheit aller Lust ...

Wissen sie denn gar nicht, daß sie so lächeln? Sie stehen viel zu nahe, ein Körper drängt an den anderen, Brust drückt sich gegen Brust. Sie halten sich nicht mehr in den Armen, sie pressen sich aneinander ... Nein, ich will das nicht sehen! Wir haben alle unsere Kindheitsparadiese gehabt, wir haben aus ihnen hinausgemußt, denn der Mensch lebt nicht im Paradies, er will es gar nicht, der Mensch will beim Menschen arbeiten!

Aber wenn wir die Paradiese nicht mehr haben, müssen wir darum so tief hinunter? Ich will das nicht – geh weg, du! Ich habe dich nicht gemocht, von Anfang an, obwohl du einen glatten, dunklen Madonnenscheitel trugst – ich wußte, du warst schlecht! Du sollst sie nicht so umfassen, du sollst sie nicht so mit deinem Mund bedrängen. – Erich, es ist deine Geliebte, sage ihr, sie soll es nicht. Sage du es ihr, ich kann es nicht, ich bin wie gelähmt!

In diesem Augenblick wirft Erich, als sei er angerufen worden durch den Bruder, den Kopf herum, er ruft: »Nun, Bubi, wie gefällt dir das? Ist das schön ...?! Haben wir dir zuviel versprochen, wie?!«

Und er sieht triumphierend, höhnisch auf den Bruder.

Heinz steht auf, er will dem Bruder antworten, nein, er will fort – und kann doch nicht das Auge von ihr wenden, die langsam, o so langsam auf ihn zukommt ...

Nein, ich will doch fort ... Ich muß weg ... Ich ...

»Bubi«, sagt sie leise, und leise legt sie die Hand auf seine Schulter.

Und unter ihrer leichten Hand bricht er zusammen, als habe ihn eine Faust niedergeschlagen, die Faust seines Schicksals. Er liegt vor ihr auf den Knien, ihre Hand spielt in seinem Haar, ihr Leib ist vor ihm. Er preßt sein Gesicht gegen ihn, er stöhnt auf vor Wollust und Verzweiflung, er riecht den Ruch von Leben und Vergänglichkeit ...

Und hört ein Lachen ...

Lacht denn so die Geige? Kann eine Geige einen Menschen so verlachen?

Es ist ja hell geworden – alle Lichter brennen auf der Diele –, und da kniet er, Heinz Hackendahl, siebzehnjährig, vor einer französischen Hure und küßt ihren nackten Leib, als sei er ein heiliges Tabernakel! Und in der Tür stehen Bruder und das verdammte Tanzweib und lachen über ihn, lachen ihn aus, lachen seine Qual aus, seine Unschuld aus, sein ganzes Leben aus ...

»Köstlich, Tinette«, schreit Erich. »Hast du ihn kirre?! Laß dir die Füße küssen – ach, ich möchte noch sehen, wie er dir die Füße ableckt ...«

Tinette stößt nur einen kleinen Schrei aus, als sie zurückgestoßen wird und fällt. Heinz ist schon weiter, er ist bei dem Bruder, taumelt über ihn, sie stürzen beide. Aber er hält ihn, Schlag für Schlag führt er in das verliederte, hübsche, schamlos freche Gesicht ...

Und fühlt, während er ihn schlägt, daß man so nur den Bruder schlagen kann, hassen kann, und er schlägt ihn um dessentwillen, was er auch in sich selbst haßt: um seiner eigenen Weichheit willen, um seiner eigenen Genußsucht willen, um seiner eigenen Feigheit willen ...

Es ist ein Taumel, mit seinen Schlägen möchte er die ganze Vergangenheit erschlagen, er möchte sich wieder sauber schlagen, wie Silber durch Schlagen gereinigt wird ... Kaum fühlt er, daß die Weiber an ihm zerren und reißen ... Erst als der Taumel vorüber ist, steht er auf ... geht, ohne auf etwas zu achten, ohne zurückzuschauen, aus der Diele ...

Langsam zieht er im Vorraum den Mantel an, den schönen, vom Gelde des Bruders gekauften Schneidermantel. Er bindet den Schlips besser, setzt den Hut auf ... Aus dem Spiegel sieht ihn sein bleiches Gesicht an, mit starren Augen ... Er versucht ein Lächeln, aber es gelingt nicht ...

Seine Hand tastet zum Schalter, das Licht erlischt und mit ihm das bleiche Gesicht im Spiegel. Dann nimmt er die Sicherheitskette ab, schließt die Tür auf und tritt hinaus in die frostkalte, froststarre Januarnacht.

Er macht ein paar Schritte, aber als er auf der Straße ist, bleibt er noch einmal stehen. Noch einmal sieht er zurück auf das Haus. Da liegt es, hier und dort erhellt, ein stattlicher Bau von schönen Linien, einem gewissen schlichten Reichtum ...

Dort ist er zu Gast gewesen, viele Wochen lang, Wochen der Qual. Zu Gast ...? Ein Gefangener ist er dort gewesen! Und er weiß mit völliger Sicherheit, daß er dorthin nicht wieder zurückkehren wird. Wohin ihn sein Lebensweg auch führen mag, kaum wird er wieder in die Villen der Reichen gehen, zum satten, geilen Genießen ... Der Ausbruch war gekommen, von innen her, der Gefangene hatte sich selbst befreit. Der Sklave hatte aus den Gelüsten der Herren das Werkzeug gemacht, das seine Kette zerbrach ...

Er sah noch einmal nach der Villa und ging. Ging befreit.

 

12

Mit dem Waffensammeln war es vorbei – diese Aufgabe konnte Professor Degener dem wieder Heimgekehrten nicht übertragen.

»Nein, damit ist es vorbei, Hackendahl«, sagte er dünn lächelnd. »Sie werden es übersehen haben, Sie waren ziemlich weit verreist, nicht wahr? Alle Waffen sind abzuliefern – unbefugter Waffenbesitz wird mit Gefängnis bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bis zu hunderttausend Mark bestraft. – Ich habe natürlich keine hunderttausend Mark.«

»Sie haben die Waffen der Regierung abgeliefert ...?«

Der Professor lächelte wieder. Er betrachtete seine feinfingerigen, weißen Hände mit dem Geflecht bläulicher Adern. »Es gibt keine Waffen mehr, Hackendahl«, sagte er sanft. »Ich höre von Ihren Kameraden, daß es in ganz Berlin keine Waffen mehr gibt – alle zweifellos abgeliefert, wie das Gesetz es befahl. – Nein, ich würde es auch für richtig halten, daß Sie sich nun, heimgekehrt von der weiten Reise, ein wenig mit Ihrem Abitur beschäftigen, Hackendahl. In vierzehn Tagen beginnen die schriftlichen Arbeiten ...«

Heinz machte eine ärgerliche Gebärde. »Ich möchte eine richtige Arbeit haben, Herr Professor. Irgend etwas, das mich ganz ausfüllt. Ich fühle mich so leer ...«

»Nun, nun! Das ist wohl immer so, wenn man verreist war ... Die Arbeit schmeckt noch nicht, sagt man dazu. Immerhin wäre schlichte, solide Arbeit des Schweißes eines – Hackendahl wert. Ich höre nicht gerade Günstiges murmeln in gewissen Räumen über einen gewissen Schüler.«

»Verstehen Sie doch, Herr Professor«, bat Heinz dringender. »Ich möchte eine richtige Aufgabe haben, etwas, für das ich mich ganz einsetzen kann ...«

Professor Degener nickte langsam. »Jawohl! Schön, schön! Freilich!« sagte er. »Aber die Sache ist die, daß ich keine Aufgabe für Sie sehe. Ihre Kameraden haben mich das gleiche gefragt, als es mit den Waffen zu Ende war. Ich habe ihnen auch nur sagen können: Wartet ab, habt Geduld!«

»Aber ...«, fing Heinz Hackendahl an.

»Sehr richtig!« unterbrach ihn der Lehrer. »Aber die Jugend hat keine Geduld zu warten. Sie möchte ernten, ehe sie noch gesät hat. Nun gut, Ihre erste Aufgabe, Primaner Hackendahl, ist es, ein erstklassiges Abitur zu bauen!«

»Ich kann doch mit dem Abitur nichts anfangen!« rief Heinz verzweifelt. »Mein Vater hat kein Geld mehr, mich studieren zu lassen ...«

»Trottel!« sprach der Professor liebevoll. »Sie sollen ein erstklassiges Abitur um Ihrer selbst willen bauen. Nicht um studieren zu können. Studieren dürfen Sie auch mit einem sehr mäßigen Abitur. Um Ihrer selbst willen, um sich selbst zu beweisen, daß Sie etwas fertigbringen im Leben. Sagen Sie mal, mein Schüler – was haben Sie denn schon fertiggebracht in Ihrem Leben?«

»Nichts!« sprach Heinz kummervoll.

»Wiederum Trottel!« höhnte der Professor. »Fünf Plätze runter, der Schüler Hackendahl! Bei Ihrer Ausbildung konnten Sie nämlich noch gar nichts fertigbringen im Leben! Aber das Abitur, das haben Sie jetzt fertigzubringen, das ist Ihre erste Aufgabe im Leben, Schüler Hackendahl; und die werden Sie mir erstklassig erledigen! – Ich ...«

»Ich ...«, unterbrach Heinz.

»Ruhe!« donnerte der Lehrer. »Welcher von den Erinnyen gehetzte Pennäler wagt es, den Redefluß seines Lehrers zu unterbrechen?! Ich schwöre Ihnen«, fuhr er in ebendiesem Redefluß fort, »daß ich, all Ihrer Leistungen in den toten Sprachen ungeachtet, daß ich selbst Ihnen ein Ungenügend in Latein und Griechisch aufdonnern werde, sollten Sie in den anderen Fächern nicht völlig beschlagen sein!« Er lächelte hohnvoll. »Mit Pauken und Trompeten werden Sie durchrasseln, Hackendahl!«

Soviel Entschlossenheit gegenüber wurde es Heinz wirklich schwül. Er war sich im Moment einiger Schwächen sehr lebhaft bewußt, Schwächen, die auch seinen Lehrern nicht ganz unbekannt geblieben waren.

»Wenn ich im Abitur durchrassele«, sagte er mit einem gewissen eigensinnigen Trotz, »kann ich es nie machen. Mein Vater hat kein Geld, mich noch ein Jahr auf die Schule zu schicken!«

»Um so notwendiger, ungewöhnliche Anstrengungen zu machen«, meinte der Professor trocken. »Sie haben doch nicht den Wunsch, schon bei dieser ersten Lebensklippe zu scheitern – falls dies überhaupt der erste Schiffbruch ist ...«

Professor Degener schwieg. Er war immer ein Mann gewesen, der gerne das Kind beim rechten Namen genannt hatte, und er hätte es für unrühmlich erachtet, aus Zimperlichkeit eine Wunde des wirklich reichlich verliederten Schülers Hackendahl zu schonen. Eine Wunde aus einem keinesfalls sehr edlen Kampfe – man mußte nur das käsige Gesicht und das scheue Auge des Bengels betrachten. Professor Degener brachte alles Verständnis für Jugendtorheiten auf, aber er war ohne eine Spur von Sentimentalität.

Doch übertrieb er es auch wieder nicht, weidete sich nicht an der Verlegenheit des Durchschauten, sondern fuhr nach einer kurzen Pause aufmunternd fort: »Also Aufgabe eins: das Abitur. – Schon scheint mir nach Ihren Worten auch Aufgabe zwei zu winken, nämlich etwas für Ihre Eltern zu tun. Sie sind gesund, kräftig, haben eine hübsche Ausbildung – mein Lieber, Sie werden ganz einfach und phrasenlos erst einmal arbeiten und dabei lernen, wie schwer das Geld verdient wird, das Ihr Vater siebzehn Jahre lang alle Tage für Sie bereit hatte ...«

Heinz Hackendahl schwieg. Irgendwie hatte er von Opfern geträumt, etwas Großem, etwas Heldischem ... Und nun wurde ihm ganz einfach gesagt: Mach dein Examen und verdiene Geld! – Es war schrecklich ernüchternd und enttäuschend ...

»Meine Aufgaben gefallen Ihnen nicht?« fragte der Professor. »Mein lieber Hackendahl, ich sehe schlimme Zeiten voraus, noch schlimmere Zeiten, als wir überstanden haben. Ein jeder wird Not haben, in seinem eigenen kleinen Bezirk auf Ordnung und Sauberkeit zu sehen. Ich fürchte, es wird keinem an Aufgaben fehlen, wohl aber an Kraft für seine Aufgaben. – Ich habe wenig Ahnung von Ihren persönlichen Umständen, Hackendahl. Aber sollte nicht auch bei Ihnen, gewissermaßen schon im engeren Familienkreise, sich eine ganze Reihe von Aufgaben für einen jungen, tatenlustigen Menschen finden ...?«

Der Lehrer schwieg abwartend. Aber Heinz wollte nicht, er hatte doch an etwas Großes gedacht ...

»Hackendahl!« rief der Professor. »Seien Sie doch ehrlich! Ich lese es ja von Ihrem Gesicht ab, Sie wissen Aufgaben genug. Aber sie sind Ihnen zu klein. Sie meinen Deutschland – aber sollten Sie nicht für eine solche Aufgabe doch ein wenig klein geraten sein?! Wie? Grade jetzt?! Und dann, mein Lieber, bedenken Sie doch, wie kann der Leib gesund sein, wenn die Zelle krank ist? – Machen Sie erst einmal Ihre Zelle gesund, und dann wollen wir weitersehen ...« Er reichte ihm über den Tisch fort die Hand.

»Ich erwarte, daß ich Sie jetzt täglich im Gymnasium sehe. Mit aktiver Beteiligung am Unterricht. Dann – nach abgelegter Reifeprüfung – sprechen wir uns wieder, Hackendahl. Nach abgelegter Reifeprüfung, verstanden?!«

So ging der Schüler Heinz Hackendahl wieder zur Schule. Eine Zeitlang war er weit verreist gewesen, er hatte in einer ungesunden Fieberluft gelebt. Aber am Ende hatte er doch die Kraft gefunden, den Sümpfen zu entfliehen – nun ging er wieder mit anderen Schülern zur Schule ...

Im Anfang kam es ihn hart an, wie ihn nach dem üppigen Dahlemer Essen die knappe Kost der Wexstraße hart ankam. Aber wie sein Körper sich in wenigen Tagen umstellte, gewöhnte sein Geist sich schnell, an gegebenen Aufgaben zu arbeiten, statt die Wünsche einer quälerischen Frau zu erraten. Manchmal, in der Pause etwa, wenn er mit den anderen auf den Bänken saß, und sie klapperten mit den Pultdeckeln, redeten ihr geliebtes, hochtrabendes, albernes Schülerdeutsch und benahmen sich überhaupt mit Sprache und Schlägen auf den Bizeps recht robust – manchmal überkam ihn plötzlich die Erinnerung, und ihm fiel ein, wie er als mondäner junger Herr bei französischen Modistinnen gesessen, auf dem Barschemel gehockt und einer schönen Frau bei der Toilette zugeschaut ...

Dann sah er plötzlich mit anderen Augen in die unfertigen, blassen, schlecht rasierten, pickligen Gesichter, hörte mit Widerwillen ihre groben Scherze, roch voll Ekel diese Luft aus Hunger und Ungewaschenheit – er dachte: Lohnt sich das denn? Man kann ja so viel leichter leben ...

Aber dann kam vielleicht gerade Professor Degener in das Klassenzimmer, und der Satz fiel ihm ein, daß man wohl in den Schmutz fallen kann, aber nicht liegenzubleiben braucht ... Oder aber es überlief ihn schon bei dem Gedanken an das »Leichterleben« ein Schauder. Dann warf er mit ingrimmiger Lust seinem Feinde Porzig vor, daß er ihn wieder einmal bei den Geschichtszahlen habe steckenlassen, statt ihm vorzusagen. »Und wenn du alter Schweinehund dies so weitertreibst, wirst du noch erleben, daß ich dir und der ganzen Prima zur Schande im Abitur durchrassele. Dann bleibt dir nur die allgemeine Verachtung, der aus öffentlichen Mitteln gespendete Strick und der blaue Blick zum Mauerhaken!«

»Sei er noch so dick, einmal reißt der Strick!« flüsterte Porzig mit seinem scheelen Schurkenblick die Anfangszeilen eines Wedekindschen Stammbuchverses.

»Freilich soll das noch nicht heißen, daß gleich alle Stricke reißen!« sangen ein paar geheimnisvolle Nornen.

Und alle zusammen im Chor, mit den Füßen scharrend, mit den Pultdeckeln klappernd: »Ganz im Gegenteil – mancher Strick bleibt heil!«

»Seid ihr des Teufels, Primaner??!« schrie Professor Degener gewaltig, in das Zimmer fahrend wie ein flammender Feuerwisch. »Die ganze Prima wird heute mittag zur Andacht hinter der Sexta antreten – denn ihr seid kindlicher als diese milchfrischen Buben! – Hackendahl, was grinsen Sie? Ein Idiot grinst, ein Mensch lacht! Alles setzen! Häberlein, versuchen Sie, uns zu erklären, warum Platon ...«

Ja, Heinz Hackendahl war heimgekehrt. Wieder trug er den alten Schüleranzug, den blank geriebenen, vielfach geflickten, den viel zu kurzen. Wieder trug er die häßliche, graue Kriegsunterwäsche statt schön geschneiderter Oberhemden. Er vergaß völlig die Benutzung des Manikürkastens, wenn er vielleicht auch seine Fingernägel etwas häufiger schnitt, sauberer bürstete als »vor der Zeit«.

Er hatte gefürchtet, daß seine Klassenkameraden einige satirische Anmerkungen über die Rückverwandlung des schimmernden Schmetterlings in eine graue Puppe machen würden. Aber mit dem ungeheuren Feingefühl, das die taktloseste Gesellschaft von der Welt, Bengels in den Flegeljahren, nun einmal hat, sagte keiner ein Wort darüber. Er gehörte wieder ganz zu ihnen. Er war einer der Ihren. Sie schienen völlig vergessen zu haben, daß er bei einer ihnen immerhin sehr wichtigen Tätigkeit, beim Waffensammeln, nicht mitgemacht hatte. Als sei er nie fort gewesen, nahm er an ihren hitzigen Debatten teil, wurde angehört, ausgelacht, beschimpft, ganz wie alle anderen.

Sie hatten sehr viele Debatten, täglich, fast in jeder Pause – und sehr hitzige. In Weimar war nun die Nationalversammlung zusammengetreten, sie hatten Fritz Ebert zum Reichspräsidenten gemacht und Schwarzrotgold zu den Farben der neuen deutschen Republik. Aber das waren vergleichsweise Belanglosigkeiten, so heftig man darüber streiten konnte.

Für sie war die Hauptfrage: Wie wird der Krieg zu Ende gehen? Wie wird der Friede aussehen? Das war die Frage, die sie bewegte. Es wurde so vielerlei in der Nationalversammlung geredet, aber über den Frieden wurde recht wenig gesprochen. Gewiß, sie sagten, einen Gewaltfrieden werde das deutsche Volk nie annehmen; es gab auch einen Abgeordneten, der sagte, die Hand solle verdorren, die einen Sklavenfrieden unterschreibe ...

Aber auch die seltenen starken Töne aus Weimar wurden von den Jungen mit Mißtrauen aufgenommen. Sie hatten den lateinischen Satz gelernt: Principiis obsta, was zu deutsch heißt: Schon im Anfang widersteh! Und sie fanden, daß schon im Anfang kein Widerstand geleistet wurde. Sie fanden, daß die Regierung ständig protestierte, aber ihren eigenen Protesten zum Trotz stets tat, was sie eben noch für unmöglich erklärt hatte. Die Jungen hörten wohl das Nein, aber sie waren ungläubig, wie das ganze Volk ungläubig geworden war. – »Denen trauen wir noch lange nicht«, sagten sie. »Wir sind in den letzten vier Jahren viel zu oft von denen oben belogen.«

Über all diese Dinge redeten die Bengels, in den Schulpausen, auf den Wegen von und zur Penne. Sie redeten in ihrer Schülersprache davon, ihre Sätze waren mit Latinismen gespickt und auch im Gebrauch von Ausdrücken wie »kolossal« oder »fein mit Ei« waren sie nicht schüchtern. Sie hatten rauhe Stimmen, am Kinn hingen ihnen oft fliegende Haare – wäre der Krieg weitergegangen, so hätten sie jetzt schon im Felde gestanden. Nun waren sie bloß Jungen, Schüler, aber ihre Anteilnahme war darum nicht geringer.

Zehn Jahre früher, die Generation hatte sich an Hofmannsthals Versen gelabt, sie hatte die Rosenlieder Eulenburgs verspottet und sich allenfalls ein ganz klein wenig über die Frage: Luftschiff oder Flugzeug erhitzt. Aber sehr mit Maßen. Aber recht moderiert. Ein fett gefüttertes, ästhetisierendes Geschlecht mit einer koketten Neigung für Selbstmord und Schönheit. (Schon das Wort Selbstmord war ihnen zu kräftig gewesen, sie hatten, dafür »Freitod« gesagt.)

Dieses neue, in Notjahren aufgewachsene Hungergeschlecht war etwas kräftiger geraten. Es erwies sich die Wahrheit des Satzes, daß Früchte von armen Böden gesünder sind als von fetten. Diese neue Jugend, die den Krieg nur im Binnenlande erlebt hatte, fühlte sich stets um irgend etwas in ihrem Leben betrogen. Sie war nicht gesonnen, sich weiterhin betrügen zu lassen. Mit wachen Sinnen, mit einem nie einschlafenden Mißtrauen verfolgte sie alle Ereignisse ...

Heinz Hackendahl reihte sich ein. Er war zu seinen Kameraden, in seine Generation zurückgekehrt. (Erich, obwohl bloß vier Jahre älter, war entschieden Vorkriegsgeneration.) Schon nach ganz kurzer Zeit fand er es direkt sagenhaft, daß er alle Tage eine ganze Stunde der Pflege seiner Fingernägel gewidmet hatte. Es dauerte nicht lange, so fühlte er wieder die alte kräftige Abneigung der Jugend gegen die bemalten Frauensleute der Tauentzienstraße. Sein Herz stockte kaum noch eine Sekunde, wenn er an Tinette dachte. Dafür dachte er manchmal und sehr lange an Irma.

 

14

Professor Degener hatte auch darin einigen Scharfblick bewiesen, als er Heinz Hackendahl nur um Geduld gebeten hatte, in Kürze werde er kaum um Aufgaben verlegen sein. Es stimmte – an Aufgaben war in dieser Zeit kein Mangel.

Heinz Hackendahl übernahm die seine.

An einem Morgen Ausgang Februar wachte er von einem hartnäckigen Geklingel auf. Aus irgendeinem Grunde war schulfrei – wahrscheinlich, weil wieder gestreikt wurde. Oder protestiert. Jedenfalls lag er noch im Bett, der Vater war auf Fuhre fort, und die Mutter verschlimmerte gerade wieder ihre geschwollenen Beine vor irgendeinem Lebensmittelladen.

Heinz fuhr in die Hosen, zog seinen Mantel über das Nachthemd und schlurfte auf Pantoffeln durch die grabeskalte Wohnung zur Tür. Vor der Tür stand ein Frauenzimmer, unzweifelhaft ein Frauenzimmer – er mußte erst genauer hinsehen, ehe er erkannte, daß dies seine Schwester Eva war, die früher so hübsche, frische, ein wenig streitsüchtige Eva. Es dauerte eine ganze Weile, bis er erkennend: »Du, Eva? Komm rein!« sagte.

Auch sie hatte ihn nicht gleich erkannt. Aber das lag nicht so sehr daran, daß er sich verändert hatte, als daß sie sehr aufgeregt war und dazu noch ziemlich betrunken. Sie lehnte am Türpfosten, ihr blasses, fett gewordenes Gesicht zitterte, auch ihre schweren, bläulichgrauen Augenlider zitterten.

»Wo ist Mutter?« fragte sie. »Ich muß gleich Mutter sprechen!«

»Mutter ist einholen. Komm doch rein, Eva!«

Er führte sie am Arm in das Schlafzimmer der Eltern, den einzigen Raum, der eine Spur von Wärme hatte. Sie setzte sich auf das Bett, sah um sich ...

»Wo ist Mutter?« fragte sie wieder angstvoll. »Ich muß Mutter gleich sprechen ...«

»Mutter ist einholen gegangen«, erklärte er wieder und beobachtete sie aufmerksam. »Kann ich dir was helfen, Eva?«

Sie schien kaum darauf zu achten, was er sagte; es drang nicht in sie. Sicher war sie betrunken, aber noch stärker war sie erregt; die Trunkenheit ging unter in dieser Erregung, vermischte sich mit ihr ...

Leise sagte sie vor sich hin: »Was soll ich nur tun? Was soll ich tun?«

Einen Augenblick legte sie den Kopf auf das Kissen im Bett, schloß die Augen, als wollte sie in äußerster Erschöpfung sofort einschlafen ...

Aber gleich fuhr sie wieder hoch. Sie stand auf vom Bett, ohne Bubi zu beachten, ging durchs Zimmer, blieb vor dem Vertiko stehen, als sei sie ganz allein, und zog die obere Schublade auf. Sie nahm etwas von den Papieren, die dort lagen, heraus, hielt sie in der Hand, starrte auf sie, als suche sie zu erraten, was sie wohl bedeuteten ...

»Eva!« rief Heinz vom Ofen her. »Eva!«

Sie fuhr herum. Die Papiere in der Hand starrte sie ihn an. »Du, Bubi??« fragte sie. »Was ist denn? Ich wollte doch Mutter sprechen ...«

»Mutter ist einholen, Eva«, sagte er zum dritten Male. Er ging zu ihr, nahm ihr sanft die Papiere aus der Hand, legte sie zurück und sagte: »Erzähl mir doch, was du von Mutter willst. Vielleicht kann ich dir auch helfen?«

»Was soll ich nur tun?« fragte sie wieder verzweifelt. Sie starrte ihn an, aber ihr Gesicht veränderte sich dabei nicht; trotzdem sie traurig sein mußte, trat in ihr trockenes, brennendes Auge keine Träne. Schließlich: »Ich muß fort ...«

»Wohin denn, Eva?«

»Weg von Berlin!«

»Warum mußt du weg von Berlin?«

Sie starrte ihn an. Jetzt trat in ihr Auge etwas wie Entsetzen ...

»Warum?« flüsterte sie. Und schwieg.

»Komm, Eva«, sagte er sanft, nahm ihre Hand und führte sie zum Bett zurück. »Komm, leg dich. Warte, ich ziehe dir die Schuhe aus. Du bist ja eiskalt. So – und nun die Decke – ist es so gut?«

Sie ließ alles ruhig mit sich geschehen, aber sie gab kein Zeichen, ob es gut sei.

Wieder nahm er ihre Hand. »Und nun sage mir, warum du von Berlin fort mußt.«

Sie antwortete nicht. Aber ein anderer Ausdruck trat in ihre Augen, sie sah sich um wie ein Kind, das in einer fremden Umgebung erwacht und sich neugierig alles anschaut.

»Was ist das?« fragte sie. »Liege ich in Mutters Bett?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ist das Vaters Bett?«

Er nickte.

Sie lachte. Plötzlich lachte sie, sie lachte krampfhaft. Es war nicht anders, als schüttele ein Schluchzen sie.

»Da!« sagte sie und zeigte mit dem Finger. »Da drin bin ich geboren! Vor dreiundzwanzig Jahren! Und jetzt liege ich in Vaters Bett.« Es schüttelte sie wieder. »Vater wird sich freuen, daß 'ne Hure in seinem Bett liegt ...«

Ebenso plötzlich, wie das Lachen begonnen hatte, brach es wieder ab. Sie machte ihre Handtasche auf, suchte darin. Hausschlüssel, Puderdose, Kleingeld fielen über die Bettkante – sie achtete nicht darauf. Sie reichte ihm einen Zettel. »Da lies mal ...«, sagte sie.

Es war eine aus einem Schulheft gefetzte Seite. Er las, in ungelenker steiler Kinderschrift: »Der Tannenbaum. Der Tannenbaum wächst im Walde. Er ist unser deutscher Christbaum. Kein Volk feiert das Weihnachtsfest so schön wie das deutsche. Der Tannenbaum ...«

»Verstehst du das?« flüsterte sie und wandte den Blick nicht von seinem Gesicht. Dann ungeduldig: »Die andere Seite doch!«

Er drehte das Blatt um. Auf der anderen Seite stand grob, quer über die Zeilen geschmiert: »Nutte! Du hast mich totgeschossen, aber ich kriege dich doch!«

Sonst nichts.

Er sah zu ihr.

»Verstehst du das?« flüsterte sie wieder, und ihre Lippen zitterten.

»Nein«, sagte er. »Wer hat das geschrieben?«

Sie sah ihn an. Schließlich, nach sehr langer Zeit, sagte sie ganz leise: »Er.«

Es war, als habe sie Angst, schon dieses Wort »Er« zu flüstern.

»Ist das der, von dem ich bei Tutti gehört habe?«

Sie nickte.

»Und? Was soll der Quatsch bedeuten? Eva, du wirst dich doch nicht von einem solchen Unsinn ängstigen lassen?!«

»Es ist kein Unsinn!«

»Natürlich ist es Unsinn! Es ...« Er unterbrach sich. Er sah, daß sie mit einem Entschluß kämpfte.

Schließlich sagte sie leise: »Aber ich habe ihn totgeschossen! Grade ins Gesicht hinein habe ich ihn geschossen. Ich stand direkt vor ihm ...«

»Aber Eva! Wenn du ihn totgeschossen hast, kann er dir nicht schreiben. Und hast du ihn nicht totgeschossen, ist es Unsinn von ihm, dich mit seinem Tod zu ängstigen. – Wenn du überhaupt geschossen hast, hast du vorbeigeschossen.«

»Ich habe ihn totgeschossen! Ich habe das Feuer direkt in seinem Gesicht gesehen.«

»Es ist unmöglich, Eva ...«

»Bei ihm ist nichts unmöglich!«

Wieder dachte er nach. Dann setzte er sich zu ihr aufs Bett, nahm ihre kalten Hände zwischen die seinen und sagte sanft überredend: »Willst du mir nicht alles erzählen, Eva? Vielleicht kann ich dir helfen – ich weiß es nicht ...«

»Mir kann keiner helfen.«

»Doch. Vielleicht doch.«

»Ja – wenn du den Mut hättest, mich totzuschlagen. Ach, Bubi, ich habe oft gedacht, wenn doch einer den Mut hätte, mich totzuschlagen! Mich selbst umzubringen, bin ich zu feige. Aber dazu wäre ich nicht zu feige! Ich schwöre dir, ich würde nicht weglaufen, nicht einmal schreien würde ich ...«

»Bitte, Eva, erzähl mir doch, wie alles gekommen ist. Du hast auf ihn geschossen, sagst du. Warum hast du denn auf ihn geschossen? Man schießt doch nicht gleich auf einen Menschen, auch wenn er schlecht ist! Du bist doch meine Schwester, ich kenne dich doch, so etwas muß dir doch sehr schwer geworden sein ...?«

Sie nickte, aber sie hatte kaum zugehört, sie war bei ihren früheren Gedanken.

»Nein«, sagte sie. »Ich soll nicht sterben. Ich soll nur durch ihn sterben – wenn er mich genug gequält hat. Weißt du, Bubi«, sagte sie fieberhaft, und er nickte ihr ermunternd zu, drückte ermunternd ihre Hände. »Weißt du, das ist schon eine Weile her, daß ich auf ihn geschossen habe. Und es hat mich so gequält, und ich habe nicht gewußt, was ich anfangen soll. Immerzu habe ich getrunken. Ich bin auch jetzt betrunken. Aber wenn ich noch so betrunken war, daß ich kein Glied mehr rühren konnte – das hat nicht in mir geschwiegen. Das war immer da – und es hat mich so gequält, noch schlimmer, als er mich gequält hat ...«

Sie schwieg einen Augenblick. Tief in Gedanken, weit in eigenen Erinnerungen verloren, streichelte Heinz ganz gedankenlos Evas Hände.

»Und ich habe gedacht, ich muß endlich Ruhe haben«, fuhr sie wieder fort. »Und weil ich im Leben doch nie Ruhe kriege, so muß ich sterben. Da habe ich gehört, daß sie was vorhaben gegen die Matrosen, und ich habe mich hingeschlichen am Abend in den Marstall. Und kaum bin ich dringewesen, da haben die Noskes angefangen mit Schießen. Mit Kanonen haben sie auf den Marstall geschossen, und der hat lichterloh zu brennen angefangen. Aber wie ich das gehört habe, das Schießen, und wie die Sterbenden schrien, und wie die Flammen prasselten – da bin ich halb toll geworden vor Freude, weil ich gedacht habe, nun werde ich auch sterben. Und ich habe getanzt vor denen und gesungen und habe ihnen geholfen bei ihren Gewehren, und die haben gesagt: ›Die Kleine ist richtig.‹ Denn die anderen Weiber haben gemacht, daß sie in den Keller getürmt sind. – Aber die haben nicht gewußt, warum ich so bin ...«

Sie schwieg. Dann sagte sie: »Und es hat mir doch nichts geholfen, es ist wieder nichts geworden mit dem Sterben. Als es wirklich soweit war, und es brannte schon überall, und nun sollte es losgehen damit – da haben sie sich einfach ergeben! Und mich haben sie mit rausgeschleppt, ich habe bitten können, soviel ich wollte. – Nein«, sagte Eva Hackendahl und sah den Bruder fast kindlich grübelnd an, »es soll eben so sein: Entweder stirbt er durch mich oder ich durch ihn. Und da wird er es wohl sein, der es schafft ...«

»Was schafft? Du sagst doch, du hast ihn erschossen.«

»Das habe ich auch, direkt ins Gesicht hinein. Und er fiel auch gleich so schwer um, als wäre er ganz von Blei ...«

Wieder dachte sie nach. Dann sagte sie hartnäckig: »Glaubst du, Bubi, daß Mutter mir Geld gibt, daß ich fortreisen kann ...?«

Heinz betrachtete nachdenklich die Schwester. Manchmal wollte es ihm scheinen, als sei sie verwirrter, als es auch ein betrunkener Mensch sein kann, als habe sie schon die Grenze zwischen Sinn und Wahn überschritten. Aber er wußte es nicht, er wußte auch niemanden, den er hätte fragen können darum. Er konnte nur sie fragen ...

Das tat er denn auch. Er fing an, sie vorsichtig auszufragen, und langsam erfuhr er Wort um Wort ihre Geschichte, von jenem Diebstahl im Warenhaus an bis zum Schuß in der Plättstube einer Dahlemer Villa – kaum fünf Minuten ab von jenem anderen Haus, in dem er selbst um jene Zeit in schwere innere Bedrängnis geraten war.

Ja, da konnte er wohl aufmerksam sitzen und zuhören, wie seine Schwester Eva immer fester in die Hörigkeit eines schlechten Menschen geraten war, und oft schien es ihm, als werde ihm sein eigener Leidensweg erzählt, und wenn Eva leidenschaftlich rief: »Was sollte ich denn gegen ihn tun, Bubi ...?! Ich konnte doch gar nichts – und oft war es grade, als ob das Schlimmste, was er mir tat, mich irgendwo drinnen am meisten freute! Aber das kannst du nicht verstehen!«

Dann nickte er und sagte: »Doch, doch, Eva, das verstehe ich schon. Dann freut es einen, wenn wieder etwas drinnen kaputtgeht, und man denkt: grade recht! Soll nur alles entzweigehen – um so besser!«

»Ja, so ist es!« rief sie dann und erzählte eifriger weiter.

Als Eva aber zu Ende war mit ihrem Bericht und nun anfing, sich anzuklagen und Eugen anzuklagen und die Welt und den Vater und Gott – da überlegte er, was denn nun zu tun sei bei der Sache, und was er selbst dabei tun könne, und wieweit sie ihm dabei helfen könne, und wieweit überhaupt noch Verlaß auf sie war ...

Mit dem Wegreisen, dem Ausreißen war es ja nichts. Dafür fehlte alles Geld bei ihr und bei ihm und bei den Eltern auch – das war das erste, was er ihr sagen mußte. Und mit dem Ausreißen war es überhaupt nichts; als sie geglaubt hatte, er sei tot, war sie ja auch nicht ruhig geworden, sondern hatte sterben wollen, und hatte getrunken, bloß um zu vergessen. Nein, zuerst mußte man erfahren, was es mit jenem Schuß in der Kellerstube eigentlich auf sich hatte ...

»Denn wenn du ihn wirklich erschossen hättest, Eva, dann hätte dich doch längst die Polizei geholt, daran mußt du doch denken!«

Das aber hätte Heinz lieber nicht sagen sollen, denn nun kam bei Eva zu der Angst vor Eugen noch die Angst vor der Polizei, vor Gerichten und Gefängnis – und auf der Stelle wollte sie fort! Wenn sie nicht aus Berlin fort konnte, wollte sie wenigstens in Berlin umziehen. Sie wußte zehn Gelegenheiten, wo sie unangemeldet wohnen konnte!

Heinz sah mit tiefem Verwundern, daß Eva solche Angst vor Polizei und Gerichten hatte, als sei sie noch die brave Bürgerstochter von ehemals. Und er hatte sie doch dazu bringen wollen, sich der Polizei zu stellen, damit sie endlich ihre verschleppte Rechnung glattmachen und ohne Angst vor den Drohungen eines Bast leben könne ...

Aber an ein solches Geständnis war im Augenblick gar nicht zu denken. Eva fuhr aus dem Bett und in ihre Schuhe: Auf der Stelle mußte sie umziehen! Vielleicht wurde sie schon von der Polizei gesucht!

So war das erste, was Heinz für seine Schwester tun mußte, etwas, das ganz gegen seinen Kopf war: ein Umzug in einer Taxe, ein Umzug mit hastigem Packen, faustdicken Andeutungen bei den anderen Mädchen, mit kleinen Schnäpsen dazwischen, mit tuschelnden Erkundigungen bei der Wirtin nach anderen Wirtinnen – ein Umzug, der selbst für den dümmsten Polizisten ohne weiteres zu ermitteln war.

Er stand dabei und versuchte, wenigstens beim Packen zu helfen. Die Mädchen sahen ihn frech an oder neugierig. Sie unterhielten sich mit der Schwester in seiner Gegenwart recht ungeniert über ihn und fanden, daß er noch sehr jung sei. Er fand das selbst und lief zur Wäscherin und erreichte mit großem Energieaufwand, daß ihm die Wäsche naß ausgehändigt wurde, wie sie eben gerade war. »Denn meine Schwester muß eilig verreisen ...«

Die Wäscherin grinste unverhohlen, denn sie wußte gut, was für eine Schwester diese Schwester war und daß die eiligen Reisen solcher Schwestern meistens mit dem grünen Polizeiwagen erfolgten, das wußte sie auch ...

Schließlich saß er dann neben Eva in der Taxe, ein bißchen verdrossen über all diese Liederlichkeit und Hast, denn er hätte die Sache lieber ein bißchen in Ordnung gebracht, statt sie noch verwirrter zu machen. Eva aber lächelte plötzlich ganz vergnügt (die kleinen Schnäpse hatten ihre Wirkung getan) und erklärte, sie sei froh, daß sie von der »Ollen« weg sei, die ihr viel zuviel für Zimmer und Essen abgenommen habe ... Und überhaupt sei die Tauentzien schon lange nicht mehr das richtige für sie gewesen, dort machten nur die Jüngsten und Schicksten Geschäfte. Im Norden, in der Tieck- oder Schlegelstraße, sei es viel besser für sie! Ob Heinz nicht sehe, daß sie schon Runzeln bekomme ...?

Und nun fing sie an, darüber zu weinen, wie schnell sie alt werde, und überhaupt solch ein Mädchen, mit einem Bein immer im Kittchen und mit dem anderen im Krankenhaus, es sei nicht zu ertragen ... Aber es liege nur am Vater, wenn Vater nicht immer alle angebrüllt hätte, würde sie sich nie mit Eugen eingelassen haben ...

Heinz hörte sich das trübe an. Er überlegte, ob die Aufgabe, die ihn da aus dem Schlaf geweckt hatte, überhaupt noch eine Aufgabe war, ob der Fall Eva nicht längst und für ewige Zeiten erledigt war.

 

15

In der nächsten Zeit stellte Heinz sich diese Frage noch öfter, wenn sich trotz seiner Bemühungen alles doch immer mehr zu verwirren, und Eva unter dieser Verwirrung doch kaum zu leiden schien. Sondern Verwirrung, Unordnung schienen recht eigentlich ihr Element ...

Später aber gab er alles Fragen und Zweifeln auf. Professor Degener hatte einmal gesagt, er müsse versuchen, im eigenen kleinen Kreis Ordnung zu schaffen, die geringe Aufgabe vor der großen zu bewältigen. Das versuchte er. Wenn er ganz niedergeschlagen war, versuchte er sich vorzustellen, wie jetzt in Deutschland Tausende dabei waren, das vom Krieg Zerstörte langsam wieder aufzubauen. Steinchen um Steinchen, ganz im kleinen, eine Geduldsarbeit. Erst muß die Zelle gesund sein, hatte Professor Degener gesagt.

Ich bin ein Aufräumer, dachte er. Und rannte seine vielen fruchtlosen Wege, achtete nicht auf das Schelten der Schwester, ja, dachte manchmal mit lächelnder Überlegenheit: Alles Wehren hilft dir nichts. Ich hole dich auch gegen deinen Willen aus dem Dreck ...

Das war nicht so leicht. Nach der Schule, zwischen den Arbeiten für das Maturum lief er in der Stadt umher und versuchte herauszubekommen, was es eigentlich für eine Bewandtnis mit dem Schuß auf Eugen Bast hatte.

Er mußte vorsichtig fragen, er durfte nicht zur Polizei gehen – er wußte ja nicht, wie weit Eva außer jenem Warenhausdiebstahl an den Straftaten Eugen Basts beteiligt war; die ganze Wahrheit würde sie nie sagen.

Es hatte ganz interessant geschienen, so als Privatdetektiv aus dem Kriminalroman in Berlin herumzulaufen und einem vielleicht großen Verbrecher nachzuspüren: Erpressung, Plünderung, Raub, leichter Diebstahl, schwerer Diebstahl, Bandendiebstahl, Zuhälterei, vielleicht Mord. Es genügte, es reichte aus – danke schön!

Aber es war gar nicht interessant, immer wieder nachts durch die Straßen zu bummeln, jedes Mädchen anzusprechen und sich von jedem Mädchen ansprechen zu lassen und dann nach einigem Gequatsche die Frage auf einen gewissen Euschehn zu bringen, »den dunklen Euschehn«, wie er genannt worden war. Es schien eine ganze Masse dunkler Eugens gleicher Fakultät in Berlin zu geben.

Während er so lebte, immer in der Hetze, immer blasser, immer magerer, ging die Welt weiter. Jetzt begannen sie, die Handelsflotte auszuliefern, große Protestversammlungen gegen den Gewaltfrieden wurden abgehalten. Die Nationalversammlung sprach sich auch gegen einen Gewaltfrieden aus, allerdings gemäßigter. Im Ruhrrevier war Aufruhr, und in Württemberg Generalstreik. Der erste Reichserwerbslosenkongreß trat zu Berlin zusammen, und der erste Reichshaushaltplan wurde vorgelegt, auf vierzehn Milliarden lautend, von denen nur sieben fehlten. In München wurde eine Räterepublik errichtet, in Dresden der Kriegsminister von Kriegsbeschädigten erschossen. Aber der erste Mai wurde Arbeiterfeiertag, gestreng nach dem sozialdemokratischen Parteiprogramm, und die Osterbotschaft wurde verkündet: »Laßt ab von der Selbstzerfleischung! Arbeitet!!«

Darauf kam es in Braunschweig zum Generalstreik, überhaupt wurde überall ein bißchen gestreikt ...

Während all dieser Ereignisse – es ereignete sich aber in diesen Tagen so viel Schreckliches, daß kein Mensch etwas Schreckliches noch als schrecklich empfand –, während alledem baute er halb im Schlaf an seinem Maturum und bestand es, gerade nur so, keineswegs als erstklassiger Schüler, wie es Professor Degener erwartet hatte. Aber er hatte eine kleine Aussprache mit seinem geliebten Lehrer gehabt, er hatte ihm berichtet. Der Professor hatte mit dem Kopf geschüttelt und hatte gemurmelt: »So etwas hatte ich ja mit Ordnungmachen eigentlich nicht gemeint ...« Aber er hatte ihn schließlich doch durchrutschen lassen.

»Was fängst du nun an?« hatten die Mitschüler gefragt.

»Was willst du bloß werden?« jammerte die Mutter.

Der Vater fragte nicht mit Worten, aber der Blick auf den Sohn war manchmal recht deutlich.

Doch Heinz Hackendahl hatte gerade jetzt nicht die geringste Zeit, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Erst mußte Eugen Bast gefunden werden. Dieser Alpdruck, dieses Schreckgespenst, dieser auferstandene Tote mußte gefunden werden.

Und er wurde auch gefunden. Kurz nach dem Abitur bekam Heinz den Eugen Bast von Angesicht zu Angesicht zu sehen, und dieses Auffinden war nicht einmal schwierig gewesen, es waren dafür keinerlei kriminalistische Fähigkeiten benötigt worden. Sondern an einem Tage, als Heinz im Zimmer der Schwester saß, hatte die Wirtin einen Bengel in dies Zimmer gebracht. »Is denn die Eva nich da? Der Bengel sagt, er hat was für sie ...«

»Eva muß drüben bei der Olga sein. Sie ist eben raus«, sagte Heinz und sah den Bengel an, noch ohne jeglichen Verdacht.

Der Knabe, etwa dreizehnjährig, mit scheuem und doch bösem Blick, sah zu Heinz hinüber. Plötzlich fing er an zu grinsen und fragte: »Du bist wohl ihr Neuer?«

»Ja ...«, sagte Heinz. Er streckte die Hand aus und sagte: »Zeig mal, was du hast!«

Der Junge grinste wieder. Er schüttelte den Kopf, fragte aber: »Kostet?«

Es war schlecht um Heinz' Kasse bestellt, auf seinen Irrfahrten durch Berlin, Eugen Bast suchend, hatten sich schon fast alle schönen Anzüge Erichs in Fahr- und Trinkgelder verwandelt. So bot er nur eine Mark.

Kopfschütteln.

»Zwei Mark.«

Nichts.

»Drei.«

»Her den Taler!« sagte der Junge und brachte aus der Hosentasche ein Stück Papier.

Heinz gab das Geld. Er las den Zettel, den der Junge nicht aus der Hand ließ.

»Hundert Eier«, stand da, »oder Aschenbecher!«

Sonst nichts.

Er wußte von Eva, was »Aschenbecher« bedeutete, aber es war nicht dieselbe Handschrift wie auf dem ersten Wisch. »Das hat der Eugen aber nicht geschrieben«, sagte er. »Da kann jeder kommen!«

»Das habe ich geschrieben!« erklärte der Junge. »Aber Eugen hat mir gesagt, ich soll es aufschreiben!«

»Warum schreibt er's denn nicht selber auf?«

Heinz schien etwas Dummes gefragt zu haben, der Bengel grinste, er kam sich bestimmt sehr schlau vor. »Hundert Eier – und ich verpfeife, warum Eugen das nicht geschrieben hat.«

Heinz sah den Knaben nachdenklich an. Hundert Mark konnten nie in Frage kommen, denn er hatte sie nicht. Aber jedenfalls war eines jetzt sicher: Eugen Bast lebte ...

»Erzähl ihr nicht, daß du mir das gezeigt hast!« sagte Heinz und nahm rasch Mantel und Hut.

»So doof! Hat sie denn Geld?«

»Mußt du sie selber fragen. Ich türme!«

Und Heinz ging.

Lange hatte er im Eingang eines gegenüberliegenden Hauses zu warten, bis der Bote wieder auf der Straße erschien. Er schoß wie ein Pfeil aus dem Hause, Heinz schoß ihm nach. Hätte der Junge noch an ihn gedacht, wäre ihm nicht zu folgen gewesen. Die Jagd ging dem Oranienburger Tor zu, dann die Friedrichstraße hinunter. Heinz folgte auf der anderen Straßenseite, am Bahnhof Friedrichstraße vorbei, über die Linden fort ...

Es waren viele Menschen unterwegs, graue, gehetzte Menschen. Noch war die Ware nicht in die Läden zurückgekehrt, noch immer stand Deutschland unter der Blockade seiner Gegner, ja sie war sogar noch verschärft worden ...

Aber eines war in überreichem Maße da, das waren die Bettler ... In diesen Hauptverkehrsstraßen standen sie in Scharen, nebeneinander lehnten sie an den Hauswänden, hockten auf Deckchen am Boden, gingen, obszöne Karten in der Hand, auf und ab ... Fast alle waren Kriegsverletzte oder behaupteten wenigstens durch die Schilder auf ihrer Brust, es zu sein ... In vier langen Kriegsjahren war das Volk den Anblick dieser Verstümmelten gewohnt geworden – wer ohne solche Gewöhnung in diese Straße des Grauens geraten wäre, er hätte meinen müssen, er sei in der Hölle ...

Armlos und beinlos – die Hosen hochgeschoben, um die dicken, blauroten oder blutigen Narbenwülste der Stümpfe zu zeigen, saßen sie da, neben den Gesichtsverletzten mit schrecklichen breiten Feuerbahnen, mit fehlenden Kiefern, mit verbrannten Gesichtern – Schrecknis über Schrecknis. Schüttler schüttelten kläglich klagend Kopf oder Arm – ein Feldgrauer saß da, und taktmäßig schlug sein Hinterkopf jede Sekunde zweimal gegen die Wand, in jeder Minute hundertzwanzigmal: Sein Hinterkopf war eine große Wunde ...

Die Menschen sahen dem zu, die Polizei sah dem zu, die Regierung sah dem zu.

Obwohl der Dollar bereits auf fünfzehn Mark statt auf vier Mark zwanzig wie vor dem Kriege stand, war das Wort »Inflation« unter den Massen noch unbekannt. Man sprach von einer Teuerung, das Pfund Brot kostete statt vierzehn Pfennig fünfundzwanzig, das Pfund Butter statt einer Mark vierzig drei Mark. Aber da, von reichen Leuten abgesehen, sich keiner so viel zu essen kaufen konnte, wie er wollte, da alle Lebensbedürfnisse nur auf Karten in sehr kleinen Mengen zu haben waren, war die Teuerung noch nicht sehr fühlbar. Jeder hätte gern mehr Geld ausgegeben, wenn nur mehr Lebensnotwendiges zu kaufen gewesen wäre.

Die Regierung aber hielt an der Fiktion fest, daß eine Mark eine Mark sei. Die Kriegsverletzten bekamen ihre kleinen Pensionen – ja, sie bekamen oft gar nichts, weil erst die Höhe der Erwerbsbeschränkung festzusetzen war. Da aber auch Kriegsverletzte weiterleben wollten und da viele nicht arbeiten konnten, gingen sie auf die Straße. In Trupps zu dreien, fünfen, zehnen klapperten sie die Häuser ab, sangen auf den Höfen, musizierten. Oder sie saßen an den Hauptverkehrsstraßen, boten Schnürsenkel und Streichhölzer an oder bettelten auch nur. Die Regierung, die Polizei mußte dem zusehen, man konnte den Leuten nicht befehlen, still zu verhungern ...

Es war unfaßbar, daß sie alle wirklich vom Betteln lebten, daß ein verarmtes, verelendetes, mit seinen eigenen Nöten überbeschäftigtes Volk für jeden alle Tage so viel Geld hatte, daß es sich für ihn lohnte, hier zu sitzen. Am besten erging es natürlich noch immer denjenigen, deren Verwundung durch ihre Besonderheit – und sei sie nur besonders häßlich – auf die Vorübereilenden am stärksten wirkte ...

Bei solch einem besonders schlimm Verletzten war der Junge stehengeblieben. Es schien ein noch junger Mann zu sein, aber so genau war das nicht zu sagen: Das ganze Gesicht des Mannes war eine Narbe mit schrecklichen, grauschwarzen Rändern, die ineinanderliefen wie die farbigen Grenzlinien einer Landkarte ... Von den Lippen war kaum noch etwas da, die Nase sah schwarz aus, als sei sie verbrannt, aber das Schlimmste waren die Augen mit ihren eingeschrumpften Augäpfeln, die ohne Pupillen waren, wie mit einer gelblichen Haut überwachsen ...

Dieser Bettler lehnte stehend an einer Hauswand, er hielt das Gesicht den Vorübergehenden entgegen, und als sei dieses Gesicht, und als sei das Schild »kriegsblind« noch nicht genug, sprach er in ganz gleichmäßigen, kurzen Zeitabständen monoton, ohne Hebung, ohne Klage ein Wort jedem Vorübergehenden zu, immer wieder, immer wieder: »Blind. – Blind. – Blind. – Blind ...«

Es war etwas Schreckliches, etwas viel Schrecklicheres als Klage in diesem einen monotonen Wort »Blind«, es war wie das seelenlose Ticken einer Uhr, es schien unterzugehen im Straßenlärm – und plötzlich blieben Eilige, sehr Eilige doch stehen und legten Geld in die vor der Brust liegende geöffnete Hand ...

Nie sagte der Mann ein Wort des Dankes, nie machte er auch nur ein Zeichen, daß er das Geld in der Hand gespürt hatte, ohne Unterbrechung sprach er weiter: »Blind. – Blind. – Blind ...«

Und auch jetzt, als der Botenjunge neben ihm stand, zu ihm flüsterte, sprach er weiter, als laufe dieses »Blind« in ihm fort, ohne daß er noch wußte, wie man atmet, wie ein Herz schlägt, ohne daß etwas dazu getan wird, immer weiter: »Blind ...«

Heinz ging quer über die Straße, er stellte sich an die Hauswand neben dies schreckliche Gesicht. Er kümmerte sich nicht um den Jungen, der ihn erschrocken ansah, er sagte halblaut: »Hackendahl ...«

Das vernarbte Gesicht, so aus der Nähe noch grausiger anzusehen, verzog sich nicht, der Mund, dessen Lippen weggebrannt schienen, sprach weiter: »Blind. – Blind ...«

Aber das Gesicht des Jungen hatte sich verzerrt, er wollte fortlaufen und konnte doch nicht: Der Fuß des Blinden hatte sich auf den Fuß des Jungen gestellt, schmerzhaft, unentrinnbar ...

An dieser Art zu reagieren erkannte Heinz Hackendahl, dies war Eugen Bast. Eugen Bast, wie ihn die Schwester geschildert hatte, der Quäler, der als einzige Antwort erst einmal den Jungen abstrafte, ganz gleich, ob der ihn mit oder ohne Willen verraten hatte. Eugen Bast, der Zerstörer Evas, das Opfer Evas – Heinz hatte sie nun vor Augen, die Folgen dieses Schusses.

Etwas wie ein tiefer, urgründiger Haß stieg in ihm auf. So haßt das Leben den Tod, so wehrt sich der Lebende gegen das Sterben ...

»Nehmen Sie den Fuß da weg!« befahl Heinz, zitternd vor Zorn.

»Blind! – Blind! – Blind!« sagte der Mann, und der Fuß blieb, wo er war.

»Den Fuß weg!« sagte Heinz noch einmal und setzte, als wieder nichts geschah, seinen Fuß auf den Fuß des Bettlers.

»Blind!« sagte der. »Blind! – Blind!«

Geld klapperte in seiner Hand, die Leute sahen nicht auf die Füße, sie sahen nur in dieses schreckliche Gesicht. Schnell fuhr die Hand zum Leeren in die Hosentasche, kehrte vor die Brust zurück, »Blind! Blind!«, und der Fuß blieb ...

Heinz begriff, dieser Mann würde nie nachgeben, lieber würde er sich den Fuß zerquetschen lassen, als ihn von dem des Jungen zu nehmen. Heinz zog seinen Fuß zurück. Der Mann sagte weiter: »Blind!« mit unbewegtem Gesicht, aber ein oder zwei Minuten später gab sein Fuß den des Jungen frei.

Der Junge sah gelb aus, ihm schien vor Schmerz übel geworden zu sein. Aber er gab keinen Laut von sich, er floh auch nicht von der Seite des Mannes – und es schien doch so leicht, einem Blinden zu entfliehen! Was diesen Jungen an der Seite seines Quälers hielt, das mußte Angst sein, eine namenlose, ungestalte Angst, mit Lust gemischt, die gleiche Angst, der Eva unterlegen war ...

Heinz war jung, unerfahren, er ahnte nicht: Wie kam man an ein solches Tier heran? Er hatte sich diese Verhandlung so einfach gedacht; wenn er nur erst Eugen Bast gefunden hätte, würde er ihm mit Polizei, Gericht, Zuchthaus drohen. Der Mann würde schon einsehen, daß es vorteilhafter für ihn war, Eva in Frieden zu lassen.

Nun war Eugen Bast gefunden, und sofort hatte er Heinz die Lehre gegeben, daß er sich nicht drohen ließ. Er würde immer nur so handeln, wie das Böse in ihm befahl ... Sogar wenn er sich selbst schadete ...

»Blind! – Blind!« ging es neben ihm, immer weiter ...

Was soll ich nur tun?! dachte Heinz Hackendahl verzweifelt. Wenn ich auch den Schutzmann dort hole ... Jawohl, ich habe gedacht, es würde Eva nichts schaden, wenn sie ein oder zwei Jahre ins Gefängnis kommt ... Aber sobald sie dies Gesicht in der Verhandlung sieht, ist sie ja sofort wieder unter seinem Einfluß, nimmt sie sofort alles auf sich, um nur ihn reinzuwaschen ... Eva hat recht, Flucht ist das einzige ... Aber dann trinkt sie sich tot! Ob Sophie Geld gibt? Bestimmt hatte Sophie Geld!

»Blind! – Blind!« Und die schon wieder gefüllte Hand fährt in die Tasche, kehrt zurück vor die Brust. »Blind! – Blind!«

Ach, einmal hatte sich Heinz Hackendahl das Leben recht einfach gedacht. Aber entweder hatte sich das Leben gegen früher sehr viel schwieriger und gefahrvoller gestaltet, oder er taugte nichts. Mit Erich gescheitert, ein Abitur mit Ach und Krach, und nun schon wieder für Eva nichts ausgerichtet ...

»Blind ... Blind ...«

Er sieht den Mann noch einmal von der Seite an. Er möchte so gerne einfach weglaufen, ausreißen, er hat sich zuviel vorgenommen! Und doch hält ihn etwas. Er kann so nicht gehen. Man verliert alle Selbstachtung, alles Vertrauen in die eigene Kraft, wenn man so fortläuft. Heinz Hackendahl hat das Gefühl, daß er im Leben nie etwas erreichen wird, wenn er jetzt unverrichtetersache fortläuft. Er muß etwas tun ...

Während er noch grübelt, sich quält, sich anspornt, bricht plötzlich neben ihm das »Blind« ab. Er starrt zur Seite, es ist, als sei plötzlich eine Uhr stehengeblieben, man muß sie aufziehen! Was ist geschehen ...? Geht Eugen Bast immer fort, vormittags zwischen elf und zwölf, wenn der Hauptverkehr gerade einsetzt? Denn Eugen Bast geht. Er hat seine Hand um den Oberarm des Jungen gelegt, und ohne daß Heinz eine Verständigung zwischen den beiden bemerkt hat, führt der Junge den Blinden fort. Führt ihn die Friedrichstraße hinunter, gegen die Leipziger Straße zu ... Heinz folgt den beiden. Sie gehen nahe vor ihm, aber sie achten nicht auf ihn, nicht einmal dreht sich der Junge nach ihm um. Und sie sprechen nicht miteinander, auch das beobachtet Heinz, sicher gehen sie um diese Zeit immer fort. Es scheint das Alltägliche zu sein ...

Plötzlich fällt Heinz ein, daß er Eva Nachricht geben muß und daß er ihr endlich Nachricht geben kann. Er dreht um, er denkt nicht mehr an die beiden. Wenn er Eugen Bast wirklich noch einmal braucht, kann er ihn immer finden, hier an der Straße, als Bettler. Aber er wird ihn nicht mehr brauchen ...

Denn er kann Eva sagen, daß Eugen Bast kein gespensternder Toter ist, vor dem sie sich fürchten muß, sondern ein Bettler, den sie blindgeschossen hat. Er wird ihr nicht erzählen, wie schrecklich er aussieht, aber er wird ihr begreiflich machen, wie hilflos Bast durch seine Blindheit ist, daß sie ihm leicht ausweichen kann.

Er wird ihr noch einmal helfen, umzuziehen, mit ein wenig größerer Vorsicht. Dann kann sie ruhig vor seinen Drohungen leben; es ist lächerlich, sich von einem Blinden erpressen zu lassen. Aschenbecher – wahrhaftig! Und wäre er mit ihr in demselben Zimmer, kann sie über solche Drohung lachen! Sie muß ja nur aus der Tür gehen – der Blinde kann ihr nicht einmal folgen!

Plötzlich ist Heinz Hackendahl ganz siegesgewiß. Seine Aufgabe scheint gelöst! Er denkt nicht darüber nach, wie bereitwillig er die Spur von Eugen Bast aufgegeben hat! Nachdem ihm wochenlang zu wissen wichtig schien, wo der Mann wohnt. Er ist heraus aus der Atmosphäre dieses Menschen ... Eben noch, als er neben ihm stand, schien ihm alles hoffnungslos, unlösbar – aber jetzt, ferne von ihm, ist alles in bester Ordnung, die Aufgabe ist gelöst!

Er schlendert die Friedrichstraße wieder hinauf. Aber als er die Linden überqueren will, fällt ihm ein, daß jetzt eine schlechte Stunde ist, zu Eva zu gehen. Um diese Zeit machen sich die spät aufstehenden Mädchen zurecht, sie hocken beieinander in ihren Zimmern – besser, er wartet noch ein bißchen. Dann kann er sie in Ruhe sprechen ...

Er biegt also in die Linden ein, geht durch das Brandenburger Tor und kommt in den Tiergarten. Es ist April – und so verwüstet der Tiergarten auch aussieht, ein bißchen frisches Grün ist doch da. Aller Rasen ist nicht in den Schlamm getreten; und wenn die Beete auch leer sind, in einem Winkel, halb versteckt unter einem Gebüsch, findet Heinz sogar ein paar Krokusblüten.

Er hockt sich neben sie, er betrachtet sie, einige sind gelb, einige bläulichweiß. Sie sehen genau aus wie vor dem Kriege; es gibt also doch wenigstens etwas, das so ist wie früher ... diese Krokusblüten! Die Menschen haben sich verändert, keiner kann mehr so sein wie früher. Aber die Blüten sind sich gleich geblieben. Es liegt etwas Tröstliches in diesem dummen Gedanken – er ist dumm, das weiß Heinz, aber trotzdem tröstlich. So, als werde einem das Unmögliche versprochen, daß auch die Menschen wieder werden könnten wie früher ...

Heinz denkt vor den Krokusblüten flüchtig an Eva, länger an Irma ...

Er versucht, sich zu erinnern, ob Irma je so ein gelbes oder bläulichweißes Kleid besessen hat ... Dann gesteht er sich, daß dies alles Unsinn ist, nicht der geringsten Überlegung wert, daß er nur Zeit vertrödeln, die Unterredung mit Eva hinausschieben möchte ...

Er seufzt und steht auf. Er hätte gern eine Blüte mitgenommen, aber irgendwie gehört sich das nicht. Nicht, daß er den Tiergarten respektiert, der Tiergarten ist für viele längst der Platz geworden, wo man sich mehr oder weniger offen Brennholz besorgt. Nein, aber er möchte nicht gerade jetzt bei Eva mit einer Blüte ankommen, die ihn unbestimmt an Irma denken läßt.

So geht er ohne Blüte.

Und hat recht damit getan, denn als er in ihr Zimmer tritt, sieht er, daß ihm ein anderer zuvorgekommen ist.

Eugen Bast sitzt auf der Chaiselongue, die Hand um den Oberarm seines Führers gelegt, als wäre er jeden Augenblick bereit abzumarschieren. Jedenfalls wirkt er keineswegs so hilflos, wie Heinz sich das ausgedacht hat.

Eva sieht mit weißem Gesicht von dem Koffer hoch, den sie packt, betrachtet den Bruder flüchtig, preßt die Lippen zusammen und macht sich wieder an ihre Arbeit.

Der Blinde hat beim Geräusch der sich öffnenden Tür den Kopf gewandt, er sitzt lauschend da. Wieder scheint er sich mit niemandem zu verständigen und sagt doch: »Nutte, dein Bruder is da!«

»Ja, Eugen«, sagt Eva – und aus dem Ton dieser zwei Worte schon errät Heinz, daß er all sein bißchen Einfluß auf die Schwester verloren hat.

»Nutte«, sagt Eugen wieder, und mit Erschrecken hört Heinz das halbe, freundliche Flüstern dieser falschen Stimme. »Haste deinem Bruder nischt zu sagen?«

Ein hilfloser Ausdruck tritt in Evas Gesicht, mit ratloser Angst sieht sie in das Gesicht ihres Herrn.

»Eva«, sagt Heinz. Er tritt zu ihr, faßt sie unter das Kinn und dreht ihr weißes, ratloses Gesicht so, daß sie ihn ansehen muß. »Eva! Komm mit mir! Tu nicht, was er von dir will. Er will immer nur Schlechtes, er ist böse. Laß ihn, du kannst überall leben. Ich verspreche dir, ich schaffe heute noch irgendwie das Reisegeld nach Leipzig oder nach Köln – wohin du willst. Bedenke doch, er ist blind, er kann dir nicht nach. Du kannst ihm immer ausweichen ...«

Eva steht bewegungslos vor ihm, es ist ihr nicht anzusehen, daß seine Worte irgendeine Wirkung auf sie tun.

Der Blinde auf dem Sofa nickt beifällig. »Köpfchen, dein Bruder«, sagt er freundlich. »Köpfchen – hat er nich von dir, Nutte. Der Mann hat recht, ick bin blind – türme!« Er sitzt da, verzerrt den lippenlosen Mund. Das scheint sein Lachen zu sein. Plötzlich schreit er wütend: »Türme doch, Dowe! Ick kann dir nich nach!«

Eva entzieht sich des Bruders Hand. »Du sollst nicht auf Eugen schimpfen, Heinz!« sagt sie leise. »Ich geh doch mit ihm. Ich bleib bei ihm ...«

»So? Bleibste das?« höhnt Eugen Bast. »Bedank dir ooch bei deinem Bruder, Evchen. Der hat uns beede doch wieder zusammenjebracht. Sach danke schön, Nutte!«

»Danke schön, Heinz ...«

»Steh nich rum, Nutte, mach fertig. Jawoll, Schwager, ick wollte ihr eijentlich loofen lassen. Se is mir wirklich zu doof, deine Schwester. Und wo se nun auch mits Schießen angefangen hat ... Ein bißken hätt ick ihr jemolken, so alle Monat, ein bißken hätt ick ihr jepiesackt, bloß, det se in Bewegung bleibt in ihre Tätigkeit ...«

»Eva!« bittet Heinz. »Komm doch mit mir. Geh mit mir auf die Polizei. Es kann ja gar nicht schlimm werden für dich, Eva. Die Richter sehen doch ein, daß du gar nicht anders konntest, daß er dich gezwungen hat. Ein, zwei Jahre Gefängnis – da wird dich keiner so quälen wie er. Und dann bist du frei, du kannst noch einmal von vorn anfangen ...«

Von der Schwester bekommt er keine Antwort, sie packt weiter, als habe er nichts gesagt. Eugen Bast aber fährt fort: »Wie de aber so neben mir jestanden bist, Schwager, mit deine Quanten uff meine Flosse, da ha'ick mir jedacht: Det wär doch eijentlich janz schön, wenn de jetzt eine hättest, die dir versorcht. Andere Blinde haben 'nen Hund, ick habe ebent det Fräulein Schwester von dem jungen Herrn, der uff deine Flosse turnt. Det muß den jungen Mann doch freun, wenn er sieht, seine Schwester is noch zu wat nutze ...«

»Böse!« rief Heinz Hackendahl. »Hör doch, wie böse er ist! Er wird dich zu Tode quälen, Eva!«

Sie sah ihn an mit einem raschen klaren Blick, einem hellen Strahl durch all den grauen, grausigen Nebel. Wie hatte sie ganz im Anfang einmal zu ihm gesagt: »Entweder stirbt er durch mich oder ich durch ihn« – war das ihre Hoffnung?

»Aber junger Mann, aber«, sprach Eugen Bast, »reden Se man hier keenen Stuß! Ick und böse? Ick bin det jutmütigste Aas von der Welt! Suchen Se sich erst mal eenen, der sich so in de Visage knallen läßt wie ick, Oojenlicht weg – und keen Wort, keen Vorwurf!«

Er strich sich nachdenklich übers Gesicht, tastete mit den Fingern über die schrecklichen Wundränder.

»Die andern sagen mir, ick bin keene Schönheit mehr, früher war ick'n janz ansehnlicher Mann. Nu, det hat se janz jut jemacht, det ick den Verfall von meine Schönheit nich mehr sehen kann, wat, Evchen? Da hast'n Witz jemacht, wat?«

Er lachte.

Sie gab einen leisen, gequälten Laut von sich – der Blinde wandte ihr den Kopf zu.

»Komm du mal her«, sagte er.

Sie kam zu ihm, sie stand vor ihm, sie sah in das schreckliche Gesicht.

»Sach deinem Bruder: Bin ick schön for dir oder bin ick häßlich?«

»Schön ...«, flüsterte sie.

»Machste mir noch? Liebste mir, sach!«

»Doch!«

»Du sollst es ihm sagen, Nutte!«

»Ich liebe dich noch, Eugen!«

»Zeich et deinem Bruder – küß mir!«

Sie beugte sich über den Blinden – und Heinz Hackendahl sah nicht mehr die beiden ... Er sah sich selbst vor Tinette, und Tinette war gut anzusehen gewesen, aber wenn nur schön sein konnte, was auch gut war, wie die Griechen sagten, so war sie ebenso häßlich gewesen wie Eugen Bast. Seine eigene Hörigkeit sah er, seine eigene Lust am Schmerz; hier wurde er noch einmal gedemütigt, mußte noch einmal die eigene Schmach fühlen ...

»Eva ...!« bat er leise.

Ihre Lippen auf den grauschwarzen Narben, sah sie ihn an. Ein kurzer Blick, fast wie ein Lächeln. Eine dunkle Seele – eine Seele in Qual. Es geht vorüber, schien ihr Lächeln zu sagen. Schmerz geht ebenso vorüber wie Lust. Am Ende, wenn alles vorbei ist, war es gleichgültig, was man erlebt hatte: Lust oder Schmerz ...

Nein! Nein! schrie es in ihm. Ich will nicht ...

Eugen Bast schob die Eva fort. »Jenuch Theata«, sagte er. »Mach fertig. – Un Sie, junger Mann, Sie können jetzt ruhig von hier direkt uff de Polizei jehn – wir sind noch 'ne Weile hier, die können uns jerne holen. Aber det versprech ick Ihnen, so lange ick rin muß, solange jeht Ihre Schwester ooch rin, dafor wird jesorcht, dafor sorcht se selber. – Un wenn se dann rauskommt, so in Stücker zehn Jahren, denn soll se'n Leben kriejen – da hat se jetzt den reinen Himmel! Det versprech ick Ihnen, junger Mann!«

»Eva!« bat Heinz noch einmal.

Aber Eva schüttelte nur leise den Kopf bei ihrer Packerei.

»Und nun hauen Se ab, junger Mann!« rief Eugen Bast plötzlich mit ganz anderer Stimme. »Sie werden hier nich mehr jebraucht. Jede Minute, die Sie hier noch stehn, kneif ick Ihr Frollein Schwester een bißken fester ... Eva, stell dir her zu mir ... Jib deinen Arm her ... nee, det dicke Fleisch von'm Oberarm ... So, junger Mann; fühlstet, Eva ...?«

Heinz stürzte aus dem Zimmer. Er floh, er lief immer schneller durch die Straßen. Er lief von dem schrecklichen Haus in der Tieckstraße fort, von den Bildern in sich fort, von der eigenen Schande, der eigenen Schmach.

Schließlich fand er irgendeine Bank. Da saß er lange, das Gesicht zwischen den Händen, es war noch heller Tag. Er ließ die Tränen zwischen den Fingern hindurchlaufen, Tränen des Schmerzes, des Mitleids – aber vor allem Tränen der Wut über seine eigene Hilflosigkeit, seine verdammte Schwäche ...

Stark muß ich werden, dachte er. Daß ich ändern kann. Es muß geändert werden. Bloß Mitleid haben, ist nur Schwäche, Feigheit. Ändern muß man die Welt – und dafür muß man stark sein!

So ging es fieberhaft durch seinen Kopf – er hatte Visionen von einer Zukunft, in der er stark sein würde, fähig, einen Eugen Bast auszurotten. Nur langsam beruhigte er sich. Als er aufstand, hatte eine mitleidige Seele auf das Holz der Bank neben ihn einen Groschen gelegt.

Er sah ihn lange an. Es war seltsam: Am gleichen Tage, da er Eugen Bast betteln gesehen hatte, wurde auch er beschenkt.

Er nahm das Geldstück und warf es weit von sich in ein Gebüsch. Nein, keine Geschenke mehr. Aus eigener Kraft! Nur noch aus eigener Kraft!

 

16

Die Nationalversammlung hatte immer wieder unbeugsam zu einem Gewaltfrieden »nein« gesagt. Es hatte tausend Protestversammlungen im Reich gegeben. Die Redner hatten »nein« gerufen, und die Versammelten hatten ihnen zugestimmt.

Dann wird eine Delegation ernannt, die in Versailles die Friedensbedingungen der Gegner entgegennehmen soll. Aber eine einfache Delegation genügt nicht, die Gegner verlangen Minister, hohe Staatsbeamte; sie werden ernannt, sie treten ihre Reise nach Versailles an.

Das Volk wartet: Vielleicht wird alles gar nicht so schlimm, wie man fürchtete? Vielleicht ist der Feind gnädig?

Achtzig Mitglieder stark, von fünfzehn deutschen Pressevertretern begleitet, trifft die deutsche Delegation in Versailles ein. Sie werden fast wie Gefangene gehalten, niemand darf zu ihnen, nirgend dürfen sie hin – ein streng bewachtes Hotel ist ihre Heimstatt. Acht Tage läßt man sie warten, wie demütige Bittsteller im Vorzimmer des reichen Mannes haben sie zu warten, bis man geruht, ihnen die Bedingungen zu überreichen, durch die Deutschland bekennt, ein schuldiger, überführter Verbrecher zu sein, und verspricht, ewig der Sklave der anderen zu werden ...

Sie reisen ab mit der Note der Schmach, sie geben sie bekannt. Sie rufen »nein«, wieder machen sie Protestversammlungen, sie wechseln Noten – verdorren soll die Hand, die ihre Unterschrift unter diesen Vertrag setzt! Sie rufen den Präsidenten Amerikas, Wilson, an, sie befragen Sachverständige, sie bitten, sie appellieren, sie drohen ein ganz klein wenig. »Unannehmbar« sagen sie und machen Gegenvorschläge. Einstimmig erklärt sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands gegen diesen Gewaltfrieden. Aber nichts ändert sich. Die Noten sind umsonst gewechselt, die Proteste verhallen – von drüben heißt es unerbittlich: »Es gibt keine Verhandlungen!«

Plötzlich sagt die Nationalversammlung ja. Die eben noch nein riefen, sie sagen ja. Wenn die anderen nicht nachgeben, muß man schon selbst nachgeben. Wenn die anderen dabei bleiben, Deutschland ist schuldig, wenn jeder Widerspruch nichts erreicht, nun, so muß man sich schuldig bekennen. Festgeschlossen stimmt die Sozialdemokratie für Ja, festgeschlossen sagt das Zentrum: Annehmen ...

Sie machen noch einige Vorbehalte, ein paar Ausstellungen ...

Aber: »Es gibt keine Verhandlungen ...« klingt es wieder.

Dann, am 23. Juni 1919, erklärt sich die Nationalversammlung mit der bedingungslosen Unterzeichnung des Friedensvertrages einverstanden. Ihre Mitglieder bescheinigen einander feierlich, daß sowohl wer mit Ja, wie wer mit Nein stimmte, nur aus vaterländischen Gründen handelte ...

In der Spiegelgalerie des Schlosses von Versailles unterzeichnen zwei deutsche Minister den Vertrag. Man hat sie wie Gefangene durch Stacheldrahtverhaue geführt, eine schweigende Menge sah düster auf sie. Bei ihrem Rückweg wurden Verwünschungen laut. Steine wurden geworfen, leere Flaschen ...

 

17

Durch die Große Frankfurter Straße geht Heinz Hackendahl, zwei Handköfferchen tragend. Der eine Handkoffer ist leicht, er enthält alles, was Heinz an Kleidung, Wäsche, Schuhwerk besitzt. Der andere Koffer ist schwerer, wenn auch nicht schwer. In ihm sind Bücher, Hefte, alles was sich in seiner Schulzeit an geistigen Vorräten angesammelt hat. Es ist der 1. Juli, ein recht heißer Tag. Vorgestern wurde der Friedensvertrag unterzeichnet.

Heinz geht an dem Zaun vorüber, hinter dem einstens der Fuhrhof seines Vaters lag. Als er an das Tor kommt, bleibt er stehen, setzt seine Koffer ab und sieht neugierig hinein. Der Hof scheint schon wieder seinen Besitzer gewechselt zu haben. In den langen Stall, der sonst die Pferde beherbergte, ist jetzt Tür neben Tür gebrochen: Garage liegt dort neben Garage. Autotaxen stehen auf dem Hof, ein Fahrer spritzt seinen staubigen Wagen ab.

Heinz nickt. Er ist nicht betrübt über diese Veränderungen, wenn sie auch zu dem »Vorbei« sagen, was sein Vater war. Heinz weiß, damit neues Leben entsteht, muß altes vergehen. Das ist nichts, worüber man trauern müßte. Im Gegenteil, es liegt ein großer Trost darin, daß alles vergeht – so vergeht auch Schmach. Man kann sich erheben aus dem Dreck, in den man fiel.

Ein einfahrendes Auto hupt wütend – Heinz nimmt seine Koffer auf und geht weiter. Er biegt in eine Nebenstraße, in eine zweite, geht über ein paar Höfe und ersteigt fünf Treppen.

Das Schild »Gertrud Hackendahl – Schneiderin« hängt noch an der Tür. Einen Augenblick zaudert er. Es ist kaum dreiviertel Jahr her, daß er hier zum letztenmal war. Aber es scheint eine endlose Zeit, wenn er überdenkt, was er seit jenem Abend alles erlebte: Erich und die Revolution, Tinette und Irma, Maturum und Eva ...

Einen Augenblick zaudert er. Dann aber drückt er entschlossen auf den Klingelknopf.

Gertrud Hackendahl öffnet ihm. »Du, Bubi?«

»Ja, ich, Tutti. – Aber ehe ich mit meinen Koffern reinkomme, möchte ich dich fragen, ob du mich auch haben willst? Verstehst du, ich möchte bei dir wohnen. Ich habe eine kleine Stellung bei einer Bank bekommen; vielleicht kann ich dir ein bißchen bei den Jungen helfen ...?«

Er hat gesagt, was er sich überlegt hat. Aber es scheint ihm jetzt schwach und falsch. So sagt er noch: »Und vielleicht kannst du mir auch ein bißchen helfen, Tutti? Es ist ja nun Friede geworden ... Vielleicht kannst du mir helfen, du bist, glaube ich, die einzig Starke in unserer Familie ...«

Sie sieht ihn an. Dann ruft sie, und sie verbirgt nicht ihre Freude: »Komm nur rein, Bubi! – Natürlich kannst du mir viel helfen – bei den Jungen!«

Er tritt ein.

 


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