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In der Nacht fuhr die Schneiderin Gertrud Gudde hoch aus dem Schlaf. Sie hatte den Winterwind sausen hören, schneidend, erbarmungslos gegen Leute, die nicht genug Feuerung haben und unzureichend ernährt sind. Sie schauderte zusammen, dann hatte sie die müden Glieder fester in das warme Bett geschmiegt.
Aber gleich war sie wieder hochgefahren und hatte Licht gemacht. War sie denn nicht aufgewacht, weil Gustäving gerufen hatte? Sie war aus der Wärme gestiegen, hinein in die eisige Kälte des Zimmers, an sein Bett getreten: Aber Gustäving schlief ruhig. Er lag auf der Seite. Eine knochige, bläuliche Schulter sah aus dem Hemd. Sacht zog sie die Decke darüber. Die Nase war viel zu scharf und spitz in dem Kindergesicht, die Ärmchen waren dürr wie Stecken, kein Gramm Fleisch schien auf ihnen zu sein.
Sie sah das alles, wie sie es hundertmal in der letzten Zeit gesehen hatte, wie sie Monat für Monat, Woche für Woche ihr Kind so hatte werden sehen. Sie seufzte, stopfte die Decke noch einmal fest um den mageren Kinderkörper, mit einem Gefühl hilfloser Ergebenheit. Dann kehrte sie in die Bettwärme zurück.
Sie versuchte wieder einzuschlafen. Es war erst zwei Uhr nachts. Sie lag und lauschte auf den Wind, der an den Fenstern im fünften Stock so heulte und rüttelte, als wohne sie nicht in der großen Steinstadt Berlin, sondern weit draußen auf dem flachen Lande, wo die Häuser ungeschützt den Stürmen preisgegeben sind.
Sie erinnerte sich genau, wie der Wind heulte und rüttelte an dem kleinen Elternhaus auf Hiddensee. Wie sie als Kinder wach lagen und lauschten, wie sich das Donnern der Brandung am nahen Westrand der Insel in den Sturmlärm mischte, und wie sie immer daran dachten, daß jetzt der Vater draußen war in seinem Boot, auf Heringsfang vor Arkona oder nach Schollen im Achterwasser. Sie erinnerte sich, wie sie flüsternd in ihren Betten miteinander von ihren großen kleinen Kindergeschehnissen gesprochen hatten, vom Bernstein oder den Hütegänsen, aber nie vom Vater, der draußen war. Das verbot ihnen eine tiefe, abergläubische Scheu. Aber sie dachten immer an ihn, und dieses ständige Denken schien dem Sturm fast etwas Persönliches zu geben, als sei er ein böser Feind, der Vater nachstellte, dem man nicht erzählen durfte, daß Vater draußen war.
Es ist ein weiter Weg von dem armen Fischerhaus auf Hiddensee bis zu der volkreichen Mietskaserne im Osten der großen Stadt Berlin. Es ist auch ein weiter Weg von dem kleinen ängstlichen Fischermädchen bis zu der Schneiderin, die kaum noch Angst hat, sondern im tiefsten ergeben ist in das, was ihr Gott schickt. Ein weiter Weg, eine ungeheure Wandlung. Aber doch, die Gertrud Gudde, die jetzt um zwei Uhr nachts nahe dem Bett ihres schlafenden Kindes wach liegt, empfindet wieder etwas von der abergläubischen Angst, wenn sie auf den Wind horcht. Sie möchte einschlafen, sie will nicht daran denken, sie will es dem Sturm nicht sagen. Aber der Schlaf kommt nicht, das Herz klopft so traurig langsam, die Trübe der kalten Nacht ist nicht nur um sie, sie ist ebenso in ihr.
Ist es nicht derselbe Wind – der Wind vor ihren Fenstern und der Wind über Frankreich? Ist nicht auch für jene dort Sturm? Ist nicht wieder wie ehemals, lange vormals, ein Mann von ihr draußen, nach dem Vater der Geliebte, der Vater ihres Kindes?
Alles wie ehemals, alles wie eh und je! Sie steckt den Kopf in die Kissen, sie will nicht daran denken. Unheil! Otto hat seit zwei Wochen nicht mehr geschrieben – genau wie es früher war, wenn ein Fischerboot nicht zurückkam, und Frau und Kinder, das ganze Dorf wartete auf Nachricht, hoffte und harrte ... Es gab ja Fischerboote, die der Sturm bis nach Finnland verschlug, es konnte eine lange Zeit dauern, bis Nachricht eintraf.
Und dann waren sie längst tot gewesen! Während sie daheim noch hofften und harrten, waren die draußen längst tot gewesen, verdorben und gestorben! Über zwei Wochen hatte Otto nicht mehr geschrieben! Und jetzt – der Sturm mag heulen und rütteln, soviel er will! –, jetzt erinnert sie sich, sie ist nicht davon aufgewacht, daß Gustäving nach ihr rief. Eine andere Stimme hatte sie angerufen ...
Sie hatte eine Zeitung in der Hand gehalten, sie hatte eine Nachricht gesucht. Angstvoll blätterte sie die Zeitung um, Seite um Seite. Aber von jeder Seite hatten sie nur die unzähligen, schwarzumränderten Todesanzeigen angesehen, die alle Zeitungen füllten: »Den Heldentod für sein Vaterland starb ...« Und darüber das Gefallenenkreuz.
Seite auf Seite umgeblättert und nichts wie diese Anzeigen. Plötzlich weiß sie, daß sie keine Nachricht sucht, daß sie die Anzeige sucht: »Den Heldentod für sein Vaterland starb Otto Hackendahl ...«
Und sie erschrickt namenlos und sagt sich: Ich suche doch nicht die Anzeige! Er lebt ja, er hat mir grade erst geschrieben, daß er zum Unteroffizier befördert ist ... Ich will die Namen gar nicht lesen!
Doch sie liest die Namen nur hastiger, es ist, als warte sie gierig auf den Namen Otto Hackendahl – damit endlich die Erlösung kommt, eine endgültige Entscheidung nach dem ewigen, bangenden Warten von nun schon zwei Jahren. Aber das Schwarz der Zeitungen verwirrt sich, die Gefallenenkreuze schieben sich ineinander, vor den Fenstern heult der Wind ... Das Boot ist draußen, und der Vater ist draußen, und sie sind allein im Haus, Mutter und Kinder ...
Wie erzählen die Fischer auf Hiddensee? Wenn einer von ihnen ertrinkt, und im Ertrinken ruft er nach seinem Weib, so geht der Ruf so weit, wie es auch sein mag, und erreicht die Gerufene. Er weckt sie aus tiefstem Schlaf: Der Sterbende sagt der Lebenden auf Wiedersehen!
So drang durch das Geschiebe der schwarzen Kreuze ein Ruf zu der Schläferin und hatte sie geweckt. Sie hatte zuerst gemeint, es sei das Kind gewesen. Aber da sie nun wieder einschlafen wollte, wußte sie: Es war nicht das Kind gewesen, er war es gewesen.
Sie lag wach und hätte gerne geweint. Aber sie konnte nicht weinen. Es dauerte schon zu lange. Es half ihr auch nichts, daß sie wußte, es ging allen Frauen jetzt so. Alle Frauen träumten Nacht für Nacht den Traum vom gefallenen Mann. Vom gefallenen Bruder. Vom gefallenen Sohn. Es half ihr nichts, daß sie sich sagte: Es kann ja gar nicht anders sein. An was man den ganzen Tag denkt, an das denkt auch im Schlaf das Hirn weiter. Es hat nichts zu bedeuten. Und es half ihr nichts, daß sie sich sagte: Hundertmal habe ich schon dieses und ähnliches geträumt, und er hat doch immer wieder geschrieben.
Sondern nichts half. Und sie wußte schon, daß nichts half. Daß es in ihr saß, in ihr und in allen Frauen, Schwestern, Müttern. Daß man es eben ertragen mußte, dieses unendliche, peinigende Warten, bis endlich wieder einmal der Briefträger den Feldpostbrief abgab. Und nach fünf Minuten der Erleichterung, des Aufatmens begannen wieder die fünfhundert, die fünftausend, die fünfzigtausend Minuten bangenden Wartens!
Nein, nichts half – und doch ertrug sie es, sie wie alle anderen. Sie stöhnte: »Es ist unerträglich, es muß endlich ein Ende nehmen, so oder so.« Aber es nahm kein Ende, und sie ertrug es weiter. Sie ertrug es, weil sie ein Kind zu versorgen hatte, weil die nackteste Notdurft des Lebens ihr immer neue Pflichten auferlegte, weil sie Briefe ins Feld zu schreiben hatte, die nie mutlos klingen durften, weil sie unendlich arbeiten mußte, um ihm noch Feldpostpäckchen zu schicken ... Weil jeder Tag schon in frühester Stunde mit einem eisernen »Du mußt!« auf sie zutrat, weil sie eben nicht die Hände in den Schoß legen, sich nicht ihrer Trauer hingeben konnte.
Schließlich ist Gertrud Gudde doch wieder eingeschlafen, wie sie schließlich fast jede Nacht über ihren Ängsten wieder einschlief. Noch zweimal weckten ihre Träume sie, und mit der alten Angst starrte sie in die Nacht und lauschte auf den Sturm. Das eine Mal hatte sie falsch gelegen, ihre schwache kranke Brust hatte unter einem schweren Druck geseufzt, und sie hatte ihren schrecklichsten Traum geträumt, den sie manchmal hatte, seit ihr plötzlich klargeworden war, was diese auf einmal überall geleierte Redensart »Scheintot im Massengrab« eigentlich bedeutete.
Sie hatte mit Otto unter den anderen gelegen, lebendig unter Toten, und sie hatte versucht, sich hervorzuwühlen ... Oh, wie konnten die Menschen einander quälen! Wie konnte jemand, der ein Herz hatte, so etwas sagen?! Atemlos starrte sie in das Dunkel und versuchte, die grauenhaften Bilder aus sich zu vertreiben.
Der dritte Traum aber war fast schön gewesen. Denn sie hatte neben Otto gesessen in einem frühlingsgrünen Walde, und Otto hatte aus der Tasche seines feldgrauen Rockes eine lange Flöte gezogen und hatte gesagt: Die habe ich geschnitzt. Jetzt will ich dir etwas vorspielen!
Er hatte zu spielen angefangen, und bei seinem Spiel waren aus jedem Schalloch der Flöte Vögel geschlüpft. Und die Vögel waren auf der Flöte sitzen geblieben und hatten zu seinem Spiel zu zwitschern und zu singen angefangen. Das hatte unfaßbar schön geklungen. Sie hatte sich immer näher an ihn gelehnt, und schließlich hatte sie ihn umgefaßt. Da hatte er gesagt: Du darfst mich aber nicht zu sehr anfassen. Du weißt doch, daß ich gestorben und nur noch Asche und Staub bin, Tutti?
Sie hatte es wirklich gewußt, aber nur noch fester hatte sie ihn angefaßt. Da war er in ihren Armen zergangen, wie ein leichter Nebel war er durch den Frühlingswald verweht, ganz in der Ferne hörte sie noch sein Flötenspiel und das Zwitschern und Singen der Vögel.
Davon war sie aufgewacht. Der Sturm vor den Fenstern hatte sich etwas gelegt. Die Weckuhr zeigte auf halb fünf. Es war Zeit aufzustehen!
Frierend stand Gertrud Gudde in dem eisigen Zimmer. Verlangend sah sie zum Ofen, aber sie wußte, sie würden den ganzen Tag frieren müssen, wenn sie jetzt schon heizte. Erst in der nächsten Woche gab es wieder Briketts – sie hatte schon zuviel verbraucht.
Schließlich nahm sie eine Zeitung, ballte sie zusammen und steckte sie in das Ofenloch. Der Anblick des flammenden Papiers tat ihr gut; die feurige Lohe täuschte ein Gefühl von Wärme vor. Sie wusch sich, indes das Papier im Ofen schon längst schwarz geworden war, und fuhr in Kleider und Mantel.
Einen Augenblick noch stand sie am Bett von Gustäving. Das Kind schlief fest, aber es würde nicht bis zu ihrer Rückkehr fortschlafen: Der Hunger würde es wecken. So nahm sie aus dem Küchenschrank ein Brot und schnitt ein Stück ab, dessen Größe sie sorgenvoll überlegte. Es war klein und doch eigentlich zu groß. Aus Bindfaden machte sie eine Schlinge und hängte das Brot an die Bettleiter.
Sie lächelte, als sie daran dachte, wie sehr Gustäving sich über diesen Morgengruß freuen würde. Er war wie sein Vater: Er würde das Brot langsam und mit Bedacht essen, viele Male kauend. Obwohl es kein Friedensbrot von reinem Geschmack war, sondern Kriegsbrot mit klitschigem Kartoffelstreifen. Manche sagten, es werde Holzmehl und Sand in das Brot gemengt – aber das mußte nicht wahr sein, es war auch so schlimm genug.
Sorgfältig schloß sie die Schranktür ab und steckte den Schlüssel zu sich. So klein Gustäving noch war, der Hunger machte auch die Kleinsten erfinderisch. An einem nicht sehr weit zurückliegenden Morgen hatte er den Schrank aufbekommen: Es waren schreckliche Tage gewesen danach. Daß man selbst stets hungrig war, daran war man längst gewöhnt. Daß man seinem Kinde aber nicht einmal das Allernotwendigste geben konnte ...
»Ich kann doch mein Kind nicht vier Tage lang hungern lassen!« hatte sie auf der Kartenverteilungsstelle gerufen. »Es verhungert mir ja!«
»Da könnte jeder kommen!« hatte der Beamte achselzuckend gesagt. »Dem einen sind die Karten verbrannt, dem anderen sind sie gestohlen. Der hat sie verloren, und Ihnen hat das Kind das Brot weggegessen – hätten Sie besser aufgepaßt! Nein, es gibt nichts!«
Schließlich hatte ihr die Schwägerin Eva mit ein bißchen Brot geholfen ...
Sie rüttelte noch einmal sachte an der Tür des Schrankes: Der Schrank war zu. Sie sah noch einmal nach Gustäving: Das Kind schlief. Sie löschte das Licht und trat in das Treppenhaus. Es war gleich fünf, es war höchste Zeit.
Im Treppenhaus war es dunkel, aber schon tasteten Schritte hinunter, tappten schwere Füße müde hinauf. Im ersten Stock wurde eine Entreetür geöffnet, ein Mann kam heraus, im Dämmerlicht des Flurs sah sie, wie er seiner Frau den Abschiedskuß gab. Dann tastete er sich stumm neben ihr die Treppe hinunter, aber plötzlich faßte er sie um, er flüsterte: »Na, meine Kleine, Süße? Auch schon so früh aus den Betten?«
Sie stemmte die Hände gegen seine Brust. Sie wußte, es war der Werkmeister einer Munitionsfabrik, er war »unabkömmlich«! Er war früher ein ganz ordentlicher Mann gewesen, aber dieser Krieg, der Berlin männerlos gemacht hatte, hatte ihn verdorben. Es gab genug Weiber jetzt, die jeder Männerhose nachliefen – nun dachte er wohl, alle Frauen seien Freiwild.
»Lassen Sie mich sein, Herr Tiede!« rief sie, sich im Dunkeln wild gegen ihn wehrend. »Ich bin ja bloß der Buckel aus dem fünften Stock!«
»Die Gudde? Das ist doch mal was anderes!« Und indem er sie heftiger bedrängte, flüsterte er: »Sei nett, Kleine! Du kommst mir grade recht – ich schenke dir auch ein halbes Pfund Butter, wenn du artig bist! Ehrenwort!«
Es gelang ihr, sich von ihm frei zu machen. Sie lief wie gejagt über die beiden Höfe und atmete erst auf, als sie auf der Straße war. Im Licht einer Gaslaterne besichtigte sie den Mantel, den er ihr zerrissen hatte: Gottlob, es war nicht so schlimm, es ließ sich nähen, fast ohne daß man es sehen würde!
Sie machte eilig, daß sie in die kleine Nebenstraße vor die Tür ihres Fleischerladens kam. Aber sie war ein bißchen spät daran, trotz aller Eile, trotz des Frühaufstehens: Schon eine ganze Reihe Menschen wartete vor der dunklen Ladentür.
»Neunzehn«, sagte die Frau vor ihr.
»Dann werde ich ja wohl noch etwas abbekommen«, meinte sie hoffnungsvoll.
»Das weiß man nicht, wieviel Schweine er zugeteilt bekommt«, sagte die Frau vor ihr. »Aber das hilft nun nichts – das Hoffen haben sie uns ja immer noch nicht verboten!«
Es klang unsäglich bitter, wie diese Frau es sagte. Nicht nur vom eisigen Wind schaudernd, steckte Gertrud Gudde die Hände tief in die Manteltaschen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Hielt man es länger aus, nur auf den Zehenspitzen zu stehen, so froren die Füße nicht so. Und sie mußte es lange aushalten, um acht Uhr erst machte der Fleischer seinen Laden auf.
Eine Weile stand sie so, frierend; die nur mühsam vertriebene Müdigkeit kehrte zurück. Aber sie brachte keinen Schlaf, sondern nur trübe, finstere Gedanken. Sie suchte sich vorzustellen, was sie beim Fleischer bekommen würde: ein gutes Stück Kopf oder nur ein paar Abfallknochen, fast ohne Fleisch. Es war Glückssache – und meistens hatte sie kein Glück. Alle Menschen waren voreingenommen gegen einen Buckel. Aber man mußte es nehmen, wie es kam: Es war doch, so wenig es auch sein mochte, Fleisch ohne Karten, Abfallknochen, Zeug, das der Fleischer anders nicht verwerten konnte. Es gab den Steckrüben einen besseren Geschmack!
»Was mag die Uhr wohl schon sein?« fragte die Frau vorn.
»Fünf Minuten nach halb sechs!« antwortete Gertrud Gudde.
»Und meine Füße sind schon jetzt wie Eis! Das halte ich nicht bis acht durch. Passen Sie ein bißchen auf meinen Platz auf? Ich habe achtzehn.«
Gertrud stimmte zu, aber die Frau verhandelte noch mit der vor ihr. Es war zu schlimm, wenn man seinen Platz verlor, wenn man ganz umsonst früh aufgestanden war und gefroren hatte. Man mußte sich erst bei beiden Nachbarn sichern.
Dann aber lief die Frau los, sie hatte nur Holzschuhe an, die Holzsohlen klappten laut auf dem Pflaster. Sie lief die Straße auf und ab, manchmal blieb sie stehen und schlug die Arme fest gegen den Leib. Aber niemand machte einen Witz, nur eine sagte gedankenvoll: »Wenn man Kräfte genug hat, es länger zu tun, wird man schön warm davon!«
Dann schwiegen wieder alle.
Nach einer Weile kam die Frau zurück. »So«, sagte sie, und ihre Stimme hatte einen ganz anderen Klang. »Jetzt halte ich es wieder eine Weile aus. Wollen Sie auch? Ich sorge schon für Ihren Platz.«
Aber Gertrud Gudde schüttelte den Kopf. »Nein, danke«, sagte sie leise. Nicht, daß sie nicht fror, aber sie scheute sich, mit ihrer Mißgestalt vor den anderen herumzulaufen. Sie waren ja alle arme geschlagene Weiber, aber es gab doch immer welche, die in aller Armut noch über den Ärmeren spotteten.
Und dann hatte sie wirklich Angst um ihren Platz, es standen jetzt schon so viele hinter ihr! Es war unmöglich, daß der Fleischer Knochen für alle hatte. Und jetzt war es erst sechs! Sie flehte, daß doch gegen acht ein Schutzmann vorüberkommen und die Leute schubweise in den Laden lassen würde. Sonst gab es einen Wirbel, wenn die Ladentür aufgemacht wurde, und sie wurde von den Stärkeren nach hinten gedrängt!
Hinter ihr unterhielten sich jetzt zwei mit lauten, scharfen Stimmen über eine neue Bestimmung wegen des Urlaubs von der Front. »Es ist wahr«, sagte die eine, »du kannst es mir glauben: Für jeden Goldfuchs, den du hier in der Heimat ablieferst, kriegt dein Mann einen Tag Urlaub.«
»So was werden sie doch nicht machen!« antwortete die andere. »Das wäre doch nur was für die Reichen! Im Schützengraben draußen sind doch wenigstens alle gleich!«
»Für die Reichen, sagst du?« fragte die erste Stimme wieder erbittert. »Für die Schieber und Hamster, meinst du! Wer anständig war, hat sein Gold doch längst abgeliefert, als es hieß ›Gold gab ich für Eisen‹! Ja, Scheiße – die Anständigen sind wieder mal die Dummen! Aber es gibt ihrer noch genug, die Gold im Strumpf haben. Die kriegen ihren Mann, für zehn Tage, für vierzehn Tage, für drei Wochen ... und in der Zeit fällt vielleicht grade dein Mann ...«
»Das machen sie nicht«, sagte wieder die andere, aber sie sagte es unsicher. »Das wäre doch keine Gerechtigkeit.«
»Gerechtigkeit!« rief die andere fast rasend. »Red doch bloß nicht solchen Stuß! Gerechtigkeit! Wer mag denn so ein Wort in den Mund nehmen! Wo siehste denn Gerechtigkeit? Gold her – und du kannst mit deinem Mann ins Bett gehen. Kein Gold – ei du liebe Scheiße!«
»Die Leute reden soviel ...«, sagte die andere wieder zaghaft.
»Gerechtigkeit ...«, rief die andere, die sich gar nicht beruhigen konnte. »Neulich haben sie bei mir wieder einen Wisch durch die Tür gesteckt. Ich les sonst das Zeugs nicht – es ist alles bloß Quatsch. Daß wir unsere Ketten zerbrechen sollen und so – das sollen die, die so etwas drucken, uns erst mal vormachen! Wenn sie selber ihre Ketten zerbrochen hätten, brauchten sie die Zettel ja nicht heimlich durch die Tür zu stecken!«
Ein paar lachten.
»Habe ich nicht recht?« fragte die Frau friedlicher. »Das ist ja alles bloß Geschwätz! Aber den Wisch habe ich gelesen. Menu stand darüber.« (Sie sagte: Me-nuh.) »Das soll heißen, was es zu essen gab. Kaiserliches Hauptquartier, stand darüber, Homburg vor der Höhe – seit wann ist denn überhaupt Homburg vor der Höhe an der Front? Ich denk immer, das ist 'ne deutsche Stadt.«
»Das verstehste nicht«, sagte eine andere Frau. »Dafür bist du zu dusselig. Einen Kaiser wie Willem, den gibt et nur einmal, aber deinen Emil oder wie er heißt, den gibt et hunderttausendmal ...«
»Det verstehst nu du wieder nich«, sagte die erste, aber ganz besänftigt, »weil du nämlich meinen nich kennst. Wenn du den nämlich kennen würdest, wie ich ihn kennen tue, würd'ste nich sagen, es gibt ihn tausendmal. Nee, so einen gibt's auch nur einmal ...«
So redeten sie weiter. Immer weiter redeten sie von Emil und Willem und von seinem Menu mit sieben Gängen, alles auf französisch. Aber dieses Französisch hatten sie ganz gut verstanden. Sie redeten weiter, sie erhitzten sich und wurden wieder verdrossen – es kam nichts heraus dabei, es war das Gewohnte –, aber die Zeit verging ihnen darüber.
Gertrud Gudde stand auf ihrem neunzehnten Platz. Sie hörte das Gerede an, und sie überhörte es. Die eisige Kälte stieg hoch in ihr, aber es war nicht nur die Winterkälte, die sie so frieren machte. Urlaub, dachte sie. Schon über zwei Jahre ist er draußen und hat doch noch keinen Urlaub gehabt. Ich schreibe nicht davon, und er schreibt nicht davon, aber jeder Mann an der Westfront hat in dieser Zeit mindestens zweimal Urlaub gehabt. Nur er ...
Sie fängt wieder an zu grübeln, was sie schon hundertmal, schon tausendmal durchgegrübelt hat: Warum er nicht kommt? Er weiß Bescheid, wie es zu Haus aussieht; obwohl sie nie etwas von der Lebensmittelknappheit in ihren Briefen erwähnt hat, klingelt dann und wann ein Urlauber an ihrer Wohnungstür. Er gibt ein Eßpaket ab: ein bißchen Schmalz, zwei Pfund Speck, Zucker, auch einmal Linsen ...
»Warum kriegt Otto denn keinen Urlaub?« fragt sie dann die Urlauber.
Sie zucken verlegen die Achseln, sie sehen sie an, sie sagen: »Ich weiß nicht, vielleicht will er nicht ...«
Sie sehen sie an, und schon mag sie nicht mehr weiter fragen. Sie haben sie so komisch angesehen, vielleicht denken sie: Wenn ich eine Frau hätte, die so aussieht wie du, würde ich auch nicht auf Urlaub fahren ...
Zuerst hat sie gedacht, daß er wirklich keinen Urlaub bekommt, weil er untüchtig ist ... Aber wie dann die Nachricht vom Eisernen Kreuz kam, und dann, daß er Unteroffizier geworden war ... Das konnte es nicht sein, daß er nicht durfte, er wollte vielleicht wirklich nicht ...?
Die redeten und redeten. Es machte so eiskalt, dies Gerede, die Welt wurde völlig trostlos, kein Mensch, der noch fröhlich lachte. Wenn sie jetzt lachten, verzogen sie das Gesicht zu einem bitteren Grinsen. Sie zwingt sich, sie will an etwas anderes denken, sie denkt an ihr Kind. Gustäving bat: »Mutti, erzähl noch mal. Das Märchen vom Bäckerladen!«
Und sie erzählt ihm das Märchen vom Bäckerladen, aber es ist gar kein Märchen. Sie erzählt bloß, wie sie vor drei Jahren, ja, wie sie noch vor zwei Jahren in einen Laden ging und zeigte: Da, acht Schrippen. Vier Schnecken mit Zuckerguß, zwei Brote ...
»Aber zwei Brote hat er dir doch nicht gegeben?! Wie? Mutti!«
Doch, er hatte zwei Brote gegeben. Er hatte sogar Dankeschön gesagt, er hatte sich bei ihr bedankt, weil sie so viel gekauft hatte. Unbegreiflicher Widersinn! Das Kind sitzt dabei, seine Augen leuchten. Die Mutter muß zeigen, wie sie das Brot nach Haus gebracht hat. Sie muß vormachen, wie sie davon abgeschnitten hat, so viel für den Papa, so viel für die Mutti, so viel für Gustäving ...
»Zeig noch mal! Oh, Mutti, das könnte ich nie aufessen!« Und dann, eifrig nickend: »Doch! Doch! Versuch es mal – ich schaffe es! Wollen wir es nicht mal probieren? Nur ein einziges Mal, bitte, bitte, Mutti!«
Und nun, als Ende, das nie aufhörende Betteln, um ein Stückchen Brot, ein Scheibchen, eine halbe Scheibe, ach, eine Rinde nur ...
Eiseskälte aus dem, was sie reden, wie aus dem, was man denkt. Man kann es anfangen, wie man will ...
Aber jetzt braucht man nicht mehr zu denken. Die Frau vor Gertrud Gudde sagt aufgeregt: »Er zieht schon die Rolläden hoch! Wenn mir bloß nicht wieder einer in die Holzpantinen tritt! Das letztemal habe ich fünfzehn Plätze dadurch verloren. Passen Sie ein bißchen auf, junge Frau, ja?«
Und dann kommt der Ansturm – natürlich ist kein Schutzmann da. Die gehen gerne in großem Bogen um solche Ansammlungen herum, schon damit sie nicht hören müssen, was die Frauen alles reden! Die Woge der Stürmenden faßt Gertrud Gudde, trägt sie mit sich, wirbelt sie in die Ladentür ... Einen Augenblick meint sie, ihr Arm bricht – so sehr wird er gegen den Türrahmen gepreßt. Aber nun ist sie schon durch die Tür – o Glück, die Woge preßt sie direkt gegen den Ladentisch als eine der ersten ...
»Na, wieviel denn, junge Frau?« fragt der dicke Meister.
»Was ich kriegen kann ...«
Und schon wird ihr ein Stück Schweinekopf über den Tisch zugeschoben, sie staunt, sie sieht die weiße bleiche Haut an, das tief rote, stark durchblutete Fleisch: ein Stück Schweinebacke, fast zwei Pfund Fett und Fleisch! Eilig geht sie, mit gesenktem Kopf, die Tasche eng gegen die Brust gedrückt, schiebt sie sich durch die anderen, die noch nichts haben, die vielleicht ohne alles werden abziehen müssen – die Armen!
Sie lächelt selig. Frühes Aufstehen, Kälte, Warten, Verzweiflung – alles ist vergessen: Sie hat ein großes Stück Schweinebacke, fast zwei Pfund Fleisch und Fett!
Sie eilt die Treppen hinauf. Aber hier, direkt vor ihrer Wohnungstür, stutzt sie. Die Freude verfällt. Sie legt der hockenden Gestalt die Hand auf die Schulter.
»Was ist denn, Eva?«
Eva hebt ein verschwollenes, rotes Gesicht. »Vater hat mich rausgeschmissen, Tutti«, flüstert sie. »Kann ich zu dir reinkommen?«
»Gerne«, sagt Gertrud Gudde und schließt die Wohnungstür auf.
Der Aufschwung, den die neuen Pferde Gustav Hackendahl gegeben hatten, war längst wieder vorüber. Mit den Pferden war die Sorge um die Kutscher gekommen und hatte nie aufgehört. Diese Kerle, die man da auf den Bock gesetzt hatte, die nichts von Pferden verstanden, die nicht fahren konnten, die keine Straße wußten, denen es ganz egal war, ob sie Fahrgäste hatten oder keine, die Hauptsache, am Abend gab's den Garantielohn – diese Kerle, uralt oder ganz jung, hatten den alten Hackendahl halb zu Tode geärgert.
Und zu der Sorge wegen der Kutscher war die Sorge um das Futter gekommen. Ja, so lange man noch Hafer auf dem Boden zu liegen hatte, konnte man gut sagen: Es sind ja nur Russenpferdchen, und zur Not leben sie auch von Stroh. Als dann aber wirklich die Futternot anfing, als die Bezugscheine nie reichten, als den Pferden rationiert wurde wie den Menschen, da mußte man zugeben: Jawohl, vielleicht können sie wirklich nur von Stroh leben, aber dann tun sie eben nichts, dann stehen sie bloß im Stall. Wenn sie aber arbeiten, dann wollen sie auch fressen! Und sie mußten arbeiten, sie mußten Geld verdienen, alles wurde teurer, und das Geld wurde immer knapper, es wurde so nötig gebraucht!
Ja, auch mit dem Geld war es knapp geworden im Hause Hackendahl. Viel Bargeld war an Eggebrecht gegangen für die »Katzen«, und was sonst so da war, das hatte Hackendahl für Kriegsanleihe gezeichnet, und nun war es festgelegt. Hätte er es sich damals besser überlegt, er hätte ja nicht alle Ersparnisse in Kriegsanleihe festlegen müssen. Aber es sollte eine große Summe sein, die der Gustav Hackendahl zeichnete. Und so wurde es eine große Summe. Es schadete ja auch nichts, denn: »Was wir zum Leben brauchen, das bringt der Droschkenbetrieb uns immer ein, Mutter.«
Aber es sah nicht so aus, als ob er das tun würde, er brachte nichts, und an manchem Freitag, dem Lohntag, mußte Hackendahl kratzen und kratzen, um den Kutscherlohn zusammenzukriegen. Das Geld wurde so knapp, wie es noch nie gewesen war! Man hätte doch zum Beispiel denken sollen, ein Haushalt, in dem zwei Söhne und eine Tochter fehlen, ist billiger als ein Haushalt, in dem sie sich alle Tage mit an den Tisch setzen. I wo, der Haushalt wurde teurer!
Denn da waren die endlosen Päckchen, die Mutter ewig ins Feld schickte, und die guten Fettigkeiten, die in den Päckchen waren, die waren Hamsterware, also teuer! Und wenn man auch zugeben mußte, daß weder Otto noch Sophie je um Geld schrieben, so war der Erich um so teurer. Ewig brauchte der Junge etwas: eine seidene Feldmütze, Eigentumsschuhe, eine Reithose aus Kordstoff. Dafür war er aber auch schon Offiziersstellvertreter und hatte einen Druckposten, in Lille, in der Etappe, und Mutter brauchte nicht in einem fort um ihn zu weinen.
Nein, das Geld blieb nicht bei einem, es läpperte sich so weg. Trotzdem hätte man sich so weiter geholfen; es war ja Hauptsache, daß immer ein bißchen was in der Ladenkasse klapperte, dann richtete man sich schon ein.
Dann aber war der Abend gekommen, da ein amtliches Schreiben anlangte: »Pferdenachmusterung, Vorführung sämtlicher Pferde, auch seit der letzten Musterung gekaufter, auch käuflich erworbener ausrangierter Militärpferde ...«
»Da muß ich ja bloß drüber lachen«, hatte Hackendahl gesagt. »Daß sie die Menschen nachmustern, das habe ich schon gehört. Aber nun auch die Pferde – na, laß sie! Wenn sie soviel überflüssige Zeit haben!«
»Sie nehmen jetzt auch die Männer, die sie noch vor einem Jahr ganz untauglich geschrieben haben«, sagte Frau Hackendahl klagend. »Vater, wenn sie uns nun auch die Gäule nehmen?«
»Was muß – muß!« sagte Hackendahl eisern, aber er tröstete sie gleich: »Die Katzen nehmen sie bestimmt nicht – und meine anderen fünf, die sind bei dem Futter auch nicht besser geworden!«
»Die Nachgemusterten sind im letzten Jahre bei ihrer Hungerei auch nicht besser geworden!« klagte Frau Hackendahl. »Und sie haben sie doch genommen!«
»Wir werden's ja erleben, Mutter. Weine bloß nicht schon jetzt! Du sollst sehen, ich klappere mit ebensoviel Pferden zurück auf den Hof, wie ich losgetippelt bin!«
Aber es war schon ein anderer Auszug gewesen als damals in den ersten Augusttagen des Jahres 1914. Damals war Hackendahl gewichtig, eine Tasche unter dem Arm, neben seinem Transport hergegangen. Er hatte die Gesichter der Leute studiert, und ihre bewundernde Anerkennung hatte ihn stolz gemacht. Bubi war nebenhergelaufen, es war noch ungewiß gewesen, gegen wen alles es Krieg geben sollte, und vor Spionen war gewarnt worden.
Jetzt trug Hackendahl den Befehl für die Pferde in seiner Jackettasche und führte selbst die ersten vier Gäule, während ihm Futtermeister Rabause mit den nächsten vieren folgte. Man konnte gut den Lohn für die Kutscher sparen. Und in die Gesichter der Entgegenkommenden brauchte man auch nicht groß zu sehen. Die waren doch alle grau und hoffnungslos, und wenn einer wirklich auf die Pferde achtete, so dachte er bloß: Die sollten sie auch lieber zum Pferdeschlächter bringen, dann gibt's wenigstens wieder Fleisch ohne Karten.
Bubi aber saß in der Schule, und das war noch ein Trost; nach Spionen hätte doch keiner Jagd gemacht. Heute wollte man ja sogar gerne, daß sie in der Welt erfuhren, wie die Hungerblockade unschuldige Frauen und Kinder mordete. Aber das wollte die Welt gar nicht wissen!
Der Musterungsplatz, der alte Musterungsplatz mit den Holzbarrieren. Aber heute war ein anderer Betrieb hier als damals. Kein langes Vorführen, nur ein kurzer Blick: »Gut. Der nächste!«
Kaum, daß einmal einem Gaul ins Maul gesehen, ein Bein nachgefühlt wurde. »Gut! Der nächste!«
Angst wollte Hackendahl beschleichen, er gab die Aufsicht über das Vorführen dem Rabause. Er pirschte sich an die Musterungskommission heran, aber gleich wurde er angegrobst und zurückgejagt: »Was haben Sie hier rumzustehen. Mann?! Machen Sie, daß Sie zu Ihren Pferden kommen! Hier hat keiner zu horchen!«
Es war ein graugesichtiger Rittmeister mit scharfen Zügen, der Hackendahl so anschrie. Er trug das E. K. I. auf dem Rock. Der gehörte sicher zu denen, die an der Front kaputtgeschossen waren, die wieder raus wollten, die den ganzen »Friedensbetrieb« hier im Binnenlande haßten und verachteten. Sein Gegenstück war der Tierarzt, ein dicker Mann mit einem rosigen, fetten Gesicht: Der machte immerzu Witze, über die er allein lachte.
»Hackendahl!« rief er. »Na, nu man ein bißchen fix die Hacken dahl, junger Mann mit 'nem alten Gesicht! – Das sind Ihre Pferde? Das sind ja Katzen! Sie kommen wohl direkt aus 'nem Flohzirkus? Na, nu mal munter, munter! Pferd ist Pferd, wir gehen hier nicht nach dem Gardemaß!«
Mit verkniffenem, unendlich geekeltem Gesicht hörte der graue Rittmeister den Späßen dieses Hanswurstes zu. Er zeigte: »Der – und der da ...«
Er sagte halblaut etwas zum Schreiber.
»Der nächste!«
»Wie?!« fragte Hackendahl den Schreiber. »Neunzehn ...?«
»Ja, der Schimmel und die beiden braunen Ponys sind zurückgewiesen«, sagte der Schreiber gleichgültig. »Hier ist Ihre Anweisung.«
»Aber ...«, sagte Hackendahl fassungslos. »Wovon soll ich denn leben? Ich habe doch einen Fuhrbetrieb ... Nur noch drei Pferde ...«
Er sah das Papier an. Aber er verstand noch immer nicht, was darauf stand, vor seinen Augen waren Flecke.
»Es ist nämlich Krieg ...«, sagte der Schreiber. Er sagte es bestimmt etwas spöttisch.
»Sie sollen hier doch nicht stehen! Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt«, sagte der Rittmeister scharf. Und nach einem längeren Blick: »Was stimmt nicht?«
»Von zweiundzwanzig Pferden nur noch drei!« sagte Hackendahl. Dies war es, was sein Kopf zuerst begriffen hatte, und dies hielt er fest. »Ich habe doch einen Fuhrbetrieb ...«
Er sah den Rittmeister an, als müsse er es verstehen.
»Wir haben Krieg«, sagte auch der Rittmeister. Aber er sagte es kalt. »Zehntausende von Vätern haben ihre Söhne hergeben müssen – und Sie klagen hier wegen Pferden!« Er musterte Hackendahl noch einmal, sagte dann milder: »Also gehen Sie jetzt – altgedienter Mann Sie, und meckern!«
Hackendahl nahm die Hacken zusammen und ging. Der Appell an seine Militärzeit verfing noch immer. Er ging, Rabause zog mit den drei Pferden hinterher – noch nie hatte der Schimmel so trübselig ausgesehen.
Es war erst zu Hause, daß Hackendahl entdeckte, was die Militärverwaltung willens war, ihm für seine Pferde zu zahlen: Stück für Stück hundertfünfzig Mark, er aber hatte dem Eggebrecht fünf-, ja sechshundert Mark gezahlt!
Das sind ja Friedenspreise! dachte er und starrte auf die Zahlungsanweisung. Im Frieden kosteten solche Katzen nicht mehr ...!
Ja, dachte er, wenn sie uns etwas nehmen, dann haben wir Frieden. Wenn wir aber etwas hergeben sollen, dann ist Krieg.
Er saß lange – er dachte nach. Er änderte sich nicht, nein, das konnte er nicht mehr. Aber er gab sich einen Ruck, er war wirklich eisern. Er gab sich einen Ruck, er ging hinunter, er lohnte die Kutscher ab.
»Feierabend«, sagte er. »Schluß hier mit dem Betrieb!«
Kein Zucken, keine Schwäche. Das war einmal gewesen, auf dem Musterungsplatz, es war ihm zu unerwartet gekommen. Aber jetzt sollte ihn keiner mehr klagen hören – auch die zu Hause nicht. Wie es kam, wurde es gefressen.
»Hör zu, Rabause«, sagte er. »Von jetzt an fahre ich die eine Droschke, und du fährst die andere. Einen Gaul lassen wir immer stehen, einer von den drei Kröpels wird ja immer krank sein.«
Rabause sah ihn an. »Jawohll, Herr Chef«, sagte er. »Das mach ich. Wir werden schon Geld nach Haus bringen, nach dieser Musterung wird's kaum noch Droschken geben in Berlin.«
»Und«, sagte der Chef, »du hast damals ganz recht gehabt, der Stall ist zu groß. Aber bauen will ich nicht. Ich werde sehen, daß ich den Krempel hier verkaufe. Und dann richten wir uns irgendwo ganz klein ein, ist eigentlich auch ganz schön, Rabause, weißt du noch?«
»Und ob ich weiß, Herr Chef!« sagte Rabause. »Als die Kinder noch klein waren – das war 'ne Zeit!«
»Das war es«, bestätigte Hackendahl. »Na, vielleicht kriegen wir es noch einmal ähnlich wieder.«
Vielleicht ...
Gustav Hackendahl ist wieder zu dem Beruf seiner jüngeren Jahre zurückgekehrt, im blauen Kutschermantel, den weißgrauen, schweren Lackzylinder, Mutters Milchpott, auf dem Kopf, hält er an den Wartestellen.
Die anderen Kutscher, als sie Gustav Hackendahl zuerst hinter seinem kopfhängerischen Schimmel auftauchen sahen, riefen ihm zu: »Na, Justav, laß 'nen anderen ooch wat verdienen! Du willst woll mit Jewalt reich werden?«
Und untereinander meinten sie: »Dem fährt keiner jut jenug. Na, laß das Kind die Bulette. Es wird ihm schon leid werden mit Steckrüben im Bauch bei diesem Wetter!«
Allmählich aber, als sie ihn immer wieder sahen, bei jedem Wetter, nicht die schlechteste Fuhre ausschlagend, als es sich herumgesprochen hatte, daß er nur noch mit zwei Droschken fuhr, da sagten sie: »Und wie stand der Mann mal da! Aber allens, was recht ist: Er jibt nich nach! Der Justav is wirklich eisern!«
Gustav Hackendahl läßt sie reden. Er sitzt auf seinem Bock, er nimmt die große Veränderung in seinem Leben, den Abstieg von Wohlhabenheit zur täglichen Sorge um das tägliche Brot mit demselben Gleichmut hin, mit dem er das Wetter erträgt. Will ein Gast ganz nach Reinickendorf gefahren werden, so sagt er: »Jawoll, machen wir, Herr. Bloß unjeduldig dürfen Sie nicht werden!«
Und er läßt den Schimmel laufen. Er läßt ihn dazwischen auch Schritt gehen, der Fahrgast mag ruhig lamentieren, Gustav wird nicht ungeduldig.
»Wären Sie 'n Pferd jeworden, Herr, würden Sie bei dem Futter ooch nich loofen«, sagt er bloß. »Seien Sie froh, daß Sie den Wagen nicht ziehen müssen und der Schimmel sitzt drin. Es hätte auch so kommen können, Herr!«
Der Fahrgast lacht. Und ein lachender Fahrgast ist zufrieden. Gustav Hackendahl ist auch nicht unzufrieden, alles ist so, wie es ist. Er fügt sich in den Abstieg, er will wieder ein richtiger Droschkenkutscher werden. Als der Aufstieg kam, gab er sich Mühe, ein gutes Deutsch zu sprechen, er wollte seinen Kindern keine Schande machen. Aber jetzt fängt er an zu berlinern. Seine Fahrgäste hören das gern. Es muß eben alles seine Ordnung haben, auf Ordnung besteht er weiter, im Hause, bei Frau und Kindern, im Stall. Im Großen kann man sich fügen und nachgeben, im Kleinen muß es bei der Ordnung bleiben, die dem Leben Halt gibt.
So sitzt er auf seinem Bock und sieht vieles, ohne gesehen zu werden. Denn einen Droschkenkutscher auf seinem Bock sieht kein Städter, der Droschkenkutscher an seiner Haltestelle gehört zur Stadt Berlin wie die Litfaßsäule und die Gaslaterne.
Hackendahl sitzt oben, und unten sieht er Eva kommen. Eva müßte es besser wissen als die anderen Städter, denn sie hat einen Droschkenkutscher zum Vater. Aber Eva hält den Kopf gesenkt und sieht den Vater nicht. Sie sieht ja nicht einmal den jungen Mann mit dem bräunlichen Teint an, der so eifrig auf sie einredet.
Kopfhängerisch wie der Schimmel, denkt Hackendahl. Die hat auch ihren Knacks weg!
»Jühü!« sagt er zum Schimmel und schnalzt mit der Zunge. Der Schimmel zieht an, und sachte fährt die Droschke hinter den beiden her. Mal sieht Hackendahl den Jüngling nur von hinten, mal von der Seite. Der Schimmel ist ganz einverstanden, die Fahrt geht hübsch pomade. Hackendahl hat beim Alexanderplatz gehalten, jetzt geht der Spaziergang nach dem Schlesischen zu – nun, man wird ja sehen!
Äußerlich ist der Jüngling nicht übel anzusehen, das gibt Hackendahl zu. Er ist fein in Schale, und soweit er was vom Gesicht abkriegt, ist das auch nicht ohne. Aber im ganzen mißfällt dem alten Hackendahl dieser junge Mann höchlichst, denn einmal: Wieso läuft so ein Jüngling mit graden Knochen heute ohne Uniform in Berlin herum?! Und zum anderen hat der Junge so 'nen fetten Steiß ...
Das Pärchen geht immer ganz tutig nebeneinander. Jetzt die Lange Straße runter. Fiese Gegend für Liebespaare, denkt Hackendahl. Aber der Bruder ist ja auch fies.
In der Hauptsache redet der Jüngling, merkt Hackendahl, Evchen sagt fast nie was. Aber der junge Mann redet auch nicht viel, sondern latscht meist nur so nebenher: Viel Neues haben sich die auch nicht mehr zu erzählen, schließt Hackendahl. Einmal legt der junge Mann seine Hand sachte um Evchens Oberarm; das könnte nun Zärtlichkeit sein, aber aus dem Zusammenzucken Evchens schließt Hackendahl, daß es doch was anderes ist.
Warte du! denkt Gustav, und der Schimmel bekommt einen Schmitz mit der Peitsche, daß er zu traben anfängt. Er wird aber sofort wieder in Schritt hineingezügelt.
Nun haben sie schon ziemlich häufig die sattsam bekannten Schilder gehabt: »Pension oder Hotel Soundso, Zimmer von 1,50 Mark an, auch für Stunden!« Es ist nicht einzusehen, warum man die ganze lange Lange Straße hinunterläuft, bloß um in genauso einen Bums an ihrem Ende zu gehen, den man auch am Anfang hätte haben können. Aber die beiden machen es so. »Hotel Oriental« nennt sich der Laden, in dem sie verschwinden.
Na schön, Hackendahl hat es nicht eilig. Er zieht die Bremse an, vertauscht das Frei-Schild an der Taxe mit dem Bestellt-Schild, klettert vom Bock und hängt dem Schimmel seinen Futterbeutel vor, in dem neben viel schlechtem Häcksel auch wenig guter Mais ist aus dem Rumänien, das uns vor kurzem auch den Krieg erklärt hat. Er nimmt aus der Droschke eine Decke und hängt sie sich über den Arm – hat man einer Dame was nachzubringen, dann muß man auch was nachzubringen haben, das weiß sogar Nauke.
»Na, Mullecken«, sagt Hackendahl und zwinkert der Wirtin zu. »In welchem Zimmer sind denn die jungen Leute?«
»Junge Leute! Was wollen Sie denn überhaupt? Bei mir sind überhaupt keine jungen Leute!«
»Na, Mullecken«, sagt Hackendahl wieder. »Nu mach bloß keinen Heckmeck! Die jungen Leute, die ick eben mit meine Droschke bis hier jefahren habe.« Und da die Frau noch immer zögert, denn selbst in der Kriegszeit besannen sich Polizei und Richter anfallweise auf den Kuppeleiparagraphen: »Dies hat doch das Mächen bei mir in de Droschke vajessen!«
Und er klopfte auf die Decke, die im dunklen Entree nicht recht sichtbar war.
»Geben Sie her«, sagte die Alte. »Ich werd's ihr nachher selber geben.«
»Nee! Nee!« wehrte Hackendahl ab. »Det muß ick selber machen. Nachher heißt es bloß, ick weiß von nischt, mein Name ist Hase.«
Und die Alte einfach beiseite schiebend, ging er auf den Flur, sah musternd die Türen an ...
»Nicht da! Da doch!« zischte die Alte wütend. »Klopf wenigstens an, alter Dussel!«
Aber Hackendahl hatte die Tür schon geöffnet und trat ein. Flüchtig sah er die beiden Gestalten, aber er ließ sich Zeit. Bedachtsam schloß er die Tür von innen zu, probierte noch mal die Klinke und rief: »Sei doch stille, Mullecken! Ick bin ja nu drin! Wat schimpfste noch ...?«
Dann drehte er sich um. »Na, Evchen?« sagte er, und in seiner Stimme war nichts von Zorn zu spüren.
Sie sah ihn mit großen, weit offenen Augen an. Sie stand am Fußende des Bettes, ihr Mantel hing über einem Stuhl – sie stand da in ihrem Kleid. Einmal warf sie einen raschen Blick nach der Seite hin, wo am Nachtschränkchen der Kerl stand. Aber gleich sah sie wieder den Vater an.
Hackendahl setzte sich langsam in einen der rotsamtenen großen Sessel, legte die Decke über die Knie und strich sie mit der Hand glatt. »Schöne Sessel sind das«, sagte er nach einer Weile. »Nur besser müßte damit umgegangen werden.«
Keiner antwortete. Es war sehr lange still.
»Ja, Evchen«, sagte Hackendahl wieder. »Wenn du nicht anfangen willst, muß ich wohl anfangen. Oder willst du was sagen?«
»Ach, Vater ...«, sagte sie leise. Und nach einer Weile entschlossener: »Es hilft ja doch nichts, das Reden ...«
»Das sag nicht, Evchen, das sag man nur nicht. Reden hilft immer, reden tut immer gut ... Ich habe es ja schon lange vorgehabt, das weißt du auch, aber es hat immer nicht so gepaßt ... Na, Evchen ...?«
Sie machte eine Bewegung, aber sie besann sich und sagte nichts.
»Wenn man über 'ne Sache nicht reden mag, Evchen«, sagte Hackendahl, »dann ist immer was faul. Und daß bei dir nicht alles in Ordnung ist, das habe ich schon lange gemerkt. Da brauch ich nicht erst in den Puff hier raufzukommen, mit offener Tür und allem – das weiß ich schon so ...«
»Hören Se mal, oller Herr ...«, fing die freche Stimme des jungen Mannes an. (Genau so eine Stimme, wie sie zu so 'nem Fettsteiß paßte, fand Hackendahl.) »Sie kommen hierher un spucken jroße Bogen ...«
»Du hältst die Fresse, mein Junge!« sagte Hackendahl, ohne die Stimme zu erheben und ohne den Kerl anzusehen. »Ich rede hier mit meinem Mädchen, und da hast du dein Maul nicht reinzuhängen. – Aber höre mal, Evchen«, sagte er, und ohne daß er lauter oder leiser sprach, hatte seine Stimme wieder einen anderen Klang. »Was sollen wir von all dem Zeugs reden? Da hast du wirklich recht. Vorbei ist vorbei. Aber nun paßt es grade mal so, ich halte unten mit meiner Droschke, und nu kommste mit mir. Ich fahre dich fein erster Güte und ganz für umsonst nach Hause ...«
Das Mädchen hatte keine Bewegung gemacht, aber doch war es Hackendahl, als habe sie blitzschnell zu dem Mann hingesehen.
»Nach dem Kerl mußt du nicht hinsehen, Evchen«, sagte er. »An den Kerl mußt du gar nicht mehr denken. Wer mit 'nem anständigen Mädchen in so 'nen Puff geht und am hellerlichten Tage dazu, um den muß man sich nicht kümmern. Und du bist ein anständiges Mädchen, Evchen, meine Kinder sind anständige Kinder, alle, das weißt du doch!«
Er wäre jetzt froh gewesen, wenn der Kerl in der Ecke was gemeckert hätte, er hätte ihn gerne in die Fresse geschlagen! Aber der Kerl war genau so, wie so ein dickärschiger Lude ist: Er wußte, wenn's donnert. Er verzog nicht das Maul! Und Evchen, sein Evchen, seine Lieblingstochter stand immer noch ohne Bewegung da!
»Na, mach, Mädchen«, sagte er zuredend. »Zieh deinen Mantel an und komm!«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät, Vater!« sagte sie.
»Zu spät!« Er versuchte zu lachen. »Sag doch bloß so was nicht, Evchen! Wie alt bist du? Zwanzig Jahre bist du! Da gibt's noch kein zu spät. Das solltest du doch von deinem Vater wissen: Nur eisern muß man sein.«
»Es geht nicht, Vater«, sagte sie. »Ich kann nicht mehr ... Er« – sie machte eine Kopfbewegung –, »er kann mich jeden Tag ins Kittchen bringen. Ich hab geklaut, Vater ...«
Der alte Hackendahl wurde erst sehr rot, dann langsam grau. Er wollte aufstehen, nach dem jungen Mann hinübergehen, aber es blieb bei dem Versuch, er blieb im Sessel sitzen.
Nach einer Weile sagte er dann, ein wenig mühsam: »Nun gut, Evchen, dann haste eben geklaut. Ick hätt's nich jedacht, daß mal eins von meinen Kindern sagen würde: ›Ick hab geklaut, Vater‹, und ick bleib sitzen. Aber es sind andere Zeiten, es ist wirklich Krieg – ick versteh es nich, Evchen, innen versteh ick es nich. Es müssen wirklich andere Zeiten sin, und ick muß auch anders jeworden sin ...«
Er sah sie fast ratlos an.
Dann begann er wieder: »Nun gut, hier sitz ich also und sag: Du hast geklaut, Evchen. Da fahren wir nu eben nich nach Hause, da fahren wir zusammen auf de Wache ... Ich steh dir bei, Evchen, da sagste selbst, was der Kerl von dir weiß. Und nu jut – nu laß man – dann jehste eben deine Zeit ins Kittchen ...«
Es wurde ihm doch fast zuviel, aber nach einer Weile besann er sich wieder und sagte: »Ick hätte es nich von mir jedacht, det ick so reden würde. Aber ick rede dir nich zu Munde, Mächen, wenn ick dir sage: Auch ein anständiger Mensch kann mal in't Kittchen kommen. Auch ein anständiger Mensch kann mal schwach jewesen sein. Er kann auch Unglück haben. – Der Kerl da«, er zeigte, »der is dein Unglück. Du kannst auch wieder anständig sein, Evchen!«
Sie hatte immer auf seinen Mund gesehen. Nun fragte sie: »Und dann, Vater, wenn das hinter mir liegt, mit Gefängnis und allem – was wird dann?«
»Na, denn kommste wieder zu uns, Evchen!« rief er. »Wat denkst du, wat du uns fehlst! Det is doch nich unsere Eva, die sich jetzt rumdrückt, die keinen Piep tut – und sonst haste so schön jesungen! Nee, Mächen, denn wird alles wieder, wie't war ...«
»Nie!« sagte sie und schüttelte den Kopf. »Jetzt ist es zu spät, jetzt steck ich zu tief drin ...«
»Sag doch bloß nich immer: zu spät, Evchen. Du bist zwanzig Jahre ...«
»Und dann bei euch! Ich kenn dich doch, Vater, du kannst doch gar nicht richtig vergeben und vergessen. Mich würdest du immer von der Seite angucken, in zwanzig Jahren noch!«
»Sag das nich, Evchen, ick hab auch das von Erich vergessen ...«
»Siehste, Vater! Gleich denkst du an Erich. Hast gedacht – der Sohn klaut, warum soll die Tochter nicht auch klauen?! Nichts kannst du vergessen!«
»Du sagst mir Sachen, Eva!« rief Hackendahl. »Nischt weißt du von mir! Bin ick nich nett jetzt eben zu dir jewesen, habe ick ein Wort von Vorwurf jesagt?«
»Siehst du! Gleich schmeißt du es mir vor! Nee, Vater, und was soll ich denn bei euch? Da so rumnuscheln in der Wohnung, die Betten machen und das Essen kochen? Nee, das mach ich nun auch nicht mehr! Futsch ist futsch und hin ist hin – das wären ja alles bloß halbe Sachen!«
»Besinn dich, Evchen. Anständige Arbeit ist immer gut.«
»Aber ich bin bei deiner anständigen Arbeit so geworden, wie ich jetzt bin! Glaubst du, der Eugen hätte mich so leicht gekriegt, wenn ich nicht bei euch so geworden wäre? Anständige Arbeit, jawohl, immer Pflicht und Gehorsam und Pünktlichkeit – aber das war ja alles gar nicht wahr, Vater!«
»Doch, doch. Mächen! Det sage nich! Ick habe anständig jearbeitet ...«
»Und was hast du jetzt davon? Auf dem Bock sitzt du wie vor zwanzig Jahren, aber der Gaul, den du vor dir hattest, der war vor zwanzig Jahren besser! Und was noch kommt, das weißt du auch nicht. Alles hast du noch nicht hinter dir ...«
»Nee, Evchen, det habe ick wirklich noch nich, da haste recht. Det ick 'ne Tochter haben würde, dir mir sacht, ins Jesicht sacht, sie is lieber im Puff beim Luden als bei Vatern un Muttern – det hab ick nich jejlaubt!«
Er stand jetzt, er stand schon eine ganze Weile. Nun legte er die Decke wieder über seinen Arm, strich sie glatt. »Aber, Evchen«, sagte er, »det ick nu den Schlummervater von deinem Luden abjeben tue, det darfste nu auch nich von mir verlangen. Es is besser, du ziehst janz zu ihm. Hol dir deine Sachen – und denn«, plötzlich brüllte er nun doch, »hau ab! Hau ab!«
Er sah die Zusammenschreckende zornig an, ging zur Tür, schloß auf.
Er sah noch einmal zurück. Der Kerl stand ihm jetzt eigentlich schön handgerecht, aber der Kerl war ihm ganz egal.
»Det du diese Stunde bloß nich mal bereuen tust, Evchen«, sagte er, schüttelte den Kopf und ging.
Kaum hatte der Vater die Tür zugemacht, tat natürlich Eugen den Mund auf. Der Vater hatte ihn richtig eingeschätzt, so war er: grausam bei den Schwachen, aber kriechend feige, aber schlau feige bei den Starken. Eva hatte es nicht anders erwartet, aber doch tat es ihr weh, als Eugen fast in das Klappen der Tür hinein sagte: »Wie dein Oller sich so was denkt! Zum Zusammenziehen jehören doch zweie. Einer, der zieht, und einer, zu dem jezogen wird.«
Sie sagte nichts.
»Du«, rief er drohend. »Haste nich jehört, wat ick jesacht habe?!«
»Doch!« antwortete sie.
»Antworten sollste! Haste jedacht, ick bin der, zu dem jezogen wird?«
»Vater hat es gedacht.«
»So? Vater hat es gedacht? Hat denn dein Vater mir was zu sagen? Nu?«
Er faßte und schüttelte sie.
»Eugen!« bat sie. »Sei doch nicht so! Ich kann doch nicht für das, was Vater gesagt hat. Ich habe ihm doch auch Bescheid gesagt, ich habe ihm gesagt, daß ich nicht wieder zu ihm will.«
»Und wat willste?« rief er und schüttelte sie wütend. »Willste zu mir?«
»Ich will, was du willst, Eugen!«
»Bescheid haste ihm jesacht?« Wieder das wütende Schütteln. »Haste ihm mit einem Ton jesacht, det ick nich dein Lude bin? Haste det jesacht? Heh?«
»Nein, Eugen!«
»Bloß von dir haste jeredet, det et dir weh tut, det haste jesacht. Heh, du, bin ick schon dein Lude jewesen?«
»Nein, Eugen!«
»Warum hastes ihm denn nich jesacht?«
Schweigen.
Neues Schütteln. »Ick frag dir wat! Antworten sollste!«
»Ich weiß doch nich, Eugen ...«
»Det möchste wohl, det ick dein Lude bin ...?«
»Nein! O nein!«
»Aber du hast jesacht, du willst, wat ick will. Un nu will ick, det du for mir uff'n Strich jehst, vastanden?«
»Nein!« bat sie flehend. »Verlang das nicht. Bitte, Eugen, ich will alles tun, was du willst, aber das verlang nicht von mir ...«
»Du willst allet tun, wat ick will? Aber jar nischt tust du von dem, wat ick will. Zu nischt haste Talent! Wie ick dir kennenlernte, habe ick wunder wat jedacht, wat mit dir aufzustellen ist. Aber zu nischt biste zu jebrauchen, ne zippe Bürgerstochter biste und bleibste!«
Er sah sie wütend an.
»Da hat er jesessen, dein Oller!« rief er wieder. »Ein frechet Aas is er! Und der sagt: zu mir ziehn! Kommt ja jar nich in Frage! Ick werd dir schon 'ne Wohnung jeben, aber nich bei mir. Det ick immer deine verheulte Visage vor mir habe! Kommt überhaupt nich in Frage! Hier jibt's jenug, die an so'ne vermieten. – Frau Pauli!«
»Ich tu es nicht, Eugen! Du kannst machen, was du willst. Das tu ich nicht!«
»Jotte doch, Herr Bast«, sagte Frau Pauli. »Wat machen Se bloß heute for'n Krach! Det Fürstenzimmer nebenan is doch besetzt, wat solln die Leute denn denken? Un jrade Sie, der immer so'n feiner Mann is, Herr Bast! – Det is wohl von dem Droschkenkutscher jekommen?«
»Droschkenkutscher? Ihr Vater war det! Und stellen Se sich vor, Frau Pauli, sie läßt mir von ihrem Ollen Lude schimpfen un sagt keinen Pieps dajejen!«
»Det is nich recht von Ihnen, Frollein, det müssen Se doch wissen, det Herr Bast ein feiner Mann und ein Kavalier is.«
»Die? Wat die schon weeß!« sagte Eugen Bast verächtlich. »Wie'n kranket Huhn rumstehn, det weeß se. Aber sie soll sehen, wat ick bin! Wenn se't so haben will, kann se't so haben, von mir aus! Hat die olle Pirzlau Zimmer frei ...?«
»Warten Se mal, Herr Bast. Lassen Se mir mal überlejen. Da is jetzt det Fräulein Koko un die Mimi mit de Rüschen und die Lemke – ein Zimmer is, jloob ick, frei. Aber, Herr Bast, det wissen Se doch, die Pirzlau is jenau in't Jeschäft, anjemeldet müssen ihre Mächen det Jewerbe haben un'n Schein von der Sitte – und alle Wochen hin zum Onkel Dokter ...«
»Na und? Na und, Frau Pauli? Jlooben Sie, det tut die Eva nich? Det tut die Eva allens, da soll die Pirzlauen keine Schwierigkeiten von haben, wat, Evchen?«
»Ich tue es nicht, Eugen«, sagte sie. »Eher gehe ich ins Wasser.«
»Versündigen Sie sich man bloß nich, Frollein ...«, rief die Pauli.
Aber Eugen hatte sie schon bei den Schultern. »Jehn Sie raus, Frau Pauli!« rief er und schob sie aus der Tür. »Det machen wir hier alleene ab, von in't Wasser jehn und so. – Nee, ick mach keenen Krach, ick mach allens janz sachte, so bin ick jar nich, ich schlag doch kein Mädel, wat, Evchen?«
Er hatte die Pauli aus der Tür geschoben, und nun waren sie allein. Nein, es gibt wirklich keinen Krach – so ein bißchen Weiberschluchzen und Weinen, das rechnet man ja in solch einem Hause nicht. Sonst wird nichts hörbar – nichts, nein.
Es war der Eva, als gerate sie weiter und immer weiter hinein in einen qualvollen Traum, aus dem man doch aufwachen mußte und nicht aufwachen konnte – immer schwärzer, immer trostloser. Der Weg über die Straße, die Verhandlungen mit Frau Pirzlau, die anderen Mädel, die es wie einen Witz auffaßten, denen die Neue Laune machte und die sie lachend ausstaffierten.
Und dann das Stehen an der Ecke von der Langen und der Andreasstraße. Das qualvolle Stehen dort mit dem Wissen: Sein Auge bewacht sie. Es hatte zu schneien angefangen, nasser Schlackerschnee, die Männer hatten es eilig. Alle hatten es eilig, sie liefen schnell an ihr vorüber, die so lächerlich ausstaffiert war, mit einer grün gefärbten Federboa und einem großen Hut mit Straußenfedern ...
Und dann sein Pfiff aus dem Torgang, der kurze, scharfe Ludenpfiff, wie auf einem Schlüssel gepfiffen, wenn sie einen Mann ansprechen sollte, der ihm in Ordnung schien. – Und wie er plötzlich bei ihr war und sie schlug, weil sie ihn doch nicht angesprochen hatte. – Und wie er das nächstemal wieder schlug, als sie ihn erfolglos angesprochen hatte. – Und wie sie einen schwachen Versuch machte fortzulaufen, und wie er sie zurückholte und ihr mit einem Unterweltgriff fast den Arm zerbrochen hätte ...
Und wie sie schließlich doch Erfolg hatte und hinaufging mit einem Mann, und wie die Mädchen die Köpfe aus allen Türen steckten und ihr aufmunternd und anerkennend zunickten! Und wie ekelhaft und gemein die Welt war, und wie alles, alles Lüge gewesen war von Sauberkeit und Reinheit, was man je gehört hatte.
Und wie sie gleich wieder hinunter mußte an ihre Ecke ...
Und wie sie am Abend Streit bekam mit einem anderen Mädchen, das diese Ecke für sich beanspruchte, und wie Eugen nun das andere Mädchen schlug ... Und wie gleichgültig die Leute an so etwas vorüberliefen, und wie das Leben immer weiterging, und gar nichts war eigentlich geschehen und geändert ...
Und wie das andere Mädchen wiederkam mit einem Kerl – es war schon dunkel –, und Eugen kriegte nun mit dem anderen Kerl Streit ... Und sie ging langsam, langsam um die Ecke ...
Als sie aber um die Ecke war, lief sie los, sie lief weiter, immer weiter, in die Stadt hinein ... Sie eilte, sie mußte schnell machen, er konnte ihr nachkommen. – Und sie ging, in ihrer auffallenden Pracht, an hundert Schutzleuten und fünfzehn Sittenpolizisten vorüber, aber keiner sah sie, denn sie hatte ein Ziel ...
Dann kam sie in den dunklen Tiergarten, und hier warf sie erst einmal den Federhut und die Federboa hinter einen Busch. Leichter ging sie weiter, sie ging eilig durch die Bendlerstraße und kam an das Königin-Augusta-Ufer. Hier war es still, hier war sie am Ziel.
Sie setzte sich auf eine der nassen Bänke unter eine kahle Kastanie. Was so ein Lied tut, ein Schlager! Sie hätte es so nahe gehabt von der Langen Straße zur Spree, nur fünf Minuten hätte sie bis zur Spree zu laufen gehabt. Aber es hatte ihr schon den ganzen Nachmittag im Ohre geklungen, dieses: »Es schwimmt eine Leiche im Landwehrkanal ...«
Es klang ihr nicht schauerlich, es klang ihr irgendwie vertraut, es war ja alles gar nicht so schlimm: Es schwimmt eine Leiche im Landwehrkanal. Es kam hundertmal vor, man sang davon und lachte darüber. Es war nicht schlimm, es gehörte kaum ein bißchen Mut dazu ...
Darum ist sie bis hier gelaufen, dies ist ja der richtige Landwehrkanal. Hiervon wird gesungen ...
Sie sitzt, sie sitzt sehr lange. Endlich steht sie auf – schon das Aufstehen ist nicht leicht. Es ist ein Widerstreben in ihr, da es nun endgültig soweit sein soll. Dies Widerstreben wächst, als sie in den dunklen Schacht hinabsteigt, in dem es so grausig leise plätschert, als schwömmen dort Ratten. Ach, es ist ja egal, ob dort Ratten schwimmen, es ist einer Toten egal. Aber sie steigt immer langsamer; doch, so langsam sie auch steigt, schließlich kommt die letzte Stufe.
Sie steht auf der kleinen gemauerten Plattform, das Wasser ist hoch, es ist kaum eine Handbreit unter ihren Füßen. Sie beugt sich darüber. Sie sieht es nicht, das Wasser. Sie sieht nur ein paar Lichtreflexe von der Brücke her darin blinken. Jetzt sich fallen lassen, denkt sie.
Aber sie läßt sich nicht fallen. Angstvoll reißt sie ihren Oberkörper vor dem Dunklen, das da unten leise gurgelt, zurück. Sie steht lange da, sie wartet, aber nichts geschieht.
Manchmal gehen Menschen oben über die Brücke, aber keiner sieht sie, keiner ruft: Halt, Hilfe! Sie will sich ertränken! Und solch ein Ruf würde ihr vielleicht doch die Kraft geben, den Sprung zu tun, vor dem sie Furcht hat. Ihn zu tun, mit der Hoffnung, gerettet zu werden.
Als sie nach langem Warten schließlich doch vorsichtig einen Fuß in das Wasser taucht, als sie die eisige Feuchte in den Schuh dringen fühlt – ist schon alles entschieden: Sie wird es nicht tun.
Langsam steigt sie die Stufen wieder hinauf. Langsam macht sie sich auf den Weg, sie weiß nicht, wohin. Vorher ging sie eilig, sie war fast froh. Sie ging aus dem Leben, alles war ihr abgenommen.
Mit dem Traum ist es jetzt vorbei. Jetzt geht sie schwer zurück, alles ist wieder da – das Leben geht weiter. Es gab kein Aufhören für sie. Lange ging sie durch den dunklen Tiergarten, durch die dunkle Stadt. Erst, als der Morgen nahe war, wagte sie sich in bekanntere Gegenden. Jetzt würde er schlafen. Schließlich schlich sie die Treppe zum Heim der Gertrud Gudde hinauf. Von der Gudde wußte er nichts. Vielleicht durfte sie hier in Frieden bleiben.
Sie durfte es.
Während Gertrud Gudde der Eva gut zuredete, die halb Erstarrte auszog und in ihr fast noch warmes Bett legte –, während bei Eva Hackendahl alle Verzweiflung sich in einem fassungslosen Weinen löste, das allmählich leiser wurde, bis sie zu erzählen anfing –, während die beiden Frauen berieten, wie das gemeinsame Leben einzurichten sei, mit Ummeldung und Sachenholen und Lebensmittelkarten und Arbeit –, während alledem lag der Unteroffizier Otto Hackendahl in einem Granattrichter zwischen den deutschen und den französischen Stellungen und wartete bereits seit dem Morgengrauen sehnsüchtig darauf, daß es Abend wurde. Der Granattrichter lag recht nahe an den französischen Stellungen, kaum dreißig Meter entfernt. Gottlob aber war er so tief, daß direkte Einsicht nicht zu fürchten war. Die deutschen Gräben lagen weiter entfernt, an die hundertzwanzig Meter, und das war schlimm, denn nach den deutschen Stellungen wollte er wieder zurück, und vor Nacht war das nicht zu machen.
Wenn es ein Trost war, so war es ein Trost, daß Otto Hackendahl nicht allein in diesem Trichter lag. Ganz auf seinem Grunde lag ein zweiter Mann: der Leutnant von Ramin. Otto kannte den Leutnant von Ramin nicht weiter, sie hatten sich erst im Granattrichter kennengelernt. Der Leutnant war von einer Bereitschaftskompanie, die den Sturmangriff aus den Gräben zu unterstützen gehabt hatte. Dieser Sturmangriff war abgeschlagen, der Leutnant und Otto hatten sich gerade noch, um der Gefangenschaft zu entgehen, in den Granattrichter retten können. Dann war das höllische Feuer losgebrochen und hatte jede Rückkehr in die eigenen Stellungen unmöglich gemacht. Und nun war der Tag gekommen ...
Es war ein eisig kalter Tag, der Himmel hing tief, mit grauen Wolken. Gottlob, dachte Otto. Wenigstens kein Fliegerwetter.
Er lag da und sah in den Himmel, gerade das Innere des Trichters und den Himmel konnte er sehen. Aus dem Trichter hinauszuschauen war nicht ratsam, sie schossen ziemlich lebhaft in beiden Gräben. Ab und an hörte er ein Kommando aus der nahen französischen Stellung. Einmal lachte auch einer. Die haben gut lachen, dachte Otto verfroren. Mir ist verdammt kalt. Und bis zum Abend werde ich noch mehr frieren.
Um sich abzulenken, fing er an, auf die mit dem Morgen erwachende Feuertätigkeit zu lauschen. Langsam kam die Artillerie in Gang – nun gab es in der Ferne einen schweren Schlag. – Unsere Mörser legen los, dachte er. Dann waren wieder nur die Feldgeschütze zu hören, aber sie kamen vorläufig nicht hierher. Heute kann man nur wünschen, daß wir die Franzosen hier ein bißchen in Ruhe lassen. Wir sitzen richtig in der Mausefalle, der Leutnant und ich ...!
Er sah zu dem Leutnant hin. Der Leutnant lag zusammengerollt im Grunde des Trichters und las in alten Briefen. Als er Ottos Blick spürte, hob er den Kopf und fragte: »Nun, Unteroffizier, an was denken Sie?«
Der Leutnant hatte ein helles, sehr klares Gesicht. Auch seine Art zu sprechen war Otto angenehm.
»Ich denke, Herr Leutnant«, antwortete er, »daß es ganz gut wäre, wenn der Graben da heute keinen Dunst kriegte.«
»Ich glaube nicht, daß es heute hier viel geben wird«, meinte der Leutnant. »Erst einmal haben beide von der Nacht die Nase voll.« Er sah den Unteroffizier an und fragte dann plötzlich viel lebhafter: »Ist Ihnen auch so verdammt kalt?«
»Elend!« sagte der Unteroffizier. »Meine Stiefel sind sauschlecht, ich habe seit Wochen keine trockenen Füße mehr gehabt.«
»Meine Füße sind auch Eis, trotzdem ich heile Stiefel habe«, sagte der Leutnant. »Haben Sie eigentlich was zu trinken da, Unteroffizier?«
»Doch, Herr Leutnant. Meine Feldflasche ist noch gut halb voll Kirschwasser. Aber ich habe gemeint, wir sparen es uns lieber für später auf – vor Nacht kommen wir hier doch nicht weg. Da ist eine kleine Auffrischung ganz gut.«
»Vor Nacht!« sagte der Leutnant. »Sie haben doch gesehen, wie hell der Mond ist. Und dann die verdammten Leuchtkugeln! Es ist noch gar nicht gesagt, daß wir heute nacht schon wegkommen!«
»Eigentlich sieht es nach Schnee aus«, meinte Otto hoffnungsvoll.
»Nach Schnee!« rief der Leutnant verächtlich. »Nach Schnee sieht es schon seit Tagen aus! Aber wer weiß, wann es in diesem verdammten Winter wirklich schneit. – Nein, nein, Unteroffizier, richten Sie sich mit Ihrem Kirschwasser ruhig auf länger ein. Mit mir brauchen Sie nicht zu rechnen, ich habe Obstschnaps da.«
»Jawohl, Herr Leutnant«, antwortete Otto. »Der wärmt auch gut.«
Beide schwiegen eine lange Zeit. Otto hörte auf das Geräusch der Kanonade, er versuchte, die Kaliber zu erraten, die Flugbahn, die Stellung der Geschütze. War man nervös oder ängstlich, so beruhigte nichts so sehr wie das. Man zwang das Ohr zu angestrengtestem Horchen und vergaß darüber fast ganz die Angst um das eigene Ich. Dazwischen hörte er ab und zu reden im französischen Graben, sie schienen da trotz des nächtlichen Sturmangriffes ganz guten Mutes.
»So ein Schwein!« sagte plötzlich der Leutnant von Ramin ganz laut. »Haben Sie das eben gehört, Unteroffizier? Da hat einer heißen Kaffee! So'ne verdammte Schweinerei, uns das noch zu erzählen!«
»Wir haben uns im Graben um diese Zeit auch immer Kaffee gekocht«, sagte Otto.
»Jawohl«, meinte der Leutnant, fast lachend. »Wenn man im Graben lag, schimpfte man auf die Grabenstellung und lauerte nur darauf, daß man zurückgenommen wurde. Und jetzt sehnen wir uns beide herzlich nach dem nassen, verlausten Unterstand im Graben.«
»Man weiß eben immer erst«, stimmte Otto zu, »wie gut man's hatte, wenn man's schlechter bekommt.«
»Richtig«, rief der Leutnant. »Aber wir wollen lieber sagen: Und wenn man noch so schlimm im Dreck steckt, man kann immer noch in eine schlimmere Scheiße geraten. – Wie lange sind Sie schon dabei, Unteroffizier?«
»Von Anfang an. Vom ersten Tage an, Herr Leutnant.«
»Mensch!« rief der Leutnant. »Haben Sie's gut gehabt! Sie haben noch die erste Begeisterung, noch den Vormarsch erlebt! Ich bin gleich von der Penne weg in den Graben gekommen, in die elenden Schlammgräben in der Lause-Champagne – waren Sie auch mal da, Unteroffizier?«
»Jawohl, beim Dormoisetal, Herr Leutnant.«
»Mensch, da haben wir ja auch gelegen! Na, da können Sie sich ja ausmalen, wie einem ganz jungen Burschen zumute war, direkt von der Schulbank fort mit all der Begeisterung und hochfliegenden Ideen. Und dann rein in Schlamm und Dreck und Läuse! Und die Leute so finster und verzweifelt und gereizt ...«
»Jawohl. Es gab Tage, wo man jeden hätte umbringen können, bloß weil er hustete.«
»Hustete!« rief der Leutnant grimmig. »Bloß weil er auf der Welt war, hätte man ihn totschlagen mögen! Ja, Mann, das war eine Zeit!«
Er brach ab, er sagte finster: »Übrigens ist es jetzt auch nicht besser!«
»Herr Leutnant sehen aber noch ganz hell und freundlich aus.«
»Ja, so sehe ich aus«, antwortete der Leutnant gleichgültig. »Ich will Ihnen was sagen, Unteroffizier! Im Herbst, im September und Oktober, ist mein Regiment über zwanzigmal in demselben kleinen Grabenabschnitt eingesetzt worden. ›Fauler Blinddarm‹ nannten wir das Dings, und es taugte wirklich nichts, oberfaul stank es darin. Es war so ein Grabenrest von früher her, von unseren aufgegebenen Stellungen. Er war nichts mehr nütze, aber die oben hatten ihn auf ihren Karten. Der Graben taugte wirklich nichts, er hatte nicht einmal ordentliche Unterstände, er war nicht tief genug. Fast jeden Tag wurde er zusammengeschossen. Aber Tag für Tag haben wir wieder in den Graben gemußt, Hunderte von Menschen hat er uns gekostet – und schließlich ist er doch aufgegeben worden, und es ist auch ohne ihn gegangen. Aber warum dann alle Opfer?«
Hackendahl blinzelte. »Ja, wenn Herr Leutnant nach dem Sinn fragen ...«, sagte er dann langsam. »Man tut, was befohlen wird. Zuviel soll man nicht nachdenken. Das macht alles bloß schwerer.«
»Nein, nein!« sagte der Leutnant hastig. »Sehen Sie, Unteroffizier – wie heißen Sie übrigens? Hackendahl – also, hören Sie, Hackendahl, Sie werden ja anders aufgewachsen sein als ich, aber im Grunde wird es überall das gleiche gewesen sein: Haben Sie was gehabt, was Sie lieben und verehren konnten? Überlegen Sie mal! Einen wirklich großen Menschen, den Sie gekannt, von dem Sie nur gehört haben – der nicht an sich gedacht hat, der nicht eitel war? Sehen Sie, Sie wissen auch keinen. Früher, ja, da sollen solche Menschen mal gelebt haben, aber jetzt doch nicht! Alles, was wir glauben, was wir anbeten sollten, das war tot, das war vergangen, das lebte nicht mehr ...«
Der Leutnant sah nach Hackendahl hinüber, er sah ihn gar nicht, er sagte: »Aber wenn man jung ist, muß man etwas lieben und verehren können, man muß auch etwas haben, für das sich zu opfern lohnt. Wenn man jung ist, mag man nicht nur für sein Fressen und Auskommen leben. Man will mehr – man will was ganz anderes!«
Wieder schwieg er. Hackendahl sah aufmerksam in das helle Gesicht, das jetzt zuckte. Er hatte den Leutnant bewundert in seiner selbstverständlichen Art, nun sah er, daß der Leutnant auch seine Sorgen hatte, und eigentlich keine anderen ...
»Als dann der Krieg kam, als Deutschland in Not war, als wir alle zusammenstanden, da glaubten wir, wir hätten diese Idee. Wie begeistert waren wir, wie glücklich sind wir in die Gräben gegangen: Wir hatten ja etwas, für das sich zu sterben lohnte. Und da – plötzlich – alles grau, finster, verbissen ... So etwas wie dieser kleine Grabenabschnitt, für den nutzlos Opfer über Opfer gebracht wurden! Nutzlos – nutzlose Opfer wollten wir nicht bringen! Wenn das Ganze einen Sinn hat, muß doch auch der Teil einen Sinn haben, das meinen Sie doch auch?«
»Ich verstehe nicht viel davon«, sagte Otto. »Ich war glücklich, daß ich eine Aufgabe hatte. Vorher hatte ich keine ...«
»Sehen Sie, wie bei mir! Aber die Aufgabe muß doch einen Sinn haben? Wie? Das muß sie doch!«
»Ich weiß nicht, Herr Leutnant, ich habe über so etwas nicht nachgedacht. Aber ich könnte mir denken – wenn wir im Feuer liegen, und das Telefonkabel ist gerissen – und der Offizier sagt, es muß eine Meldung nach hinten. Dann nehme ich den Umschlag mit der Meldung und sehe, daß ich sie nach hinten bringe. Ich weiß auch nicht, ob die Meldung wirklich wichtig ist ...«
»Ja«, sagte der Leutnant nach einer Weile, »das war nicht dumm, Unteroffizier. So kann man es auch sehen!«
Er schwieg lange, im Osten wie im Westen grollten jetzt unaufhörlich die Geschütze. Aber bei ihnen war es noch immer still, kaum daß einmal eine Gewehrkugel über sie fort pfiff oder ein Maschinengewehr zu tacken anfing. Es verstummte aber bald wieder.
»Und doch!« sagte der Leutnant nach einer Weile wieder bedenklich. »Nur ein dunkler Bote sein? Wir hatten es uns anders gedacht!«
Er grübelte, dann sagte er lebhafter: »Und ein Bote an wen? Wir hier wissen alle Bescheid – aber die da hinten in der Heimat? Sind Sie mal auf Urlaub gewesen – aber natürlich sind Sie schon auf Urlaub gewesen, wo Sie seit Anfang dabei sind! Erinnern Sie sich an die verlegenen, gerührten Gesichter? Erinnern Sie sich daran, wie man immer erzählen soll vom Krieg? Und wie sie ratlos werden, wenn man nichts erzählen kann als von Dreck und Frieren und Kohldampf? Sie möchten so Heldenstücklein hören! Ja, Heldenstücklein ... Und wie sie ganz verlegen werden, wenn sie merken, wie schwer einem das Rausgehen wird? Wie sie Angst kriegen, daß der geliebte und bewunderte Sohn und Bruder ein Feigling sein könnte? Wie sie einem Mut einreden wollen? Ach, Unteroffizier, die Leute in der Heimat haben ja keine Ahnung, um was es geht!«
»Und um was geht es, wenn ich fragen darf, Herr Leutnant?«
»Aber doch um uns selbst! Um uns Junge, denn wir allein sind doch Deutschland! Daß wir wieder einen Sinn in unserem Leben finden, daß uns das Leben wieder lebenswert erscheint – darum geht es doch! Darum geht es doch, Unteroffizier, doch nur um Sie und um mich! Und das wissen Sie auch ganz genau, und wenn Sie es nicht wissen, dann fühlen Sie es!«
»Doch, daß es auch mich angeht, das habe ich schon gefühlt, Herr Leutnant. Aber ich habe nicht gedacht, daß ich weiter wichtig wäre. Ich habe oft gewissermaßen ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ich soviel an mich selbst dachte.«
»Da brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben, Unteroffizier. Daß der Mensch an sich selber denkt, das ist nur natürlich. Er muß nur nicht bloß an sich denken.«
Der Leutnant schwieg. Er klapperte jetzt mit den Zähnen, es war sehr kalt. In dem verdammten Loch konnte man sich nicht die geringste Bewegung machen, sonst hatten sie einen gleich spitz und schmissen eine Handgranate hinein.
»Unteroffizier!« sagte der Leutnant.
»Jawohl?« fragte Hackendahl.
»Es ist saukalt.«
»Jawohl, Herr Leutnant.«
Der Leutnant sah nach der Uhr. »Immerhin schon nach elf. Noch sechs Stunden – und es ist dunkel, und wir können zurück. Das ist auszuhalten.«
»Bestimmt«, sagte Hackendahl.
Vom Mond und den Leuchtkugeln redeten beide nicht mehr. Sie mußten diese Nacht zurück.
Der Leutnant brach eine Tafel Schokolade in der Mitte durch, reichte Otto die Hälfte. »Da, das ist noch Urlaubsschokolade, die haben sie mir noch ganz zuletzt als höchste Kostbarkeit überreicht. Ich finde, sie machen ein bißchen viel Wesens daheim von ihren Kohlrüben. Na, Schwamm drüber. – Ich war nämlich jetzt grade auf Urlaub, ich bin noch nicht ganz wieder hier eingewöhnt. – Wann waren Sie das letztemal auf Urlaub?«
»Noch gar nicht.«
»Was heißt: noch gar nicht? Sie meinen, hier aus der Stellung noch nicht? Wenn Sie seit Kriegsanfang draußen sind, müssen Sie doch schon zwei- oder dreimal auf Urlaub gewesen sein!«
»Nein, ich war noch gar nicht auf Urlaub.«
»Aber, Mensch, das ist doch nicht möglich!«
Der Leutnant richtete sich so plötzlich auf, daß Hackendahl ihm den Kopf mit der Hand herunterdrückte und warnend sagte: »Achtung, Herr Leutnant!«
»Ja so ...« Und wieder: »Das gibt es ja gar nicht, seit über zwei Jahren im Feld – und immer hier im Westen, nicht wahr?«
Otto nickte.
»Also, das gibt es nicht! Da muß doch was vorgekommen sein.« Er sah sich den Mann an. »Aber nein, Kreuz und zum Unteroffizier befördert – da kann doch auch nichts vorgekommen sein.«
»Es ist auch nichts vorgekommen«, sagte Otto. »Es hat sich einfach nicht gemacht.«
»Nein, nein!« Der Leutnant dachte nach. »Warten Sie«, sagte er dann. »Wie hießen Sie doch?«
»Hackendahl.«
»Richtig! Hackendahl – deswegen kam mir der Name vorhin so bekannt vor. Ich habe von Ihnen gehört. Man erzählt sich von Ihnen ...«
Er brach ab und sah Otto fast verlegen an. Otto erwiderte den Blick mit einem schwachen Lächeln.
»Ich weiß schon, was man sich erzählt«, sagte er. »Da ist ein Kerl bei der Fünften, der will partout nicht auf Urlaub gehen. Er muß verrückt sein, der Bruder – das erzählen sie.«
»Stimmt!« sagte der Leutnant erleichtert. »Aber so verrückt sehen Sie eigentlich nicht aus, Unteroffizier?«
»Ich bin auch nicht verrückt«, erwiderte Otto. »Ich gehe schon in Urlaub, aber erst muß es soweit sein.«
»Wie meinen Sie das – daß es soweit sein muß? Aber vielleicht frage ich Sie da nach ganz privaten Dingen ...?«
»Privat sind sie schon, aber darum kann man doch einmal davon reden. Herr Leutnant haben ja vorhin auch gewissermaßen von privaten Dingen mit mir gesprochen ...«
»Also schießen Sie los, Hackendahl! Ich bin doch gespannt, was einen Mann dazu bringen kann, zwei Jahre auf jeden Urlaub zu verzichten.«
»Es ist aber nichts, was mir besondere Ehre macht, Herr Leutnant. Das denken die bloß, die so von mir reden. Sondern es ist nur, weil ich daheim ein schlapper Kerl war, ohne Mut und ohne eigenen Willen. Ich habe aber jetzt gemerkt, ich bin nicht von Natur schlapp ...«
»Das walte Gott!« sprach der Leutnant.
»Sondern es hat mich nur einer so gemacht. Ein ganz Bestimmter, der mir von früh auf allen eigenen Willen zerschlagen hat. Und nun habe ich da eine Schweinerei gemacht, kurz gesagt, Herr Leutnant, ich habe ein Mädchen, und wir haben auch ein Kind – und jetzt ist es schon über vier Jahre alt. Ein dutzendmal habe ich der Gertrud geschworen, ich will sie heiraten, noch zuletzt, als es in den Krieg ging. Aber ich habe sie nicht geheiratet, und bloß nicht, weil ich mich nicht getraut habe, es meinem Vater zu gestehen und von ihm die Papiere zu verlangen ...«
»So«, sagte der Leutnant. »Ihr Vater war also der, der Ihnen den eigenen Willen genommen hat. – Und nun trauen Sie sich nicht zu dem Mädchen?«
»Aber, Herr Leutnant! Die Gertrud hat doch nie ein Wort gesagt! Ich traue mich nicht zu meinem Vater!«
»Aber, Hackendahl, Sie werden doch jetzt nicht mehr vor Ihrem Vater Angst haben – ein Mann wie Sie, hundertfach im Feuer bewährt! Sie sind doch jetzt ein ganz anderer Kerl als vor zwei Jahren! – Ist denn Ihr Vater wirklich solch ein Wüterich?«
»Das ist er gar nicht, Herr Leutnant. Im Grunde ist er ein ganz guter Mann, aber wer nicht so ist und tut und denkt wie er, der ist sein Feind, und auf den hat er richtig einen persönlichen Haß und bildet sich ein, er tut dem lieben Gott einen Gefallen, wenn er den Feind verfolgt und ängstigt bis auf den Tod. – Und so ein Feind war ich, sein Sohn – ich war sogar ein ganz besonders schlimmer.«
»Solche kenne ich auch!« rief der Leutnant eifrig. Ihm war warm geworden von dem Bericht des Unteroffiziers. Erinnerungen kamen ihm – aus der Kinderzeit her hörte er das Dröhnen von den eisernen Gesetzestafeln der Großen.
»Solche kenne ich auch!« hatte er gerufen. Und nachdenklich erzählte er: »Als ich das letztemal auf Urlaub fuhr, war ich auch bei einem Onkel, Gutsbesitzer. Da war noch nicht viel vom Hunger zu spüren, sie sorgen selbst für sich. Sie brauchen keine Karten, man nennt das Selbstversorger. Sie werden davon gehört haben, Hackendahl?«
Hackendahl nickte.
»Ja«, sagte der Leutnant. »Und als ich da abreiste, sollte ich einem Bruder des Onkels, der als pensionierter Landgerichtsdirektor in der Stadt lebte, ein Freßpaket mitbringen. ›Du wirst es schon schaffen‹, lachte mein Onkel. Ich wußte nicht recht, was dabei zu schaffen war, wenn er nicht die Größe des Paketes meinte, das ich durch alle Abteile schleppen mußte und nicht aus dem Auge verlieren durfte ...«
Der Leutnant schwieg eine Weile, er dachte daran, wie er sich über die aufgebürdete Last geärgert und wie er sich doch auch wieder gefreut hatte, wenn er an das Glück dachte, das solch ein Paket heute verbreitete ...
»Ja«, fuhr er in seinem Bericht fort, »dann kam ich also mit dem Paket zum Onkel. Ich hatte ihn lange nicht gesehen und erschrak, wie sehr er sich verändert hatte. Sein Gesicht war ganz klein geworden, kaum mehr als ein Kindergesicht – oh, es sah so jämmerlich aus! Und dann der Hals, dieser schreckliche Hals, dem die Haut viel zu weit geworden war – in Lappen hing sie, in roten, verschrumpelten Lappen ...«
Er schwieg wieder. Er sah die Gestalt vor sich. Dann sagte er: »Sie müssen wissen, Hackendahl, mein Onkel gehörte auch zu den Leuten mit dem preußischen Pflichtbegriff. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, nur von seinen Karten zu leben, und verhungerte fast darüber. ›Die Regierung weiß, was sie tut‹, hat er gesagt. ›Und wenn sie ausgerechnet hat, daß man von seinen Karten leben kann, dann geht es auch.‹«
Leutnant von Ramin sah sich an dem Tisch beim Onkel sitzen: Der Onkel bewirtete seinen jungen Gast, das gehörte sich so. Er hatte ihm ein Glas Wein eingeschenkt, und der Wein war herrlich, denn Wein gab es ohne Karten, und der Onkel war ein reicher Mann ... Aber neben dem Weinglas lag auf einem Holztellerchen ein Scheibchen Brot, ach so ein Scheibchen, man sah fast die Maserung des Holzes hindurch! Und auf dem Brot war ein wenig Fett und eine Scheibe Ei, eine sehr dünne Scheibe Ei – und ein saures mageres Fischlein ...
»Iß, mein Junge«, hatte der Onkel gesagt, »laß es dir schmecken!« Und seine Stimme hatte gezittert. »Ich habe schon gegessen!«
»Und ich habe gedacht«, erzählte der Leutnant von Ramin, »ich würde mit meinem Freßpaket wie der liebe Heiland aufgenommen! Da habe ich aber gesehen, was mein Onkel auf dem Lande mit dem Schon-Schaffen gemeint hat. Ich habe es nämlich auch nicht geschafft. ›Du willst einen deutschen Richter zu einer Gesetzesübertretung verführen?!‹ hat der Onkel gerufen. ›Mach, daß du aus meinem Hause kommst! Wie könnte ich noch eine Nacht ruhig schlafen, wenn ich selbst ein Gesetzesübertreter wäre! Tausende, Zehntausende von Dieben und Betrügern habe ich verurteilt in meinem Leben, ich hätte sie ja alle zu Unrecht verurteilt, wenn ich mich selbst ungerecht bereicherte!‹ Ach, und während er mit mir schalt, sah er doch so hungrig auf das Paket. Er muß schrecklich gelitten haben, der alte Mann!«
»Man kann ihn schon verstehen«, meinte Otto. »Er hat sich geschämt, schwach zu werden!«
»Sie sagen das auch«, rief der Leutnant zornig. »Meine Mutter hat das auch geschrieben, er wäre ein großer Mann, er wäre für seine Idee gestorben. Er ist nämlich kurz nach meinem Besuch gestorben, an einer einfachen Erkältung, er hatte ja kein bißchen Kraft mehr in sich. – Aber er war kein großer Mann, Hackendahl, wie auch Ihr Vater kein großer Mann ist! Es ist nicht groß, für sein Vaterland zu verhungern! Für sein Vaterland? Seinem Vaterland hat er nichts Gutes getan – er ist für ein Idol gestorben, für einen richtigen Götzen, wie ihn die Wilden anbeten. Ein Holzdings ohne Leben und ohne lebendige Idee!«
Der Leutnant sagte ruhiger: »Sehen Sie, Hackendahl, zuerst erschüttert das einen immer, wenn man erfährt: Der und der ist für eine Idee gestorben, buchstäblich gestorben, und er hätte so schön und bequem leben können. Aber es ist nicht mit dem Tode allein getan – man muß auch für etwas Lebendiges gestorben sein, und der preußische Pflichtbegriff, für den mein Onkel und Ihr Vater leben, der ist längst tot. Der ist in einer Zeit entstanden, über hundert Jahre ist es her, da das Volk in bitterster Armut und völliger Haltlosigkeit lebte. Da mußte es solche Richtschnur haben. Aber mit alldem war es doch schon vor dem Kriege längst vorbei! Nein, mit den alten Götzen ist es nichts mehr. Wenn dieser Krieg einen Sinn haben soll, so muß etwas Neues, etwas Lebendiges aus ihm kommen.«
Wieder schwieg Hackendahl.
Aber der Leutnant sagte hartnäckig: »Ich sage: Es ist gut, daß Onkel Eduard gestorben ist. Und Sie können auch ohne jede Angst Urlaub nehmen und zu Ihrem Vater gehen. Menschenskind, Sie sind doch der Lebendige, und er ist schon lange tot!«
»Ich weiß nicht«, sagte Otto Hackendahl leise, »ob der Herr Leutnant sich das ganz richtig vorstellen. Vor einem Vater und einer Mutter bleibt doch auch der erwachsenste Mann immer das Kind. Ich möchte doch auch, daß es anständig dabei zugeht, ohne Streit. Er ist doch mein Vater, und er kann auch nichts dafür ...«
»Sie haben eben doch Angst, Hackendahl«, sagte der Leutnant plötzlich verdrossen.
»Natürlich habe ich Angst«, gab Hackendahl zu. »Darum gehe ich ja noch immer nicht in Urlaub.«
»Sie grübeln zuviel, Mann«, rief der Leutnant. »Sie stellen sich das immer wieder vor, wie Sie in die Stube kommen zu Ihrem Vater, und dann sagen Sie so und so ... Aber Sie wissen doch, Hackendahl, wenn man in Bereitschaft liegt vor einem Sturmangriff, dann stellt man sich hundert Ängste und Scheußlichkeiten vor, und immer sieht man auf die Uhr und dann in den Nachthimmel, ob die Leuchtkugeln nicht steigen – und man hat auf deutsch gesagt eine Scheißangst. Wenn es dann aber soweit ist, dann nur mit Hurra raus aus dem Graben und vorwärts, und von all den eingebildeten Ängsten weiß man gar nichts!«
»Es gibt aber auch Leute, die beim Sturmangriff schlappmachen, Herr Leutnant«, wendete Otto ein.
»Aber Sie doch nicht!« rief der Leutnant ganz aufgeregt. »Sie sind doch kein Mensch, der schlappmacht. – Sie haben Lampenfieber, das haben Sie! Und ich werde Ihnen was sagen, Unteroffizier: Wenn wir heute hier heil aus diesem verfluchten Eiskeller kommen, werde ich Ihnen den dienstlichen Befehl geben, auf Urlaub zu fahren, verstanden?«
Otto lächelte, aber er lächelte ganz zufrieden. Und als der Leutnant dieses Lächeln sah, war auch er zufrieden und sagte kein Wort mehr. Lange lagen sie still, sie froren sehr.
Einmal sagte der Leutnant ein paarmal hintereinander: »Au verdammt! Au verdammt!« Und noch ein paarmal: »Au verdammt!«
»Was ist denn verdammt, Herr Leutnant?«
»Daß man nicht wenigstens rauchen kann!«
»Ja, das ist wirklich verdammt! Aber der Wind steht zum französischen Graben hinüber, sie könnten es riechen!«
»Und dann ein paar Handgranaten!«
»Jawohl, Herr Leutnant.«
Gegen vier wurde der Himmel klar, und nun wurde es noch schlimmer, denn jetzt kamen die Flieger. Es war wie immer in diesen Wochen, die Franzosen waren in der Überzahl. Sie beherrschten das Feld – niedrig strichen ihre Infanterieflieger über den Gräben hin, ließen die Maschinengewehre knattern oder gaben, höher gehend, ihrer Artillerie Signale mit Leuchtkugeln.
Der Leutnant von Ramin und Otto Hackendahl hatten sich flach mit dem Bauch auf die Erde geworfen. Sie verbargen ihre Gesichter. Zum Abend lebte das Artilleriefeuer noch einmal auf, sie hörten das Krachen der Einschläge näher. Nun fingen auch im nahen Schützengraben die Maschinengewehre an; die von drüben antworteten.
»Will es denn nie Nacht werden?!« stöhnten sie.
Allmählich wurde es stiller. Im Nacken fühlten sie Feuchte, sachte fing es zu regnen an. Langsam bewegten sie sich; eine Weile schien es unmöglich, die froststarren Glieder wieder gelenkig zu machen.
»Verdammt kalt!« sagte der Leutnant.
»Heute nacht müssen wir es schaffen.«
»Jawohl, heute nacht – es regnet ja.«
»Es wird nicht lange regnen.«
Wieder Warten – Stunden um Stunden. Es wurde nicht richtig dunkel. Man sah den Mond nicht, aber eine fahle Helle war in der Luft ...
»Warten wir noch ein Stündchen«, schlug der Leutnant vor. Er klapperte dabei mit den Zähnen.
»Ich habe noch einen Schluck Kirschwasser, Herr Leutnant.«
»Ja, geben Sie her! – Nein, lassen Sie es. Nein. Wirklich nein. – Sie erinnern sich doch, daß Sie mir versprochen haben, in Urlaub zu gehen, wenn wir hier heil rauskommen?«
Otto Hackendahl schwieg.
»Mensch, sagen Sie ja!« drängte der Leutnant. »Ich habe das Gefühl, das müßte uns Glück bringen.«
»Also ja, Herr Leutnant.«
Es wurde nicht dunkler. Es wurde auch nicht ruhiger in diesem Grabenabschnitt. Immer wieder fielen Schüsse, ein Ruf erscholl, ein Maschinengewehr tackte ...
»Wir sind noch nicht drüben, mein Junge«, sagte der Leutnant ingrimmig.
»Davor habe ich den meisten Schiß, daß die aus unserem eigenen Graben auf uns schießen«, sagte Hackendahl.
»Sehen Sie! Ihnen ist es auch nicht egal, welche Art von Heldentod Sie sterben!«
Es wurde Mitternacht, aber nun war es eher heller.
Der Leutnant war in einem Zustand qualvoller Unentschlossenheit. Er klapperte vor Kälte, aber vielleicht auch vor Aufregung. Hackendahl hatte es leichter: Er mußte nur auf den Befehl warten.
Plötzlich scholl aus dem Graben der Franzosen ein Gelächter, leise, sofort wieder unterdrückt, aber ...
»Es ist der beste Moment, Herr Leutnant!« flüsterte Hackendahl.
»Los!« schrie der Leutnant fast.
Sie schoben sich über den Rand des Trichters. Die Brustwehr des französischen Grabens schien greifbar nahe, vom deutschen Graben war nichts zu sehen.
»Kriechen!« flüsterte der Leutnant heiser.
Es war alles längst vereinbart. Sie wollten versuchen, bis in die nächste Nähe des deutschen Grabens zu kriechen, dann den Posten dort anrufen.
Aber den Leutnant riß die Ungeduld fort. Schon nach dreißig oder vierzig Metern richtete er sich auf.
»Lauf! Sie sehen uns nicht mehr!« rief er.
Sie liefen, der Leutnant vorne, der Unteroffizier schräg links hinter ihm. Es war Hackendahl, als höre er einen Ruf – dann kam das Krachen einer Leuchtpistole, und nun stieg eine Leuchtkugel über ihnen auf, strahlend weiß, immer weißer werdend ...
»Hinwerfen, Herr Leutnant!« flehte Hackendahl fast.
»Lauf!« schrie der Leutnant wild und rannte.
Hinter ihnen krachten Schüsse, die Brustwehr des deutschen Grabens war deutlich zu sehen, mehr Leuchtkugeln stiegen auf ...
»Nicht schießen!« schrie der Leutnant. »Deutsche! Kameraden!«
Sie schossen von hinten.
Der Leutnant blieb stehen. »Jetzt hat's mich doch gefaßt! Lauf los, Mensch!«
Hackendahl faßte den Leutnant um und riß ihn mit sich fort. Über die Brustwehr ließ er sich direkt auf die Schultern der Kameraden fallen.
Eine Stunde später, als das Feuer im Grabenabschnitt wieder eingeschlafen war, trugen Krankenträger den Leutnant von Ramin nach hinten.
»Das ist noch gnädig abgegangen«, sagte er lächelnd zu Otto Hackendahl. »Oberarmmuskel glatt durchschossen. Nicht mal ein Heimatschuß ist das. In drei Wochen bin ich wieder hier.« Und leiser: »Sie wissen, was Sie mir versprochen haben, Hackendahl? In Urlaub gehen – ja?«
»Herr Leutnant sind aber nicht heil rübergekommen.«
»Wollen Sie mit Ihrem Herrgott handeln? Machen Sie keine Geschichten. Sie reichen sofort Urlaub ein?«
»Zu Befehl, Herr Leutnant!«
Es dauerte dann doch noch einige Zeit, bis Otto Hackendahl seinen Heimaturlaub bekam. Äußerlich ließ er sich nicht viel anmerken, vielleicht, daß er seine Gasmaske ein wenig früher als sonst aufsetzte, wenn der Ruf: »Gasgranaten!« erscholl. Vielleicht, daß ihm der Tag mit Beschießungen und kleinen Kämpfen noch länger erschien. Aber er machte seinen Dienst wie sonst, sein Zug lag im Graben, es gab immer zu tun.
Nachts schlief er tief und traumlos. Über die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Vater machte er sich keine Gedanken mehr. Das alles lag unwahrscheinlich weit zurück. Seit er mit dem Leutnant von Ramin über seine Feigheit gesprochen hatte, seit nun auch ein fremder Mensch – nicht nur Tutti – darum wußte, schien diese Feigheit nicht mehr vorhanden – seltsamer Widersinn!
Dann war es soweit. Sein Kompanieführer schüttelte ihm noch die Hand. »Kommen Sie guter Stimmung wieder, Hackendahl«, sagte er. »Lassen Sie sich von denen im Hinterlande nicht anstecken. Es soll dort faul aussehen.«
Ein paar Kameraden brachten ihn noch ein Stück, bis aus den Gräben. Er bekam Briefe, die er neben Grüßen und Paketen persönlich zu bestellen hatte.
»Mach's gut, Hackendahl«, sagten auch sie. »Wer weiß, wie du uns wiederfindest. Wir sollen ja wieder Dunst kriegen.«
Er ging allein weiter, der Morgen dämmerte noch nicht. Die Straße war voll Munitionskolonnen, die von der Front zurückfuhren, von ausrückenden Gulaschkanonen, von Sanitätswagen.
Einmal fuhr ein leiser, großer Wagen an ihm vorüber: ein Stabsauto, unbestimmt sah er Gesichter, karmesinrote Spiegel auf untadeligen, seidig glänzenden Waffenröcken.
Später bog er von der großen Straße ab. Der Tag dämmerte langsam, er hatte noch Zeit. In den Fermen, die verstreut unter Bäumen lagen, regte sich hier und da Leben, in einem Stall brannte Licht. Er hörte die Kühe nach Futter brüllen, Stalleimer klapperten – gut!
Er ging, wie er seit zwei Jahren nicht mehr gegangen war: langsam, gemächlich, ungefährdet. Er sah die Wintersaat auf den Feldern an. Sie war smaragdgrün, sie leuchtete in der aufgehenden Sonne – es würde einen klaren Tag geben, heute. Einen bösen Tag für die im Schützengraben – Fliegerwetter, dachte er. Er war fröhlich und traurig – fröhlich, daß es noch Vieh gab und bestellte Saaten, nicht nur von Granaten zerwühlten Boden und Ratten. Und er war ein wenig schuldvoll traurig, daß er die Kameraden allein im Graben ließ.
Er hörte, schon ferne, den Geschützdonner beginnen, er wurde unruhig. Fermen und Wintersaat freuten ihn nicht mehr. Er fing an, schneller zu gehen.
Er sah auf die Uhr: Es war noch viel Zeit, bis sein Zug nach Lille fuhr.
Er ging noch schneller. Er zwang sich, bei einem Heckenrosenstrauch stehenzubleiben. Der Winter hatte den Strauch entblättert, aber noch hingen dicke, hellrote Hagebutten an den Zweigen. Sie glänzten regenfeucht in der Sonne. Ich habe ja noch Zeit, sagte er sich ungeduldig. Ich kann mir in Ruhe ansehen, wie schön diese Hagebutten sind ...
Plötzlich wurde ihm klar, daß er ein unsinniges Heimweh hatte, daß er sich nach Tutti sehnte, nach ihrem Gesicht, ihren sanften Taubenaugen. Er wußte nicht mehr, wie Gustäving aussah. Der war jetzt doppelt so alt wie damals, als er ins Feld gekommen war. Bei den Eltern sollte es große Veränderungen gegeben haben. Vater fuhr wieder selber Droschke. Er konnte sich seinen Vater nicht auf dem Kutschbock vorstellen – er hätte Vater gerne wiedergesehen!
Ja, plötzlich hatte er Heimweh, Heimweh nach all und jedem, nach Rabause und dem niedergebrochenen Schimmel, er sah seine Schnitzmesser vor sich.
Er hatte Heimweh, und jetzt, weit hinter der Front, bekam er Angst, daß ihm noch etwas geschehen könnte, ehe er nach Haus kam. Er sah auf die Uhr. Er hatte noch eine Stunde Zeit, bis sein Zug ging, und kaum noch eine Viertelstunde zu gehen.
Trotzdem fing er an zu laufen. Er lief immer schneller, er sah den Bahnhof, kein Zug war weit und breit zu sehen, aber er lief noch schneller. Wie die meisten hatte er oft Angst vor einem Hodenschuß gehabt, es dann lange überwunden – jetzt kam es wieder, sie sollten ihn nicht treffen, jetzt nicht, nur jetzt nicht, er fuhr in die Heimat!
Er wurde erst wieder ruhiger, als er im Zuge saß, der überfüllt war mit anderen Urlaubern, die wie er in die Heimat reisten, oder mit solchen, die für ein oder zwei Tage nach Lille fuhren. Die Heimaturlauber waren fast alle sehr still, um so lauter lärmten die Etappenfahrer. Sie empfahlen einander Bierlokale und Mädchen, sie rissen Zoten, sie waren entschlossen, in den paar Urlaubstunden so viel »wirkliches Leben« – nach dem Gespensterdasein im Graben – in sich zu füllen, wie hereinging. (Aber meist wurde es statt Leben nur Alkohol.)
In Lille hatte er wieder Zeit, sein Zug ging erst am Mittag. Zögernd, unentschlossen stand er vor dem Bahnhof. Er hätte Erich besuchen können, der nach der Mutter Bericht hier auf irgendeiner Schreibstube irgendeine sehr wichtige und sehr verdienstvolle Funktion erfüllte. Aber er konnte sich nicht dazu entschließen.
Statt dessen beschloß er, sich die Stadt ein wenig anzusehen, und langsam bummelte er los. Gleich umfing ihn der Wirbel der Etappe. Er sah staunend in die mit Luxusdingen gefüllten Schaufenster, auf die geschniegelten Offiziere, die, das Monokel eingeklemmt, mit Sporenklingeln, an ihm vorübergingen. Über dem Handgelenk hing an der Lederschleife ein Reitstöckchen. Ordonnanzen liefen wichtig mit Aktentaschen, ihre fleckenlosen Hosen hatten gebügelte Falten, in dem Glanz ihrer Schuhe spiegelte die Sonne.
Plötzlich wurde er sich bewußt, wie er aussah in seinem nur notdürftig gereinigten Waffenrock, dessen Stoff entfärbt und verfilzt war, und mit seinen klobigen, schlecht geschmierten Schuhen, an denen noch der Grabenschlamm klebte.
Die Offiziere eilten an ihm vorüber, sie sahen ihn nicht, sie beachteten ihn nicht. Auf der Fahrbahn glitten die großen Autos, an den Kühlern steckten die Ehrfurcht gebietenden Fähnchen der Stäbe, in einem leeren Auto saß gelangweilt und hochmütig ein großer russischer Windhund. Zwei Krankenschwestern gingen an ihm vorüber, sie hatten rosige, vergnügte Gesichter.
Otto Hackendahl machte kehrt, er ging zum Bahnhof zurück. Er hatte hier irgendwo ein Stündchen in Ruhe sitzen und ein Glas Bier trinken wollen, aber er wollte nicht mehr. Ein fetter, dunkel aussehender Zivilist mit traurigen Augen fragte ihn irgend etwas wegen des Weges. Gereizt erwiderte er, daß er hier auch nicht Bescheid wisse, und war froh, als er den Bahnhof wieder vor sich sah.
Er setzte sich traurig und zornig an einen Holztisch, zwischen andere Urlauber, die wie er auf ihre Heimatzüge warteten und die aussahen wie er. Ein Mann hob den Kopf, als er ihn sein Bier so ärgerlich beim Kellner bestellen hörte, und fragte: »Na, Kamerad, auch die Stadt angesehen? Feiner Betrieb, was?«
Der Mann legte den Kopf wieder gähnend auf die Tischplatte zurück. Er sagte: »Da sieht man erst, was für ein dummes Schwein unsereiner ist! Diese Brüder! Diese Speckjäger! Aber recht haben sie – was, Kamerad Schwein?«
Otto antwortete nicht. Die Trauer würgte in seinem Hals. Er verfluchte sich, den Leutnant Ramin, den Urlaub. Wäre ich von meinem Regiment nicht fortgelaufen, hätte ich diesen Mist nie gesehen, dachte er immer wieder.
Er überlegte, ob er nicht doch lieber umkehren sollte.
Der fette, schwarz gekleidete Zivilist, der Otto vergeblich um Auskunft gebeten hatte, erfuhr unterdessen von einem Feldgendarmen, wohin er sich zu wenden hatte. Er ging langsam weiter, stieg eine Treppe hinauf, verhandelte mit einer Wirtin, ging über den Flur, klopfte und trat ein.
»Guten Morgen, Erich«, sagte der Abgeordnete.
Erich saß an einem Spiegeltischchen und manikürte mit Bedacht seine Nägel. Er hatte schon die Reithose an (die teure Kordhose von Benedix für 150 Mark) und die glänzend lackledernen Reitstiefel, aber über der Taille war er mit einem rohseidenen Oberhemd bekleidet.
»Sie, Herr Doktor!« rief er verlegen. »Sie hätte ich nie hier in Lille erwartet!«
»Ganz offiziell, mein Junge«, sagte der Abgeordnete beruhigend. »Eine Frontreise von Abgeordneten aller Fraktionen auf Einladung des Oberkommandos. Nichts, das dich kompromittieren könnte.«
»Herr Doktor ...!« sagte Erich verlegen.
»Nun, nun. Keine falsche Scham. Jeder sieht, daß er vorwärtskommt.« Er betrachtete Erich wohlwollend. Der Junge war nun in seinen Waffenrock gefahren, die Achselstücke glänzten silbern. »Ich sehe, man kann dir zum Leutnant gratulieren. Du machst deinen Weg.«
»Seit vorgestern«, sagte Erich. »Ich hätte es schon längst werden müssen – aber Sie können sich ja denken, Herr Doktor: Vaters Beruf ...«
»Aber das Ziel schien es dir wert, und du hast es also geschafft!« Die Stimme des Abgeordneten klang ein wenig spöttisch, aber sein Gesicht blieb weiter wohlwollend. »Die Ideale hast du also eingemottet, statt ihrer trägst du seidene Oberhemden?«
Wieder wurde Erich rot.
»Alle Offiziere tragen nur noch Seidenwäsche«, sagte er trotzig.
»Auch im Schützengraben?« fragte der Abgeordnete.
»Ich bin beim Stabe!« sagte der Junge patzig und verstummte.
»Nun, nun«, machte der Abgeordnete beruhigend, »wir wollen uns ja nicht streiten, Erich. Ich verstehe vollkommen, daß du deine Anschauungen geändert hast. Ich selbst bin nicht im Schützengraben, und ich gehe auch nicht hinein. Ich habe alles Verständnis dafür, wenn sich jemand vor dem Schützengraben drückt ...«
»Ich habe mich nicht gedrückt, Herr Doktor!« rief Erich zornig. »Ich bin abkommandier ...«
»Natürlich, du bist abkommandiert. Du tust hier deine Pflicht, genau wie du sie draußen getan hast. Ich zweifle nicht daran.« Die Stimme des Abgeordneten blieb gleichmäßig freundlich. »Wie gesagt, wir streiten uns nicht, weder um Worte noch um Begriffe. Wir haben alle einiges zugelernt, in den letzten zwei Jahren, nicht wahr? Aber, Hand aufs Herz, mein Sohn Erich, es ist doch verdammt anders gekommen, als wir es uns im August vierzehn gedacht haben? Du erinnerst dich doch?«
»Ich gehe auf der Stelle wieder in den Schützengraben«, sagte Erich wütend, »wenn sie alle gehen. Aber daß ich mir meine Knochen kaputtschießen lassen soll, und die Herrschaften hier waten in Sekt ...«
»Da watest du lieber mit, ich verstehe«, sagte der Abgeordnete.
»Herr Doktor!« Erich schrie es fast.
»Du willst mich doch nicht rausschmeißen, mein Junge? Was sollen denn bei mir diese Mätzchen, Erich?! Sei vernünftig und laß mit dir reden. Du bist doch nicht dumm. Du müßtest dir doch eigentlich sagen, wenn das Mitglied des Reichstages den kleinen Leutnant X persönlich aufsucht, so geschieht das doch nicht darum, um hier kleine neckische Bemerkungen zu tauschen ...«
»Ich bin kein Drückeberger.«
»Schön, du bist keiner. – Bist du nun zufrieden? Noch nicht? Also, Erich, wollen wir nun reden, oder soll ich gehen?«
Er wartete aber keine Antwort ab, er sagte: »Ich weiß nicht, ob du die Dinge im Reichstag verfolgt hast, Erich? Bei der letzten Abstimmung über die neuen Kriegskredite haben bereits 31 Abgeordnete mit Nein gestimmt, fast ein Drittel meiner Fraktion. – Beruhige dich, ich gehöre nicht zu diesem Drittel, wäre ich sonst auf spezielle Einladung des Oberkommandos hier? – Wahrscheinlich wird sich schon bald meine Fraktion spalten, in einen radikalen Flügel, der gegen den Krieg ist, und in uns, die Mehrheit, die wir für den Krieg sind.«
Erich sah den Abgeordneten gespannt an. Die kleinen Häkeleien von eben waren vergessen.
»Natürlich sind wir auch nicht für den Krieg, Erich. Wenn wir vor zwei Jahren wirklich dafür waren, so haben wir unterdes vieles gelernt, Erich. Wir müssen nicht erst in euer hübsches Etappenstädtchen Lille fahren, um zu wissen, daß es keinen geeinten Volkswillen mehr gibt. Es gibt nur noch eine allgemeine Unzufriedenheit ... im Hinterlande. In den Städten sieht es böse aus, Erich, es hat schon Krawalle gegeben ...«
»Ich habe davon gehört«, sagte Erich.
»Natürlich hast du davon gehört, Erich. Dafür wird schon gesorgt, daß so etwas nicht unbekannt bleibt.« Der Abgeordnete lächelte listig. »Aber ich sage meinen Kollegen Neinsagern immer wieder: Das ist gar nichts. Unzufriedenheit im Hinterlande bedeutet nichts, solange die Herren Militärs noch regieren ... Bewilligen wir ihnen doch weiter ihre Kredite, mögen sie ihren Krieg doch weiterführen ...«
Sie schwiegen eine Weile, sehr lange. Erich sah unruhig nach der Tür, zu den Fenstern.
Einmal sagte der Abgeordnete verloren: »Ja, die Stimmung an der Front ...«, sah Erich an und schwieg wieder.
Dann lauter: »Es war eine seltsame Reise an die Front, mein lieber Erich, zu der wir hier eingeladen worden sind. Von der Front haben wir nämlich nichts zu sehen bekommen. Einmal hat man uns auch einen Schützengraben gezeigt. Die Unterstände waren betoniert, ich möchte schwören, die Lattenroste, die im Graben lagen, waren noch am Morgen der Besichtigung geschrubbt worden. Man genierte sich ordentlich, auf das weiße Holz zu treten ... Ja, das war also unser Schützengraben ...«
Er sah Erich an, aber Erich schwieg noch immer.
»Es ist tagesklar«, sagte der Abgeordnete plötzlich entschlossen, »daß diese Regierung stürzt, sobald die Front zusammenbricht. Es sind zuviel Feinde, draußen wie drinnen. Man muß nur warten können. Warten und vorbereiten. Und wenn es dann soweit ist, wenn – es – dann – so – weit – ist, sind wir da! Wir sind dann die einzigen, die eine Regierung bilden können. Weil der Arbeiter, der Proletarier, nun, das ganze Volk uns vertraut ...«
»Sie wollen nach einem verlorenen Kriege die Regierung übernehmen?« rief Erich. »Sie rechnen mit einem verlorenen Krieg, um an die Regierung zu kommen?! Sie müssen ...«
Er brach ab, starrte.
»Wahnsinnig sein, wie?« ergänzte der Abgeordnete. »Aber wir sind nicht wahnsinnig, wir sind vorausschauend. Der Krieg im Felde wird verloren, Erich, das müßtest du selber wissen, wenn du den Betrieb hier siehst! So gewinnt man doch keine Kriege!«
»Und Sie bewilligen die Kriegskredite!« sprach Erich starr.
»Weil wir den anderen Krieg gewinnen wollen, den großen, den Weltkrieg! Du verstehst nicht, Erich? Aber welcher andere Krieg wird gekämpft, seit die Welt steht, als der für die Elenden und Armen, der für den Arbeiter, den Proleten, den Kettensträfling? Den Krieg wollen wir gewinnen!«
»An diese Dinge habe ich einmal geglaubt, aber das tue ich schon längst nicht mehr. Jeder muß sehen, wo er bleibt. Nach Erlösung des Proleten sieht es doch wahrhaftig nicht aus, Herr Doktor!«
»Doch sieht es so aus, Erich! Wenn du nämlich nicht das siehst, was du nahe vor Augen hast, sondern wenn du aus der Ferne schaust. Der ewige Krieg kann nur gewonnen werden, wenn die Menschheit den Glauben an den Militärkrieg verliert. Dieser Krieg muß schrecklich sein, er muß noch viel schlimmere Opfer fordern – Erich, der Front stehen schreckliche Dinge bevor! In England bauen sie Kampfwagen, Tank nennen sie sie noch als Deckwort, sie gehen ohne Räder, Stahlungetüme, über alle Drahtverhaue, alle Gräben fort ... Unsere Militärs glauben nicht an die Wirkung, aber sie werden erleben ...«
»Und ein so geschlagenes Volk wollen Sie regieren?«
»Erich, wir werden ja nicht allein geschlagen sein, alle werden besiegt sein. Man muß Opfer bringen, wenn man viel erreichen will! Die Fortsetzung des Krieges, die wir den Militärs ermöglichen, zerbricht für immer den Glauben an die Militärkaste. Und dann kommen wir!«
»Besiegte Sieger!«
»Aber alle werden sie besiegte Sieger sein. Glaubst du, wir werden mit den Militärs verhandeln? Die Arbeiter der Welt werden wir zusammenrufen! Glaubst du, der französische Arbeiter wird uns nicht verstehen, wenn wir ihm sagen: ›Nie wieder Krieg‹? Dann kommt die Befreiung des Arbeiters der Welt, dann kommt unser Staat, Erich. Du hast auch an ihn geglaubt, du glaubst noch an ihn, trotz dem und trotz dem ...«
Er tippte mit dem Finger auf die silberne Epaulette, auf die Brust des Waffenrocks, unter dem das Seidenhemd saß.
»Es wäre schön ...«, sagte Erich träumerisch.
»Schön? Glaube mir, Erich, dieser Friede wird anders kommen, als ihn jeder erwartet. Aus den Schützengräben werden sie zusammenlaufen: Deutsche und Franzosen und Engländer. Sie werden sich ansehen, sie werden gar nicht mehr verstehen, daß sie aufeinander schießen konnten.«
»Es wäre schön ...«, sagte Erich noch einmal, und dann: »Und was könnte ich dafür tun, Herr Doktor?«
»Du müßtest ...«, flüsterte der Doktor, und jetzt war er es, der nach Tür und Fenster sah. »Du müßtest ...«
Als es auf den Morgen ging, wurde die Stimmung im Packsaal der Munitionsfabrik immer verdrossener und gereizter.
Der Aufseher merkte es wohl. Wenn es man nur nicht noch etwas gibt, dachte er, schob die Hände in die Taschen und stellte sich vor einen Aufruf zum Zeichnen der sechsten Kriegsanleihe, fest entschlossen, von seiner Seite zu einem Ausbruch der üblen Laune nichts beizutragen.
Die Frauen, meist in häßlichen Hosen, die ihnen jeden weiblichen Reiz nahmen, saßen nebeneinander an langen Holztischen und griffen nach den Pulverstäben, die eine am Kopfende des Tisches stehende Maschine aus endlosen Pulverbändern abgeteilt hatte. Dann verpackten sie diese Stäbe. Gab es die Arbeit, daß eine der anderen etwas zu sagen hatte, irgendeine kurze Bemerkung: »Rück die Kiste näher!« oder »Mach schnell!«, so wurde es leise gesagt und klang doch, als haßten sie alle einander.
Eva Hackendahl stand an ihrer Maschine. Sie drückte auf den Hebel. Die Messer senkten sich und teilten den stumpfgrauen Pulverstab ab. Hände griffen nach den Stäbchen, sie ließ den Hebel los, er federte hoch, und wieder legte sie ihre Hand auf ihn, um ihn hinunterzudrücken.
Seit acht Uhr abends tat sie so. Eine tödliche Müdigkeit erfüllte sie, ein Ekel vor aller Tätigkeit, vor dem eigenen Ich. Die Müdigkeit lag wie ein pressender Ring um ihren Kopf, nicht eine Sekunde ließ sie den Kopf frei. Sie saß ihr im Munde, sie füllte die Mundhöhle mit einem staubigwolligen Geschmack, sie machte die Knie schlaff. Immer wieder der Hebel, der wie ein lebendiges Ding ihrer Hand entgegenzukommen schien, der graue Strom, die Hände der anderen, die zwischen die Messer griffen ...
Eva seufzte. Es war nur noch eine halbe Stunde bis zum Schluß der Nachtschicht, aber diese halbe Stunde schien vollkommen unüberwindlich. Sie dachte an das Bett, an das schöne, warme Bett, an Schlaf und Vergessenheit.
Sie wußte, Tutti stand jetzt schon vor irgendeinem Fleischer- oder Bäckerladen, aber das Bett, das die eine am Tage, die andere in der Nacht benutzte, war schon glattgezogen und wartete auf sie. Sie mußte nur noch eine halbe Stunde auf den Hebel drücken, dann durfte sie heimgehen, konnte schlafen!
Aber die Zeit war so endlos bis dahin, gerade die letzte Viertelstunde war immer die schlimmste!
Sie erinnerte sich an die Schule – sie drückte den Hebel nieder –, an die allerletzten drei oder fünf Minuten vor dem Klingeln – sie ließ den Hebel los –, gerade da war oft noch etwas geschehen, was alle Freude an dem freien Nachmittag – der Hebel kam ihrer Hand entgegen, in sie hinein – zerstört hatte. Und wenn auch nichts geschah – sie drückte den Hebel nieder, und die Messer senkten sich – diese letzten Minuten waren schon damals unüberwindlich gewesen. – Der Hebel war losgelassen, und jetzt kamen die Hände der anderen Arbeiterinnen. – Es war alles beim alten geblieben, vieles hatte sie erlebt – jetzt hatten die Hände die Stäbchen geholt, der Hebel kehrte in ihre Hand zurück –, aber sie ging immer noch zur Schule. – Sie drückte auf den Hebel, die Messer senkten sich. – Wie als Kind hatte sie noch immer die letzten, tödlichen Minuten in all ihrer Grauenhaftigkeit zu ertragen.
Wie in der Schule! Darum erfuhr man vieles im Leben, erlitt Schlimmes, durchwartete es, nahm Schweres auf sich – damit man immer weiter in die Schule ging, aber nichts dazulernte. Die Zensuren, die einem das Leben erteilte, mußten ja schlecht sein. Man wurde auch nie versetzt, ewig blieb man sitzen auf derselben Schulbank.
Eva Hackendahl sieht über die Reihen der Arbeitenden. Sie sieht aus den grauen Arbeitsblusen die Hälse kommen, sie sieht die über den Tisch gebeugten Nacken – gebeugte, müde, überlastete Nacken. Sie weiß, alle diese Frauen, fast alle, haben es schwerer als sie, der Tutti die Tagesgeschäfte fast ganz abnimmt. Alle diese Frauen gehen nur darum zur Nachtschicht, weil sie Kinder zu versorgen haben. Kaum heimgekehrt aus der Fabrik, haben sie zu waschen, anzuziehen, Frühstück zu machen, in die Schule zu schicken. Sie rennen in die Lebensmittelläden, mit vor Müdigkeit zitternden Knien stehen sie Schlange, jetzt muß noch ein Sack Kohlen geholt werden – weiter, los! Sie stehlen sich am Tage drei, vier, wenn es viel wird, fünf Stunden Schlaf zusammen. Oft kommen sie gar nicht aus den Kleidern, es lohnt nicht, sich für den Augenblick Schlaf auszuziehen!
Und dazwischen, schnell, ehe sie in die endlose Nachtschicht laufen, trennen sie eine Seite aus dem Schulheft der Kinder. Auch er ist da, er ist immer da, er ist der »Ernährer« geblieben, für sie, die jetzt die Ernährerin ist. Er ist der Inbegriff der guten Friedenszeit geworden, da man Arbeit, aber auch Arbeitsende kannte, da man wußte, was Hunger war, aber auch sich satt essen konnte ...
»Lieber Max«, schreiben sie also auf die Schulheftseite, auf die dünnen blauen Linien, und sie bemühen sich, so gut und deutlich wie in der Schule zu schreiben. »Lieber Max«, schreiben sie. »Mir und den Kindern geht es noch gut, was ich auch von Dir hoffe. Wir haben diese Woche ein halbes Pfund Grieß auf Karten extra, und weil ich doch Schwerarbeiterzulage bekomme, reichen wir gut.« Dieses »gut« wird dreimal unterstrichen. »Du mußt Dir also den Zucker nicht absparen. Wir kommen gut hin.« Wieder drei Striche. »Es wäre schön, wenn Du bald ganz heimkämst. Kannst Du nicht machen, daß der Krieg bald alle ist? Entschuldige, das sollte ein Witz sein, ich weiß schon, daß wir durchhalten müssen ...«
So oder ähnlich schrieben sie, Klagen lag ihnen nicht. Sie schrieben gehetzt zwischen den Arbeiten, zwischen zwei streitenden Kindern, im Ohr die ewige Bitte um Brot. Sie schrieben, wie sie arbeiteten, die Kinder versorgten, um Lebensmittel liefen: selbstverständlich, ohne Aufhebens. Sie schrieben, damit Vater doch weiß, daß wir alle noch gesund und am Leben sind. Das Leben – darum ging es ihnen, das Leben war etwas Heiliges. Sie mußten es erhalten, ihretwegen, ihrer Kinder wegen. Sie dachten nicht darüber nach, sie handelten. »Durchhalten« – eine Parole, erfunden, ausgedacht, und immer wieder in alle Hirne gehämmert –, durchhalten, das hieß für sie: am Leben bleiben. Warum eigentlich? War dieses Leben mit den fast verhungernden Kindern lebenswert? Sie dachten nicht darüber nach – man mußte leben, auch wenn es schwer war.
Der Hebel kommt, wird herabgedrückt, losgelassen – kommt der Hand entgegen. Im Anfang hat Eva jede Nacht von diesem Hebel geträumt und den Messern und von den Händen zwischen den Messern ... Dann sah sie blutige Hände, abgeschnittene Finger, mit einem Angstschrei wachte sie auf ... Solch ein Traum war nichts Besonderes, alle Frauen träumten so. Sie hatten Männer draußen, sie sahen nicht nur fremde Hände im Blut, sie sahen den geliebten Leib zerstört!
Nein, Eva Hackendahl hat es besser als die anderen, theoretisch ja, Tutti nahm ihr fast alles ab. Sie hat keine Kinder zu versorgen, kein Mann ist im Felde, um den sie sich ängstigen muß. Sie weiß, daß sie es besser hat, aber sie hat es doch nicht besser. Einmal, es ist noch gar nicht so lange her, stand sie auf einer kleinen, steinernen, feuchten Plattform. Nicht tief unter ihr, unsichtbar, zog und plätscherte das Wasser. Sie hat es nicht getan. Und doch, und doch – oh, er war so widerlich und gemein, aber das bißchen Kampf, das sie in aller Schwäche gegen seine Brutalität kämpfte, dies bißchen Kampf hatte irgendwie ihrem Leben Inhalt gegeben, diesem Leben, das nun ganz leer geworden war! Als man um das Leben kämpfte, hatte es einen Sinn gehabt – nun war es ganz sinnlos geworden.
Der Aufseher schiebt die Mütze aus der Stirn, er wendet sich von dem Plakat ab. Es ist fünf Minuten vor sieben – es ist doch noch einmal, wider alles Erwarten, gut gegangen.
Im gleichen Augenblick hört er einen Schrei. Einen ganz hohen Schrei. Er springt an den Hebel – mit einem Griff wirft er die Transmissionsriemen von den Scheiben. Die Maschinen summen und brummen tiefer und stehen still.
Um so lauter schreien die Stimmen.
»Sie hat es absichtlich getan! Sie hat gesehen, daß ich die Hand noch in der Maschine hatte!«
Die Angeschuldigte, Eva Hackendahl, steht schneeweiß da, zitternd. Ohne ein Wort der Verteidigung blickt sie auf die graue Hand, die gegen sie gehalten wird, auf die Hand, von der Blut tropft, über die Blut strömt
»Mit Absicht hat sie es getan!« schreit die kleine Verletzte wieder, ein Weib mit scharfem Vogelgesicht. »Ich habe sie noch angesehen, weil ich ein bißchen zurück war, und sie hat mich wieder angesehen. Und grade hat sie die Messer kommen lassen ...«
»Das ist wahr!« ruft eine.
»Red doch nicht!« widerspricht eine andere. »Du hast geschlafen!«
»Ich habe nicht geschlafen, ich war ein wenig zurück.« Plötzlich fängt sie an zu weinen. »Warum hast du das gemacht?! Ich habe dir doch nie was getan! Oh, meine Hand – nun kann ich nicht arbeiten – da, ich kann den Finger nicht rühren ...«
»Zeig deine Hand her«, sagt der Aufseher. »Schrei doch nicht so! Das ist ja nichts. Das ist ein Ratzer ... da wirst du nicht mal krank geschrieben ...«
»Ich nicht krank!« fängt die an.
»Blut!« kreischt plötzlich eine hochschwangere Frau. »Das Blut! Geht doch weg, laßt mich doch mal das Blut sehen ...«
Ungehört verhallen draußen die Klingelzeichen: Feierabend. Ein neuer Morgen.
Der Tumult wächst, andere Aufseher kommen, Werkmeister, ein Ingenieur.
»Ruhe doch! Bringt doch nur die Weiber zur Ruhe!«
Eva Hackendahl steht bleich neben ihrer Maschine. Sie ist die einzige, die kein Wort sagt. Aber sie denkt immerzu: Ich soll es absichtlich getan haben. Habe ich es absichtlich getan? Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich es doch absichtlich getan? Ich weiß nicht ... Man kann sich nicht immer nur vor etwas ängstigen, das vielleicht nie kommt ... Diese letzten tödlichen Schulminuten, in denen immer noch etwas geschehen kann ... Vielleicht trifft mich Eugen doch einmal, und all die Quälerei jetzt war umsonst ...
»Machen Sie, daß Sie nach Haus kommen. Wozu stehen Sie hier noch rum? Von der Maschine sind Sie abgelöst. So was darf nicht vorkommen.«
»Ich habe es nicht absichtlich getan.«
»Wer sagt denn das? Die? Ach die! Aber besser aufpassen müssen Sie! Na, nun arbeiten Sie eben als Packerin. Zehn Pfennig weniger die Stunde, aber Sie hätten auch besser aufpassen müssen! Später kann man sehen ... vielleicht in Saal fünf. Aber es wird sich natürlich rumquatschen.«
»Vielleicht habe ich es doch absichtlich getan?«
»Ach, red doch keinen Stuß! Fängst du nun auch noch an?! Mach, daß du nach Haus kommst! Schlaf dich aus. Absichtlich – so ein Quatsch!«
Der Weg nach Haus war schwerer und trauriger denn je. Wozu ging man nach Haus, legte sich in ein Bett, sammelte neue Kräfte, um doch nie eine Freude zu haben?
Immer langsamer ging Eva Hackendahl. Es war schon fast taghell, die Laternen brannten nicht mehr, grau standen die grauen Gestalten vor den Läden. Es gehen noch andere Leute neben ihr, hinter ihr – aber sie beachtet keinen, wie niemand sie beachtet. Eine Frau in Arbeitshosen wäre noch vor zwei Jahren ein unerhörter Anblick in Berlin gewesen – die Zeiten haben sich geändert. Heute ist eine gut angezogene Frau ein sehenswerter Anblick – wenigstens in dieser Gegend Berlins.
Vor Eva Hackendahl geht ein schwer bepackter Feldgrauer, irgendein Urlauber, er hat denselben Weg wie Eva. Otto Hackendahl geht langsam, viel um sich schauend. Als er vor zwei Jahren Berlin verließ, waren die beflaggten Straßen voll von fröhlichen Menschen. Die Mädchen trugen helle Kleider, Blumen gab es und Kränze, Zigarren und Schokolade. Er findet eine graue, trostlose Stadt wieder, schon am Morgen scharren müde Füße über das Pflaster. Grau und trostlos sind die Gesichter, alle Schultern scheinen nach vorn zu hängen, es gibt nichts Helles mehr. Er hat kein einziges Lachen gehört. Gestern ekelte ihn der falsche Prunk der Etappe, heute sah er die abbröckelnde, zerfallende Stadt des Hinterlandes – und die Ödnis griff nach ihm, bezog ihn sofort ein.
In den Gräben hatten sie von dem Hunger im Hinterland gesprochen, manch einer hatte gesagt: »Sie sollten sich bloß nicht so haben! Wenn wir im Feuer liegen und die Essenträger kommen nicht heran, hungern wir auch vierundzwanzig Stunden. Es ist alles halb so schlimm!«
Gleich begriff Otto: Es war alles dreimal so schlimm, hundertfach schlimm! Es war nicht nur der leibliche Hunger; wenn man in diese hoffnungslosen Gesichter sah, begriff man, es war viel mehr die völlige Freudlosigkeit, das Fehlen von allem, was das Leben erst lebenswert macht, eben das Hoffnungslose!
Er ging noch langsamer, er sah den Torweg schon. Er hatte ihr nicht geschrieben, daß er kommen würde, er hatte ihr die Vorfreude genommen, die Möglichkeit, zu hoffen ... Eine Angst faßt ihn: Wie wird sie sein, wie sehr wird auch sie sich verändert haben? Komme ich nicht schon viel zu spät mit alldem, was ich geworden bin? Wie werde ich sie finden?!
Eine Frau in Hosen geht an ihm vorüber, sie sieht flüchtig, gleichgültig von der Seite in das bärtige Gesicht des Urlaubers. Noch bis in den nächsten Torgang hinein geht Eva Hackendahl, bis sie völlig begriffen hat: Sie sah in das Gesicht ihres Bruders Otto. In ein straffer gewordenes Gesicht, der Blick männlich klar, ohne Scheu.
Sie lehnt an der Wand des Torwegs, sie versucht, sich vorzustellen, was das bedeutet: Der Bruder ist heimgekehrt! Komisch – sie muß zuerst daran denken, ob Otto sich gleich, müde von der Reise, ins Bett legen wird, dieses einzige Bett, das neben dem Kinderbett dort oben steht? Oder ob sie das Bett für sich haben kann – wenigstens heute vormittag noch?
Mit einem ungeduldigen Kopfschütteln will sie diesen albernen Gedanken von sich scheuchen, als ob das wichtig wäre! Aber gleich muß sie sich ausdenken, wie es denn nun da oben werden wird, in der nächsten Zeit, mit dem Zusammenleben, Stube und Küche, und nur die eine Schlafgelegenheit! Wie lange bleibt denn so ein Urlauber? denkt sie. Eine Woche oder vierzehn Tage? Das wird sich schon einrichten lassen, und dann beginnt wieder unser altes Leben.
Jetzt kommt der Soldat in den Torweg. Sie versteckt sich rasch. Der Soldat geht vorbei, auf den nächsten Hof. Sie folgt ihm langsam, vorsichtig, beobachtend.
Dann beginnt wieder unser altes Leben! so hallt es in ihr nach. Aber was ist denn dieses alte Leben? Plötzlich begreift sie, wie vorläufig es war, immer auf Abruf, ein Leben geführt auf tägliche Kündigung! Einmal war der Krieg aus, und es gab keine Munitionsfabriken mehr, einmal kam der Bruder heim und wollte sein Heim für sich – aber was wurde dann aus ihr?!
Der Bruder fängt an, die Treppe hinaufzusteigen. Sie steigt ihm nach, ein Gefühl endloser Öde in sich.
Aber was habe ich mir denn eigentlich gedacht, überlegt sie. Habe ich denn geglaubt, es könnte ewig so weitergehen, mit Nachtarbeit und umschichtigem Bett, ein Leben lang, ein ganzes, langes Leben lang? Das ist ja alles Schwindel – natürlich habe ich es absichtlich getan, soll sie doch ihre Pfote schneller wegziehen, die dowe Pute, die! Wahrscheinlich habe ich mir eingebildet, sie schmeißen mich raus – und dann kommt, was doch kommen muß. Wer für den Dreck bestimmt ist, der fällt schließlich immer hin ...
Nun ist der Bruder, der Urlauber Otto Hackendahl an seiner Tür angelangt. Als er auf den Klingelknopf drückt, geht Eva hinter ihm vorbei. Sie geht einfach noch eine Treppe höher. Neben dem Bruder stellt sie sich nicht an die Tür, sie schließt ihm auch nicht auf, obwohl sie den Schlüssel in der Tasche hat. Einmal dachte sie, hier sei sie zu Haus, aber das war natürlich auch Schwindel. Es ist allein sein Heim, sie ist nirgends zu Haus – so ist es!
Sie setzt sich oben hin, auf die Treppe für die Heimatlosen! Sie wird ja sehen, was wird. Sie kann es abwarten. Wenn man absichtlich mit seiner Maschine eine Hand verletzt, kann man noch immer faule Ausreden gebrauchen. Wenn dann aber der Himmel den Bruder gerade an diesem Morgen heimschickt und vertreibt einen aus Bett und Schlaf, dem einzig seligmachenden Vergessen, so heißt das, daß der Dreck zum Dreck gehört!
Wenn dem aber so ist – und dem ist so –, so stellt man sich nicht an. Man setzt sich ruhig auf die letzte Stufe vor der Bodentür und wartet das Weitere ab. Der Dreck wird seinen Dreck schon finden! Er hat es gar nicht eilig!
Otto hatte der Arbeiterin in Hosen erstaunt nachgeblickt: Was will denn die da oben? Da oben sind doch nur Böden! Aber gleich vergißt er es, denn auf sein Klingeln ruft durch die Tür eine Stimme: »Mutti is nich da!«
»Wo ist Mutti denn? Gustäving!« fragt der Vater, lehnt das Ohr gegen die Tür und versucht sich vorzustellen, daß dies sein Sohn ist, der aber jetzt nicht mehr zwei, sondern vier Jahre alt ist.
»Preßkohlen holen«, sagt die Piepsstimme von innen. »Wer biste denn? Was willste denn?«
»Euch besuchen, Gustäving.«
»Wer biste denn? Wieso weißte denn meinen Namen? Wie heißte denn?«
Der Vater überlegt einen Augenblick. Er möchte gerne sagen, daß er der Vater ist, aber er darf noch nicht. Es ist eine Tür zwischen ihnen – er kann nicht zu dem Kind. Er muß warten.
»Wo holt denn Mutti die Kohlen, Gustäving?« fragt er. »Noch bei Tiedemann?«
»Bei Tiedemann?« fragt es von innen. Und plötzlich ist in dem kleinen Hirn wohl ein großes Licht aufgegangen, plötzlich trommeln Hände von innen gegen die Tür. Die Kinderstimme schreit: »Mach auf, mach auf! Ich weiß, du bist mein Papa! Mach doch auf, Mutti hat gesagt, du kommst immer ganz bald mal! Mach doch auf! Ich will zu dir, Papa!«
»Ja, Gustäving – sei einmal ruhig. Ja, ich bin dein Papa. Hör doch, Gustäving, ich habe keinen Schlüssel, wir müssen warten, bis die Mutti kommt. Ja, hör doch, du erkennst mich gar nicht wieder, Gustäving ...«
»Doch, du bist mein Papa!«
»Ich habe einen riesenlangen gelben Bart ...«
»Quatsch, mein Papa hat keinen langen Bart!«
»Der ist mir im Feld gewachsen, Gustäving!«
»Mach auf, Papa! Ich will deinen Bart sehen!«
»Ich habe doch keinen Schlüssel, Gustäving. Wir müssen warten, bis die Mutti kommt.«
Ein kurzes Überlegen.
Die oben auf der Treppenstufe, die Eva Hackendahl, überlegt auch. Ja, denkt sie böse, so was ist Heimat und Heimkommen. Aber so etwas gibt's für mich nicht. Wieso eigentlich nicht? Ich bin viel hübscher und mindestens ebenso klug wie Tutti! Und keiner war feiger und schlaffer als Otto. Aber die haben es, und ich habe gar nichts. Erich hat es auch schon zu was gebracht, und Sophie ist Oberschwester geworden und hat die Rote-Kreuz-Medaille bekommen. Nur ich ...
Unten geht es immer weiter: »Weißte was, Papa? Geh runter auf den Hof. Stell dich auf den Hof, und ich seh runter aus dem Fenster! Dann seh ich, ob du mein Papa bist.«
»Du wirst aus dem Fenster fallen, Gustäving!«
»Was werd ich? Mach man los, Papa!«
»Warte den Augenblick, Gustäving. Mutti muß gleich kommen.«
»Ach, mach doch, Papa! Los!«
»Du erkennst mich ja nicht mit dem Bart.«
»Klar, erkenne ich dich! Ich werd meinen Papa nicht erkennen!«
»Und du versprichst, daß du das Fenster nicht aufmachst?«
»Sache, Papa! Versprech ich! Ich kuck durch die Scheibe. Mach man los!«
»Es dauert aber eine Weile, bis ich unten bin.«
»Weiß ich doch, Mensch! Fünf Treppen! Biste immer so langweilig, Papa?«
»Ich gehe ja schon, Gustäving.«
»Na, denn man los!«
Otto Hackendahl steigt mit Affen, Packen und Päckchen wieder die Treppen hinunter. Aber was bedeutet ihm die Last? Er läuft, läuft wie ein Junge, kommt auf den Hof.
Der Hof ist eng, bloß so ein Luftschacht, und oben hängen auch noch kreuz und quer die Wäscheleinen. Otto Hackendahl drängt sich zwischen die Mülltonnen, und als ihm auch jetzt die Sicht noch nicht klar genug scheint, klettert er auf die Tonnen. Er reißt die Feldmütze runter, er schwenkt sie. Nichts, gar nichts sieht er, aber er brüllt hinauf: »Hurra!« brüllt er. »Hurra! Hurra!«
Ein paar Frauen sehen aus ihren Fenstern.
»Bei dem piept's wohl?«
»In Rixdorf is Musike ...«
»Der macht den Dalldorfer, det er nich wieder raus muß ...«
Aber Otto Hackendahl ist schon wieder von seinen Mülltonnen runtergestiegen. Er läuft die Treppen hinauf, und als er oben ankommt, sieht er, daß ein Wunder geschehen ist: Die Tür steht offen, und in der Tür steht ein Junge, ein sehr dünner Junge mit einem sehr großen Kopf ...
»Gustäving! Siehste, ich bin dein Papa! Wer hat denn die Tür aufgemacht? Ach, Gustäving, freust du dich auch so?«
»Ich hab doch gleich gesagt, daß du mein Papa bist! Dein Bart ist auch gar nicht so lang. Haste was zu essen mitgebracht, Papa? Ich hab mächtig Kohldampf.«
Die nach so schwerem Kampf aufgeschlossene Tür klappt hinter den beiden wieder zu. Sie zerbrechen sich nicht weiter den Kopf über das Wunder. Das Mädchen oben sitzt noch eine Weile, ihre Schultern zucken, ihr ist wie damals, nicht lange her, als sie auf der kleinen feuchten Plattform stand.
Schließlich steht sie auf, sie geht langsam die Treppen hinunter. Unten trifft sie ihre Schwägerin, Gertrud Gudde. Das kleine, bucklige Geschöpf steht keuchend neben einem Kohlensack, bloß fünfzig Pfund, aber viel zu schwer für solch gebrechliches Wesen. Das Haar hängt ihr strähnig ins Gesicht, und die sanften Augen haben einen angstvollen Ausdruck.
Aber sofort leuchten sie auf, als sie Eva sieht – ein Aufleuchten, sanfter Schimmer, Zärtlichkeit. »Ach, Eva«, sagt sie. »Wie gut du bist. Hast du schon gewartet? Ich hatte solche Angst vor den fünf Treppen!«
Eva hat eigentlich ohne ein Wort an Tutti vorübergehen wollen. Was geht die Tutti mich an? Ich habe meine eigene Last zu tragen!
Aber nun bleibt sie doch stehen. Willig läßt sie sich den Sack auf den Rücken helfen, sie trägt ihn die Treppe empor. Dabei denkt sie daran, daß sie an anderen Tagen, ohne die Sache mit Hebel und Heimkehr des Bruders, schon längst behaglich schlafend im Bett gelegen hätte. Sie hat nie daran gedacht, der Schwägerin bei ihren Obliegenheiten zu helfen.
Wie oft hätte sie dieses zärtliche, dankbare Leuchten sehen können – aber sie hat nie etwas dafür getan.
Sie sind an der Tür angelangt, Gertrud hat schon den Schlüssel bereit. Sie will schnell aufschließen, damit Eva nicht erst den Sack absetzen muß. Aber Eva versperrt ihr den Weg zum Schlüsselloch.
»So, Tutti«, sagt Eva mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. »Hier hast du deine Kohlen! Mach dich doch ein bißchen zurecht, du siehst ganz zottelig aus ...«
Gertrud sieht Eva verständnislos an – Eva ist so sonderbar! Sich hier vor der Wohnungstür zurechtmachen? Wer hat seit Jahren daran gedacht, wie sie aussieht? Sie wird ganz verwirrt unter Evas Blick, sie greift nach ihrem Haar, faßt ein paar Strähnen ...
Aber plötzlich hört sie etwas. Sie steht da und lauscht, sie erzittert. Sie hat ihr Kind lachen hören drinnen in der Wohnung, und nun spricht eine Männerstimme ...
Nun spricht die Stimme eines Mannes drinnen in ihrer Wohnung ...
Sie starrt Eva an.
»Ja«, sagt Eva mit veränderter Stimme. »Ja doch! Mach dich schnell ein bißchen zurecht, dein Mann ist gekommen ...«
Und sie beugt sich über den Kohlensack, sie denkt: Ach, du alter, häßlicher Buckel hast alles Glück bekommen – und ich? Hassen müßte ich dich!
Und beugt sich über den Kohlensack weg zur Gertrud. Sie streicht ihr das Haar zurecht, und ihre Hände zittern, sie rückt an Kragen und Ausschnitt, und ihre Hände zittern, sie sagt: »Ja, Tutti ... Ja ... Ja ... Otto ist da ... und ganz gesund ...«
Zwei Arme legen sich um ihren Hals. »Ach, ich bin ja so glücklich ... Mein Herz, oh, mein Herz ...«
Und sich schnell wieder lösend: »Sehe ich sehr schlimm aus, Evchen?«
»Schön siehst du aus!« (Buckel!) »Gut siehst du aus!« (Buckel!) »Rote Backen hast du!« (Buckel!) »Mach, daß du hereinkommst zu ihm!«
Und sie, sie schließt die Tür auf. Und sie, sie schiebt Tutti hinein. Und sie, Eva, die Hübsche, Eva, Vaters Liebling, steht allein am Kohlensack, in der häßlichen Arbeitskleidung, und hört den Jubelschrei drinnen, und die tiefe, warme Stimme: »Ja, meine Gute, meine Süße, meine Schöne – nun bin ich bei dir ...«
Eva zerrt den Kohlensack noch auf den dunklen Vorplatz, ehe sie die Tür leise zuzieht und geht. Sie steigt langsam die Treppen hinunter, ihre Tränen fließen, sie denkt immerzu: Warum die? Warum nicht ich?!
Sie geht über die Höfe, sie geht aus dem Haus hinaus, und dann kommt sie auf die Straße.
Daß Otto Hackendahl schon am Nachmittag dieses ersten Urlaubstages seinen Vater aufsucht, liegt nicht nur daran, daß er die Aussprache möglichst rasch hinter sich bringen will. Sondern Tutti und Otto haben mit wachsender Unruhe auf Eva gewartet, aber Eva ist nicht gekommen.
»Ich werde sie schon bei den Eltern treffen«, sagt Otto. »Wohin soll sie denn sonst gegangen sein?«
Ja, wohin soll sie sonst gegangen sein? Tutti denkt an einen Morgen, da sie die ganz erstarrte Eva ausziehen half, ein Fuß war bis zur Wade hinauf durchnäßt gewesen! Aber sie schweigt!
Otto geht, er geht in die Frankfurter Allee, er geht die alten Wege, die er tausendfach gegangen ist. Jetzt sieht er den grauen Bretterzaun mit dem Schild »Fuhrgeschäft Gustav Hackendahl« ... So steht ein Mann im Traum erschrocken still, alles stimmt und ist doch ganz anders. So steht Otto vor Zaun und Schild, aber auf dem Schild liest er: »Heu- und Fouragehandlung Hans Bartenfeld«.
Er sieht die hundertmal gegangene Frankfurter Allee auf und ab, als könne er sich verlaufen haben. Aber er hat sich nicht verlaufen, und als er näher kommt, sieht er, daß das Schild neu ist. Es ist also eine ganz kürzlich geschehene Veränderung, das erklärt, daß er noch nichts davon gehört hat. Vater wird den Verkauf als eine »Männersache« ganz heimlich betrieben und Mutter erst im letzten Augenblick unterrichtet haben.
Otto tritt auf den Hof.
Es ist noch der alte Hof, aber hinter den Fensterscheiben im ersten Stock sieht er andere Gardinen, ein anderes Frauengesicht, nicht Mutters Gesicht, sieht auf ihn herunter. In diesem Augenblick zieht sich in Ottos Herz etwas schmerzhaft zusammen. Der Sohn, der in die Fremde ging, in den Krieg zog, der weiche Sohn, der schlaffe – er hatte sich verändert, er war härter geworden, geschlossener. Und mit jeder Veränderung hatte er etwas vom Elternhaus abgestoßen, allmählich hatte er aufgehört, Sohn zu sein, er war Mann geworden. Da er nun sinnbildlich und doch klar vor Augen sah, es gab dieses Elternhaus wirklich nicht mehr, fühlte er, wie die letzte Fessel riß, er war frei! Bisher war er nur ein schwaches Anhängsel gewesen. Jetzt war er ein neuer Anfang geworden!
Er fragt die Frau im Fenster, wohin Hackendahls verzogen sind, und nach Berliner Art fragt die Frau dagegen, ob er wohl einer von den Söhnen ist? Nun fragt Otto, ob Hackendahls schon lange fortgezogen sind, und erfährt, daß sie in der Wexstraße wohnen. Und ob er der ältere oder der jüngere sei?
Otto bedankt sich und geht. Er sieht die Frau nicht mehr an, er sieht den Hof nicht an. Er dreht sich auch nicht nach dem Bretterzaun um, obwohl er daran denken muß, wie oft er auf Vaters Befehl, mit Eimerchen und Bürste bewaffnet, die Inschriften der umwohnenden Jugend hat beseitigen müssen vom »Ich bin dohf« bis zu »Lehrer Stark hat falsche Zehne«! Nein, er geht weiter. Es ist endgültig vorbei. Früher gehorchte er Vaters Befehl, jetzt hat er eine eigene Stimme in der Brust, jene Stimme, die ihm im Granattrichter befahl, dem wildfremden Leutnant von Ramin zu erzählen, was ihn so lange gequält ...
Otto Hackendahl geht die Frankfurter Allee entlang, er überlegt, wie er am raschesten in die Wexstraße kommt. Ihm fällt ein, daß es in jenem ganz fremden Bezirk Berlins (einer ganz anderen Stadt eigentlich) einen Ring-Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau gibt. In seiner Nähe muß die Wexstraße sein. So kommt er am raschesten hin.
Er geht schnell. Er kommt über den Alexanderplatz, geht zur Ringbahn, fährt. Tack-tack-tack machen die Wagen. Es sind schreckliche Wagen, lärmend und ächzend. Durch zerbrochene Scheiben fährt der Winterwind. Die Fenstergurte sind abgeschnitten, die Gepäcknetze zerrissen – aber die Wagen tun ihren Dienst weiter, ächzend und lärmend. Sie bringen ihn an sein Ziel, an ein Ziel, für das er sich in zwei Jahren Westfront vorbereitete – also vorläufig zum Bahnhof Wilmersdorf-Friedenau.
Die Wexstraße ist leicht zu finden, jeder zeigt sie ihm. Aber sie gefällt ihm nicht, im grauen Licht dieses frühen Winterabends scheint sie ihm grau und eng. Die Frankfurter Allee ist breit und luftig, hier kann man ja nicht atmen. Ach, Vater!
Ach, Vater ...! Plötzlich ist Otto stehengeblieben, er sieht etwas, etwas Bekanntes, einen Gruß aus dem Ehemals! An der Bordkante der Straße steht eine Droschke ohne Kutscher, aber Otto braucht auch keinen Kutscher zu sehen. Er kennt das Pferd, den Schimmel, der mit trübe hängendem Kopf das Pflaster zu studieren scheint.
Er krault ihm die Stirnmähne, er faßt nach den Nüstern. Aber das Pferd läßt nicht die Ohren spielen, es schnobert nicht mit den Nüstern in die liebkosende Hand – kaum, daß es den Blick seiner trüben, wie erloschenen Augen nach dem Sohn seines Herrn hinwendet.
Wie oft habe ich dich geputzt, Schimmel! Weißt du noch, wie kitzlig du am Bauch warst, immer schlugst du dann nach mir, ich konnte nicht genug aufpassen. Es war nicht Bosheit bei dir, Übermut war es, Lebenslust! Damals war ich der Geduckte und du der Übermütige. Aber jetzt ... Nein, übermütig bin ich noch immer nicht, aber ich hebe doch schon den Blick vom Pflaster. Ich sehe den Rand des Himmels, etwas Weites, auf das man zugehen kann ...
So etwa, und dazwischen immer wieder: Schimmel, wo ist der Vater? Schimmel, was ist mit Vater geworden? Schimmel!
Nein, es ist natürlich gar nicht zu erwarten, daß der Vater gerade mit diesem, seinem jämmerlichsten Pferde fährt. Die Mutter hat wohl geschrieben, das Geschäft gehe schlecht, man müsse sich sehr einschränken, Vater fahre wieder selbst ... Aber der Kutscher, der sicher dort in der Kneipe sitzt, wird irgendein Aushilfskutscher sein, der die anderthalb Stunden bis Feierabend vertrödeln will.
Otto tritt in die Kneipe.
Es ist jetzt halb fünf, draußen fangen die Gaslaternen an aufzuleuchten. Aber hier drinnen sparen sie mit dem Licht, über der Theke brennt nur eine funzlige Birne, gerade, daß der Wirt sehen kann, wie voll er seine Gläser macht. In den Winkeln sitzen ein paar dunkle Gestalten.
Gleich bei der Tür setzt sich Otto und ruft dem Wirt zu: »Ein Helles, bitte!«
Ein Augenblick ist Ruhe, dann sagt eine langsame, knarrende Stimme: »Mensch, det is dir doch woll klar, det dieser Krieg nich jewonnen werden kann. De U-Boote, haben se jesacht – un nu haben se ihre U-Boote, un der Amerikaner schickt Leute un Waffen, noch un noch ...«
»Jestatte mal ...«
»Verjiß deine Rede nich, jetzt red ick. Jroße Offensive im Westen, haben se jesacht – und die sitzen immer noch an dieselbe Stelle. Entscheidung im Osten, haben se jesacht – na, nu haben se im Osten entschieden – und wat nu? Schiebste darum wenjer Kohldampf?«
»Laß mir mal reden, Franz!«
»Verjiß deine Rede nich, ick sare bloß ein Wort, ick sare: die internationale Sozialdemokratie! Du denkst, die jroßen Herren ... Ach wat, die jroßen Herren, wat die uns schon allet erzählt ham, aber mal dämmert et ooch beim Dußligsten, und wenn et erst dämmert, denn wird et rot ...«
»Verbrenn dir bloß die Schnauze nich, da sitzt'n Soldat ...«
»Nu wat denn? Wat heißt denn hier Soldat? Der denkt jenau so wie icke! Wer in der Scheiße sitzt, is anjeschissen, det is nu mal so injerichtet im Leben ...«
Aber er verstummt, denn der Soldat ist aufgestanden. Jetzt nimmt er das Bierglas in die Hand und geht quer durch das Lokal auf den Tisch des Sprechers zu.
Der pustet sich auf und duckt sich doch schon halb unter den Tisch. Er ruft die anderen halb weinerlich zu Zeugen auf: »Wat ha'ick denn jesacht? Jar nischt ha'ick jesacht! Im Osten werden wir't schon schaffen, ha'ick jesacht!«
Aber während er noch redet, geht Otto an seinem Tisch vorüber. Er geht, das Bierglas in der Hand, auf einen Tisch hinten an der Wand zu, er setzt das Glas auf den Tisch, er sagt: »Guten Abend, Vater. Ich bin's, Otto!«
Der alte Mann hob langsam seine großen, kugeligen, starken Augen von dem trüben Bierrest, vor dem er brütend gesessen. Dann, mit einer plötzlichen Bewegung, reichte er dem Sohn die Hand über den Tisch weg.
»Bist du det, Otto? Det is recht. Setz dich, Otto, setz dich. Haste mir zufällig jefunden?«
»Ich sah den Schimmel, Vater. Ich schaute hier nur mal rein.«
»Ja, der Schimmel, der Schimmel, Otto! Er wird immer wenjer, kein Futter un keine Kurage mehr. Ich krieg ihn an keinem Roßschlächter vorbei – immer will er rin in den Laden.«
Der alte Mann lachte, aber es klang trübe.
»Und sonst, Vater? Was macht der Stall sonst?«
»Der Stall? Ick hab keenen Stall mehr. Einen Braunen ha'ick noch, aber det Aas is ooch pflastermüde. Viel is nich mehr mit'm Jeschäft, Otto.«
»Fährst du allein, Vater? Hast du den alten Rabause nicht mehr?«
»Zu was denn, Otto? Für die zwei Schinder? Wenn jetzt der Krieg aus wär, ick hätt ooch keene Arbeit für dich, Otto. Sei du man froh, det du deinen Krieg hast!«
Wieder lachte er, und wieder trübe.
Otto saß dabei, er saß neben dem geschlagenen Mann. Der blaue Kutschermantel hing weit über die ehemals gedrungene Gestalt. Das einst feste Gesicht war locker geworden. Otto mußte daran denken, wie sein Vater früher als geachteter Gast in den Kneipen am Alexanderplatz gesessen hatte. Hier sah keiner nach ihm, keiner hörte mehr auf sein Wort. Er war bloß ein alter Droschkenkutscher, der über seinem Bier döste. Ein geschlagener Mann. Ich will ihn noch härter schlagen, dachte Otto.
»Du bist umgezogen, Vater?« fragte er schließlich.
»Ja, umjezogen! – Wie jefällt dir det Haus?«
»Ich war noch nicht da, Vater.«
»Ach nee? Warste grade auf'm Weg? Wo haste denn dein Zeuch?«
»Das habe ich nicht mit. Ich wohne diesmal woanders, Vater.«
»So, woanders wohnste? Na ja, schön.«
Der alte Hackendahl schoß einen scharfen, wachen Blick auf den Sohn, er döste nicht mehr. Hellwach war er. Und sehr mißtrauisch.
»Das Haus, weißt du«, sagte er unvermittelt, und plötzlich hochdeutsch, »das habe ich getauscht gegen den Hof. Mit zwei Pferden brauch ich keinen Hof. Und nun habe ich ein fünfstöckiges Mietshaus, die Pferde stehen in einer Werkstatt. Fünf Stufen hoch, aber das macht ihnen nichts.«
»Vater, also hör mal zu. Ich wollte es dir schon lange sagen, schon vor dem Krieg ...«
»Hat Zeit, vielleicht wart'ste noch, bis der Krieg alle is ... Ick sage, det Haus hier in de Wexstraße ...«
»Ich wohne also bei der Gertrud Gudde, Vater. Du weißt, früher hat sie bei uns geschneidert ...«
»Gudde? Kenn ick nich!« Der Alte tat so, als hätte er falsch verstanden. »Bei mir wohnen jetzt so ville Leute. So'n Mietshaus, hab ick jedacht, is 'ne feine Sache. Bringt immer Jeld – wenn die Leute bloß zahlten. Ein bißken ville Hypotheken ...«
»Vater! Ick kenn die Gertrud Gudde schon lange. Wir haben auch einen Jungen, jetzt ist er schon vier Jahre, Gustav haben wir ihn nach dir genannt. Und wir haben gedacht, wir wollen jetzt heiraten ...«
»Die Gudde? Is det nich der kleine Buckel, der bei uns immer jeschneidert hat? Immer los uff de Nähmaschine! Ick ha jedacht, det jeht nich lange jut. Det is ja bloß 'ne Handvoll Unjlick, un denn immerzu die Treterei ...«
Der Alte sah den Sohn aus böse glänzenden Augen an.
»Der Junge ist ganz gesund«, sagte Otto entschlossen. »Vater, es hilft nichts, wenn du so redest. So lange bin ich zu feige gewesen, mit dir davon zu reden, jetzt ist es anders ...«
»Die Gudde«, sagte der Alte und hatte wieder nichts gehört. »Jetzt besinn ick mir. Mutter hat sich mal verquatscht. Die Eva, deine Schwester, die Nutte jeworden is, die wohnt ooch bei de Gudde. Det scheint ein feinet Absteigequartier zu sind, der Junge is viere, sagste, un unjetraut kann man ooch schlafen jehn ...«
Otto war schneeweiß geworden. Aber nicht umsonst war er im Felde gewesen. Er riß sich zusammen.
»Vater, was soll denn das?!« sagte er unwillig. »Du tust dir ja am allermeisten weh ...«
»Und wat jeht dir det an, wie weh ick mir tue?« fragte der Alte zornig. »Heirate du die Gudde mit ihrem Blag. Nach mir jenannt, wat det nu soll! Als ob ick uff so'nen Schmus rinfalle! Hast du jefragt, ob du mir weh tust? Die Eva Nutte, die Sophie alle Ersten 'nen Brief, so und so, mir jeht et noch jut. Der Oberstabsarzt hat jesagt, ick bin tüchtig. Der Herr Militärpfarrer hat jesagt, ick bin noch tüchtiger. Und so weiter, alles von sich, aber nie nich 'ne Frage, wie et Muttern jeht. Der Erich, der schreibt bloß, wenn er Jeld braucht. Und der Otto kommt nach zwei Jahre uff Urlaub und hat wahrhaftig so ville Zeit, Vatern beim Bier von seine Trauung zu erzählen! Nee, mein Sohn, ick bin eisern! Wenn ick ooch wieder uff'm Bock sitze, det sare ick doch: Bei alle meine Kinder stinkt et. Vielleicht bei Bubin nich. Aber det weeß man noch nich. Ick sage immer: Man nur nich brommen, et wird schon kommen!«
»Vater«, sagte Otto, »du kennst die Gertrud Gudde ja gar nicht. Sie ist tüchtig, sie ist fleißig, sie hat aus mir einen Mann gemacht ...«
»Aus dir hat se'nen Kerl jemacht, der seinem Vater in de Schnauze schlägt un denn noch sagt: Freu dir, Fritzchen, morjen jibt's Selleriesalat! Morjen macht ihr doch Hochzeit, wat?«
»Ja«, sagte Otto fest. »Ich wollte mir nur von dir die Papiere holen. Es hilft nichts, Vater. Ich kann doch nicht aus Rücksicht auf dich die Gertrud sitzenlassen.«
»Ach so, wejen die Papiere biste rinjekommen?! Und ick Dussel habe mir wirklich im ersten Oojenblick jefreut! Nachher freilich ha' ick jleich jemerkt, det de wat aufm Kerbholz hattest.«
»Was kannst du gegen die Heirat sagen, Vater?«
»Jar nischt, aber jar nischt. Nu paß uff, mein Sohn!« Er faßte in die Tasche. »Det sind meine Schlüssel. Nu jehste zu Muttern un schließt'n Schreibtisch uff, da liejen deine Papiere ...«
»So geht das nicht, Vater«, sagte Otto entschlossen. »Sage einen wirklichen Einwand – nicht immer bloß, daß du nicht willst.«
»So, ick soll noch wat sagen? Hier haste die Schlüssel, un jetzt nimmste sie. Un wenn de denkst, ick sage: Ick bin einverstanden, Otto, mit deine Heirat – so sare ick dir: Nie, un wenn ick dir von Tod un Teufel erretten kann! Darin bin ick nu mal eisern!«
»Vater ...«
»Ja, det kannste sagen, det steht dir im Munde. Vater! Wie'ne Puppe, wo man uff'n Bauch drückt. Bei dir hat ooch der Bauch bloß immer Vater jesacht, weil de nämlich Hunger hattest, un ick sollte dir ernähren.«
»Sag doch endlich, Vater, was kannst du gegen die Heirat sagen?! Ich bin siebenundzwanzig ...«
»Jar nischt kann ick sagen. Det sare ick: Wenn du mit einer in de Betten jehst, so vornehm bin ick jar nich, da stoß ick mir nich dran, immer los, wenn's Spaß macht. Aber det de deinen Jungen vier Jahre werden läßt, un denn haste erst den Mut, es deinem Vater zu sagen, und dann auch noch in 'ner Kneipe, weil de denkst, er jeniert sich vor de Leute. – Aber der Justav jeniert sich nich, der is eisern ...«
»Ja, das bist du wirklich, Vater, eisern mit deinem Dickkopf ...«
»Der Justav, der is eisern! Zu'nem Schlappschwanz sagt er Schlappschwanz, und zu'nem Feigling sagt er Feigling! Und mit 'nem Feigling sitzt er nich an einem Tisch. – Ick habe mir jefreut, wie de mit det Jlas Bier durch det Lokal auf mir zujeschaukelt bist, aber nu nehm ick mein Jlas Bier, und nu setz ick mir an 'nen andern Tisch ...«
Er sah seinen Sohn bitterböse an, er nahm das Glas Bier, stand auf. Aber er ging noch nicht, er sah ihn an. »Die Schlüssel haste«, sagte er. »Un um achte habe ick abjefüttert, und dann biste weg. Un wenn de deine Mutter besuchen willst, bei Tage bin ick meistens nich da ...«
»Aber, Vater, was soll das alles? Sei doch einmal vernünftig ...«, bat Otto noch einmal.
»Vernünftig ...? Bin ick vernünftig? Bist du vernünftig? Det wissen wir alle beede nich! Aber wieso du von mir verlangen tust, ick soll vernünftig sein, det versteh ick nich. Wenn ick unvernünftig bin, bin ick unvernünftig, aber eisern bleibe ick darum doch. Ick bleibe eisern, und du bleibst schlapp, un darum trinke ick mein Bier alleine ...«
Damit ging der eiserne Gustav nun wirklich. Er ging mit dem Glas Bier in der Hand, aber er ging nun nicht etwa durch das ganze Lokal, sondern nur bis an den direkt daneben stehenden Tisch. Da setzte er sich, mit dem Rücken zu Otto, und rief: »Herr Budiker, noch 'ne Molle, weil's so schlecht schmeckt!«
Otto saß noch eine Weile grübelnd. Manchmal sah er den Rücken des Vaters an, manchmal die Schlüssel. Aber schließlich besann er sich auf die ängstlich wartende Gertrud. Er nahm die Schlüssel, stand auf. Einen Augenblick sah er wieder zögernd auf den Vater, sagte dann: »Guten Abend, Vater.«
»'n Abend«, sagte Hackendahl gleichgültig.
Wieder wartete Otto, aber der Alte nahm nur sein Bier und trank.
So ging Otto.
Der Baum war aus dem Pflanzgarten versetzt worden, er stand in neuer Erde, er wuchs und gedieh. Er trieb neue Zweige, er wurde stärker – das Versetzen hatte ihm gutgetan. Jawohl, einige Wurzeln waren abgerissen worden – es tat Otto noch weh, wenn er an den zornigen, unbegreiflich hartnäckigen Vater dachte. Oder auch an die Mutter, die in einem überfüllten, lärmenden Haus sich nach dem großen, sauberen Fuhrhof zurücksehnte.
Jawohl, diese Wurzeln waren abgerissen, diese Erinnerungen schmerzten. Aber im ganzen gedieh der Baum jetzt, im Schatten des alten Vaterbaumes hatte er nicht Licht genug gehabt. Nun trieb er in die Breite. Oft wunderte sich Tutti, mit welcher Sicherheit dieser früher schwache Mensch durchs Leben ging, Entscheidungen traf, mit Mitmenschen redete. Er ist ganz anders geworden, dachte sie. Sie dachte es fast beglückt.
Sie war glücklich – fast ganz. Nur manchmal kam ein Zögern in sie, eine scheue Ängstlichkeit; einmal hatte sie den Mut, im Einschlafdunkel zu sagen: »Früher habe ich dir soviel helfen und abnehmen können. Was kann ich jetzt noch für dich sein ...?«
Er schwieg lange. Er wußte, jetzt dachte sie an ihren mißgestalteten Leib, das kleine Gesicht mit den scharfen Zügen. Nach einer Weile nahm er ihre Hand und sagte: »Wenn wir im Schützengraben ›Heimat‹ sagten, habe ich immer an dich gedacht.«
Sie antwortete nichts, aber ihr Herz, ihr armes, krankes Herz klopfte immer schneller. Es trommelte einen seligen Glückswirbel.
Er sagte noch: »Bei der Heimat fragt man nicht, was sie ist oder gibt – die Heimat ist die Heimat.«
Sie hätte bitten mögen: Sprich nicht weiter – soviel Glück ertrage ich nicht! Sie hätte flehen können: Rede doch! Warum schweigst du schon? Rede immer weiter – ich bin noch nie so glücklich gewesen!
Aber sie schwieg, wie er schwieg. Die Stunde rauschte vorbei, aber nicht mit ihr, was sie fühlten.
Einmal besuchte die beiden, die drei – denn Gustäving war unzertrennlich von seinem Vater –, auch Bruder Heinz, Bubi genannt. Aber dieser Name paßte ihm nicht mehr recht. Heinz war unglaublich aufgeschossen in den beiden Jahren, die Otto ihn nicht gesehen hatte, seine Gliedmaßen waren viel zu lang und schlenkrig, sein Gesicht war bleich, weit sprang die höckrige Nase daraus hervor, und er sprach mit einem lächerlich tiefen Baß.
Mit dieser Baßstimme aus dem tiefsten Keller begrüßte er Bruder und neugewonnene Schwägerin. Die Mutter hatte ihn unterrichtet. »Na, du Vaterlandsverteidiger?« brummte er. »Unteroffizier und Inhaber des E. K. zweiter! Wann kriegst du denn das erster?«
»Wahrscheinlich gar nicht«, lächelte Otto.
»Es ist 'ne Schande! Auf der Penne sehen sie einen schon gar nicht mehr an. Zwei Brüder, und keiner mit dem E. K. erster! Na, nimm's bloß nicht übel, Otto. Ich habe nur einen Witz gemacht. – Und du bist also mein Neffe Gustav?«
Seine Verlegenheit zu bemänteln, legte er dem Kinde die Hand salbungsvoll auf das Haupt und betrachtete es von seiner enormen Höhe wie eine schwer erkennbare Ameise.
»Bleich und dünngliedrig«, entschied er. »Ja, ja, geliebter Bruder, der Krieg tötet die Starken und läßt die Minderwertigen am Leben. – Ich sage das natürlich ganz unpersönlich, du verstehst?«
Otto nickte vergnügt.
»Wir haben uns darum auf der Penne entschlossen, den Krieg zu ächten. Wir haben den Krieg in Acht und Bann getan, weil er eine falsche Auslese trifft. – Was meinst du dazu ...?«
»Oller Schafskopp!« antwortete Otto zärtlich.
»Wieso? Was heißt hier Schafskopf? Unser Entschluß tritt natürlich erst in Kraft, wenn ihr diesen Krieg gewonnen habt. Das ist selbstverständlich. Es wird durchgehalten.« Und sofort wieder gönnerhaft: »Wie klappt denn der Laden da im Westen? Bißchen dicke Luft, was? Kann ich mir lebhaft vorstellen!«
»Es geht so«, meinte Otto grinsend. »Wir warten bloß noch auf deine Hilfe.«
»Red doch nicht! Der Krieg geht in diesem Winter noch zu Ende! Bestimmt, Otto, kannste mir glauben! Ich weiß es von einem, der hat geheime Beziehungen zum Stabe Hindenburg. Rüstiger Knabe, was?«
»Höre einmal«, sagte Otto, nachdem er dem Bruder bestätigt hatte, daß Hindenburg ein rüstiger Knabe sei und im allgemeinen seine Sache verstehe. »Höre einmal: Habt ihr da bei euch was in der letzten Zeit von Eva gesehen oder gehört?«
»Eva?« Heinzens Gesicht verfinsterte sich, er wurde wortkarg: »Nein. Nichts.«
»Weißt du was von ihr? Mach kein Gesicht, Bubi! Wir sind hier ihretwegen etwas unruhig. Es würde uns vielleicht helfen, wenn du uns erzählst, was du weißt.«
»Ich weiß nur, daß Vater mit ihr irgendeinen schrecklichen Krach gehabt hat. Das hat Mutter erzählt. Sonst weiß ich gar nichts. Doch – einmal habe ich Eva mit irgend so 'nem Bofke auf der Straße gesehen. Ein richtiger Bofke. Ich habe natürlich nicht gegrüßt ...«
Aber es stellte sich heraus, daß es Monate her war. Damals hatte Eva noch bei den Eltern gewohnt. Seitdem nichts mehr.
»Und ich will auch nichts mehr von ihr hören. Erich ist ein Erzengel gegen die Eva gewesen! Jetzt beim Umzug hat Mutter einen ganzen Stoß Pfandzettel gefunden, alles Sachen, die Eva heimlich versetzt hat. Tischwäsche, Betten – Mutter weint sich heute noch die Augen aus, wenn sie daran denkt. So was finde ich einfach gemein, Otto!«
»Ich auch, Bubi, keine Angst, ich auch. Trotzdem muß man sehen, daß man Eva nicht im Stich läßt. Dieser – Bofke, den du gesehen hast, wird die Hauptschuld tragen. Eva ist einfach verführt.«
»Na ja, verführt!« Bubi wurde sehr rot und warf einen raschen Blick auf die Schwägerin. »Aber verführt is auch so'n Wort. Wir auf der Penne haben jetzt ein Buch gelesen, Wegener heißt der Mann: ›Wir jungen Männer‹. Kolossal frei geschrieben, aber absolut anständig. Na, wir haben den Beschluß gefaßt, anständig zu bleiben. Du verstehst, Otto? Vor der Ehe – kommt nicht in Frage. Das allein ist anständig!«
Sein Blick fiel auf Gustäving, und Heinz wurde glühend rot.
»Na ja, du verstehst schon, wie ich das meine. Im Prinzip, es gibt natürlich immer Ausnahmen. Vater ...« Er brach wieder ab. Dann sehr sorgenvoll: »Otto, ich kann dir's sagen, manchmal habe ich eine Heidenangst, daß wir 'ne dekadente Familie sind ...«
»Was sind wir ...?« fragte Otto, höchst erstaunt über dieses unbekannte Wort.
»Na ja, dekadent ... Du kennst das nicht? Weißt du, das ist so ... wenn 'ne Familie, ja, das ist schwer zu erklären ... Du weißt das mit Erich. Und dann das mit Eva. Sophie ist auch nicht, wie sie sein soll. Und manchmal kann ich tatsächlich nicht einschlafen, wenn ich denke, was alles in mir steckt.« Flüsternd, aber im Baß flüsternd: »Otto, du glaubst es nicht, manchmal hasse ich Vater direkt.«
»Na ja, das ist so ein Beispiel. Wenn eben die Familie zerfällt, die ist doch der Grundpfeiler vom Staat. Und wenn keiner mehr richtig was leistet, wenn eben alles krank ist ... Was meinst du?«
»Ich weiß nicht, ob wir krank sind. Vielleicht war auch die Zeit krank, in der wir lebten, und steckte uns an? Etwas Gesundes kann ja auch von einer kranken Umgebung angesteckt werden? Ich wenigstens bin draußen wieder ganz gesund geworden ...«
»Na ja, das sieht man. Hast dich kolossal rausgemacht. Na, wir wollen jedenfalls die Hoffnung nicht sinken lassen, Otto. Hat mir mächtig gutgetan, die Aussprache mit dir. Aber jetzt muß ich los. Was denkst du, was wir jetzt arbeiten müssen? Einfach pyramidal, noch nie dagewesen. Na denn also auf Wiedersehen, Schwägerin. Mach's gut, Otto. Ob ich dich vor deiner Abreise noch mal sehen werde ...«
»Vergiß dein Paket nicht, Heinz«, erinnerte Gertrud.
»Welches Paket?« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich bin doch ein fabelhafter Ochse! Einfach phänomenal!! Wegen des Paketes bin ich doch grade zu euch gekommen! Das schickt euch Mutter – weil sie doch bei der Hochzeit nicht dabeisein konnte. Übrigens noch meinen herzlichen Glückwunsch! Ich war auch verhindert, wie ihr gemerkt habt – Penne, ihr versteht.«
»Schönen Dank«, sagte Otto, während Tutti auspackte. »Es war auch bloß eine standesamtliche Trauung. Fünf-Minuten-Sache.«
»Verstehe schon. Wie stehst du denn überhaupt zur Kirche, Otto? Wir auf der Penne ...«
Aber er kam nicht weiter, Tutti hatte ausgepackt: sechs silberne Eßlöffel, sechs Gabeln, sechs Messer, sechs Teelöffel. Ein paar Tischtücher, einige Bettbezüge ...
»Aber das geht doch nicht«, rief sie. »Deine Mutter beraubt sich ja!«
»Wegen dem Dreck?« Bubi schnaubte verächtlich. »Brauchen wir gar nicht mehr. Wir sind doch bloß noch drei Personen, und Vater kommt auch meistens nicht zum Essen. Die andere Hälfte vom Dutzend hat Mutter für sich behalten.«
»Wir können doch nicht ...«, sagte Tutti, aber ihre Augen strahlten. »Sag du, Otto ...!«
»Was soll er denn sagen«, grollte Bubi. »Dankeschön soll er sagen. Damit macht er Mutter bloß glücklich. Daß sie euch wenigstens was zur Hochzeit geschenkt hat. Sie wäre schon längst zu euch gekommen, nur, ihr wißt ja, ihre Beine und der weite Weg ... Und dann Vater ...!«
Er sah die beiden prüfend an. Dann meinte er: »Ich will mir ja keine Kritik an meinem Erzeuger erlauben. Nur: Ich als Vater würde es anders machen. Du auch, Otto?«
»Da«, sagte Otto und warf seinen lachenden strahlenden Bengel in die Luft. »So mache ich es.«
»Na ja«, meinte Bubi. »Das kann Vater nun wirklich schlecht mit mir machen. Also denn adjüs. Ich komm mal wieder vor, Gertrud, wenn auch nicht so bald. Ihr wißt, die Penne!«
Er nickte würdevoll, er ging. Gleich steckte er noch einmal den Kopf zur Tür herein. »Eine Frage noch, Otto: Klinge oder Messer?«
»Wie ...?!«
»Ich streit mich ewig mit Vater, wie man sich rasieren soll. Mit der Rasierklinge oder dem Messer? Vater schwört natürlich aufs Messer.«
»Du brauchst dich doch noch gar nicht zu rasieren, Bubi.«
»Hast du'ne Ahnung! Bartwuchs wie Kaiser Barbarossa!«
»Laß ihn doch wachsen!«
»Also Apparat! Werde ich Vater von dir bestellen. Danke schön!«
Und Heinz, doch mit Recht Bubi genannt, verschwand endgültig.
So erfreulich dieser Besuch des jüngsten Hackendahl auch gewesen war, Aufklärung über den Verbleib Evas hatte er nicht gebracht. In den nächsten Tagen machte Otto auf Gertruds Betreiben noch manchen Weg, ja, er wagte sich sogar in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz, vor dem er wie fast alle guten Bürger Berlins einen mit Grauen gemischten Respekt hatte.
Aber er erfuhr nichts, sie hatten da zu viele Eugens in ihren Papieren, und eine Eva Hackendahl war ihnen – gottlob! – völlig unbekannt. Und das Warten in der Andreasstraße, in der Langen Straße blieb ebenso erfolglos. Schließlich überwand sich Otto so weit und benutzte noch die letzte Adresse, die Gertrud erfahren: Er ging in das »Hotel Oriental«. Aber dort stieß er auf Frau Pauli, und Frau Pauli war nicht gesonnen, Auskünfte über ihre Kundschaft zu geben. Weder kannte sie einen Herrn Eugen noch ein Fräulein Eva. Nein, es tue ihr leid, der Herr müsse sich bestimmt irren, vielleicht eine Verwechslung? Es gab ja so viele Hotels in Berlin, das »Adlon« zum Beispiel, den »Kaiserhof«, »Esplanade«, »Bristol«, vielleicht, daß seine Bekannten in diesen Hotels abgestiegen wären?
Und sie lachte ihm direkt ins Gesicht. Ein wenig bedrückt berichtete Otto von seinen Mißerfolgen, aber jetzt war Tutti der Ansicht, daß er nun wirklich genug getan hatte. »Daß du da überhaupt hast raufgehen mögen, Otto! Daß du mit solchem Weib hast reden können! Nein, nun laß es sein, morgen fahren wir lieber noch einmal nach Strausberg. Hinter Strausberg die Dörfer sollen noch nicht so abgeklappert sein!«
Wenn Tutti aber gemeint hatte, die Dörfer hinter Strausberg seien noch Neuland, so hatte sie sich sehr geirrt. Oder die Leute waren dort besonders hart. Oder sie hatten einen Unglückstag.
Den ganzen langen Tag wanderten Otto und sie dort herum, in einem eisigen Winde; unermüdlich nahmen sie gerade die abgelegensten, die einsam liegenden Höfe aufs Korn, die an den schlechtesten, unpassierbarsten Wegen. Aber wenn sie dann an die Tür klopften, wenn sie nach ein bißchen Milch, nach ein paar Eiern, ja, nur nach Kartoffeln fragten, wenn sie baten, wenn sie von ihrem Kind zu Haus sprachen (und das taten sie nur schwer), wenn sie den zwei-, den dreifachen Preis boten, so hörten sie nur ein grobes Nein. Die Tür flog zu, und wenn sie nicht sofort gingen, so hörten sie es drinnen noch reden von »Ewiger Bettelei« und »Hungervolk«. Und sie waren doch bescheiden gewesen, sie hatten kein Wort gesagt von Butter oder Speck, den in dieser mageren Zeit am meisten entbehrten Fettigkeiten.
Ja, dann ging Otto eine Weile wortlos und finster weiter, sein fröhlicher Gleichmut war von ihm gewichen. Vielleicht dachte er jetzt an sein schweres Leben im Schützengraben, auch für diesen Hof kämpfte er, litt er, war in Todesgefahr – aber sie sagten »Hungervolk«! Vielleicht aber dachte er nur an Gustäving, der so dürre Arme und Beine hatte, solch vorgewölbten, von Wassersuppen ausgeweiteten Bauch.
Er sah diese Höfe, und er sah andere Kinder auf ihnen umherlaufen, Kinder, die gut genährte Körper hatten. Er sah die Stullen in ihrer Hand, wenn er durch das Dorf ging, und es war gerade Schulpause, und die Kinder standen vor der Schule und aßen. Er wurde so finster, so verzweifelt – dies sollte ein Volk sein. Hundert Klüfte zerrissen es und schufen Gegensätze, es gab so viele Unterschiede. Es gab Adel und Bürgertum und Arbeiterschaft, es gab Konservativ und Sozi, es gab Arm und Reich, es gab Frontkämpfer und Etappe und Hinterland. Und nun gab es zu allen anderen noch Kartenempfänger und Selbstversorger.
Der Begriff Selbstversorger war in den Ohren der Kartenempfänger zu einer ungeheuerlichen Beschimpfung geworden. Es gab Leute, die hatten noch und noch zu fressen, Fett und Brot und Kartoffeln. Und sie fraßen. Sie schlachteten Schweine, sie schlachteten Kälber und Schafe, gutes reines Brot buken sie aus gutem sauberem Mehl – und sie ließen die anderen hungern! Sie ließen Frauen hungern, sie ließen Kinder hungern. Sie schlugen die Tür zu und sagten nein, sie beschimpften die anderen noch mit dem Worte »Hungervolk« für das, was sie ihnen vorenthielten. Es war eine verfluchte Zeit, verdammt noch mal, im Schützengraben war es sauberer. Wer da kein anständiger Kamerad war, der mußte sehen, es rasch zu werden, oder er ging zugrunde.
Jawohl, manche sagten auch entschuldigend: »Wir können nicht alles geben. Heute waren schon zehn da!« Das sah Otto ein. Aber er war heute an vierzig, fünfzig Stellen gewesen, und er hatte nur nein gehört, er hatte nicht ein Ei, keinen Schluck Milch bekommen – und der Junge zu Haus wartete mit Hunger auf das Mitgebrachte.
Gertrud Hackendahl sah ihren Mann immer finsterer und wortkarger werden. Sie empfand ja die gleiche Erbitterung wie er, und ihre Sorge um den mangelhaft ernährten Jungen war mindestens die gleiche. Aber sie dachte: Die Leute sind eben so, oder: Ein Reicher hilft nie gerne einem Armen. Dies waren für sie Naturgesetze, die man hinnehmen mußte, Otto aber zweifelte an der Welt, ihrer Ordnung, sich selbst.
In den Zügen, wenn sie heimfuhren, saß er stumm bei den Erfolgreicheren, die den großen Wagen vierter Klasse mit ihren Zentnersäcken voller Kartoffeln ausfüllten, die schwere Handkoffer, geheimnisvoll geschwollene Rucksäcke trugen. Er saß stumm in ihrer Nähe, er qualmte den stinkenden Tabak, der mit Kirsch- oder Brombeerblättern versetzt war, und lauschte auf ihre Reden ...
Hatte er einen Ortsnamen aufgeschnappt, sagte er abends: »Morgen fahren wir dorthin.«
»Ach, Otto, schon wieder! Es hat doch keinen Zweck. Wir verfahren unser ganzes Geld.«
Er blieb hartnäckig. »Wir haben auch einmal Glück, verlaß dich darauf, Tutti. Morgen fahren wir.«
Sie fuhren, und sie hatten wirklich Glück. Sie bekamen zwanzig Eier, ein Brot, ein halbes Pfund Butter ...
Otto lachte, als sie gemeinsam nebeneinander zur Bahn marschierten. »Siehst du, alle sind doch nicht so. Man muß bloß nicht den Glauben verlieren!«
Dieses Mal saß er auf der Rückfahrt neben ihr. Andere mochten haben, was sie wollten, er war neidlos glücklich. Die praktischere Frau dachte, daß es schön war, dem Jungen Eier und Butter zu bringen, daß es aber doch nicht lohnte ... Es hielt nicht vor, es war nichts, ein Tropfen auf einen heißen Stein, aber sie verlor einen ganzen Arbeitstag darüber ... Doch in solchen Dingen war ein Mann wie ein Kind. Nun, jedenfalls hatten sie dieses Mal Brot, Butter, Eier ...
Sie hatten sie nicht.
Als sie auf dem Alexanderplatz vom Bahnsteig wollten, war alles mit Polizei besetzt: Großsuchaktion gegen Hamsterer. Niemand kam unangefochten durch, jeder Handkoffer mußte geöffnet, jeder Sack aufgeschnürt werden – und alle Lebensmittel wurden beschlagnahmt!
Oh, was waren die Gesichter finster und drohend! Den Polizisten war selber nicht wohl bei ihrer Tätigkeit. Sie hatten ja auch Kinder zu Hause, die hungerten, sie wußten, wie den Leuten zumute war. Sie sagten nur das Nötigste, sie hörten nichts, was sie nicht hören mußten. Ein verfluchtes Geschäft!
Eine Frau schrie: »Unseren Kindern stehlt ihr's, und eure Kinder mästet ihr damit, Speckjäger verdammte!«
Sie hörten nichts.
Gertrud hatte sich an den Arm ihres Mannes gehängt, oh, wie grauenvoll finster sah er aus! Er sah aus, als könnte er einen Mord begehen, einen Mord um zwanzig Eier und ein Stück Butter! Fieberhaft streichelte sie seine Hand: »Bitte, Otto, bitte, lieber Otto – mach mich nicht unglücklich!«
Sie sprach nicht von ihm, sie sprach von sich, jetzt durfte er nur an sie denken – um gerettet zu werden.
Er sah einmal hin zu ihr. »Wir gehen grade durch«, sagte er dann. »Ich will doch einmal sehen, ob sie einen Frontsoldaten ...«
Doch, er sah, sie taten es, sie hielten ihn an.
»Machen Sie bitte den Karton auf. Was haben Sie da in dem Paket?«
Otto wollte vorüber, ohne zu hören.
»Herr Unteroffizier, seien Sie doch vernünftig ...!«
»Daß ihr euch nicht schämt ...!«
»Befehl ist Befehl, das wissen Sie doch ...«
»Wenn ich sie nicht haben soll, ihr sollt sie auch nicht haben, ihr Bluthunde!« schrie eine Frau und warf Ei auf Ei klatschend auf den Bahnsteig.
»Komm, Tutti«, sagte Otto. »Gib dem Wachtmeister das Brot, und hier ist das Paket mit Eiern und Butter, Herr Wachtmeister. Guten Abend.«
Schweigend gingen sie nach Haus, leise sagten sie zu Gustäving: »Wieder nichts!«
Lange saßen sie still im Dunkeln.
Allmählich, wie sie merkte, es löste sich in ihm, stahl sich ihre Hand in die seine. Er duldete es, schließlich erwiderte er den Druck. Lange saßen sie so, in der kalten Wohnung, beide hungrig, beide ein wenig verzweifelt.
»Du – Otto?« sagte sie dann zaghaft.
»Ja, Tutti, was ist?«
»Aber du darfst nicht böse sein ...«
»Dir – nie!«
»Wollen wir morgen noch einmal fahren?«
Er schwieg überrascht. Er wußte doch, wie sehr sie diese Fahrten verabscheute, wie sie längst nur widerwillig mitging. Und nun ...?
»Aber warum denn jetzt, Tutti ...?«
»Weil ich fühle, du möchtest jetzt grade noch einmal gerne fahren. Und weil ich immer nur tun möchte, was du gerne willst.«
»Gut, wir fahren.«
Mehr sagte er nicht.
Aber beide spürten, dies war das Glück. Es gab nichts darüber hinaus. Eine Gemeinsamkeit, leidgehärtet in einer Zeit, da fast alles zerfiel ...
Also fuhren sie am nächsten Tage, und wirklich: Diesmal lächelte ihnen das Glück. Auf einem Hof, sie waren schon abgewiesen, sah die Frau plötzlich Ottos Regimentsnummer.
»Ach Gott, Sie sind ja von unsers Jungen Regiment! Ingemar Schulz – Schulz gibt's viele, deswegen haben wir ihn Ingemar genannt! Kennen Sie ihn?«
Otto kannte ihn. Sie wurden hereingebeten, als geehrte Gäste saßen sie am Tisch mit. Otto erzählte, was er von Ingemar Schulz wußte. Es war nicht viel, denn Schulz war in einer anderen Kompanie. Aber für Elternohren war es himmlische Botschaft. Denn der Herr Unteroffizier hatte Ingemar noch vor neun Tagen gesehen und mit ihm gesprochen.
Sie bekamen, was sie haben wollten, soviel sie nur tragen konnten, sogar eine ganze Speckseite. Ihren heimlichsten Wunsch rief ihnen die Mutter noch aus der Tür nach: »Im Frühjahr reichen wir Urlaub für Ingemar ein, für die Bestellarbeit. Wenn Sie da ein gutes Wort für ihn einlegen wollten, Herr Unteroffizier?«
»Das ist ja nun auch wieder nicht richtig«, meinte Otto, »daß einem bloß geholfen wird, damit man Schiebungen macht.«
»Ach, du bist doch ein richtiger Berliner«, sagte Tutti vergnügt. »Immer meckern. Wir auf der Insel Hiddensee meckern nicht ...«
»Ich bin aus Pasewalk, und die Pasewalker meckern auch nicht«, antwortete er, und nun lachten sie beide.
Dann kam die Angst vor der Kontrolle – aber heute abend sah niemand nach der Hamsterware hin, heute abend wurden auf einem anderen Bahnhof Haß und Verzweiflung in die Herzen gesät, heute abend durften Hackendahls ihre kostbare Last unangefochten nach Haus bringen.
Sie atmeten erst auf, als alles in der Küche stand, ein unerhörter Reichtum, und Gustäving versuchte vergeblich, mit seinem Eins-zwei-sieben die Eier zu zählen. Dann sah er gespannt zu, wie seine Mutter Spiegeleier auf richtigem Speck briet und dazu Bratkartoffeln machte, Bratkartoffeln in Fett, nicht in Kaffeesatz gebraten!
Diese Braterei, die herrlichen Zutaten, ein Geruch, nie gerochen, ein Duft, schöner als der schönste Blumenduft – Gustäving hatte sogar die Geduld, das Essen abzuwarten.
Endlich saßen sie.
»Schmeckt es, Otto? Schmeckt es, Gustäving? – Iß langsam, mein Junge! So was gibt es nur einmal, von jetzt an muß Mutti wieder schrecklich sparen, daß die guten Sachen ganz lange reichen. – Ach, Otto, endlich wieder einmal anständiges Essen, nichts Gemanschtes, kein Ersatz ... Diese schrecklichen Kohlrüben ...«
Sie weinte fast vor Glück.
Eine halbe Stunde später fing Gustäving an zu brechen. Unter schrecklichem Quälen und Würgen brach sein Magen die kostbare, nahrhafte Speise wieder aus.
»Er verträgt nichts mehr!« jammerte Tutti verzweifelt. »Nun haben wir, was ihm helfen könnte, und er kann es nicht bei sich behalten. Ach, Otto, unser Kind ist halb verhungert, und ich habe ihm wirklich gegeben, was ich nur geben konnte ...«
»Wir haben es falsch gemacht, Tutti. Es war für den Anfang zu fett. Das verträgt er wirklich nicht. Wir müssen es sachter mit ihm angehen lassen. Jedenfalls wollen wir hören, was der Arzt sagt. Gleich morgen mittag gehen wir zum Arzt.«
Zu dreien gingen sie dann los. Lange, lange saßen sie im Wartezimmer des Arztes, das überfüllt war. Auf allen Stühlen saßen sie, an den Wänden lehnten sie. Graue Gestalten, müde, ohne Hoffnung. Fast nur Frauen, aber fast alles Frauen mit Kindern.
Es war nicht die Sprechstunde des eleganten Privatarztes im Westen, hier war man bei einem Kassenarzt im Osten. Die hier saßen, blätterten nicht in Zeitschriften, hier war es, als sitze eine große Familie beisammen. Alle redeten mit allen, alle hatten die gleichen Sorgen, einer war ebenso wie alle anderen ...
»Wenn er meinem Willi bloß was verschreibt. Der Junge ist mir schon zweimal umgefallen.«
»Der verschreibt schon – dem ist es egal. Dem ist überhaupt alles egal.«
»Sagen Sie bloß das nicht, der Mann hat 'n Herz wie Gold. ›Sie müßten ins Krankenhaus, sich mal ordentlich ausruhen‹, hat er zu mir gesagt.«
»Na, und sind Sie ins Krankenhaus, sich ausruhen?«
»Ich kann doch nicht! Fünf Blagen hab ich zu Haus – was soll aus denen werden, wenn ich mich hinlege?!«
»Sehen Sie! Was ich sage! Was nützt Ihnen da sein goldenes Herz?!«
»Mit dem Verschreiben ist es nicht allein getan«, fing eine andere Frau an. »Unserer Omi hat er auch Milch verschrieben, aber sie ist ihr nicht bewilligt. Er hat auch Obere über sich.«
»Ein alter Mensch – wozu soll der auch Milch kriegen? Wo die jungen verhungern!«
»Sie reden auch, wie Sie's verstehen. Unsere Omi kriegt Altersrente, achtundzwanzig Mark im Monat, das hilft im Haushalt! Hundert Jahre müßte sie werden, die Omi!«
Aus einer anderen Ecke des Sprechzimmers kam es flüsternd, geheimnisvoll herüber: »... und wenn Se mal'n Bückling kriegen, dann nehmen Se de Haut un den Schwanz un den Kopp, überhaupt alles, was überbleibt, un denn wiegen Se das ganz fein mit 'nem Wiegemesser – und denn braten Se darin Ihre Bratkartoffeln! Det schmeckt. Sie ahnen ja nich, wie fett so'ne Bücklingshaut is!«
»Det will ick mir merken. Wir haben se immer bloß abgelutscht. Aber Kartoffeln mit braten, det is besser ...«
»An de Steckrüben können Se de Pelle ooch tun, denn schmecken se ganz schmalzen ...«
»Reden Se bloß nich von Steckrüben! Meine Schwiegermutter am Sonntag hat'n Steckrübenpudding gemacht, mit Himbeersaft. Die janze Stube hab ick ihr volljekotzt! Mir wird gleich kotzerig, wenn ick bloß Steckrüben rieche ...«
»Sie sind wohl in anderen Umständen, wat?«
»Um Jotteswillen, sagen Se doch bitte det nich! Ick hab schon viere – nee, es is, weil mir die Steckrüben so widerstehen ...«
»Jeder red, wie er's versteht. Ohne de Steckrüben wären wir alle längst verhungert.«
Es wurde wieder still.
Dann sagte eine Frau nachdenklich: »In der Landsberger Allee haben sie doch gestern früh wieder 'nem Bäcker seinen Laden ausgeräumt ...«
»Det kann nich stimmen, ich wohne doch in de Landsberger ...«
»Doch, det stimmt! Ick hab's mit meine eigenen Augen jesehen!«
»Wie is denn det jekommen?«
»Na, wie det so kommt! Eine Frau sagt: ›Det sollen 950 Gramm Brot sind? Wiegen Se det doch mal, Meester!‹ Er will nich, aber plötzlich schreien se alle: ›Er wiecht falsch‹, und da muß er ran an den Speck!«
»Na und? Erzählen Se doch weiter! Hat et jestimmt?«
»Nee, dreißig Gramm haben jefehlt. Und er entschuldigt sich und schneid noch 'ne Schnitte ab, über hundert Gramm; ick hätt se schon jenommen, so is man ja ooch nich ...«
»Ach, Sie sind det selbst jewesen mit die dreißig Jramm?«
»Icke? Wer sacht denn wat von mir? Jesehen hab ick et, sag ick ...«
»Erzählen Se man weiter, junge Frau. Det jeht keinen wat an, wer det war. Hier sitzen ja keene Spitzel, hier sitzen bloß arme Leute.«
»Det meen ick ooch. Na, hören Se, wie er sich da so entschuldijen will un verhaspelt sich, weil er doch bullrich is, und det er unrecht hat, will er doch ooch nich zujeben, da alle über ihn her, mit Schimpfen, er wiecht falsch, und er is'n Betrüjer. Und in det Jedränge und Jeschrei ein paar jleich übern Ladentisch jelangt nach de Brote!«
»Na, und nu? Erzählen Se doch bloß schnell, ick bin de Nächste, die rin muß zum Arzt ...«
»Na, der Dussel, der Bäckermeester, wie er det sieht – rin in de Hinterstube, wo er's Telefon hängen hat, nach de Polizei telefonieren! Det war nu falsch, denn gleich sind'n paar hinterm Ladentisch, den Schlüssel zu de Hinterstube umjedreht, det er nich wieder raus kann und: Nu jib ihm! Die Brote rausjefeuert aus't Rejal, immer mang uns! Keene drei Minuten, da war der Laden leer, keen Brot, keene Kunden ...«
Tiefe, andächtige Stille.
Der Arzt ruft ungeduldig durch die Tür: »Hören Sie nicht?! Die Nächste!«
Eine Frau erhebt sich widerwillig und verschwindet im Behandlungszimmer.
Eine andere Frau seufzt tief auf und sagt: »Da hätt ich beisein mögen! Gott war das schön! Aber so ein Schwein hat unsereiner nich!«
»Na, und ick?« fragt die Erzählerin. »Ich bin doch dabeijewesen, un ick bin ooch nischt Besseres als Sie!«
»Wieviel Brot ham Se denn mitjekriegt?«
Eine rotgesichtige Frau mit Keulenarmen sagt streng: »So wat fragt ein anständiger Mensch nich! Det riecht ja nach Spitzel!«
Sie werden nun alle still. Sie sinken alle ein bißchen in sich zusammen. Sie denken an das Erzählte. Auch Tutti denkt daran. Sie überlegt, wenn sie in dem Laden gestanden hätte, ob sie auch ein Brot mitgenommen hätte? Und mit Schrecken sagt sie sich: Jawohl, sie hätte auch eines genommen, sie hätte gestohlen! Lieber hätte sie es bezahlt, es war ihr ja nicht um den Geldeswert zu tun, auf die Nahrung kam es ihr an! Und wenn sie die nicht anders kriegen konnte, so würde sie sie auch stehlen! Ohne Gewissensbisse! Oder vielleicht doch mit Gewissensbissen? Ganz egal, sie hätte gestohlen!
Ottos Gedanken gingen ähnlich. Da stehen wir, dachte er, wie ein Ring halten wir Deutschland umschlossen – aber ist denn das noch Deutschland, was wir verteidigen? Es ist ja alles ganz anders geworden! Dies sind nicht mehr die Menschen, die im August 1914 jubelten.
Oder ist es nur ihr wirkliches Gesicht, das jetzt klar hervorkommt? Hatte nicht der Leutnant von Ramin so etwas im Granattrichter gesagt: Wir hätten keinen Glauben mehr gehabt? Keine Idee? Es war ja nicht das Brot, das diese Frau genommen hatte – das verstand Otto schon. Hunger tut immer weh, aber viel weher tut es einer Mutter, wenn sie ihre Kinder hungern sieht. Das ist ein Gefühl aus den Urzeiten her, da fallen alle Hemmungen. Nein, es war nicht das Brot ... Sondern es war dies, daß Otto, wo er auch gewesen war, in diesen vierzehn Tagen, und auch in den Tagen vorher, im Graben – nirgend hatte er gehört, um was es eigentlich ging: Was verteidigten sie denn eigentlich?
Deutschland? Dies war nicht Deutschland! Kein Feind konnte dieses Volk noch mehr hungern lassen, noch elender machen. Diesen Leuten war auch nicht mehr die kleinste Hoffnung zu nehmen – sie hatten keine einzige mehr zurückbehalten! Was verteidigten sie eigentlich? Für was kämpften sie? Unser oberster Kriegsherr, der Kaiser – ja, neulich war er an der Front gewesen, ziemlich nahe an der Front jedenfalls, nicht mehr als hundert Kilometer ab, und er hatte sich die erschöpften, verblutenden Truppen vorführen lassen, er war sehr gnädig gewesen ...
O Gott, das war es ja alles nicht! Das war ja alles Unsinn, kleinlicher Haß! Der Kaiser war ein großer Herr, er konnte wahrscheinlich auch nicht aus seiner Haut, er wußte nichts, gar nichts von seinem Volk ... Aber das Volk, was war mit dem? Für was kämpfte denn dieses Volk? Warum litt es so? Wozu wurde es so schlecht? Es mußte doch einen Sinn haben?! Es konnte doch nicht einfach untergehen und verrecken, und dann kam irgendein anderes Volk, und war eine Weile groß und glücklich und verreckte dann auch?! Das war unmöglich! Das ging nicht, das sah sogar er ein. Dann war es ja tausendmal besser, man kämpfte erst gar nicht, man wehrte sich gar nicht, man nahm eine Handgranate und zog ab!
Es muß einen Sinn haben, dies alles sinnlos erleiden ist unmöglich! Und wenn der Leutnant von Ramin und ich und keiner von meinen Kameraden diesen Sinn noch wissen, so heißt das nicht, daß es keinen Sinn hat. Wenn das Gesicht des Wohllebens vor dem Kriege sich jetzt in eine nackte Hungerfratze verwandelt hat, so sitzt doch vielleicht schon wieder hinter dieser Hungerfratze ein anderes Gesicht ...?
Es wird schon Leute geben, die es wissen, sagte sich Otto. Es kann ja gar nicht anders sein. Und wenn es heute noch keiner weiß, und wenn ich selbst es nie erfahre, für was ich eigentlich kämpfe, mein Junge wird es schon erfahren ...
Und er sieht Gustäving, den Vierjährigen, an und sagt zu ihm – aber nur er weiß, was er damit meint: »Es wird schon besser mit dir werden, Gustäving!«
Da tut der Arzt die Tür auf und ruft: »Der Nächste!«
Der Arzt ist ein kleiner rundlicher Mann mit einem müden faltigen Gesicht.
»Na schnell!« sagt er. »Was ist denn? Der Junge? Natürlich der Junge! Sie sehen auch nicht wie das blühende Leben aus, junge Frau! Krankenschein? Schön! Nee, lassen Se man, den Jungen brauch ich mir nicht näher anzusehen: unterernährt. Wissen Sie, lieber Soldat, ich soll das ja nicht sagen: unterernährt; es ist mir wenigstens nahegelegt worden, es nicht grade meinen Patienten zu sagen. Aber ich sage es doch. Und warum? Weil ich die Maßnahmen der Regierung sabotieren will? I wo! Ich sage es einfach, weil ich zu müde zum Schwindeln bin ...«
Er warf einen Blick auf den Jungen. Er schrieb, stempelte, schrieb.
»Ein halber Liter Milch täglich, dreißig Gramm Butterzulage, sagen wir hundertfünfzig Gramm Weizenbrot – es wird nicht alles bewilligt, aber was wird bewilligt, schreibe ich zweihundert Gramm Weizenbrot ...
Gestern«, sagte er und schrieb und stempelte immer weiter, »waren es hundertachtzig Patienten, heute sind es morgens um zehn schon über dreißig ... nur in der Sprechstunde ... Dann die Hausbesuche ... Und immerzu schreib ich ... Ich behandle doch keine Kranken? Ich bin eine Maschine, die Zusatzlebensmittel beantragt und Rezepte schreibt ... Und ich war mal bei Robert Koch Assistent! – Aber davon verstehen Sie nichts, es interessiert Sie auch nicht, Sie haben Ihre eigenen Sorgen ...«
Immer weiter schreibend, stempelnd: »Brechen, sagen Sie? Aber das ist doch sehr vernünftig von dem Jungen! Wenn der Mensch von was zu viel kriegt, bricht er's wieder raus. Ausgezeichnet, wozu soll er den ganzen Kotz verdauen? Er würde ja daran krepieren! Spiegeleier mit Speck, Bratkartoffeln mit Fett – und so ein Mägelchen, ein Wassersuppenmägelchen! Kotzt er! Was denken Sie, Soldat, was die Welt noch über diesen Krieg das Kotzen kriegen wird!«
Er fuhr zusammen: »Ach so, entschuldigen Sie, das durfte ich nicht sagen. Ich darf vieles nicht sagen, was ich sage. Ich rede auch nur aus reiner Müdigkeit. Ich rede immer weiter. Ich höre schon gar nicht mehr zu, was ich rede. Letzte Nacht habe ich anderthalb Stunde Schlaf gekriegt – das heißt, richtiger Schlaf war's auch nicht. Mein letzter Sohn ist jetzt auch an der Front – dreie sind schon hinüber. Na ja, das interessiert Sie nicht, mich interessiert es übrigens fast auch nicht mehr ... Hier sind Ihre Wische! Gehen Sie raus mit dem Jungen, warten Sie draußen, ich möchte mit der jungen Frau noch ein paar Worte unter vier Augen reden ...«
»Ich habe aber keinen Krankenschein für meine Frau ...«, sagte Otto zögernd.
»Krankenschein? Wer redet von Krankenschein?! Ich habe so viel Krankenscheine, ich kann die Wohnung damit tapezieren. Nein, gehen Sie – was ich mit der Frau zu reden habe, sind Frauensachen. Davon versteht ihr Männer nichts! Raus mit Ihnen, Soldat!«
Er schob Otto aus dem Zimmer.
Es dauerte ziemlich lange. Er stand wieder in dem Wartezimmer unter all den Frauen, der Junge war nur schwer in Ruhe zu halten.
Dann kam Tutti wieder, endlich kam sie wieder. Der Arzt sagte eilig: »Der Nächste, bitte!«
Sie hängte sich in seinen Arm ein, sie war so zärtlich, als sei sie sehr glücklich.
»Was hat er denn gesagt, Tutti?«
»Ach, nichts Besonderes. Daß ich mich sehr schonen soll und daß ich mich ruhig einmal ein paar Wochen ins Krankenhaus legen soll, nur zum Erholen, verstehst du, nichts Ernstliches.«
»Und sonst ...?«
»Sonst ...?«
»Darum schickt er mich doch nicht raus!«
»Ach Gott, Otto! Er hat mich untersucht, die Brust und den Rücken, weißt du. Er hat wohl gedacht, es wäre mir vor dir peinlich, wegen des Rückens. Und es wäre mir auch peinlich gewesen, Otto, das verstehst du doch?«
»Und sonst nichts?«
Sie lachte. »Aber was soll denn sonst sein, Otto? Nein, sonst wirklich nichts!«
»Wirklich nicht?«
»Aber Otto ...!«
»Dann ist's ja gut.«
Er schwieg. Er hatte das Gefühl, daß sie ihm nicht alles gesagt hatte. Es war ein ganz sicheres Gefühl. Er hatte den Gedanken, hinter ihrem Rücken noch einmal zum Arzt zu gehen. Aber er ließ es. Tutti würde ihm schließlich schon die Wahrheit sagen, sie hatte ihn noch nie belogen.
Und er hatte recht. Er erfuhr die Wahrheit noch – sie belog ihn nicht.
Sie waren viel zu früh an die Bahn gegangen, unnötig früh, fand Otto. Aber Gertrud hatte so gedrängt.
»Du kannst es wohl nicht abwarten, mich loszuwerden, Tutti?« hatte er gefragt.
Sie hatte nur gelächelt als Antwort – sie hatte in den letzten Tagen statt aller Antwort oft solch schönes Lächeln gehabt, sanft, von innen heraus, ein Leuchten, als sei ihr Glück unaussprechlich.
Der Junge war zu Haus geblieben, er wußte nicht, daß sein Vater wieder fuhr, er vergnügte sich mit einem Brotkanten.
Die Halle war schlecht beleuchtet, der Zug sah trostlos aus. Trostlos sahen auch die Urlauber aus, die nun wieder zurückfuhren an die Front. Fast stumm standen sie zwischen ihren Angehörigen. Die sahen den Abreisenden an, sie nickten, wenn er ein Wort sagte, sie nickten so eifrig. Vater fuhr ja wieder an die Front, vielleicht, vielleicht war es das letztemal, daß sie Vater sahen ...
Drückend, eine schwere Last, legte es sich auf Ottos Brust: Auch er fuhr wieder an die Front! In den ersten Tagen hatten ihn die Grabenerinnerungen noch quälend heimgesucht, aber dann war das tägliche Leben gekommen: Tutti, der Junge, die Auseinandersetzung mit Vater, die Suche nach Eva, die Hamsterfahrten – vierzehn Tage, mindestens elf Tage davon hatte er kaum an die Front gedacht.
Und nun mit einem Schlage, neben dem kohlenstaubbeschmutzten, kalten Zuge stehend, unter dem schlechten Licht zu weniger Lampen, hier wurde alles wieder wach. Greifbar deutlich sah er den Eingang zum Unterstand vor sich, die Erdstufen, die durch Bretter befestigt waren und die doch immer wieder im Schlamm versanken. Er roch den Mief des Unterstandes, überheizt und doch eisig, das faulige Stroh der Betten, alten, hängengebliebenen Schnapsgeruch, schlechten Tabak. Die völlige Freudlosigkeit des vor ihm liegenden Lebens überfiel ihn plötzlich. Die vierzehn Tage hier, so sorgenerfüllt sie auch gewesen waren, sie waren ein unfaßbar schöner Traum gegen das, was ihn erwartete!
»Wir hätten doch nicht so früh hierhergehen sollen«, sagte er, sich zusammenreißend. »Verdammter Zug!«
»Jetzt bist du schon draußen, Otto«, sagte sie zärtlich. »Du sollst aber bei mir sein.«
Er sah sie an. »Es ist schwer, weißt du, Tutti ...«, sagte er dann langsam, er schämte sich.
»Weißt du noch, als du das letztemal fuhrst?«
»Ja«, nickte er, froh, von seinen Gedanken abgelenkt zu werden, »die ganze Familie war mit, Vater, Mutter, die Geschwister. Du standest da hinten, an einem Pfeiler, ich durfte euch nicht kennen, dich und Gustäving ...«
»Heute sind wir allein, Otto. Ist es heute nicht besser?«
Er schüttelte den Kopf. »Schlimmer – weil man weiß, was einen draußen erwartet.«
»Ich habe damals nicht geglaubt, daß du wiederkommen würdest«, sagte sie mutig, ihn fest ansehend.
»Ich auch nicht – und diesmal ...«
»Doch, Otto, diesmal weiß ich bestimmt, du wirst wiederkommen!«
Er sah sie bloß an. Ein Flehen lag in seinem Blick – plötzlich war er wieder der weiche, hilfsbedürftige Mann, wie sie ihn kennengelernt.
Sie half ihm.
»Doch, Otto«, nickte sie. »Du kannst dich darauf verlassen: Du kommst wieder!«
»Keiner kann es wissen. Wer einmal draußen gewesen ist und das gesehen hat ...«
»Ganz egal, was draußen ist: Du kommst wieder, Otto!« Sie sah ihn an, sie sah auf die Bahnhofsuhr: noch fünf Minuten. »Otto«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand, »Otto, ich habe dir noch etwas zu sagen, etwas, was ich dir verheimlicht habe ...«
»Ja?« fragte er leise.
»Otto! Ich habe es mir aufgehoben. Du sollst es mitnehmen nach draußen. Otto – ich hätte grade meine Tage haben müssen; ich glaube, wir werden noch ein Kind haben!«
»Tutti ...«
»Ja, Otto, und ich bin so glücklich ...«
»Tutti, warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Ich hätte ... ich könnte ...«
»Was? Du wirst wiederkommen, Otto, wenn du das weißt. Fast noch neun Monate, Otto. Der Krieg wird aus sein, Otto; wenn das Kind kommt, wirst du bei mir sein für immer!«
»Einsteigen! Platz nehmen!« riefen die Schaffner.
»Oh, Tutti, Tutti! Warum hast du mir das nicht eher gesagt? Warum im letzten Augenblick?! Oh, ich möchte dich ... Ja, ich bin unendlich glücklich ...«
»Einsteigen! Beeilen Sie sich doch!«
»Du kommst ja wieder, Otto. Otto, lieber, lieber Otto, du hast mich unendlich glücklich gemacht, Otto ...«
»Ach, Tutti, laß mich jetzt reden – Kamrad, laß mir das Fenster, ja, bitte ...! Oh, Tutti, ja, ich bin so glücklich! Aber wirst du auch aufpassen, wirst du auch genug zu essen haben? Eine Frau, die ein Kind erwartet ...«
»Ich soll jeden Monat zum Arzt kommen. Er sorgt schon für mich.«
»Ich schicke dir von der Front, was ich kann. Manchmal erbeuten wir wundervolle englische Konserven ...«
»Du draußen, ich hier – wir denken nur an das Kind, und das bringt dich heim, Otto!«
»Abfahrt!«
Der Zug fuhr langsam an, die Verklammerung ihrer Hände löste sich. Sie versuchte mitzulaufen. Ihre Lippen formten immer wieder das Wort: glücklich!
Schließlich sah er sie, eine schwache, schiefe Gestalt, keuchend stehen, aber sie sagte noch immer, mit Augen, mit Mund, mit ihrem ganzen Sein: glücklich!
»Ich muß wiederkommen!« sagte er und schloß das Fenster. »Ich werde wiederkommen. Sie braucht mich doch! Glücklich – ja! Glücklich? Doch! – Ich komme wieder!«
Am Mittag des nächsten Tages wurde der Unteroffizier Otto Hackendahl auf dem Weg in den Graben seiner Kompanie von einem Granatsplitter verletzt. Er starb schon wenige Stunden später, nach schwerem Leiden. Er starb in eben jenem Unterstand, der ihm als schreckliche Vision auf dem Anhalter Bahnhof erschienen war. Wenn sein Auge in den letzten Minuten noch etwas sah, so waren es die im Schlamm versinkenden Eingangsstufen. Die letzte Luft, die er atmete, war die überhitzte und doch eisige, nach schlechtem Tabak und Schnaps stinkende Luft dieses Raums. Er starb auf dem faulenden Stroh seiner Pritsche.
Otto Hackendahl hatte seinen Kameraden, die sich um ihn kümmerten, nichts mehr an die Frau auftragen können. Der Granatsplitter hatte den Unterleib getroffen, er konnte nur schreien und stöhnen. Auch die beiden starken Morphiumspritzen, die ihm der Sanitätsoffizier kurz hintereinander gab, hatten diese Schmerzen nicht betäuben können. Doch wird er schon da kaum noch ein bewußtes Ich gewesen sein. Diese Erde mit ihrem liebevollen Sorgen um Weib und Kinder, mit ihrem unbeholfenen Fragen nach dem »Warum«, nach dem »Sinn« – war ihm schon bei Lebzeiten entglitten.
Der Kompanieführer, der seine Eltern benachrichtigte (von seiner jungen Verheiratung war bei der Kompanie nichts bekannt), schrieb, daß Otto Hackendahl ehrenvoll den Tod vor dem Feinde gestorben sei. Ein Trost sei es für die Eltern, daß er nicht gelitten habe, er sei sofort tot gewesen.
Die alte Frau Hackendahl weinte auf. »Das schreiben sie bei allen!«
Und der alte Gustav Hackendahl, der eiserne Gustav, fragte ganz sanft: »Mutter, was sollen sie denn sonst schreiben? Daß er sich gequält hat? Wollen wir's ihnen glauben – jetzt quält er sich nicht mehr.«
Verhältnismäßig spät erst erfuhr Gertrud Hackendahl von dem Tod ihres Mannes. Nach der ersten Ungläubigkeit, nach einem langen wilden Schmerz war all ihr Sinnen und Trachten, Nachrichten von den letzten Stunden Ottos zu erhalten. Sie wollte es einfach nicht glauben, daß er ihr kein Wort, keine Botschaft hinterlassen hatte ...
Schließlich erfuhr sie folgendes:
Die Urlauber seines Regiments – es waren etwa zwölf oder fünfzehn – erfuhren schon auf dem kleinen Ankunftsbahnhof, daß die Gräben seit Tagen in schwerem Feuer lagen. In der Nacht seien mehrfach Sturmangriffe unter schweren Opfern abgeschlagen, das Regiment habe schreckliche Verluste erlitten.
So schnell wie möglich marschierten die Leute ihren Stellungen zu. Sie marschierten in den immer stärker aufgrollenden Donner der Geschütze – sie kehrten zurück, wortlos, finster, aber sehr eilig. Alle waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Schließlich, schon ganz nah ihrem Ziel, entdeckten sie, daß der Verbindungsgraben zur Stellung vollständig zusammengeschossen war. Er war fast eingeebnet und lag dem feindlichen Feuer offen.
Sie warteten Viertelstunde um Viertelstunde in einem halb zerstörten Unterstand auf das Nachlassen des Feuers. Sie waren unschlüssig, berieten, ob man es wagen solle, und warteten wieder.
Jetzt dachte keiner mehr an die Heimat. Sie dachten nur noch an den Graben, an die erschöpften, zermürbten, übermüdeten Kameraden dort, an den Angriff, der in aller Kürze dieser Artillerievorbereitung folgen mußte. Und sie würden fehlen!
Nach einer neuerlichen, wieder ergebnislosen Beratung sagte Otto Hackendahl plötzlich: »Es hilft nichts. Die warten auf uns. Wir müssen voran.«
Er lief vor den anderen. Alle erreichten unverletzt den Graben. Erst dort, fast am Eingang seines Unterstandes, wurde er getroffen.
Dies war alles, was Gertrud Hackendahl in Erfahrung brachte. Aber es war ihr genug. Diese Worte »Es hilft nichts. Wir müssen voran« schienen ihr den ganzen Mann Otto Hackendahl wiederzugeben: geduldiges Fügen in ein schweres Schicksal, aber auch Mut.
Im Sinn dieser letzten Worte Otto Hackendahls versuchte sie zu leben und in einer schweren Zeit ihre Kinder zu erziehen: Gustav Hackendahl und Otto Hackendahl, der acht Monate und neunzehn Tage nach seines Vaters Tode geboren wurde.
Es hilft nichts, wir müssen voran ...
Es steckte schon etwas in diesem Satz, aber auch in der kleinen Gertrud Hackendahl, geborenen Gudde, auf der Insel Hiddensee gebürtig. Es steckte etwas darin!