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Es ist der 31. Juli 1914.
Dicht gedrängt bis tief in den Lustgarten hinein steht seit dem frühen Morgen die Menge am Kaiserlichen Schloß, über dem die gelbe Kaiserstandarte weht, das Zeichen für die Anwesenheit des obersten Kriegsherrn. Unaufhörlich fluten die Menschen ab und zu; sie warten eine Stunde oder zwei, dann gehen sie wieder an ihre täglichen Verrichtungen, die doch nur eilig, nur obenhin erledigt werden, denn auf jedem lastet die Frage: wird Krieg?
Vor drei Tagen hat das verbündete Österreich Serbien den Krieg erklärt – was wird nun geschehen? Wird die Welt ruhig bleiben? Ach, ein Krieg unten auf dem Balkan, ein Riesenreich gegen das kleine Serbenvolk – was kann das schon viel bedeuten? Aber sie sagen ja, Rußland macht mobil, der Franzose rührt sich – und was wird England tun?
Die Luft ist heiß, es wird immer schwüler. Es saust und braust in der Menge. Am Vormittag soll der Kaiser vom Schloß herab gesprochen haben – aber noch lebt Deutschland mit aller Welt in Frieden. Es gärt und braust – ein Monat ist vergangen mit Ungewißheit, mit Hin und Her, unverständlichen Verhandlungen, mit Drohungen und Friedensversicherungen, die Nerven der Menschen sind durch das lange Warten zermürbt. Jede Entscheidung ist besser als dieses schreckliche, dieses ungewisse Warten.
Durch die Menge drängen sich Verkäufer mit Würstchen, Zeitungen, Eis. Aber sie verkaufen nichts, die Leute haben keine Zeit zu essen, sie wollen auch nicht mehr die Nachrichten vom Morgen lesen, die längst überholt, unwahr geworden sind. Sie wollen die Entscheidung! Sie reden abgerissen, erregt miteinander, jeder weiß etwas. Aber dann – mitten im Gespräch – verstummen sie, alles vergessend starren sie zu den Fenstern des Schlosses hinauf. Zu dem Balkon, von dem heute vormittag der Kaiser gesprochen haben soll ... Sie versuchen, durch die Scheiben zu spähen, aber die blitzen, blenden in der Sonne; und wo sie hindurchspähen können, sehen sie nur gelbe, matte Vorhänge hängen.
Was geht dort drinnen vor? Was wird in jenem Dämmer beschlossen – über jeden Wartenden, Mann für Mann, Weib für Weib, Kind für Kind? Sie haben vierzig Jahre im Frieden gelebt, sie können es sich nicht vorstellen, was das ist: ein Krieg ... Aber doch ahnen sie, daß ein Wort aus dem stummen, verschlossenen Haus dort alles ändern kann, ihr ganzes Leben. Und sie warten auf dieses Wort, sie fürchten es, und sie fürchten doch auch, daß es ausbleiben könnte, daß so viele Wochen Wartens umsonst durchwartet sein könnten ...
Plötzlich wird es ganz still in der Menge, als halte sie den Atem an ... Es ist nichts geschehen, noch ist nichts geschehen, nur die Turmuhren schlugen, von nah und fern, schnell und langsam, hoch und mit tiefem Brummton: Es ist fünf Uhr ...
Noch ist nichts geschehen, sie stehen und warten atemlos ...
Da öffnet sich das Tor des Schlosses, sie sehen es aufgehen, langsam, langsam – und heraus tritt: ein Schutzmann, ein Berliner Polizist, in der blauen Uniform, mit Pickelhaube ...
Sie starren ihn an ...
Er klettert auf eine Treppenbrüstung, er bedeutet ihnen, daß sie still sein sollen.
Aber sie sind ja still ...
Der Schutzmann nimmt langsam den Helm ab, hält ihn vor die Brust. Sie verfolgen atemlos jede seiner Bewegungen, obwohl es nur ein ganz gewöhnlicher Schutzmann ist, wie sie ihn alle Tage auf allen Straßen Berlins sehen ... Und doch prägt er sich ihnen unauslöschlich ein. – Sie werden in den nächsten Jahren ungeheure und schreckliche Dinge sehen müssen, aber sie werden nie vergessen, wie dieser Berliner Schutzmann seinen Helm abnahm, ihn vor die Brust hielt!
Der Schutzmann tut den Mund auf, ach, sie hängen an seinem Munde – was wird er sagen? Leben oder Tod, Krieg oder Frieden?
Der Schutzmann tut den Mund auf und sagt: »Auf Befehl Seiner Majestät, des Kaisers, teile ich mit: Die Mobilmachung ist befohlen.«
Der Schutzmann schließt den Mund, er starrt über die Menge, dann setzt er ruckartig – wie eine Puppe – den Helm wieder auf.
Einen Augenblick schweigt die Menge, schon fängt es in ihr zu singen an, einzelne. Hunderte, Tausende von Stimmen vereinen sich: »Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen ...«
Ruckartig, wie eine Puppe, nimmt der Schutzmann den Helm wieder ab.
Über die Linden rasen die Automobile. Offiziere stehen in ihnen – sie schwenken Fahnen. Sie legen die Hände hohl an den Mund, sie rufen: »Mobil! Mobil!«
Die Menschen lachen glücklich, sie jubeln den Offizieren zu. Blumen fliegen durch die Luft, die jungen Mädchen reißen ihre großen Strohhüte vom Kopf, sie schwingen sie an den Bändern, sie rufen begeistert zurück: »Mobil! Mobil! Krieg!!«
Dies ist die Stunde der Offiziere, vierzig Jahre lang haben sie öden Gamaschendienst kloppen müssen, sie waren dessen so überdrüssig! Die Leute drehten sich kaum noch um nach ihnen, sie waren so überflüssig! Jetzt jubelt ihnen alles zu, die Augen leuchten – sie werden ja für Freiheit und Frieden eines jeden kämpfen und vielleicht sterben!
»Daß ich das noch erleben darf!« ruft der alte Hackendahl im Strudel der Begeisterten. »Nun wird alles wieder gut!«
An seinem einen Arm hängt Heinz, am anderen Eva, sie treiben in der Menge, sie lachen. Übermütig wirft Eva den Offizieren Kußhände ins Auto.
»Oh, Vater!« ruft Heinz und drückt den Arm des Vaters fester gegen seine Brust.
»Was denn, Bubi?« Hackendahl muß sich tief hinabbeugen, um in dem Trubel den Sohn zu verstehen.
»Vater ...« Er ist ganz atemlos. »Vater ...« Er stößt es hervor: »Ob ich nicht auch mit darf?«
»Was – mit?« Der Vater versteht ihn nicht.
»Mit heraus ... in den Krieg ... an den Feind! Ach, bitte, Vater!«
»Aber, Bubi«, sagt der Vater. Er spottet und ist doch glücklich über seinen Sohn: »Du bist doch erst dreizehn! Du bist doch noch ein Kind ...«
»Ach, Vater, es geht sicher, wenn du es erlaubst! Bring mich bei deinem alten Regiment an, bei den Pasewalkern ... Es gibt doch Trommlerjungen, ich weiß das!«
»Trommlerjungen! Und so was will der Sohn von einem altgedienten Wachtmeister sein! Trommlerjungen gibt es bei uns Deutschen nicht ... vielleicht bei den Rothosen ...«
»Ach, Vater!«
»Faß mich an, Evchen, faß mich fest unter! Wir wollen machen, daß wir nach Haus kommen! Wir müssen Otto Bescheid sagen – Otto weiß doch noch von nichts! Wenn heute Mobilmachung ist, muß er sich spätestens morgen stellen! Oder heute noch ... Ich weiß es nicht! Rasch, wir wollen nach Haus – ich muß das sofort in seinen Papieren nachsehen!«
Sie gehen gegen den Strudel an, oft kommen sie nicht von der Stelle. Sie müssen sich aneinander festhalten, um nicht getrennt zu werden.
Heinz sieht den Vater von der Seite an. »Du, Vater ...«
»Ja?«
»Vater, sei nicht böse, aber muß nicht auch Erich zu den Soldaten?«
»Muß ...?« Der Vater antwortet ganz bereitwillig, als sei Heinz ein Großer. Er hat eben auch darüber gegrübelt. »Muß – nein. Er ist doch erst siebzehn! Aber er würde sich freiwillig stellen können ...«
»Der Erich, Vater, freiwillig ...?«
»Wieso nicht? Redest du jetzt auch schlecht von deinem Bruder, Heinz? Jetzt gibt es das nicht, jetzt müssen wir alle zusammenhalten. Jetzt weiß einer wieder, daß er zum andern gehört – der Erich auch.«
»Ja, Vater, ich glaube es ja auch, es ist alles jetzt ganz anders!«
»Ja, ganz anders! Paß auf, jetzt kommt der Erich auch zurück. Jetzt kommt er ganz von selbst. Er muß ja, ich habe ja seine Papiere. Die braucht er jetzt. Aber auch so ... er würde auch so kommen, Bubi, er weiß ja jetzt, daß man nicht allein leben kann. Einer gehört zum anderen, alle gehören zusammen – wir Deutsche!«
»Ja, Vater.«
»Es hat wohl so sein sollen, daß wir ihn all diese Wochen vergeblich gesucht haben. Er hat erst lernen müssen, was das ist, wenn man ganz allein ist, niemanden hat. Jetzt gehören wir alle zusammen. Siehst du, wie die Eva mit dem Herrn lacht und spricht?! Eben haben sie sich noch nicht gekannt, und gleich kennen sie sich nicht mehr. Aber jetzt fühlen sie, daß sie zusammengehören, daß sie eine Sache haben – Deutsche! Paß auf, wenn wir nach Haus kommen, sitzt der Erich vielleicht schon bei Muttern und wartet auf uns. Dann aber soll kein Wort mehr von vergangenen Dingen gesprochen werden, Bubi, verstehst du? Alles ist vergeben und vergessen! Jetzt gibt's so was nicht mehr. Und ihr vertragt euch gefälligst auch, verstanden, als Brüder! Jetzt sind wir alle ... Halt, Eva, wo ist Eva? Dort ... Eva, hier sind wir doch! Guck einer das Mädchen! Sieht gar nicht, wo wir stehen! Eva!« Er legt die Hände an den Mund. »Eva – Hackendahl! Hak-ken-dahl! Hierher!«
Eine ganze Schar junger Männer kommt die Linden entlang, sie haben sich ineinander eingehakt, sie versuchen, so gut es eben im Gedränge geht, nach dem Takt zu marschieren. Dazu singen sie: »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen ...«
Einer der Marschierenden faßt lachend nach der gegen den Strom ankämpfenden Eva. Sie lacht auch, sie weicht ihm aus.
Hackendahl schüttelt den Kopf. »Weg ist sie! Ich sehe sie nicht mehr. Siehst du sie, Bubi? Nein, du bist natürlich viel zu klein ... Komm, Heinz, Eva wird schon allein nach Haus finden, wir wollen uns beeilen. Otto muß Bescheid haben, und vielleicht wartet Erich ...«
Es war Eva eigentlich ganz recht, daß sie von Vater und Bruder getrennt worden war. Sie hatte nichts dazu getan, aber als es geschah, hatte sie sich auch nicht übermäßig angestrengt, die Ihren wiederzufinden. Sie schob sich lachend mit der Menge fort, jetzt in der anderen Richtung, die Linden abwärts, dem Brandenburger Tor zu ...
Das Geschwätz der beiden hatte sie bloß gelangweilt, immer nur Erich und Otto, ewig bloß Krieg und Zusammenhalt. Pustekuchen! Jetzt sollten sie wohl noch näher aufeinanderhocken, eine einzige Verwandtschaft und Liebe – sie hatte von den letzten eingezogenen Wochen die Nase wahrhaftig voll! Und überhaupt Krieg – wieso denn Krieg? Dies war erst einmal Mobilmachung – und so viel hatte sie in letzter Zeit auch schon begriffen, daß Mobilmachung kein Krieg war.
Aber wenn Krieg so wurde, wie heute Mobilmachung aussah, dann war er eine großartige Sache! Noch nie hatte sie die Männer so aufgekratzt gesehen, mit so leuchtenden Augen! Ein kleiner Dicker, ein Uralter, sicher schon vierzig, mit Knebelbart, faßte sie plötzlich um die Taille. »Na, Kleene?! Freuste dir ooch? Ick freu mir!«
Und war schon weiter, ehe sie noch protestieren konnte. »Kriegsbraut gesucht, die mir noch schnell die Socken stopft!« rief ein junger Mann, krähend. Und alle lachten.
Es war herrlich, sich von diesem Gewoge treiben und wiegen zu lassen, es war Feststimmung!
Eine Hand legte sich von hinten auf ihre Schulter, eine etwas heisere Stimme fragte: »Na, Frollein, immer noch jut zuweje?«
Sie fuhr herum, und erschrocken sah sie in ein Gesicht, das sie einmal kurze Minuten gesehen und nicht vergessen hatte, in ein bräunliches, freches Gesicht mit schwarzem Schnurrbart.
»Was wollen Sie?« rief sie. »Ich kenn Sie gar nicht – lassen Sie mich gefälligst los!«
Der junge Mann lächelte. Er sah sie an und sagte: »Det macht ja nischt, wenn Se mir nich kennen – denn werden Se mir eben kennenlernen!«
»Lassen Sie mich zufrieden! Oder ich rufe einen Schutzmann!«
»Na, rufen Se doch, Frollein, rufen Se! Ick helf Ihnen jerne rufen. Oder wollen wa zusammen zu einem jehn, wie, wat? Det macht mir jar nischt, so ein Blauer – blau is immer meine Lieblingsfarbe jewesen. Sie haben auch ein hübschet blauet Kleid an, Frollein.«
Eva war immer eine richtige Berliner Göre gewesen, frech und vorlaut. So leicht konnte ihr niemand Angst einjagen. Aber jetzt hatte sie Angst, ihre Frechheit verging vor der Selbstsicherheit dieses Kerls, seiner kalten Großschnäuzigkeit, der unverschämten Art, mit der er ihr Kleid antippte, gerade auf der Brust. Und zwischen den Brüsten hing ...
»Bitte, lassen Sie mich gehen«, bat sie schwach. »Es muß eine Verwechslung sein ...«
»Natürlich laß ick Ihnen jehn«, antwortete er lachend. »Jehn is bei die Hitze jesund. Kommen Se man, Frollein, ick jeh ooch'n Stückchen.« Und er faßte sie ungeniert unter den Arm. »Wat die Affen sich haben«, fuhr er überlegen fort, »bringen sich um, vor Bejeisterung, bloß weil se in'n Krieg dürfen. Als wenn se det nich einfacher hätten, det Abschlachten, vorm Spiegel mit'm Rasiermesser. – Nee«, sagte er abschließend, »so was is nischt for uns – wir sind mehr für Lebeschön, wat, wie?«
»Bitte ...«, flehte sie eindringlich. »Lassen Sie mich gehen, ich kenn Sie doch gar nicht!«
»Mächen!« flüsterte er. Plötzlich hatte sich sein lächelndes Gesicht verändert, er sah sie mit einem bösen, kalten Zorn an. »Mach mir keene Zicken! Seit vier Wochen loof ick Berlin ab nach dir, nu find ick dir endlich – denkste, ick laß dir nu wieder loofen?«
Er sieht sie drohend an, und unter dieser Drohung erzittert sie und schweigt.
»Denkste, ick hab dir die Sachen in deine dußlije Marchttasche gesteckt, von der det Bild an alle Litfaßsäulen klebt, damit du se behältst? Nee, Frollein, so doof sind wir nich ... Det mußte mir allet fein wieder abliefern ...«
Er sah sie an, und sie, gegen ihren Willen, sie nickte ...
»Und wenn de abjeliefert hast, denn sind wir noch lange nich fertig miteinander! So eine wie dich ha'ick schon lange jesucht, frisch aus Mutters Mottenkiste, det erleichtert mir mein Jeschäft ... Wat denkste, wie fein ick dir anlernen tu! Du wirst noch 'ne janz jroße Nummer – aufm Alex werden se sich dein Bild einrahmen: Det is nämlich die, die mit 'nem Juwelendiebstahl bei Wertheim anjefangen hat!«
»Bitte nicht!« flehte sie. »Die Leute ...«
In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft. Es mußte möglich sein, sich von ihm loszureißen und im Gedränge zu verschwinden ... Sie wartete nur auf den Augenblick, wo der Druck seines Armes einmal nachließ ...
»Also, wie heißte denn?«
»Eva ...«, sagte sie schwach.
»Na, und wie denn weiter, meine süße, kleene Eva?«
»Schmidt!«
»Na natürlich doch, Schmidt! Ha'ick doch jleich jedacht – Meier wäre mir auch zu jewöhnlich jewesen! – Und wo wohnste denn, Frollein Schmidt?«
»In der Lützowstraße.«
»Also in de Lützowstraße, feine Jejend, wie? Und wo haste denn die Dingerchen, die feinen, blanken, glitzrigen, du weeßt schon. Zu Hause, wat?«
»Habe ich auch!« sagte sie kühn. Sie war jetzt fest entschlossen, ihm, sobald es paßte, mit der freien Hand in die Augen zu fahren, sie würde ihn kratzen, loskommen ...
»Also zu Hause«, wiederholte er höhnisch. »Auch ne jute Jejend, bei euch zu Hause, wat, wie? Und wo haste sie denn da? Wohl unterm Kopfkissen, wat?«
»Nein«, sagte sie. »Im Gewicht von der Hängelampe.«
»Im Jewicht von der Hängelampe«, wiederholte er nachdenklich. »Det is jar nich so schlecht, du hast ja Talente für deinen Beruf! Det Vasteck haste dir nich eben erst ausjedacht. Du hast also schon früher jeklaut, wat?«
Sie antwortete nicht, wütend über ihren Fehler.
Und wieder kommt bei ihm dieser plötzliche Übergang von lachendem, grinsendem Hohn zu brutaler, nackter Drohung. Sein dunkles Gesicht nahe ihrem weißen, flüstert er mit heiserer Stimme: »Un nu will ick dir ma erzählen, wat jespielt wird, mein Frollein Schmidt aus de Lützowstraße mit de Hängelampe! Kuschen wird jespielt, Parieren wird jespielt – wenn ick pfeife, kommste, vastanden?! Vastanden – du? Sieh mir an, du – Nutte!« Sie sieht ihn an, zitternd.
»Du Nutte von einem Dieb, du!« sagt er zwischen den Zähnen. »Du feinet Frollein – Eva – Hackendahl!«
Er sieht sie triumphierend an, er kostet mit Wonne ihr Entsetzen, als sie merkt, es gibt kein Entrinnen, er kennt ihren Namen. Es gibt keine Flucht ...
Er genießt seinen Triumph. Aber da er sie so vollständig unterworfen sieht, nur noch schneeweiß und zitternd, verliert sich sein Zorn. Der Sieger wird großmütig.
»Ja, da staunste«, sagt er lachend. »Mußte dir eben keinen alten Herrn anschaffen, der deinen Namen über de halben Linden tutet! Siehste, ick bin ja nich so, ick tu nich, als könnt ick hexen. Det war doch dein Vater, der so rief ...?«
Sie nickt.
»Wenn ick dir wat frage, haste zu antworten! Sag ja!«
»Ja ...«
»Sag: ›Ja, Eugen!‹«
»Ja – Eugen.«
»Jut – und nu, wo wohnste wirklich? Aber mach mir nich noch mal Schwindel, ick versprech dir, für jedesmal, wo de mir anschwindelst, schlag ick dir alle Knochen kaputt! Und ick tu's ...«
Sie ist überzeugt, daß er es tun wird, ihr Kopf sucht nach einem Ausweg und findet doch keinen ...
»Wo wohnt ihr?«
»Frankfurter Allee.«
»Wo da?«
»Der Fuhrhof ...«
Er pfeift durch die Zähne. »Ach, der is det, der mit de Droschken? Den kenn ick doch, die janze Zeit grüble ick: Die Wachtmeisterfresse kennste doch! Aber da krieg ick ja ein feinet Frollein Braut, da krieg ick ja ein prima Vahältnis, det is ja jroßartig ...« Er ist plötzlich sehr aufgeräumt. »Und nu paß uff, Kleene ... Evchen ...«
Sie zittert wieder.
»Kuck bloß nich so ängstlich. Vor mir brauchste doch keene Angst haben, ick bin der jutmütigste Kerl von janz Berlin, ein wahrer Trottel bin ick – wenn de tust, wat ick dir sage. Also heute abend um neune biste an der Ecke von der Großen und Kleenen Frankfurter Straße. Vastehste?«
Sie nickt, aber als sie eine Bewegung bei ihm sieht, sagt sie rasch: »Ja – Eugen.«
»Die blanken Dingerchen, du weeßt schon, die brauchste nich extra mitzunehmen, weil de se nämlich schon mit hast ... So doof mußte nich noch mal sind, 'nem ausjekochten Jungen zu erzählen, se sind im Jewicht von der Hängelampe, wo ick die janze Zeit det Band in deinem Ausschnitt sehe ...«
Wieder erblaßt sie.
»Aber ick bin nich so, die Sore nehm ick dir ab, wat willste ooch damit? Tragen kannste die Dinger doch nich, und du fällst bloß rein damit. Aber ick jeb dir mal wat anderes, wat de tragen kannst, ooch schöne Sachen – ick hab es ja dazu ...
Und überhaupt, Mächen«, und jetzt drückt er ihren Arm, aber zärtlich, »det wird 'ne janz prima Sache mit uns beiden, da mußte dir nich vor ängsten, wir werden noch manche jute Stunde miteinander haben.«
Er lacht kurz, ihr Arm liegt jetzt still in seiner umspannenden Hand. »Nur eins: Parieren mußte, da hilft dir nischt – un wenn ick oben uff de Siejessäule sage: Spring!, denn springste, sonst kenn ick mir nich vor Wut.«
Er läßt sie plötzlich los, sieht sie prüfend an. »Haste Angst, wie, wat?«
Sie nickt langsam, Tränen in den Augen.
»Det jibt sich, Evchen«, sagt er, oberflächlich tröstend. »Zuerst hat jede Angst jehabt, aber det jibt sich. Un mach mir keene Dummheiten mit Rennen uff de Polizei – da schlag ick dir langsam tot, heute oder in zehn Jahren.«
Er lacht kurz, nickt noch einmal und befiehlt dann: »Marsch, nach Haus!«
Ehe sie sich noch besinnen kann, ist er fort.
In einem Zimmer im ersten Stock eines Hauses an der Jägerstraße geht ein schwerer, schwärzlicher Mann in Hemd und Hose auf und ab. Er geht auf und ab, er pfeift dabei die Marseillaise, seine Füße in ledernen Hausschuhen gehen sachte über den mit Linoleum belegten Boden.
Ab und zu tritt der Mann ans Fenster und sieht auf die Jägerstraße hinunter, die auch etwas von dem Trubel abbekommen hat, der an diesem ersten Mobilmachungsnachmittag Unter den Linden herrscht. Dann schüttelt der Mann den Kopf, er pfeift leiser, aber er marschiert weiter.
Nun fliegt draußen die Etagentür auf. Rumm! Rumm! schlägt sie zu, eilige Schritte kommen, die Tür wird mit einem Ruck geöffnet, und in ihrem Rahmen steht rasch atmend, mit geröteten Wangen Erich Hackendahl.
Der schwere dunkle Mann sieht den jungen Menschen ernst an. »Nun ...?« fragt er.
Erich ruft nur: »Mobil!«
Der Mann sieht ihn weiter unverwandt an, er nimmt dabei die Weste vom Stuhl und fängt an, sie überzuziehen. »Das war zu erwarten«, sagt er schließlich langsam. »Aber mobil heißt noch nicht Krieg!«
»Ach, Herr Doktor!« ruft Erich noch immer ganz atemlos. »Die Menschen sind ja so begeistert! Sie haben gesungen: ›Nun danket alle Gott‹. Ich habe auch mitgesungen, Herr Doktor.«
»Warum sollen sie nicht begeistert sein?« fragt der Doktor und fährt in die Jacke. »Es ist doch etwas Neues! – Und dann hat wahrscheinlich ihr strahlender Kaiser wieder einmal geredet, von schimmernder Wehr, von Feinden in aller Welt ...«
»Nichts! Nichts! Nichts von alledem!« ruft der Junge. »Ganz falsch, Herr Doktor! Ein Schutzmann ist aus dem Portal gekommen, ein ganz einfacher Blauer, und hat die Mobilmachung bekanntgemacht. Es war herrlich!«
»Er ist ein großer Theatermann, euer Heldenkaiser«, sagt der schwere Mann ungerührt. »Jetzt macht er es also mit der altpreußischen Schlichtheit – er hat Friedrich den Einzigen kopiert. Aber, Junge, Erich, merkst du denn nicht, daß du ihm auf den Leim gehst – du kennst doch seine leidenschaftliche Liebe für Prunk und Trara! Und plötzlich ein einfacher Schutzmann – das ist doch alles Mache!«
»Es war aber keine Mache, als wir den Choral sangen«, antwortete der Junge, fast trotzig.
»Und hast du dir denn nicht die Leute angesehen, die da sangen? Das war doch nicht das Volk, mein Sohn, nicht der Arbeiter, der die Werte schafft. Das waren dicke Bürger, und wenn die ihrem Gott für die Mobilmachung danken, so danken sie ihm für das große Geschäft, das sie wittern. Das ganz große Geschäft, Kriegsgewinne aus der Leiche des Bruders ...« »Oh, pfui, pfui, Herr Doktor!« rief Erich leidenschaftlich. »Sie sind ja nicht dabeigewesen! Die haben nicht an Geschäft gedacht, die haben an Deutschland gedacht, das bedroht ist, von Rußland, von Frankreich, vielleicht sogar von England ...«
»Überlege doch ruhig, Erich«, sagte der dunkle Mann, ungerührt von dem Ausbruch des Jungen. »Du hast doch einen guten Verstand, denke doch einmal nach! Wenn wir jetzt mobil machen, bedrohen wir doch wieder die anderen, und vielleicht steht zur gleichen Stunde der Arbeiter an der Newa und an der Seine und fühlt sein Vaterland bedroht, nun aber von uns!«
Erich stand betroffen, nachdenklich. »Die anderen ...«, fing er an.
Der Mann lächelte. »Jetzt willst du sagen, Erich, daß die anderen angefangen haben – wie die Kinder einander bei der Mutter verklagen. Wir sind aber keine Kinder mehr, Erich. Der Arbeiter, Erich, hat kein anderes Vaterland als die Arbeiterschaft der ganzen Welt ...«
»Aber Deutschland ...!«
»Deutschland, Erich, ist heute noch ein Land, in dem der Arbeiter rechtlos ist. ›Arbeite und kusche‹ ist hier die Losung. Der deutsche Arbeiter hat nur einen Freund auf der Welt, das ist der Arbeiter in Frankreich, der Arbeiter in Rußland – und auf den soll er schießen?« Plötzlich jäh: »Wir sind hundertzehn sozialdemokratische Abgeordnete im Reichstag – wir bewilligen die Kriegskredite nicht, wir sagen nein. Mit uns sagt nein fast ein Drittel des deutschen Volkes.«
»Ich habe am Schloß gestanden«, fing Erich nach einer Pause wieder hartnäckig an. »Ich habe sie singen hören, ich habe mitgesungen, Arbeiter haben mitgesungen. Es kann keine schlechte Sache sein, die uns so begeistert hat ...«
»Es ist eine schlechte Sache. Du bist jetzt berauscht, Erich, aber es ist ein schlimmer Rausch. – Du weißt noch nicht, was das ist, ein Krieg, wenn Menschen Menschen erschießen, wenn es einer Mutter Sohn erlaubt ist, einer anderen Mutter Sohn zu töten, zu verstümmeln ...«
»Und wissen Sie denn, was das ist: Krieg?« rief Erich.
»Ich weiß es. Seit meiner Jugend habe ich für den Arbeiter gekämpft, auch das war ein Krieg, es gab alle Tage Tote, Verstümmelte ... Aber ich habe gewußt, wofür ich kämpfte, dafür, daß der deutsche Arbeiter, und mit ihm der Arbeiter der Welt, ein wenig glücklicher, ein wenig leichter lebte. Wofür kämpft ihr? Sag es doch!«
»Für die Verteidigung Deutschlands!«
»Aber was ist denn dein Deutschland?! Hat es ein Haus für seinen Sohn, tägliches Brot für ihn, auch nur das Recht auf Arbeit?! Soll er sein verwanztes Bett verteidigen, den Schutzmann, der ihm seine Versammlungen auflöst? Das hat er in der ganzen Welt, dafür braucht er kein Deutschland!«
»Es muß falsch sein, was Sie sagen«, antwortete Erich. »Ich kann es nicht mit Worten sagen, aber ich fühle das: Deutschland ist noch etwas anderes ... Und wenn der Arbeiter wirklich nur ein verwanztes Bett hat, wie Sie sagen, so wird er mit ihm in Deutschland unter Deutschen glücklicher sein als in der ganzen anderen Welt ...«
Sie standen eine Weile schweigend, auf der Straße schwoll der Jubel und Trubel und sank wieder, schwoll und sank, es war wie Brandung des Meeres ...
Der große Mann bewegte sich, wie aus einem Traum. »Du mußt jetzt gehen, Erich«, sagte er ganz ruhig. »Ich kann dich nicht länger bei mir behalten.«
Erich machte eine Bewegung.
»Nein, Erich, ich schicke dich nicht im Ärger fort. Aber ich bin Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei, ich kann keinen Kriegsbegeisterten als Sekretär um mich haben. Das geht nicht. Als du vor vier, fünf Wochen zu mir kamst, ratlos, hilflos, da dachte ich, ich könnte dir helfen. Du würdest einer der Unseren werden, ein Mitarbeiter am großen Werk der Befreiung der Arbeiterschaft ...«
»Sie waren sehr gut zu mir, Herr Doktor«, sagte Erich stockend.
»Du hattest Schlimmes getan, Erich, und du wolltest noch Schlimmeres tun, das Schlimmste, was ein Mensch tun kann: dich wissentlich, willentlich in den Dreck legen und verkommen. Ich kannte dich aus den Debattierversammlungen, ich kannte deinen schnellen, scharfen Geist, etwas Kritisches, das dich mit deinem behaglichen Daheim unzufrieden sein ließ. Du schienst mir ein Umstürzler, ein Rebell – und wir brauchen Rebellen.«
Erich machte eine hastige Bewegung, besann sich und schwieg.
»Du willst sagen«, sprach der Abgeordnete, »daß du noch immer ein Rebell bist. Aber du bist es nicht, denn du willst in einen Krieg ziehen, der die bestehende schlechte Ordnung verteidigt. Denn du willst doch mit, nicht wahr? Kriegsfreiwilliger – ja?«
Erich nickte trotzig. »Ich muß«, sagte er. »Ich fühle, das Volk will diesen Krieg, nicht ich allein!«
»So?« fragte der Abgeordnete spöttisch. »Wollen wir jetzt schon einen Krieg? Ich dachte, wir verteidigen uns. Nun, wir Sozialdemokraten jedenfalls wollen ihn nicht, wir werden gegen Regierung und Kriegskredite stimmen. So werden die Arbeiter in aller Welt tun – und es wird aus sein mit euerm Krieg!«
Er schnippte mit den Fingern.
»Es wird nicht aus sein mit dem Krieg – und ihr werdet auch für den Krieg stimmen!« rief Erich. »Sie haben ja das Volk noch gar nicht gesehen, Sie sitzen auf den Büros, auf Fraktionsversammlungen, aber das Volk, das Volk ...«
»Natürlich«, sagte der Mann, »nun erzähle mir noch, daß ich das Volk nicht kenne. – Aber, Erich, wir wollen uns doch nicht im Streit trennen. Du wirst jetzt nach Haus gehen, Erich. Hier«, er schloß den Schreibtisch auf, »sind die vierhundertachtzig Mark, die du mitgebracht hattest – gib sie deiner Schwester zurück. – Es ist gleichgültig«, rief er ungeduldig, »ob das Geld deiner Schwester rechtmäßig gehört oder nicht, du sollst unbelastet von uns heimkehren – dorthin. Und hier hast du achtzig Mark für deinen Vater – du kannst sie unbesorgt nehmen, es ist ungefähr das, was ich als dein Gehalt gedacht hatte, du hast sie redlich verdient.« Leiser: »Ich habe mich immer gefreut, wenn ich dich hier sah ...«
»Sie sind sehr gut zu mir, Herr Doktor«, sagte Erich wieder.
»Nein, ich bin nicht gut zu dir. Ich dürfte dich nicht gehen lassen – in dieses Abenteuer. Aber ich habe keine Zeit, um dich zu kämpfen. Jetzt muß dieser Krieg verhindert werden, das ist mein Kampf.«
Sie standen einen Augenblick schweigend.
»Vielleicht auf Wiedersehen, Erich!« sagte der Doktor dann freundlich.
»Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, antwortete Erich leise.
Zum erstenmal seit langen Wochen hatte die Familie Hackendahl wieder einmal vollzählig um den Abendbrottisch gesessen, und der alte Vater hatte so wenig eisern in die Runde geschaut, wie es ihm nur möglich war. Alles war wirklich vergeben und vergessen, keinerlei unangenehme Fragen waren gestellt worden. Was der Friede veruneinigt hatte, der nahende Krieg hatte es zusammengeführt.
Sophie war auch heimgekommen, vom Krankenhaus war sie auf einen Sprung herübergelaufen, zu erfahren, welche Veränderungen der Krieg der Familie Hackendahl bringen würde.
»Also Otto rückt schon morgen früh ein«, berichtete Vater Hackendahl zufrieden, »und Erich werden sie wohl auch gleich dabehalten, wenn er sich freiwillig stellt. Und Sophie, du denkst also auch bald an die Front zu kommen, wenn du auch erst Lehrschwester bist?«
»Und ich«, rief Bubi. »Du sagst nein, Vater, aber ich sage, sie nehmen mich doch. Jetzt wird jeder Mann gebraucht.«
Alle lachten, und Hackendahl meinte: »Es wäre schlimm um uns bestellt, wenn wir schon Kinder wie dich brauchten! Das haben wir Gott sei Dank noch nicht nötig. – Aber, hört mal, denkt ihr denn gar nicht an mich?!«
»An dich, Vater? Wieso?«
»Na, ich werde mich doch natürlich auch freiwillig melden.«
»Aber, Vater, du bist doch ein alter Mann!«
»Ich alt? Ich bin erst sechsundfünfzig! Was ihr könnt, kann ich noch allemal!«
»Aber dein Geschäft, Vater – die Droschken!«
»Was geht mich das Geschäft an? Jetzt geht das Vaterland vor. Nein, Kinder, das ist ausgemacht, ich gehe mit.«
»Immer hat Vater gesagt«, jammerte die Mutter, »er kann sich nicht einen Tag freinehmen, das Geschäft geht nicht ohne ihn. Und jetzt plötzlich kann er ganz einfach in den Krieg!«
»Wirst du dich eben um das Geschäft kümmern, Mutter!«
Wieder lachten sie.
»Ich meine das im Ernst. Wer, denkt ihr denn, soll jetzt all die Arbeit von den Männern machen, die ins Feld ziehen? Doch nur ihr Frauen! Das wird schon gehen, Mutter. Eva hilft dir. – Was ist mit dir, Eva, du sitzt so blaß da und redest keinen Ton ...?«
»Ach, nichts, Vater. Es ist wohl nur die Hitze und das Gedränge beim Schloß gewesen ...«
»Vater«, fing Heinz wieder an. »Ob ich wohl noch mitkomme? Wie lange, denkst du denn, kann der Krieg dauern ...?«
Wieder lachte der Vater. »Du Grünschnabel! Sechs Wochen, höchstens bis Weihnachten – dann bist du immer noch dreizehn! Nein, Weihnachten feiern wir schon wieder zu Hause. Bei den modernen Kampfmitteln ...«
So ging die Unterhaltung. Aber Vater Hackendahl merkte gar nicht, daß es eigentlich nur er war, der sprach, daß die anderen alle recht seltsam schwiegen.
Mit gesenktem Kopf saß Erich am Tisch, jawohl, nun war er wieder zu Hause, es war alles vergeben und vergessen. Das Geld war zurückgezahlt worden, morgen würde er zum Direktor gehen und sich wegen Zeugnis und Abschlußprüfung erkundigen – und dann zu den Soldaten! Wie eh und je saß er in der Familie, sie trugen ihm nichts nach – aber schon jetzt, nach einer kurzen Stunde, lag es wie ein Druck auf ihm, es würgte ihn im Halse. Diese altgewohnten, diese bis zum Überdruß gesehenen Gesichter, das ewige Jammern der Mutter, die Art, wie der Vater das Messer benutzte, der ständige Pferdestallgeruch um Otto – ach, es war eine Kette, die sich an sein Bein legte!
Als er beim Anwalt gewesen war, hatte er einfach nicht verstehen können, daß er, Erich, ein gemeiner Hausdieb gewesen war, feige Geld gestohlen hatte, um damit zu Alkohol und Weibern zu laufen ... Nun saß er wieder hier, und schon verstand er es. Man tat hier ja alles, nur um aus dieser Umgebung herauszukommen, aus diesem Mief und Muff jämmerlichster Kleinbürgerlichkeit! War das derselbe Krieg, von dem Vater jetzt so platt und dumm daherredete (»Wir werden sie schon dreschen, die Rothosen!«), und der Krieg, von dem er zum Anwalt gesprochen hatte? Nein, es war ein ganz anderer Krieg! Dies hier, dies Heim, diese Menschen waren nicht zu verteidigen, so etwas mußte man einreißen, das war nicht Deutschland!
Eva, die Stumme, die Blasse, Eva aber, die sonst immer mit dem Munde vorweg war, saß vor ihrem Teller, sie stocherte mit der Gabel, das Essen quoll ihr im Munde. Von ferne hörte sie die anderen reden. Das war so weit weg, aber sie mußte um neun Uhr an der Ecke von der Großen und der Kleinen Frankfurter Straße sein – und der Vater erlaubte nie, daß sie nach dem Abendessen noch fortging.
Aber, wenn sie an eine Ausrede denken wollte, verwischte sich gleich alles. Sie konnte ihre Gedanken nicht festhalten. Das bräunliche Gesicht mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart und den bösen schwarzen Augen schob sich dazwischen. – »Du Nutte!« hatte er gesagt. Keiner hatte je so zu ihr gesprochen, aber wenn es einer getan hätte, sie hätte ihn bloß ausgelacht. Wenn sie es auch mit den Männern nicht so genau nahm, das hatte sie noch nie getan, und so war sie auch keine Nutte. Er aber nahm sie von Anfang an so, und in seinen Händen würde sie immer so sein, er würde sie dazu machen ...
Unausweichlich, unentrinnbar stieg ihr Schicksal vor ihr auf. Flüchtig muß sie daran denken, daß ihr Erich kurz vor dem Abendessen »ihr Geld« wiedergegeben hat, mit einer verlegen gemurmelten Entschuldigung – sie muß daran denken, wie groß sie jetzt dastände, fast fünfhundert Mark und so viel kostbaren Schmuck ... Aber an der Ecke der Kleinen und Großen Frankfurter Straße flackert die Gaslaterne im Sommerabend, Eugen – Eugen! – pfeift, und sie kommt. Eugen sagt: Lad ab!, und sie lädt ab. Eugen befiehlt: Leg dich hin!, und sie legt sich hin!
Aber das dritte Kind? Aber der Otto? Er ist der einzige von den sieben Personen, die um den Abendbrottisch sitzen, der sein Schicksal für die nächsten Tage genau kennt, in diesen Tagen, da alles allen so ungewiß ist. Er stellt sich morgen, er wird eingekleidet, verladen ...
Er steigt die Treppe hinauf, er drückt zweimal auf den Klingelknopf – und dann? Und dann?!
Der Gustäving, der Junge, der wird dann schon schlafen, aber nur um so schlimmer! Allein, ohne Ablenkung, werden sie einander gegenüberstehen, und sie wird fragen: Und dein Versprechen? Die Papiere? Die Trauung? Gustäving ...?
Sein Hirn arbeitet langsam, es überlegt, daß die Papiere wohlgeordnet in des Vaters Schreibtisch liegen, für jedes Kind gibt es eine Mappe. Morgen früh, direkt, ehe er in die Kaserne geht, wird Vater den Schreibtisch aufschließen und ihm geben, was er haben muß: den Militärpaß also, den Geburtsschein, den Taufschein ... Ja, braucht er die denn ...?
Und sein Kopf verliert den Weg über dieser Frage: Was braucht er für Papiere? Was braucht er für Papiere für das Militär, und was für Papiere für den Pastor? Aber er hat ja gar keine Zeit für den Pastor, direkt, wenn er die Papiere hat, muß er in die Kaserne. Ein Pastor aber braucht viel Zeit, Traukutsche und Orgel, Rede und Hochzeitszeugen – und sie haben ja noch nicht einmal Ringe!
Hilflos sieht er hoch. Er schaut in die Gesichter von Geschwistern und Eltern, er bewegt die Lippen, fast erlöst denkt er bei sich: Das werde ich ihr sagen: Wir haben ja noch keine Ringe! Und wer keine Ringe hat, den kann man doch auch nicht trauen, das verstehst du doch, Tutti?
»Was redest du denn, Otto?!« ruft Bubi übermütig. »Ich glaube, der redt mit dem Mann im Mond!«
Alle lachen, und der Vater sagt: »Der Otto ist schon gar nicht mehr bei uns. Der sagt sich schon die Felddienstordnung her. Oder die Kriegsartikel. Nicht wahr, Otto?«
Otto murmelt etwas, und die anderen vergessen ihn gleich wieder, wie sie ihn immer gleich vergessen. Nein, denkt er, es ist unmöglich, den Vater schon heute abend um die Papiere zu bitten, und wenn es möglich wäre, so hätte es keinen Zweck, denn nachts wird man nicht getraut, und morgen früh ist keine Zeit mehr ...
Der alte Vater Hackendahl, der eiserne Gustav, sitzt so recht behaglich am Abendbrottisch der wiedervereinten Familie und fühlt: Es ist alles noch wieder gut geworden, alle sind wieder heimgekehrt, wie es sich gehört.
Aber er irrt sich, er fühlt sich nur darum so behaglich, weil er nichts weiß von seinen Kindern. Alle denken sie fort, alle empfinden den Familienzwang lästig, allen brennt der Boden unter den Füßen. Aber Hackendahl merkt nichts von alledem, und er ist darum baß erstaunt, als sich seine Familie sofort nach dem Mahlzeit-Sagen zerstreuen will.
»Aber, Kinder!« ruft er vorwurfsvoll. »Ich denke, wir sitzen alle noch ein bißchen gemütlich zusammen. Bubi holt eine Kanne Bier und ein paar Zigarren, und wir quatschen noch ein bißchen! So jung kommen wir doch nicht wieder zusammen!«
Sophie aber muß sofort ins Krankenhaus und Otto zum Rappen mit der Nasenblesse, der ein heißes Bein hat und gekühlt werden muß. Erich aber will unbedingt noch zum Schloß, ob es Neues gibt, und Eva möchte ihn ein Stück begleiten – sie denkt, ihre Kopfschmerzen gehen in der Abendluft fort.
So bleibt nur Bubi – und der muß natürlich ins Bett. Da er aber heftig protestiert, so gibt dies willkommenen Anlaß zu einem gewaltigen militärischen Befehlsaufwand. Bubi wird nach allen Regeln der Kunst »gestaucht«, und als das vorüber ist, als Bubi heulend im Bette liegt, entdeckt Hackendahl, daß seine anderen Kinder indessen verschwunden sind.
Nur die Mutter sitzt behaglich im Korbsessel am Fenster, sieht in den sinkenden Abend und jammert zufrieden: »Das war mal wieder ein schönes Abendessen, Vater. Aber der gekochte Schinken hatte einen kleinen Stich von der Hitze – hast du das gemerkt, Vater? Und zu fett war er auch. Ich sage Eva immer, sie soll gekochten Schinken bei Hoffmann holen, aber sie hört ja nicht.«
Vater Hackendahl geht in den Stall, wird er wenigstens mit Otto noch ein bißchen schwatzen können!
Aber Otto ist nicht im Stall. Er ist über die beiden Höfe gegangen, und nun steigt er wirklich die Treppen empor, die vielen Treppen bis hinauf in den fünften Stock, die wie eine Aufgabe vor ihm gelegen haben. Er ist wohl schwach und ohne Eigenwillen, aber darum ist er noch kein Drückeberger. Er steigt die Treppen hinauf, er ist nicht zu Haus geblieben, er hat dem Rappen mit der Nasenblesse nicht das entzündete Bein gekühlt, das hat er dem Rabause aufgetragen.
Als Otto oben im fünften Stock ist, seufzt er nur einmal schwer auf. Aber er zögert nicht, er drückt zweimal auf den Klingelknopf der Gertrud Gudde, Schneiderin. Er muß eine ganze Weile warten, ehe Tutti an die Tür kommt, Tutti, die schon geschlafen hat, mit aufgelöstem Haar, in einem wolligen Morgenrock.
»Du, Otto?!« ruft sie ganz erstaunt. »Jetzt noch?«
Es stellt sich heraus, daß sie noch nichts weiß. Sie ist den ganzen Tag nicht aus dem Haus gekommen. Eine Zeitung liest sie nicht – und ihre Anproben sind ohne Absage ausgeblieben.
»Mobil«, sagt Otto nur. Er sieht sie scheu an. Dann sagt er: »Ich muß gleich wieder weg. Vater weiß nicht, daß ich fort bin.«
»Was ist das: mobil?« fragt sie ängstlich. »Heißt das Krieg?«
»Nein, nicht. Es heißt, daß ich morgen in die Kaserne muß.«
»Mußt du wieder dienen? Soldat sein? Aber warum, wenn es keinen Krieg gibt? – Es ist doch nicht Krieg?!«
»Nein, Tutti.«
»Aber warum mußt du dann in die Kaserne?«
»Vielleicht«, versucht er zu erklären, was er selber nicht genau versteht, »vielleicht bekommen die anderen Angst, wenn sie sehen, wieviel Soldaten wir haben.«
»Darum mußt du in die Kaserne?«
»Vielleicht – ich weiß doch nicht. Mobil heißt: Ich muß wieder dienen.«
»Wie lange denn?«
»Das weiß ich auch nicht ...«
Stille, lange Stille. Er sitzt mit gesenkten Augen da, er schämt sich, daß er sie angelogen hat, alle haben davon geredet, daß es Krieg wird. Er aber sagt ihr immer bloß, daß mobil nicht Krieg ist. Vielleicht ist es die letzte Stunde, die sie so zusammensitzen ...
Sie hat nachgegrübelt. Nun fragt sie: »Was sagt der Vater?«
»Ach, der ...«
»Was sagt er, Otto?«
»Der ist doch immer noch wie beim Militär ...«
»Er sagt, daß Krieg wird ...?«
Otto nickt langsam.
Lange Stille.
Dann kommt ihre Hand zu der seinen über den Tisch. Seine Hand will ausweichen, aber sie wird gefangen. Erst widerstrebt sie, dann fügt sie sich in die kleine Hand mit den zerstochenen, harten Fingerkuppen der Näherin.
»Otto«, bittet sie, »sieh mich doch an ...«
Wieder will die Hand entweichen, und wieder läßt sie sich halten.
»Otto!« bittet Tutti.
»Ich schäme mich so ...«, flüstert er.
»Warum denn, Otto? Hast du Angst vor dem Militär?«
Er schüttelt hastig den Kopf.
»Vor dem Krieg ...?«
Wieder Kopfschütteln.
»Aber warum schämst du dich denn, Otto?«
Er spricht nicht, er macht wieder einen Versuch, seine Hand zu befreien, er sagt: »Ich glaube, ich muß gehen.«
Sie kommt rasch um den Tisch, sie setzt sich auf seinen Schoß. Sie flüstert: »Komm, sag es mir ganz leise, warum du dich schämst ...«
Er hat nur einen einzigen, idiotischen Gedanken im Kopf. »Ich glaube, ich muß nach Haus«, sagt er und will sich von ihr frei machen. »Vater schilt sonst ...«
Sie hat ihre Arme um seinen Hals gelegt. Nur schwach glimmt der Lebensfunke in ihr, aber rein. »Mir kannst du doch sagen, warum du dich schämst, Ottchen«, flüstert sie. »Ich schäme mich ja auch nicht vor dir ...«
»Tutti«, sagt er. »Ach, Tutti ... Ich taug ja nichts. Vater ...«
»Ja, sag ... sag, Otto!«
»Ich habe die Papiere nicht ...«
»Welche Papiere?«
»Die Papiere! Ich habe solche Angst – Vater erlaubt es nie!«
Lange, lange Stille. Sie liegt so ruhig an seiner Brust, klein, schwach, zerbrechlich ... Als schliefe sie. Aber sie schläft nicht, sie hat die Augen weit geöffnet, diese Augen mit dem sanften und doch glühenden Taubenblick ... Sie versucht, seinen Augen zu begegnen, seinen scheuen, blassen Augen ...
Plötzlich steht er auf. Er hält sie im Arm, er trägt sie wie ein Kind. Mit ihr auf dem Arm geht er im Zimmer herum, sie vergessend, sich vergessend, alles ...
Er murmelt mit sich, er spricht leise. »Ja, du«, sagt er etwa, »du denkst, du bist was. Aber daß der Rappe lahmt, das habe ich gesehen und nicht du ... Und daß der Piepgras dich beschummelt, das weiß nur ich, nicht du ... Aber das ist es nicht. Du willst überall sein, nicht nur in Haus und Stall, auch in Erich willst du sein und in Heinz und in Mutter. Was jeder Kutscher denkt, das willst du wissen, und es darf nur das sein, was du denkst. Als Junge habe ich mir mal eine kleine Wassermühle gebaut und sie unter der Leitung laufen lassen, und du hast mir die Wassermühle zertreten und gesagt, das ist Dreck, das braucht zuviel teures Wasser – das habe ich nie vergessen ...
Du und deine Kinder ... Aber deine Kinder wollen dich alle nicht, und ich will dich am wenigsten! Mich, denkst du, hast du am festesten, aber mich hast du gar nicht, nichts von mir. Bloß, daß ich tue, was du willst, damit ich dein Geschrei nicht mehr hören muß ...«
»Otto! Otto! Was redest du?« ruft sie in seinem Arm.
»Ja, du bist auch da. Ich weiß, du bist da, meine Gute, meine Einzige, mein ganzes Glück. Die Einzige, die mich nie getreten hat! Aber ich habe dich nie allein gehabt, auch hier ist er immer gewesen, noch drinnen, wenn wir beieinanderlagen, noch drinnen ...«
»Otto! Otto!!«
»Aber wenn es jetzt wirklich Krieg gibt, und ich mit muß, so will ich beten, daß mir ein Arm oder ein Bein abgeschossen wird, daß ich nicht mehr in seinem verfluchten Stall arbeiten muß, unter seinen Augen, daß ich irgendwoanders hingehen kann, wo ich ihn nicht sehe, ihn vergesse ...«
»Otto, er ist doch dein Vater!«
»Mein Vater ...? Er ist bloß der eiserne Gustav, wie die Leute sagen, und er ist noch stolz darauf! Aber man soll nicht stolz darauf sein, daß man eisern ist, denn dann ist man kein Mensch und kein Vater! Ich will nicht mehr nur sein Sohn sein, ich will ein eigener Mensch sein! Ganz wie die anderen alle!«
Einen Augenblick stand er aufgerichtet, schon verfiel er. »Aber es wird nichts, es wird nie etwas ... Ich habe gedacht, wenn Krieg wird, werde ich den Mut haben, zu Vater zu gehen. Aber auch jetzt wird es nicht.«
»Otto, mach dir doch um die Trauung keine Gedanken! Ich habe es doch nicht meinetwegen gesagt! Wir sind immer glücklich gewesen, das weißt du doch!«
»Glücklich, glücklich ...«
»Ach, Otto, es hat doch Zeit, wir lassen uns trauen, wenn du wiederkommst ...«
» Wenn ich wiederkomme ...!«
Es ist Morgen, sieben Uhr morgens. Morgen eines Wochentages, Arbeitstages.
Aber auf dem Hackendahlschen Fuhrhof stehen alle Droschken unbespannt nebeneinander, Gepäckdroschken und offene Droschken, Droschken erster und zweiter Klasse. Sie stehen nebeneinander, als ruhten sie aus, als gebe es keine Arbeit mehr für sie ...
Die Kutscher laufen umher in Sonntagsanzügen, sie ziehen die Pferde aus dem Stall. Vater Hackendahl steht an der Hofpumpe, er mustert jeden Gaul, sieht nach, ob er gut genug geputzt ist, läßt die Hufe schmieren, einen Trensenzügel verschnallen ... Die Pferde sind aufgeregt wie die Menschen, es macht sie unruhig, daß sie ihr gewohntes Geschirr nicht tragen. Sie werfen den Kopf, sie sehen nach den leeren Droschken hinüber, sie wiehern ...
»Hoffmann!« ruft Hackendahl dröhnend. »Kämm deiner Liese die Mähne noch mal durch! Zieh ihr'n Scheitel, mein Junge, dann sieht sie gleich schmucker aus!«
»Jawoll, Herr Hackendahl, det sich ein Franzose in sie verliebt!«
»Oder bei de Russen kricht se Läuse! Die jehen dann immer den Scheitel ruff un runter un singen: ›Ach, Niki, ach, Niki, wie biste doch so süß!‹«
»Ruhe!« befiehlt Hackendahl mit Donnerstimme in das brausende Gelächter hinein. Aber auch er ist aufgeregt und vergnügt, es ist ein großer Tag für ihn. »Maul halten! – Rabause, sind jetzt alle draußen?«
»Jawoll, Herr Hackendahl, zweiunddreißig Pferde. Elf Stuten, zwanzig Wallache und dann der Klopphengst ...«
»Den Klopphengst werden sie jedenfalls nicht nehmen ...«, sagt Hackendahl nachdenklich.
»Sie werden die mehrsten nich nehmen, Herr Chef«, meint Rabause tröstend. »Unsere Pferde sind zu leicht fürs Militär.«
»Ein Stücker zwanzig möchte ich auch behalten. Was denkt ihr, mit was ihr hier Droschke fahren wollt? Droschke muß auch im Kriege sein.«
»Und wo werden Sie die Kutscher hernehmen, Herr Chef? Elf Mann sind bloß noch da, die anderen sind schon alle bei den Preußen.«
»Als Kutscher nehmen wir junge Leute!«
»Junge Leute wird's bald auch nich mehr geben, Herr Chef, die Jungen stellen sich doch alle freiwillig ...«
»Na, dann muß Muttern eben auf den Bock«, ruft Hackendahl lachend. »Dann müssen die Frauen fahren, wenn die Männer weg sind ...«
»Herr Chef, Herr Chef, Sie machen ja Witze!« ruft Rabause auflachend. »Wenn ick mir das so vorstelle, Ihre Frau mit Ihrem Lackpott auf dem Bock – und dann die Leine in der Hand – nee, das möchte ich wirklich noch erleben ...«
»Dann los!« befiehlt Hackendahl mit Stentorstimme. »Abmarsch! – Komm, Bubi!« ruft er zum Fenster hinauf. »Wenn du noch mit willst, wird's Zeit!«
Heinz verschwindet aus dem Fenster, die Mutter winkt von oben, halb weinend, halb stolz. Es ist ein nie gesehener Anblick: Alle Pferde der Tag- und Nachtschicht verlassen gemeinsam den Fuhrhof, einhundertachtundzwanzig Hufeisen klappern auf dem Steinpflaster, die Schwänze wehen, die Köpfe werden geworfen ... Jawohl, es ist ein stolzer Anblick, es ist das letztemal, daß der Fuhrhof Hackendahl nach Wohlhabenheit und Fülle aussieht ...
»Warum hat denn die Eva nicht aus dem Fenster gesehen?« fragt Vater Hackendahl, etwas unzufrieden. »So was sieht das Mädchen doch nicht alle Tage!«
»Ach, die! Die sitzt wieder in ihrem Zimmer, die ist ja komisch, Vater.«
»Weißt du denn nicht, was mit ihr los ist, Bubi? Sie ist doch ganz verändert!«
»Ich weiß, daß ich nichts weiß!« zitiert der Gymnasiast seinen Klassiker. »Aber mir schwant, Vater, daß sie sich einen angelacht hat – und vielleicht muß der auch in den Krieg!«
»Die Eva? Unsinn! Das müßte ich doch wissen!«
»Du, Vater?«
»Wieso nicht? Was meinst du denn?«
»Ach, gar nichts, Vater!«
Eine Weile gehen die beiden schweigend nebeneinander. Auf der Fahrbahn der Frankfurter Allee klappern die Pferdehufe. Die Menschen auf der Straße bleiben stehen, sie schmunzeln bei dem Anblick, das ist doch noch etwas: Pferde, die in den Krieg ziehen.
Hackendahl trägt eine Mappe mit Papieren unter dem Arm, die Gestellungsbefehle der Musterungskommission für seine Pferde. Er schreitet langsam und würdig neben seiner Truppe, bei den Straßenkreuzungen eilt er voran, um zu sehen, ob die Nebenstraßen auch frei sind. Er winkt und mahnt: »Franz, verlier den Schimmel nicht!« – »Immer Schritt halten. Hoffmann!«
Bubi ist noch beschäftigter. An jeder Litfaßsäule bleibt er stehen, er liest die Aufrufe, stürzt hinter dem Vater her und berichtet: »Du, Vater, der Kriegszustand ist jetzt erklärt!« – »Vater, der Kaiser hat gesagt, er kennt keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Sind die Roten denn nun nicht mehr rot?«
»Das wollen wir erst mal abwarten, wie die im Reichstag abstimmen. Der Kaiser hat ein viel zu gutes Herz, der denkt immer, alle sind so anständig wie er.«
»Du, Vater, die Bevölkerung wird gewarnt, sie soll auf Spione aufpassen. Vater, woran erkennt man denn Spione?«
»Das werden wir schon sehen! Halt nur immer die Augen offen, Bubi! So ein Verräter verrät sich gleich durch sein schlechtes Gewissen, der kann keinen grade ansehen.«
»Komm, Vater, wir wollen mal aufpassen, wer uns entgegenkommt. Wenn die nun ausspionieren, wieviel Pferde eingezogen werden, das ist doch möglich, Vater!«
Aber er vergißt es gleich wieder. »Vater! Vater!!«
»Ja doch – was ist denn schon wieder, Bubi! Ich muß auf die Pferde aufpassen!«
»Hast du das von den Goldautos gelesen, Vater? Die Russen sollen ja drei Autos mit Gold im Lande haben, und wir sollen sie anhalten. Vater, drei ganze Autos voll Gold!«
»Die kommen nicht mehr über die Grenze!« sagt der Vater befriedigt. »Den Russen ist der Krieg erklärt! Da sind die Grenzen zu.«
»Aber wenn die nun zu den Franzosen rüberfahren? Den Franzosen haben wir doch noch nicht den Krieg erklärt. Warum denn noch nicht, Vater? Die Franzosen sind doch der Erbfeind!«
»Das wird schon alles der Reihe nach kommen«, erklärt Hackendahl. »Nur nicht drängeln! Die Franzosen kommen auch noch ran – und vor allem die Engländer! Die wollen uns bloß unsere Flotte und die Kolonien nehmen, die sind ja so neidisch, die Brüder ...«
Immer dichter ist das Gedränge geworden. Wenn man zu Anfang nur da und dort einen einsamen Fleischer- oder Gemüsegaul sah, den sein Herr zur Musterung führte, jetzt sieht man Pferde über Pferde. Die Brauereien bringen ihre schweren belgischen, die Tattersalls ihre leichten ostpreußischen Pferde. Herrschaftskutscher mit Backenbärten führen Hannoveraner Kutschpferde – denn 1914 glauben noch lange nicht alle feinen Leute, daß ein Automobil wirklich fein ist, sondern schwören auf ihre Equipage.
Und in all dem Lärm und Gedränge begrüßen sich Bekannte, die Droschkenkutscher rufen ihre Kollegen an, Schultheiß-Fahrer sprechen mit den Riebeck-Leuten und machen ihnen die Gäule schlecht, die Fleischer, deren Pferde immer am aufgeregtesten sind – sie sollen einer Sage nach alle Tage Ochsenblut zu saufen bekommen und davon so feurig sein –, die Fleischer treffen schon Verabredungen untereinander: »Wenn se deinen nehmen, fahr ick dir dein Fleisch. Un wenn se meinen nehmen, fährst du mir meins!« (Sie ahnen noch nicht, wie wenig Fleisch sie in gar nicht langer Zeit zu fahren haben werden.)
Auch Hackendahl sieht Bekannte genug: die kleinen Krauter, die mit ein oder zwei Droschken fahren, den Inhaber des Begräbnisinstitutes, dem er bei Hochkonjunktur mit Rappen aushilft, den Möbelfritzen von schräg gegenüber, dem seine Gäule immer so schnell pflasterlahm werden.
»Tach, Orje, det is heute ein Betrieb ...«
»Ne Masse Schinder mang ...«
»Na, die schicken uns alle mit unsern Zossen wieder heeme. Wat sollen se denn mit uns? Sie haben erst mal ihre Anspannung.«
»Haste schon gehört? Die Franzosen sollen Fliegerbomben auf Stuttgart geworfen haben.«
»Ick muß mir morgen ooch stellen – mein Jeschäft ist hops.«
»Wat denkste, wat zahlen die einem so for de Kröpels? Die müssen einem doch jewissermaßen ein Aufjeld jeben, weil man doch den Verdienstausfall hat.«
»Du willst wohl am Kriege noch verdienen? Schäm dir wat, oller Kriegsgewinnler! Det jibt es in dissem Kriege aber nich!«
»Und wovon soll Muttern leben?«
Ja, Hackendahl hat zu tun, er muß auf seine Pferde aufpassen, und er muß seine Bekannten begrüßen. Er ist ein angesehener Mann in seinem Viertel und in seinem Beruf, die Leute hören ihm zu, wenn er was sagt. Sie nicken mit dem Kopf: »Jawohl, das ist richtig, was der eiserne Gustav gesagt hat, das ist ein Aufwaschen, den Engländer kloppen wir ooch noch auf de Finger. Wozu haben wir denn Tirpitzen seine Flotte ...?«
Aber nun biegen sie von der Straße ab. Hier ist, zwischen letzten Mietskasernen, ein großer, freier Platz. Sonst wurde hier ein kleiner Wochenmarkt abgehalten, aber jetzt sind Pfähle eingerammt, Balken mit Ringen darübergelegt, zum Anketten der Pferde. Militär ist da, Militär in Drillich und Offiziere in voller Uniform und das – ja, was ist das? »Was stellt denn der vor? Kennst du die Uniform?«
»Ja, wie sehen die denn aus?«
»Wat is denn det für 'ne Uniform?!«
Hackendahl nickt verständnisvoll mit dem Kopf. Er als altgedienter Mann kann die richtige Auskunft geben: »Feldgrau!«
Feldgrau! Das Wort fliegt von Mund zu Munde, es ist etwas Neues: feldgrau. Nein, sie werden in diesem Kriege nicht die gewohnten bunten Uniformen tragen, sie werden feldgrau sein ...
»Aber warum denn bloß?! Det is doch schade! Det sieht doch nach jar nischt aus!«
»Mensch, quassel noch – det se'ne Schießscheibe abjeben!«
»Det wird sich Willem schon richtig mit Moltken überlegt haben!«
»Nu haben die Franzosen wohl auch keine roten Hosen mehr an? Det is aber schade! Ick habe mir so jedacht: Aus deinem ersten Jefangenen machste dir 'ne rote Weste ...«
Unterdes hat die Musterung längst angefangen, ununterbrochen werden Namen aufgerufen.
»Nu mal ein bißchen Trab! – Galopp! Schön! Beine sind gesund. Heh, nehmen Sie ihm mal das Bein hoch – ist der Huf nicht geborsten?«
Der Tierarzt schaut dem Gaul ins Maul, sieht die Zähne nach. »Acht Jahre«, sagt er.
»Den hab ick aber vor sechse jekooft, Herr Oberveterinärrat!«
»Acht!«
»Train! Stangenpferd. Zweite Gruppe ...«, schnarrt ein Offizier abschließend.
Ein Schreiber schreibt, ein Soldat nimmt dem Besitzer die Zügel aus den Händen. »Nee, Mensch, die Trense behalten wir. Haste nich gelesen, auf dem Gestellungsbefehl: mit Stallhalfter?«
Der Besitzer hält eine Anweisung in den Händen. »Dreihundertfünfzig Mark – kucke mal, Gustav, dreihundertfünfzig Mark für meine Braune. Das is nicht schlecht bezahlt, das is anständig!«
»Ganz reell«, sagt Gustav. »Nicht zuviel und nicht zuwenig, ganz reell – wie alles beim Militär.«
Nun kommt auch sein Stall dran. Pferd auf Pferd wird vorgeführt ... Hackendahl führt nicht selbst vor, das hat er nicht nötig, dafür hat er seine Leute, er ist ein großer Mann. Und so fühlt er sich auch – er gibt dem Vaterland, er gibt ihm nicht nur Söhne, er gibt ihm auch Pferde, Besitz. Er kann in dieser Stunde etwas opfern, das macht ihn zufrieden.
Er steht bei der Gruppe der Offiziere, hinter ihm steht Heinz. Bubi kann die Offiziere nicht glücklicher ansehen, als es der Vater tut. Das ist der alte stramme Ton, geschnarrt oder genäselt, aber sachlich kurz, Entschließungen im Bruchteil einer Minute. Kein endloses Weibergetratsch, kein: Kommste heute nich, dann kommste morgen!
Ein Offizier funkelt Hackendahl durch sein Einglas an. »Was stehen Sie hier rum. Mann? Was horchen Sie hier? Machen Sie sich nicht verdächtig!«
»Das sind meine Pferde«, sagt Hackendahl erklärend.
»Ihre Pferde? Na schön! Meinethalben! Was haben die Gäule gemacht?«
»Droschke gefahren, Herr Oberleutnant!«
»Droschke? Werden was anderes zu fahren kriegen, hähä! Aber gut im Stand – Pferdeverstand, was?«
»Wachtmeister bei den Pasewalker Kürassieren gewesen, Herr Oberleutnant!«
»Altgedienter Mann, Pferdeverstand, merkt man! Bißchen leicht, bißchen klein – aber in Ordnung!«
Ja, daß die Hackendahlschen Pferde in Ordnung waren, das merkte man wirklich. Stück für Stück ging weg, es machte Hackendahl ganz stolz.
»Au, Vater, die nehmen ja alle!« flüsterte Heinz aufgeregt. »Womit sollen wir denn Droschke fahren?«
»Danach wird jetzt nicht gefragt. Hauptsache, das Militär bekommt, was es braucht.«
»Was ist denn mit dem Schimmel, Wachtmeister?« fragte der Offizier wieder. »Junges Tier, aber ohne Mumm. Hat nichts in den Knochen?«
»Zu Befehl, Herr Oberleutnant! Vor fünf Wochen mit 'nem Auto überjagt, Schreck gehabt – ist seitdem nicht wieder zurechtgekommen. War mein Bester!«
»Auto? Böse Sache! Das heißt – na ja, Gäule jedenfalls vornehmer. – Untauglich, der Schimmel!«
Ja, der Schimmel wurde untauglich. Auch den Klopphengst wiesen sie zurück. Und dann nach und nach noch drei Pferde. »Ganz nett – aber zu alt! Halten einen Vormarsch nicht mehr aus.«
»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!«
Hackendahl bekam seine Anweisung, es war eine Anweisung auf eine sehr hohe Summe. Viel Geld, die Pferde, die für Hackendahls gearbeitet, von denen sie gelebt hatten, in Geld umgesetzt. Es war viel und wenig, eine hohe, fünfstellige Zahl – aber es war auch Hackendahls Lebensarbeit, das, was er aufgebaut, für das er geschuftet hatte, als Zahl auf ein Blatt Papier niedergeschrieben.
Er sah auf das Blatt, er dachte daran, wie er Pferd für Pferd Tag um Tag besorgt hatte, wie er, ehe er sich zu einem Kauf entschloß, zehn-, zwanzigmal gelaufen war, gehandelt hatte. Er dachte daran, wie er den Kutschern auf der Pelle gesessen hatte, daß sie die Pferde nicht überjagten, wie er oft beobachtend hinter einer Litfaßsäule gestanden und aufgepaßt hatte, daß die Pferde auch während der Wartezeiten gefüttert und getränkt wurden. Die Pferde, der Stall, das Fuhrgeschäft – sie waren sein Lebensinhalt gewesen, seit es das Militär nicht mehr sein konnte. Es war so leer in ihm ...
»Hoffmann, ihr findet mit den Pferden allein nach Haus. Ich gehe mit Heinz noch ein Stück.«
»Jawohl, Herr Hackendahl.«
»Spannt gleich ein, wenn ihr zu Haus seid. Heute sind Droschken knapp – und wir müssen sehen, daß wir ein bißchen was verdienen.«
»Der Schimmel auch, Herr Hackendahl?«
»Jawohl, der Schimmel auch. Du kannst ihn selber nehmen, Hoffmann.«
»Machen wir, Herr Hackendahl.«
»Komm, Bubi, wir gehen noch ein Stück raus. Mir ist heute so.«
»Ja, Vater.«
»Der Soldat dort sollte den Braunen nicht so kurz am Trensenstrick nehmen, der Gaul war ein bißchen empfindlich im Maule.«
Aber es war egal, es waren nicht mehr seine Pferde – sie gehörten nun dem Vaterland.
Sie waren noch ein Stück die Frankfurter Allee hinausgegangen, die Häuser standen immer spärlicher. Dann kamen Gärten, kleine Feldstücke – und nun lag das erste richtige große Kornfeld vor ihnen: Roggen.
»Sieh mal, Bubi, Roggen, Korn, angemäht, aber nicht weitergemäht. Der ist längst reif. Denen ist auch der Krieg dazwischengekommen. Wer das nun wohl erntet?«
Er sah über die weiten Felder, alles war still und verlassen. Kein Mensch war an der Arbeit zu sehen, nur auf den Straßen liefen und fuhren sie eilig.
»Es wird schon so kommen, Bubi, wie ich heute früh zu Rabause gesagt habe: Die Frauen werden jetzt die Männerarbeit machen müssen.«
»Mutter auch?«
»Natürlich. Mutter auch.«
»Na, Vater ...«
»Was ist mit Mutter? Wenn sie muß, wird sie schon können. Ich will heute nachmittag auch sehen, daß ich mich stelle als Freiwilliger.«
»Aber du bist doch zu alt, Vater! Und dann hast du immer mit dem Herzen zu tun.«
»Ich habe gar nichts mit dem Herzen!«
»Doch – manchmal wirst du ganz blau, Vater!«
»Also! Ich werde mich stellen, und sie werden mich nehmen. Du wirst sehen!«
»Aber ...«
»Sie werden mich nehmen! Und nun halte den Mund, Bubi!«
»Dann nehmen sie mich auch, Vater!«
»Du sollst den Mund halten, Bubi!!«
Eine Weile gingen sie schweigend. Sie bogen in einen Feldweg, vor ihnen lag erhöht ein Bahndamm.
»Wohin geht denn die Bahn, Vater?«
»Nach Strausberg, Bubi. Und dann immer weiter nach dem Osten, bis nach Posen oder nach Rußland ...«
»Da kommt ein Zug, Vater!«
»Ja, ich sehe ihn auch ...«
Von Berlin her kam, hinter zwei schnaufenden Lokomotiven, ein Zug, ein Zug mit vielen Viehwagen, deren Türen zurückgeschoben waren. Aus den Viehwagen sahen Pferdeköpfe heraus, in den Türen standen Soldaten, feldgraue Soldaten, und auf den offenen Wagen standen – Bubi jubelte – Kanonen! Es war der erste Zug, der vor ihren Augen in den Krieg fuhr, und Vater und Sohn waren gleich aufgeregt.
»Vater! Vater! Sie fahren in den Krieg! Sie fahren gegen die Russen! Hurra, ihr!« schrie Bubi. »Haut sie tüchtig!«
Die Soldaten winkten lachend zurück. Auch der Vater schrie hurra und winkte. Wagen um Wagen ...
»Einundvierzig, zweiundvierzig ...«, zählte Bubi. Und: »Vater, was ist das? Das schwarze Dings mit dem Schornstein? Das sieht ja komisch aus! Ist das auch zum Schießen?«
»Das ist eine Feldküche, Heinz. Gulaschkanone sagt man auch«, erklärte der Vater. »Daraus wird bloß Essen geschossen ...«
»Vierundvierzig, fünfundvierzig ...«, zählte Heinz eifrig weiter. »Vater, es sind siebenundvierzig Wagen ohne den Kohlenwagen ...«
»Bubi!« flüsterte Hackendahl.
»Was denn, Vater?«
»Nicht so laut! – Bubi, kuck mal dahin, nach dem Busch rechts ... Aber nicht so, daß es auffällt, ganz unauffällig ... Siehst du den Mann im Weidengebüsch?«
»Doch!«
»Kuck weg, jetzt sieht er zu uns hin. Tu mal so, als ob du dein Schuhband bindest. – Was macht der Mann denn hier so allein im Busch? Das sieht doch ganz aus, als hätte er sich versteckt.«
Bubi knüpfte an seinem Schuhband, dabei schielte er.
»Vater, jetzt hat er was Weißes in die Tasche gesteckt, sieht ganz wie Papier aus. Ob er den Zug aufgeschrieben hat ...?«
»Was hat er den Zug aufzuschreiben?« knurrte Hackendahl.
»Die Soldaten, die Pferde, die Kanonen? Ob es ein Spion ist, Vater?!«
»Ruhig, Bubi, nicht so laut! Er sieht wieder her! Warum guckt er immer zu uns? Wir gehen ihn doch gar nichts an ...«
»Er hat ein schlechtes Gewissen, Vater – das ist ein Spion!«
»Man muß kaltblütig überlegen. Was hat er hier an der einsamen Stelle zu suchen? Wenn wir nicht ganz zufällig gekommen wären ...«
»Vater! Vater!! Jetzt pfeift er ... Ob noch mehr hier sind?«
»Möglich ist alles!«
»Vater, komm, wir gehen hin zu ihm, wir fragen ihn, was er hier sucht. Wenn er uns dann nicht ansehen kann, nehmen wir ihn fest.«
»Wir können ihn doch nicht festnehmen! Dann läuft er uns bloß weg.«
»Ich kann schneller laufen.«
»Aber du kannst ihn nicht allein festhalten – und ich komme nicht nach, wegen meines Herzens.«
»Siehst du? Doch dein Herz!«
»Ruhig jetzt! – Er hat gemerkt, daß wir ihn beobachten. Er haut ab. Gehen wir hinterher!«
»Los, Vater!«
»Langsam doch, Bubi, nur nicht den Kopf verlieren! Es muß ganz so aussehen, als gingen wir spazieren, er darf keinen Verdacht schöpfen ...«
»Er geht zur Chaussee rüber.«
»Natürlich, er will sich unter den Leuten verkrümeln ...«
»Den kriegen wir doch noch, Vater ...«
»Hast du gesehen, er hat sich wieder nach uns umgedreht! Er hat schon Angst!«
Vater und Sohn waren gleichermaßen im Feuer, Jugend wie Alter brannten lichterloh. Sie gingen dem verdächtigen Manne nach, sie taten so unverdächtig, daß sie dem Harmlosesten aufgefallen wären. Sie zeigten sich mit ausgestrecktem Arm eine Lerche im Himmelsblau und ließen den Kerl nicht einen Moment aus dem Auge. Wenn er langsamer ging, blieben sie stehen. Bubi pflückte eine Blume, Vater summte: »Gloria, Viktoria.« Dann gingen sie weiter, und der Mann, der sich nach ihnen umgedreht hatte, lief schneller ...
»Er reißt aus, Vater!«
»So schnell kann ich auch noch laufen!«
Aber Hackendahl keuchte schon. Es war nicht nur das Herz, es war nicht nur die Hitze – es war die Aufregung: ein Spion! Die Chaussee war ganz nah, die Chaussee war voller Leute ...
»Wir können einem Radfahrer Bescheid sagen«, tröstete Hackendahl. »Ein Radfahrer holt ihn immer ein ...«
Der Mann hatte die Chaussee fast laufend erreicht. Aber nun floh er nicht weiter, er hielt ein paar Männer an, er sprach aufgeregt mit ihnen ...
»Ob das seine Spießgesellen sind?« fragte Bubi.
»Wir werden gleich sehen ...«, stöhnte Hackendahl atemlos, blaurot.
Die Männer, der Verfolgte in ihrer Mitte, sahen den beiden stumm entgegen.
»Das sind sie!« rief der Mann aus dem Busch, unnötig laut.
Hackendahl trat auf die Straße, eng scharten die Männer sich um ihn und den Sohn, ihre Gesichter sahen drohend aus.
»Meine Herren!« sagte Hackendahl. »Das ist ein ...«
»Hören Se mal«, sagte ein junger blaßgesichtiger Mann, »wat haben Se denn da eben an der Bahn jemacht?«
»Der Mann da«, rief Hackendahl und wies mit dem Finger, »hat sich in einem Busch versteckt und Notizen über einen Militärzug gemacht!«
»Ich?!« schrie der andere. »So eine Unverschämtheit! Jetzt kehrt der den Spieß um! Ich habe genau gehört, wie Ihr Rotzjunge die Wagen gezählt hat – Sie Spion, Sie!«
»Sie sind ein Spion!« schrie Hackendahl und wurde noch röter. »Mein Junge hat genau gesehen, wie Sie was Weißes in die Tasche gesteckt haben!«
»Und Sie ...?!« schrie der andere. »Wer hat so getan, als pflückte er Blumen? Sehen Sie wie Blumenpflücken aus? Sie sind ja schon ganz rot vor schlechtem Gewissen!«
Verwirrt hatten die Männer die sich steigernden Beschuldigungen angehört. Unschlüssig sahen sie von einem zum anderen, tauschten fragende Blicke.
»Vielleicht sind alles beides Spione?« fragte einer. »Und wissen bloß nichts voneinander?«
»Warum haben Sie sich denn im Busch versteckt?« fragte ein ernster, bärtiger Mann den Blassen. »Das klingt doch sehr verdächtig.«
»Ich habe ein natürliches Bedürfnis befriedigt«, erklärte der Blasse.
»Was Weißes hat er in die Tasche gesteckt!« rief Hackendahl.
»Klopapier!« rief der andere. »Ich trage immer Klopapier bei mir – für alle Fälle!«
Und er wies es vor.
»Und warum hat Ihr Junge die Wagen gezählt?« fragte der ernste Bärtige wieder. »Das klingt doch sehr verdächtig.«
»Aber nur so!« rief Hackendahl zornig. »Jungen machen das immer so!«
»Das ist keine Begründung«, entschied der andere. »Kommen Sie mal mit – in der Frankfurter Allee werden wir schon einen Schutzmann treffen!«
»Aber ich kann mich ausweisen!« rief Hackendahl. »Ich habe Papiere!« Er schlug auf seine Tasche. »Ich war zur Pferdemusterung. Ich bin der Lohnfuhrunternehmer Hackendahl ...«
»Zeigen Sie mal her!« Der Bärtige sah die Papiere durch. »Das ist freilich in Ordnung – entschuldigen Sie bitte, Herr Hackendahl.«
»Bitte, bitte! Aber der Kerl ...«
»Bitte sehr, ich kann mich auch ausweisen! Ich gehe zur Musterung. Ich bin der Lehrer Krüger.«
Einige lächelten. Andere brummten ernst.
»Entschuldigen Sie auch, Herr Lehrer Krüger. Sie waren also alle beide keine Spione. Geben Sie sich die Hand ...«
»Herr Hackendahl, es tut mir sehr leid ...«
»Herr Krüger, Sie haben nur Ihre Pflicht getan ...«
»Gehen wir doch gemeinsam zurück ...«
Sie taten es, alle waren zufrieden, ein wenig gehoben. Nur Heinz zottelte unzufrieden nebenher; daß es nun doch kein Spion gewesen war, wurmte ihn sehr ...
Als Hackendahl mit Bubi nach Haus kam, wartete ein Zettel auf ihn. Es waren nur ein paar Worte: »Wir rücken heute um zwei aus. Vom Anhalter Bahnhof. Otto.«
Die Mutter war in ungewohnter Bewegung, sie deckte selber den Tisch, was sie seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte, nur, damit alle schnell fertig wurden. Eva wirtschaftete in der Küche.
Gerade, als sich alle zu Tisch setzten, kam Erich. Er war den ganzen Vormittag von einer Kaserne in die andere gelaufen, hatte stundenlang warten müssen und war überall zurückgewiesen. »Wir können keine Leute mehr brauchen. Alle Stunden melden sich Tausende. Vielleicht in acht Wochen oder in einem Vierteljahr.«
»Gut, dann wartest du eben so lange und machst unterdessen dein Notabitur.«
Das wollte Erich nicht, er mochte nicht wieder auf die Schule. Die Wochen beim Anwalt hatten ihn verändert, er kam sich erwachsen vor. Es schien ihm unmöglich, noch einmal die Schulbank zu drücken. »Nein, mir hat einer erzählt, in Lichterfelde, bei der Kadettenanstalt, stellen sie ein Ersatzbataillon auf. Da versuche ich es morgen früh.«
»Habe es doch nicht so eilig, Erich«, bat die Mutter. »In einem Vierteljahr ist vielleicht der Krieg aus, und Otto kann auch was passieren.«
Dies war ein etwas wirrer Satz, aber alle verstanden ihn. Erich summte unternehmungslustig: »Wisch ab, Lowise, wisch ab dein Gesicht – eine jede Kugel, die trifft ja nicht ...«
»Daran muß man nicht denken, Mutter«, sagte Hackendahl abweisend. »Wenn ein Soldat an so etwas denkt, kann er nicht kämpfen.«
»Wie ich heute um zehn im Fenster liege«, klagte die Mutter, »und die Pferde kommen zurück, ganze fünf von unseren schönen zweiunddreißig, und der Schimmel den Kopf doch wieder so trübselig zwischen den Beinen – da habe ich denken müssen: So kommen die Pferde wieder. Und was kommt von meinen Jungen zurück?!«
Einen Augenblick herrschte betretenes Schweigen. Dann klopfte der eiserne Gustav mit dem Messergriff hart auf den Tisch. »Ruhe, Mutter, nur Ruhe! Wenn du jetzt schon so bist, nehme ich dich nicht mit auf den Anhalter ...«
»Ich bin gar nicht so!« rief die Mutter eilig und wischte sich die Augen. »Ich habe es mir nur gedacht, als die Pferde zurückkamen. Aber ich weine bestimmt nicht auf dem Anhalter! Nimm mich mit, Gustav!«
Und sie sah mit einem rührenden Versuch zu lächeln die anderen an.
»Na schön!« sagte der Vater. »Wenn du vernünftig sein willst, sage ich kein Wort. – Aber jetzt müssen wir uns eilen. Anhalter, das hieße nach Frankreich ...«
Doch im letzten Augenblick gab es doch wieder eine Verzögerung. Es stellte sich heraus, daß Eva nicht mit wollte. Mit Tränen in den Augen versicherte sie, sie könne wirklich nicht, sie habe rasende Kopfschmerzen, sie sei krank ...
»Nichts da!« rief Hackendahl. »Wenn der Bruder in den Krieg zieht, gehst du gefälligst zur Bahn! Da ist man nicht krank, da hat man keine Kopfschmerzen!«
Weinend versicherte Eva, sie könne wirklich nicht, sie falle um auf der Straße ...
Aber wie die Mutter ihrer Tränen wegen nicht mit zur Bahn hatte kommen sollen, so mußte Eva trotz der Tränen mit.
»Mach mir keine Geschichten, Mädchen!« Und in plötzlich erwachtem Mißtrauen, sich der Worte Bubis erinnernd: »Du hast wohl einen Bräutigam? Was? Du kommst mir die ganze letzte Zeit schon mächtig komisch vor. Warte, wenn wir zurück sind, sprechen wir miteinander!«
Mißlaunig, gehetzt marschierte die Familie ab. Eva sah den Eugen wartend an einer Straßenecke stehen, sie war von ihm bestellt, sie winkte ihm hilflos ab. Er schien ihr zu drohen, dann verlor sie ihn aus dem Auge ...
Sie dachte daran, daß die Wohnung jetzt nur unter der Aufsicht des kleinen Dienstmädchens stand, sie traute Eugen alles zu, alles! Auch einen Einbruch in die elterliche Wohnung. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht, aber was hätte das nützen können? War Eugen wirklich in der Wohnung, hielt ihn ihre Anwesenheit auch nicht von einem Diebstahl zurück. Sie hatte gar keine Macht über ihn, er aber jede über sie!
Die Zeit ist bei alledem so knapp geworden, daß sie auf dem Alexanderplatz einsehen: Sie müssen fahren, sonst erreichen sie den Zug nicht mehr. Der leichtfertige Erich schlägt dem Vater eine Autotaxe vor und wird verächtlich angeblitzt. Auch der Vorschlag der Mutter, eine Pferdedroschke zu nehmen, wird als zu teuer abgelehnt. Glücklicherweise kommt ein Pferdeomnibus, in dem sie noch Platz finden. Ruckend, klappernd kommt der Wagen in Gang.
In der Stadt herrscht ein Trubel, wie am ersten Mobilmachungstag. Auf der Straße halten Wagen, junge Burschen werfen ganze Zeitungspacken unter die Leute, zusteigende Passanten bringen die Nachricht in den Omnibus: Der Krieg an Frankreich ist erklärt! Deutsche Truppen haben die belgische Grenze überschritten ... Ein kurzes Stutzen, Belgien! Nun auch Belgien ...?! Aber es ist keine Zeit für langes Überlegen, schon ertönt überall das Lied: »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen ...«
Alte Leute brummen unter beifälligem Lachen das Spottlied: »Was kraucht denn dort im Busch herum? Ich glaub, das ist Napolibum! Was hat der rumzukrauchen dort? Frisch, Kameraden, jagt ihn fort!«
Der Omnibus kommt nicht vorwärts im Gewühl. Sie steigen wieder aus, drängen in geschlossener Kolonne durch die Menge. Der Bahnhof, sie müssen doch auf den Bahnhof!
»Entschuldigen Sie, Herr Nachbar, wenn ich Sie getreten habe. Mein Sohn fährt nämlich in den Krieg!«
»Es war mir ein Vergnügen!«
Gottlob, der Bahnhof, endlich der Anhalter! Noch eine Minute ... Durch die Halle, hinauf die Treppe – alles ist überfüllt! Von oben klingt Blechmusik. Zwei Uhr eins! Der Zug müßte fort sein, aber: »Solange sie nicht ›Muß i denn‹ spielen, fährt der Zug noch nicht!« keucht Hackendahl atemlos.
Es ist solch ein Trubel, daß sie sogar ohne Bahnsteigkarten durch die Sperre kommen. Der Schaffner ruft ihnen etwas nach, aber Hackendahl schreit: »Frankreich! Paris!« Und lacht. Viele lachen mit. Hackendahl fühlt sich fröhlich, fröhlich aufgeregt. Er rennt dahin im Kreise seiner Familie.
Wie lang der Zug ist! Aus den Fenstern sehen Männer, übereinander, nebeneinander, alle in Feldgrau, die Pickelhelme mit feldgrauen Bezügen, die in Rot die Regimentsnummer tragen. Wie ernst diese Gesichter sind! Wieviel Frauen auf dem Bahnsteig, auch sie ernst, blaß. Blumen, ja, aber Blumen in zitternden, verkrampften Händen. Unendlich viel Kinder, große und kleine, und auch die Kindergesichter sind ernst, manche von den Kleinen weinen ...
Die Regimentsmusik spielt, aber die Gesichter bleiben ernst, leise nur wird gesprochen ...
»Schreib auch, Vater!«
»Ich schicke dir eine Ansichtskarte aus Paris!«
Kümmerlicher Scherz, für die letzte Minute aufgespart. Blasses Lächeln.
»Und bleib gesund!«
»Du auch – und die Kinder!«
»Um die Kinder sorg dich jetzt man nicht – ich paß schon auf!«
Wo ist Otto?
Sie laufen den Zug entlang. Plötzlich ist es so wichtig geworden, den unwichtigen Otto noch einmal zu sehen, ihm die Hand zu schütteln, ihm zu sagen, daß er gesund bleiben soll.
»Da ist ja die Gudde, die Schneiderin, du weißt doch, Vater, die mein Schwarzes geändert hat. – Mit einem Kind! Seit wann hat denn die Gudde ein Kind? Die hat doch 'nen Buckel. – Es wird wohl das Kind von 'ner Nachbarin sein!«
»Wen haben Sie denn zum Zug gebracht, Fräulein Gudde? Wie heißt du denn, Junge?«
»Guten Tag, Frau Hackendahl. Da ist Otto – ich meine: Herr Hackendahl!«
Sie stürzen sich auf Otto. Die Gudde ist vergessen. Einen Augenblick, bis zur Abfahrt des Zuges, ist der immer übersehene Otto die Hauptperson.
»Mach es gut, Otto!«
»Schreib auch mal, Otto!«
»Hier habe ich dir auch ein bißchen zu essen mitgebracht, Ottchen!«
»Und wenn's mal Kattun gibt, Otto, denk an deinen Vater! Wenn du das Eiserne Kreuz bekämst, das wäre mir das Schönste! – Hast du schon gehört, ob es in diesem Kriege auch Eiserne Kreuze gibt?«
Otto steht am Abteilfenster. Er ist sehr blaß, sein Gesicht ist grauer als das Feldgrau der Uniform. Er antwortet mechanisch, er drückt Hände, er legt das Essenpaket auf seinen Sitzplatz, wo schon ihr kleines Paket liegt ...
Und immer suchen seine Augen die andere, die Einzige, die, die er liebt, mit aller Zärtlichkeit seines schwachen Herzens, und die ihn liebt, mit aller verzeihenden Liebe ihres starken Herzens. Sie sieht ihn an, flammend und zärtlich, ohne Klage und Wunsch ... Sie steht da an dem gußeisernen Pfeiler, den Jungen an der Hand. »Nicht weinen, Gustäving! Papa kommt ja wieder ...«
Er kann es nicht hören, aber er liest es von ihren Lippen.
»... kommt ja wieder.«
Nein, vielleicht kommt er auch nicht wieder – aber, seltsam, das schreckt ihn nicht. Er zieht in einen Krieg, es wird Kampf geben, Handgemenge, Verwundungen und schmerzhaftes, langsames Sterben – aber das schreckt ihn nicht, das macht ihm keine Angst ...
Ich werde bestimmt nicht feige sein, denkt er. Und doch bin ich zu feige, es Vater zu sagen ...
Er möchte verstehen, warum das so ist, aber er kann es nicht verstehen ... Er sieht sie hilflos an, sie alle unter seinem Abteilfenster, die alten bekannten Gesichter, und dann sieht er rasch hinüber zu der gußeisernen Säule, in jenes geliebteste, einzige Menschengesicht ... Nein, er kann es nicht verstehen ...
»Otto, du hast ja Blumen!« schreit Bubi. »Woher hast du denn die Blumen? Du hast wohl eine Braut?«
Alle lachen bei dem Gedanken, daß Otto, der schüchterne Otto, eine Braut haben könnte. Und auch Otto verzieht das Gesicht zu einem kümmerlichen Lächeln.
»Wo steht sie denn, deine Braut?«
Und alle sehen sich lachend um, suchen ein Mädchen für Otto. »Ist es die im blauen Kleid, Otto? Die sieht schneidig aus, aber wenn sie man nur nicht zu schneidig für dich ist. Die nimmt dir noch die Butter vom Brot!«
Otto lächelt wieder kümmerlich.
»Da steht ja immer noch die Gudde«, flüstert Frau Hackendahl. »Zu wem die wohl gehört? Otto, hast du sie gesehen?«
»Wer? Wen?«
»Die Gudde! Unsere Schneiderin! Du weißt doch!«
»Ja ... ich ... ich habe nämlich ...«
Sie sehen ihn alle an, er wird rot. Aber sie merken nichts.
»Hast du nicht gesehen, zu wem sie gehört?«
»Nein – ich ... nein. Ich habe nichts gesehen.«
»Muß i denn ...«, spielt die Kapelle, der Zug ruckt an, fährt ... Tücher werden gezogen, Hände werden gereicht, noch einmal ...
Oh, die einsame Gestalt dort an der Säule! Sie hat kein Tuch gezogen, sie winkt nicht. Aber sie steht dort, als würde sie immer dort stehenbleiben, geduldig, ohne Vorwurf auf ihn wartend, bis er zurückkommt. Seine Augen füllen sich mit Tränen ...
»Nicht weinen, Otto!« ruft Vater Hackendahl. »Wir sehen uns ja wieder!« Und sehr laut, denn der Zug hat sein Tempo beschleunigt, und Hackendahl muß zurückbleiben: »Du warst immer ein guter Sohn!«
Am längsten läuft noch Bubi mit, ganz bis ans Ende des Bahnsteigs. Er sieht den Zug entschwinden, die vielen wehenden Tücher verflattern, eine Kurve, die runde, rote Schlußscheibe am letzten Wagen – fort!
Heinz kommt zurück zu seiner Familie.
»Nun aber schnell!« sagt Frau Hackendahl. »Ich muß doch sehen, daß ich die Gudde noch erwische. Das ist doch interessant, was das für ein Kind ist und wen sie zur Bahn gebracht hat ...«
Aber Gertrud Gudde ist schon verschwunden, mit ihrem Gustäving.
Der Oberarzt der chirurgischen Abteilung stand müde in seinem Arztzimmer und wusch sich wie immer, wenn er sehr abgespannt war, die Hände. Ganz gewohnheitsmäßig nahm er die kleine, scharfe Bürste, bürstete die Nägel, wusch mit Sublimatlösung nach, spülte ab und trocknete die Hände.
Er brannte eine Zigarette an, zog den Rauch tief ein, trat an das Fenster und sah gedankenvoll, nichts sehend, in den Krankenhausgarten. Er war müde, er war abgespannt, seit elf Stunden war er auf den Beinen, und es war noch kein Ende abzusehen ...
Aber, dachte er, dies ist erst der Anfang. – Dies ist erst der Anfang dachte er langsam, und ohne besonders erregt oder verzweifelt zu sein. Dies ist erst der Anfang ...
Vier Mobilmachungstage hatten ihm drei Viertel seiner Ärzte fortgeholt: Sie waren gegangen. – »Macht's gut hier!« hatten sie gesagt und waren gegangen. Drei Viertel der Ärzte fort, von dem Pflegepersonal gar nicht zu reden, und die Belegung war etwas über dem Durchschnitt. Nun ja, dies war also erst der Anfang ...
Der Oberarzt legte die Zigarette in einen Aschenbecher, nach dem ersten Zug hatte er keinen weiteren mehr getan. Gedankenlos trat er wieder an die Wasserleitung und fing von neuem an, sich mit der eingelernten, tausendfach beobachteten Genauigkeit die Hände zu waschen und zu bürsten. Er wußte nicht, daß er es tat. Manchmal machte ihn ein Kollege darauf aufmerksam, oder die Operationsschwester sagte: »Sie waschen sich ja schon wieder, Herr Professor. Erst vor zwei Minuten waren Sie an der Leitung.«
Aber jetzt war keiner da, der ihn erinnern konnte. Sorgfältig bürstete er die Nägel ...
»Macht's gut!« sagten sie und gingen. Aber wie konnte man es gut machen, mit knapp einem Viertel des normalen Ärztebestandes? Man mußte es ja schlecht machen, immerzu die Augen zudrücken, über die schrecklichsten Nachlässigkeiten fortsehen ...
Es wird Menschen kosten, denkt er müde, und so lange er schon in seinem Beruf gearbeitet, an so vielen Krankenbetten er auch schon gestanden hat, er hat nie das Gefühl dafür verloren, daß da Menschen lagen, keine Fälle: Mütter, deren Kinder zu Haus weinen; Väter, auf deren Leben Glück und Wohlstand eines kleinen Gemeinwesens beruhen.
Es wird Menschen kosten, denkt er. Aber in der nächsten Zeit wird nichts so wohlfeil sein wie Menschenleben. Und es werden nicht nur die Kranken, die Verbrauchten, die Alten sterben – grade die Jugend wird fort müssen, die Jugend, die Gesundheit. Die Kraft des Volkes wird systematisch verringert werden, tagelang, wochenlang, vielleicht monatelang ... Und ich stehe hier und jammere, daß ich einen vereiterten Blinddarm eine halbe Stunde zu spät operiere?
Er sieht um sich und horcht. Er steht schon wieder an der Wasserleitung und wäscht sich die Hände. Die Zigarette verschwelt im Aschenbecher, aber das hat ihn nicht aufmerksam gemacht. Langsam kommt ihm zum Bewußtsein, daß es vielleicht geklopft hat, und als er nun »Herein!« sagt, tut sich wirklich die Tür auf, und eine Schwester tritt ein, etwas verlegen.
»Nun, Schwester, was ist denn?« fragt er zerstreut und trocknet sich die Hände am Handtuch. »Ich gehe gleich noch einmal durch die Station. – Oder ist es eine Neuaufnahme?«
Die Schwester schüttelt den Kopf und sieht ihn an. Sie hat merkwürdige Augen, ein wenig scheu und doch trotzig; sie hat auch ein unausgeglichenes Gesicht, jung und doch scharf. Sie hat es wohl nicht immer leicht gehabt.
»Ich habe eine persönliche Bitte, Herr Professor«, sagt die Schwester leise.
»Damit gehen Sie aber besser zu Ihrer Oberin, Schwester. Sie wissen doch, daß Sie Ihrer Oberin unterstehen.«
»Ich war schon bei der Oberin«, sagt die Schwester leise. »Aber die Oberin hat es mir abgeschlagen. Und da habe ich gedacht, Herr Professor ...«
»Nein, Schwester, nein«, sagt der Arzt energisch. »Einmal mische ich mich grundsätzlich nicht in die Angelegenheiten der Schwesternschaft. Und dann habe ich jetzt wirklich so viel um die Ohren ...«
Er sieht die Schwester abschließend an, seufzt, schiebt die Ärmel hoch und geht zur Wasserleitung.
»Herr Professor hatten sich grade eben gewaschen, als ich hereinkam«, sagt die kleine Schwester mutig. (Der Tick des Oberarztes ist natürlich im ganzen Krankenhaus bekannt.)
»Danke schön, Schwester«, sagt der Professor. »Sie können der Operationsschwester – Sie wissen, Schwester Lilli – sagen, daß ich in zehn Minuten wieder anfange.«
Und er läßt sich das Wasser über die Hände laufen.
»Ja, Herr Professor.« Sie sieht ihn zögernd, etwas ängstlich an. »Herr Professor, verzeihen Sie, daß ich noch einmal davon anfange ... Es sind heute früh die bestimmt, die mit an die Front dürfen ... Und ich – ich soll nicht mit ...«
Der Oberarzt macht eine ärgerliche Gebärde. »Es können nicht alle mit!« ruft er. »Es gibt auch hier Arbeit, sehr viel Arbeit, sehr notwendige Arbeit!«
»Herr Professor! Ich muß aber mit! Bitte, Herr Professor, sagen Sie der Frau Oberin, daß ich mit soll. Es kostet Sie doch nur ein Wort, Herr Professor ...«
Der Oberarzt dreht sich um und sieht die junge Schwester wutfunkelnd an. »Und wegen solchem Dreck stören Sie mir meine paar freien Minuten?!« ruft er zornig. »Schämen Sie sich was, Schwester! Wenn Sie Abenteuer mit jungen Männern haben wollen, dann brauchten Sie nicht Schwester zu werden! Das konnten Sie an jeder Straßenecke haben! Das ist Ihnen wohl zu langweilig, Ihr Saal mit alten Frauen ... Ach, lassen Sie mich zufrieden, Schwester!«
Aber wenn der Oberarzt erwartet hatte, daß die Schwester nach diesem kräftigen und deutlichen Anpfiff nun begossen abziehen würde, so irrte er sich. Die Schwester Sophie stand, ohne zu weichen und zu wanken, vielleicht hatte sich sogar etwas von dem Scheuen in ihrem Auge verloren, und das Kraftvolle, das Trotzige darin war stärker geworden. Der Arzt sah es nicht ohne Interesse.
»Ich will nicht wegen der jungen Männer heraus«, sagte sie beharrlich. »Frau Oberin hat mich doch grade darum zu den alten Omis versetzt, weil ich mich für die Männerstation nicht eigne. Ich mag Männer nicht ...«
»Schwester«, sagte der Professor milde. »Sie sollen mir hier keine Vorträge über Ihre Neigungen halten. Das interessiert mich nicht. Machen Sie, daß Sie auf Ihre Station kommen.«
»Jawohl, Herr Professor«, sagte sie mit unüberwindlicher Hartnäckigkeit. »Aber, Herr Professor, ich muß raus, und Sie müssen mir dazu helfen ...«
»Himmeldonnerwetter, Schwester!«
»Herr Professor, ich habe nie einen Menschen ausstehen können, ich habe nie einen Menschen gern gehabt, meine Eltern nicht, meine Geschwister nicht. Und auch hier die Patienten nicht ...«
»Großartig, Schwester!« spottete der Arzt. »Ganz vorzüglich!«
»Nein, ich habe nie jemand leiden mögen, und auch mich hat nie jemand leiden mögen. Ich habe immer gedacht, man ist ganz unnütz ... Und nun plötzlich – bitte, Herr Professor, hören Sie mich nur noch einen Augenblick an –, und nun plötzlich ist das gekommen mit dem Krieg. Ich verstehe nichts von Politik, Herr Professor, ich weiß nicht, wieso und warum. Aber plötzlich denke ich, ich könnt vielleicht doch noch etwas nützen und etwas Gutes tun und nicht ganz umsonst sein auf der Welt ...«
Sie sah ihn einen Augenblick an.
»Vielleicht verstehen Herr Professor nicht, was ich meine, ich verstehe es ja selber nicht. Aber ich meine, daß die anderen, die Frauen, meine Schwester und so – die denken, daß sie mal Kinder haben werden und einen Mann, den sie gerne mögen. – Aber ich habe nie so etwas gehabt, Herr Professor! Ich habe mir nie denken können, wozu ich auf der Welt bin. Mein Vater ...«
Sie brach ab. Dann: »Herr Professor, denken Sie nicht, daß ich so an junge Soldaten denke, denen man den Kopf hält und Wasser gibt ... Nein, ich denke daran, daß ich laufen will und Arbeiten machen, die mir eklig sind, und vom Morgen zum Abend bis zum Umfallen und immer weiter. Und dann, Herr Professor, dann fühl ich vielleicht, daß ich nicht ganz umsonst bin auf der Welt ...« Fast mit einem Schluchzen: »Man möchte doch auch ein bißchen mehr gewesen sein als eine Fliege ...«
Eine Weile war es stumm zwischen den beiden. Der Arzt trocknete sich mit langsamen Bewegungen die Hände ab, trat dann auf die Schwester zu, hob ihr den Kopf mit dem weinenden Gesicht, sah ihr in die Augen und fragte milde: »Schwester, glauben Sie, daß ein großes Volk darum in einen solchen Krieg zieht, damit – wie heißen Sie?«
»Sophie Hackendahl ...«
»... damit Sophie Hackendahl sich nicht mehr überflüssig vorkommt im Leben?«
»Was weiß ich davon?!« rief sie fast wild und befreite mit einer ungestümen Bewegung ihren Kopf aus seiner Hand. »Aber das weiß ich, daß ich jetzt einundzwanzig Jahre auf der Welt bin und nicht eine Stunde das Gefühl gehabt habe, ich bin zu irgend etwas nütze!«
»Vielleicht«, sagte der Arzt überlegend, »ist wirklich auch darum dieser Krieg gekommen, daß der Mensch wieder spürt, er ist zu irgend etwas da im Leben. Vielleicht.« Er sah die Schwester an. »Also, ich will sehen, was ich bei Ihrer Oberin erreiche. Soviel ich weiß, sind Sie bei ihr nicht sehr gut angeschrieben. Aber wie ich jetzt weiß, sind Sie wenigstens in diesem Punkte mit Ihrer Oberin ganz einig ...«
Der Arzt lächelte, Sophie lächelte schwach, neigte dankend den Kopf und ging.
Der Oberarzt trat wieder an die Wasserleitung.
Die andere Schwester Hackendahl, die Eva, hatte Eltern und Geschwister getrieben, daß man nur rasch genug in die Wohnung zurückkam. Nun saß sie leer und ausgelaufen in ihrem Zimmer. Nein, kein Eugen war in der Wohnung gewesen, kein Schreibtisch war erbrochen worden, das kleine törichte Dienstmädchen Doris nicht überwältigt oder vergewaltigt – es war alles genau, wie es sein sollte!
Und das war das Schlimmste! Daß Eugen noch nichts getan hatte, das war das Schlimmste! Daß er noch alles tun konnte, daß alles immer weiter drohte, daß man immer weiter warten mußte – das war das Schlimmste!
Sie sitzt da, sie hat die Hände in den Schoß gelegt, sie hört durch das offene Fenster den Vater mit Rabause im Stall reden und sie denkt: Ja, Vater hat es gut. Er hat seinen Stall und seine Droschken und seinen Rabause. Vater fehlt nichts. Aber ich ...
Und sie hört die Mutter eifrig mit der Doris in der Küche reden, und Mutter hat es auch gut. Der Otto, dem es noch am schlechtesten von ihnen allen ging, der ist nun weggefahren, ist etwas Geehrtes geworden, etwas Angesehenes, er hat eine Aufgabe. Aber sie ...! Und die Sophie hat auch eine Aufgabe, und wenn sie die nur muffig erfüllt, so liegt das nur an der Sophie – sie hat doch eine Aufgabe! Und Heinz hat seine Penne, und Erich hat auch immer was, immer was Neues, immer was anderes, aber sie!
Sie hat bloß ein Schicksal, ein schäbiges, gemeines Schicksal. Sie hat bloß den Eugen an der nächsten Straßenecke, der pfeift nach ihr auf einem Finger, den Ludenpfiff, und wenn er pfeift, dann muß sie kommen. Dem gehört sie nun. Der ist ihre Aufgabe!
Als er sie vorgestern zum Trinken zwang, als sie sah, er würde nicht nachgeben, er wollte sie unbedingt haben, sofort – und nicht etwa, weil er Verlangen hatte nach ihr, sondern bloß, damit sie wußte, sie gehörte ihm auch darin, sie hatte nichts Eigenes, nichts Sauberes mehr –, also, da war ihr plötzlich ein Gedanke gekommen wie ein ferner Trost, etwas, das ihr über die nächste schreckliche Stunde hinweghelfen konnte, und sie hatte gefragt: »Ja, Eugen, mußt du dich denn nicht auch stellen? Wirst du nicht auch Soldat?«
(Und sie hatte den Krieg als Befreier gesehen, genau wie ihre Schwester. Er würde fortmüssen, und wenn er wiederkam – aber er kam nicht wieder! Solche durften nicht wiederkommen, wozu war denn ein Krieg sonst nütze?)
Er hatte sie von der Seite angesehen und hatte höhnisch gelacht: »Det möchtste wohl, mein Liebchen!«
»Aber nein, Eugen! – Nur, es müssen sich doch alle jungen Männer stellen ...«
»Nee, meine Süße, mir lassen se nich dienen, ick bin unabkömmlich. Mir liebt mein Vaterland zu sehr.«
»Du bist unabkömmlich? Aber alle jungen Männer ...«
»Mußt keine Angst haben, Evchen, ick bleibe bei dir.«
»Aber ...«
»Du möchtst ja jewaltig jerne, det ick rauskomme! Daraus wird nischt. Knochen kaputt schießen lassen – dazu sind die anderen jut.«
»Aber wenn man sich nicht stellt, dann ist man doch fahnenflüchtig! Und dann ...«
»Du hast aber 'ne lange Leitung! Ick bin nich fahnenflüchtig, ick sare dir doch, ick bin unabkömmlich! Mein Vaterland vazichtet uff mir! Noch nich kapiert! Ick habe se nich mehr, Dowe! Ick habe nich mehr die bürgerlichen Ehrenrechte ...«
»Wieso ...?« fragte sie verwirrt. »Die Ehrenrechte ...?«
»Jawoll, meine Süße! Wie se mir Zuchthaus uffjebrummt haben, da ham se mir die bürgerlichen Ehrenrechte abjeknöpft, for drei Jahre. Un nu darf ick meines Kaisers Ehrenrock nich tragen – und jewaltig traurig biste darüber, wie ick sehe ...«
Er lehnte sich über den Tisch und grinste. Noch in der Erinnerung schauderte sie. Nein, sie war wirklich nicht zimperlich, aber daß ein Mensch auf seine Schande stolz sein konnte!
Er mußte ihr die Gedanken vom Gesicht abgelesen haben. Mit seinem jähen Übergang wurde er finster und zornig. »Du schämst dir wohl? Du schämst dir wohl für deinen Eugen?! Komm trudeln! Ick werd dir zeigen, wat bei mir Scham heißt. Un wenn du deine bürgerlichen Ehrenrechte noch hast ...«
Schon hatte er wieder gegrinst ... Und dann kam das andere. Dann – kam – das – andere ...
Sie sitzt ganz still da, Vater redet noch immer mit Rabause im Stall. Man hört die Eimer klappern ... Mutter redet auch noch ... Bubi flötet ...
Plötzlich kommt ihr die Erinnerung an die Gudde, wie sie da vorhin auf dem Bahnsteig stand, ein kleines, verkrüppeltes Geschöpf, aber sie hatte ein gesundes Kind an der Hand. Ihr schaudert bei dem Gedanken, daß sie ein Kind haben könnte, ein Kind von diesem Kerl, der äußerlich gesund ist, aber innen faul und schlecht ... Der kleine Krüppel hat etwas vom Leben bekommen, was sie nie bekommen wird ... Denn: Es ist vorbei!
Sie nimmt aus der Schieblade einen Stoff, schlägt ihn in Papier, sie ruft zu Heinz hinüber: »Wenn Mutter fragt, ich bin noch ein Stündchen weggegangen.«
»Sag's ihr doch selber!« ruft Bubi mit aller brüderlichen Höflichkeit. »Ich bin nicht dein Botenjunge!«
Aber sie will es nicht selber der Mutter sagen, sie will ihr nicht erzählen, daß sie zur Schneiderin geht, die Mutter denkt dann gleich, sie geht »darum«! Sie geht aber nicht darum, sie geht ganz für sich allein.
Sie geht? Nein, sie läuft fast. Sie läuft so schnell, wie ein junges Mädchen 1914 bei langen Kleidern und engen Schicklichkeitsbegriffen auf der Straße nur laufen darf. Sie sieht sich immer wieder um, ob er sie auch nicht verfolgt, er ist ihr Alpdruck, die stets drohende Gefahr. Aber unangefochten erreicht sie die stillere Nebenstraße, sie kommt über die Höfe, steigt die Treppen hinauf ...
Auf ihr Klingeln öffnet die Gudde sofort. Sie hat gerötete Augen, die aber jetzt fast feindlich blicken. Das Kind, dieser kleine, zweijährige Junge, hält sich an ihrem Rock.
»Entschuldigen Sie, Fräulein Gudde«, sagt Eva etwas verwirrt von dem abwehrenden Blick. »Ich sah Sie eben auf der Bahn, und da fiel mir ein, daß ich den Stoff noch liegen habe ... Es ist ein Sommerstoff, und wenn ich jetzt kein Kleid daraus kriege, bleibt er ein ganzes Jahr liegen ...«
Sie lacht ein wenig albern, sie ist wirklich verwirrt durch den bösen Blick der anderen.
»Nein!« sagt die Gudde. »Nein! Tut mir leid, Fräulein. Nein! Ich kann die Arbeit nicht annehmen. Nein!«
Dieses mehrfach wiederholte, mit aller Erbitterung hervorgestoßene Nein steigert Evas Verwirrung noch.
»Aber, Fräulein Gudde«, fragt sie. »Was ist denn los? Sie haben doch immer für uns gearbeitet. Ich bin Eva Hackendahl – Sie wissen doch.«
»Ich habe es gleich gesehen«, sagt die Gudde leidenschaftlich, »daß Sie es geraten haben. Aber es ist mein Kind, es ist unser Kind ganz allein. Hier habt ihr nichts reinzureden, ihr Hackendahls. Nein! Mein Kind. Wenn euch Otto nicht genug war ...«
»Otto!« ruft Eva verblüfft.
»Tun Sie noch so! Schämen sollten Sie sich was! Jawohl, Otto, aber mein Otto, nicht euer Otto, nicht der Otto, zu dem ihr ihn gemacht habt, ihr Hackendahls, ihr mit euerm Vater! Eiserner Gustav, wahrhaftig!« Und mit einem plötzlichen Übergang: »Eben ist er in den Krieg gefahren, und schon habe ich solche Angst um ihn! Aber wenn er zurückkommt, sorge ich, daß er sich losmacht von allem, was Hackendahl heißt. Dann will ich den Krieg segnen, segnen, segnen ...!«
Sie lehnt den Kopf an den Türrahmen und fängt herzzerbrechend zu weinen an.
Eva hat mit großen Augen diesen Ausbruch angehört, nun faßt sie vorsichtig nach der Weinenden. »Fräulein Gudde, bitte, bitte nicht – das Kind!«
Denn das Kind steht dabei, es weint nicht. Es versucht, die Mutter zu umfassen. »Mutti, liebe, gute Mutti, nicht!«
»Ja, ja, es ist ja schon vorbei, Gustäving. Mutti lacht wieder. Sie lacht ja schon wieder, Gustäving. Fräulein Hackendahl, jetzt wissen Sie doch, was Sie wissen wollten, jetzt können Sie ruhig nach Haus gehen. – Ach, was werdet ihr ihm nun für Briefe in den Krieg schreiben! Nicht mal da wird er vor euch Ruhe haben ...«
»Keiner hat Otto im Verdacht, glauben Sie mir doch, Fräulein Gudde! Wir haben es ihm einfach nicht zugetraut!«
»Nein, nie habt ihr ihm etwas zugetraut!«
»Und von mir erfährt auch keiner was, Sie sollen das Kind ganz allein für sich behalten. Ich verstehe Sie ja, ich verstehe ja, daß Sie alles Hackendahlsche hassen ... Ich bin ja auch eine Hackendahl, und ich – ich bin genauso unglücklich wie Otto ...«
Jetzt ist es an Eva, die zu weinen beginnt, aber sie fängt sich rascher.
»Sehen Sie«, sagt sie zu der stummen anderen, »ich hab kein Kleines wie Sie – und ich darf auch nie eins haben. So unglücklich bin ich! Darum bin ich hierhergekommen, weil ich Sie mit einem Kind gesehen habe, so einem hübschen, gesunden Kind. Weil ich früher immer gewünscht habe, ich möchte mal Kinder haben, und nun war ich so neidisch auf Sie ... Sie müssen das doch verstehen ...!«
Die Gudde sieht sie einen Augenblick stumm an, dann sagt sie kurz: »Kommen Sie rein, Fräulein Hackendahl!«
Das Kind an der Hand, ging die Gudde ihrem Gast voran in die Stube. »Geben Sie mir mal den Stoff, Fräulein.«
Und Eva gab den Stoff, und die Schneiderin holte Modeblätter und zeigte und schlug vor und fragte: »Wollen Sie es so haben?« und: »Ich würde aber nicht die Keulenärmel nehmen, Fräulein Hackendahl, ich würde nur eine ganz kleine Puffe machen.«
Und Eva antwortete ganz ordentlich, wie man eben bei jeder Schneiderin antwortet, und war sogar schon ein bißchen interessiert. Denn der blaue Stoff mit seinen weißen Pünktchen war wirklich nett, und es ließ sich schon etwas Hübsches daraus machen.
Plötzlich aber sagte die Gudde: »Einen Augenblick mal!« und ging ins Nebenzimmer, und nach einer Weile kam sie wieder und trug vorsichtig etwas in der Hand. Sie zeigte es Eva und sagte stolz: »Sehen Sie, diesen Christus am Kreuz hat er auch geschnitzt – ist er nicht schön?« Sie wartete aber keine Antwort ab, sondern sagte: »Ich hätte ihn schon zehnmal verkaufen können, ich geb ihn aber nicht her. Sonst trage ich alles, was er schnitzt, in ein Geschäft. Sie bezahlen nicht schlecht, und der Inhaber sagt, er hätte das Zeug zu einem richtigen Künstler, er müßte nur ein bißchen Ausbildung und Material haben. – Aber daraus wird nichts«, sagte sie mit der alten Feindseligkeit im Ton und stellte den Christus vorsichtig beiseite. »Er muß ja bei euch die Pferde putzen und den Stall fegen!«
Eva sah die Schwägerin hilflos an, die aber sagte schon wieder ganz ruhig: »Ich rede natürlich nie so zu ihm wie jetzt zu Ihnen. Ich habe ihm immer gesagt: ›Otto, tu, was dein Vater sagt.‹ Denn das sehe ich auch, daß er einen schwachen Willen hat und daß ich ihn bloß unglücklich mache, wenn ich ihn zum Streit mit euch reize.«
Eva sagte vorsichtig: »Vielleicht kommt er wirklich stärker aus dem Krieg zurück. Sie können doch hier nicht immer allein mit dem Kind sitzen, und wenn Otto solche Gaben hat ... Vater hat doch Geld genug ...«
»Doch, das kann ich! Ich kann hier gut allein mit meinem Kind sitzen und auf ihn warten. Dann habe ich das Kind allein und ihn allein, wenn es auch immer nur für eine kurze Zeit ist. Und das Geld – nie will ich einen Pfennig von eurem Geld. Ihr denkt, Geld macht glücklich, aber euch alle hat es bloß unglücklich gemacht!«
Sie sah Eva wieder zornig an, aber sie besänftigte sich gleich wieder, als sie deren blasses, müdes Gesicht sah. »Nein, nun will ich auch nicht mehr schelten. Sie sagen ja, Sie sind ebenso unglücklich wie Otto. – Aber Sie wissen gar nicht, wie unglücklich der ist.«
»Sie wissen ja auch nicht, wie unglücklich ich bin«, sagte Eva. Aber sie besann sich schnell und fragte: »Wann kann ich denn zur Anprobe kommen? Oder soll ich gar nicht mehr kommen? Ich sage bestimmt nie etwas zu Haus.«
»Sie können alle Tage kommen – wenn Sie Gustäving sehen wollen.«
»Und«, sagte Eva, »es kann ja sein, daß Mutter nach Ihnen schickt oder selber zu Ihnen kommt, denn Mutter ist neugierig. Da dürfen Sie sich nicht verraten – Mutter denkt mit keinem Gedanken an Otto. Sie können ja sagen, es ist das Kind von einer Verwandten.«
»Ich wegen Gustäving lügen? Nie! Ich werde es ihr schon sagen, daß es mein Kind ist, aber wer der Vater ist, das kann sie mir nun doch nicht abfragen.«
»Dann gehe ich also«, sagte Eva und sah noch einmal durch die Stube und auf das spielende Kind.
Gertrud Gudde sah den Blick. »Geben Sie ihm doch einen Kuß«, sagte sie. »Ich bin Ihnen bestimmt nicht mehr böse.«
Aber Eva machte bloß eine abwehrende Bewegung, sie flüsterte leise: »Nein, nein«, und ging wie gehetzt über den kleinen dunklen Flur zur Wohnungstür, ohne jeden Abschied. Sie öffnete die Tür, und erst, als sie auf dem Treppenabsatz stand, sagte sie: »Vielleicht komme ich schon morgen wieder.«
»Gut«, sagte die Gudde und nickte.
»Ich überlege immer«, sagte Eva und bückte sich nieder zu dem Namensschild an der Klingel, »wie Sie mit Vornamen heißen. Gertrud also. Ich heiße Eva.«
»Er sagt Tutti ...«, sagte die Gudde ganz leise.
»Adieu – Tutti«, nickte Eva.
»Adieu – Eva«, sagte die Gudde.
Dann ging Eva – auf die Straße zurück.
Es war ein erregter Tag gewesen, für Gustav Hackendahl, eigentlich war es ein großer, ein stolzer Tag gewesen!
Am Morgen der stattliche Auszug mit den zweiunddreißig Pferden zur Musterung, die Gesichter der Leute, die sich nach dem hellen Geklapper der Eisen auf dem Pflaster umgedreht hatten. Dann die Musterung selbst, der Oberleutnant, der seine Pferde gelobt hatte. Selbst an das etwas unerwartet verlaufene Abenteuer mit dem Spion konnte man mit ein wenig Stolz zurückdenken. Dann war der Nachmittag gekommen. Man hatte zu den Allerersten gehört, die für das Vaterland einen Sohn in den Krieg schickten, und ein zweiter Sohn würde auch schon in den allernächsten Tagen Uniform tragen ...
Jawohl, es war ein stolzer Tag gewesen, vielleicht gab es heute nicht viele Männer in Berlin, die soviel für ihr Vaterland gegeben hatten wie er.
Aber dann war man nach Haus gekommen, in Haus und Hof, die immer sein Stolz gewesen waren, und es war so seltsam gewesen, öde, leer ...
Eine ganze lange Zeit hatte er bei Rabause im Stall gestanden und hatte sich mit ihm unterhalten, genauer, er hatte ihm von allem, was er am Tage erlebt hatte, erzählt. Rabause hatte tüchtig zu tun gehabt, der ganze Stall mußte ja umgekrempelt werden, statt zweiunddreißig Pferden standen jetzt hier fünf.
Rabause schuftete und rannte, er sah seinen Chef ein wenig spöttisch von der Seite an, und ein paarmal hatte Hackendahl denn auch mit zugegriffen. Aber es war ihm schwer geworden.
Ihm fiel ein, wie lange es wirklich her war, daß er ernstlich körperlich gearbeitet hatte. Jetzt würde er wieder ein bißchen mit zufassen müssen. Es würde sich wieder lernen lassen, wahrscheinlich tat es dem Herzen sogar gut.
Aber es war ja gar nicht nötig – bei fünf Pferden war nicht einmal genug Arbeit da für einen Futtermeister. Rabause hatte ähnliches gedacht. »Für den Winter ist der Stall aber für die paar Gäule zu kalt, Herr Chef«, meinte er nachdenklich. »Da müssen wir wohl 'ne Trennwand ziehen.«
Hackendahl grunzte, er war gegen alle Bauerei, mit der man nur Geld los wurde. »Zum Winter ist der Krieg schon lange alle, da kriege ich meine Pferde von der Militärverwaltung zurück.«
»Daß der Krieg schon vor Winter alle is, das wollen wir man lieber nich behaupten, Herr Chef«, hatte Rabause widersprochen. »Siebzig hat er auch übern Winter gedauert, und da hatten wir bloß einen Feind.«
»Reden Sie nicht, Rabause«, hatte Hackendahl ärgerlich gesagt. »Was wissen Sie denn vom Krieg und Militär?!«
Aber er war dann gleich aus dem Stall gegangen, die Aussicht, lange Monate nur mit fünf Pferden zu arbeiten, hatte ihn gewaltig gekränkt. Das ist ja kein Lohnfuhrunternehmen mehr, hatte er gedacht. Das ist ja auch nicht viel mehr als eine Tag- und eine Nachtdroschke. Da kann ich mir ja wohl noch selber den Lackpott aufstülpen und an den Warteplätzen lauern!
Unschlüssig hatte er auf dem Hof gestanden. Wenn jetzt wenigstens die Droschken heimkämen! Dann könnte ich mit ihnen abrechnen, ich hätte doch was zu tun!
Aber gleich fällt ihm wieder ein, daß es ja bloß fünf Droschken sind, da ist das Abrechnen nur ein Klacks mit der Wichsbürste, und Nachtdroschken sind auch nicht abzufertigen ...
Da steht er, er hat nie an sich gezweifelt, und er zweifelt auch jetzt nicht an sich, aber wie leer ist er geworden! Hat er nur durch die anderen gelebt, statt, wie er meinte, die anderen durch ihn? Er weiß es nicht, er denkt auch nicht darüber nach, er weiß nur, das Leben gefällt ihm plötzlich nicht mehr. Ja, Kinder ..., denkt er. Sie gehörten ihm bisher, er belehrte und erzog sie, er gewöhnte sie an Pünktlichkeit, Fleiß, Gehorsam. Er gröbste sie an, und er war nett mit ihnen, ganz, wie Stimmung und Anlaß es mit sich brachten, aber nun waren sie fort! Sie kamen ohne ihn zurecht. Da war noch Bubi, aber mit Bubi war schwer herumzukommandieren, er war ein sehr selbständiger Pennäler, er erzählte nie etwas von der Schule.
Dann war da noch Eva ... Eva! Plötzlich fällt Hackendahl ein, daß er Eva versprochen hat, heute noch mit ihr zu reden. Sofort macht er kehrt und steigt eilig die Treppe hinauf. Er hat eine Aufgabe gefunden, eine Beschäftigung, er ist nicht mehr leer!
Aber oben erlebt er eine Enttäuschung, Eva ist weggegangen, sie ist nicht im Haus. Auch darüber muß er mit ihr sprechen, daß ihm dieses ständige Fortlaufen nicht paßt! Ein Kind hat zu sagen, wenn es fortgeht, wohin und warum, das ist Ordnung. Aber er kann jetzt nicht mit ihr darüber reden, sie ist fort. Wieder steht er leer da.
»Was machst du jetzt, Bubi?«
»Lateinisches Scriptum, Vater.«
Hackendahl sieht das Heft etwas hilflos an. »Kannst du nicht besser schreiben? Das ist ein schreckliches Geschmier, Bubi!«
»Och, Vater ... Unser Lateinpauker schmiert noch viel mehr, der kann seine eigene Schrift nicht lesen. Wir helfen ihm immer raten!«
»Ganz egal, Bubi. Du mußt sauber schreiben.«
»Jawohl, Vater!«
Erledigt, aus. Nichts weiter zu sagen. Hackendahl wirft noch einen Blick auf das, was Heinz nun schreibt. Die Schrift scheint nicht wesentlich gegen die bisherige verändert. Aber es wird keinen Sinn haben, mit Bubi deswegen zu disputieren ...
Hackendahl geht in die Küche.
In der Küche sitzt Mutter beim Kaffee. Hackendahl schnuppert, natürlich ist es der für den Alltag verbotene Bohnenkaffee, statt des angeordneten Malzkaffees! Hackendahl hat es schon hundertmal gesagt, und er sagt es mit Blitzen und Donnern zum hunderterstenmal, daß er dies nicht haben will, daß er sein Geld nicht auf der Straße findet ...!
Und zum hunderterstenmal hat Frau Hackendahl mindestens ein halb Dutzend vollgültige Entschuldigungen für die Übertretung des Verbotes: daß Otto weggefahren ist, daß sie Kopfschmerzen von der Hitze hat, daß ihr das Gejachter zur Bahn nicht bekommen ist, daß sie nur fünf Bohnen in den Malzkaffee genommen hat und so weiter. Und so weiter.
Blitz und Donner, gut. Ein wenig erfrischt geht Hackendahl in sein Zimmer. Auf dem Schreibtisch liegt die Mappe mit den Papieren der Musterungskommission. Hackendahl fällt ein, daß darin die Zahlungsanweisung der Militärverwaltung auf eine erhebliche Summe liegt. Er sieht auf die Uhr: Jawohl, es ist noch Zeit, er kommt noch auf seine Bank. Die Mappe unter dem Arm, marschiert Hackendahl los ...
Auf der Bank sieht es ein wenig leer aus hinter den Schaltern, aber noch begrüßt der gewohnte Angestellte Herrn Hackendahl mit der gewohnten nüchternen Höflichkeit: »Na, Herr Hackendahl, bißchen Geld holen?« Und hinter der Hand geflüstert: »Es ist eben reingekommen: Die Einlösungspflicht für Banknoten ist aufgehoben.«
»Was heißt das?!« fragt Hackendahl, ein wenig ärgerlich. (Er ist immer ärgerlich, wenn er etwas nicht gleich versteht.)
»Es gibt für die Banknoten kein Gold mehr. Das Gold wird aus dem Verkehr gezogen.«
»Nun, es wird schon richtig sein«, sagt Hackendahl. »Alles, wie es die Regierung anordnet. Ich habe meine Gäule auch abliefern müssen.«
Und er schiebt die Zahlungsanweisung über den Tisch.
Der Angestellte sieht sie an. »Ein schöner Betrag«, sagt er anerkennend. »Aber es waren sicher auch schöne Pferde? Auf Kontokorrent, Herr Hackendahl? Vorläufig – natürlich, ich verstehe schon. Vielleicht später ein paar Papiere kaufen, ich glaube, gute Papiere werden bald billig zu haben sein, die Leute verkaufen!«
»Ich werde es mir überlegen«, sagt Hackendahl. Und ganz plötzlich: »Vielleicht kaufe ich mir lieber ein paar Autotaxen ...«
Es war ihm plötzlich so eingefallen. Nicht, daß solcher Kauf etwa wirklich in Frage kam. Aber man konnte ja einmal hören, wie solch ein Bankmensch darüber dachte ...
Natürlich war der Mann Feuer und Flamme. »Ausgezeichnete Idee, Herr Hackendahl!« sagte er beifällig. »Sie sind ein wirklich fortschrittlicher Mann. Das Pferd ist tot, ein Auto ist viel schicker!«
»Wenn das Pferd tot wäre, hätte die Militärverwaltung wohl nicht soviel dafür bezahlt, junger Mann!« sagte Hackendahl ein wenig grimmig. »Warum sind Sie denn eigentlich noch nicht bei den Soldaten?«
»Vorläufig bin ich noch von meiner Bank reklamiert«, antwortete der junge Mann wichtig, »Unabkömmlich!«
Er sagte das »Unabkömmlich« recht geschwollen, fand Hackendahl.
»Na denn Mahlzeit!« sagte Hackendahl und ging.
Ekelhafter Kerl! dachte er. Wichtigtuer! schalt er.
An die Litfaßsäulen klebten sie schon die Bekanntmachung, daß Banknoten nicht mehr in Gold umgewechselt wurden. Es war bestimmt gleichgültig. Er hatte nie daran gedacht, mit seinen Scheinen zur Reichsbank zu gehen und auf Umwechslung zu bestehen. Er hatte bisher der Reichsbank vertraut und der Regierung. Und er würde es weiter so halten ... Kein Gedanke an Unruhe. Geld war Geld, ob aus Papier oder Gold ...
Hackendahl geht jetzt durch die Kleine Frankfurter Straße. Ihm fällt ein, daß hier ein Lokal ist, wo oft Pferdehändler sitzen. Er wird einmal nachsehen, ob jemand da ist. Er kann dann hören, wie es mit Pferden steht. Ein paar Pferde mehr im Stall wäre nicht schlecht ...
Die kleine Kneipe ist gesteckt voll, und Hackendahl, der eiserne Gustav, wird mit Hallo empfangen.
»Dich haben sie heute schön in der Mache gehabt, Gustav! Gaul auf Gaul, aber du hattest auch Pferde wie die Puppen!«
»Wird eine Stange Gold kosten, die wieder zu kaufen! Da wirst du tüchtig was drauflegen müssen, Gustav!«
»Gibt's denn Pferde zu kaufen?«
»Heut nicht, aber vielleicht in zwei, drei Wochen. Ich denk, ich kriege in Ostpreußen einen Transport zusammen.«
»Ich geh nach Holland ...«
»Die Dänen haben auch ganz hübsche Pferdchen ...«
»Pferde wird's schon wieder geben, aber was sie kosten werden ...!«
»Red doch nicht! Gustav ist doch der Mann, der zahlen kann!«
»Wenn sie mir zu teuer werden ...«
»Mensch, Gustav, red nicht! Wie können die denn zu teuer werden? Deinen Stall hast du, deine Droschken hast du, also mußt du auch Pferde haben! Wie können da die Pferde zu teuer sein!? Du mußt sie doch haben!«
»Oder er macht seinen Laden zu!«
»Der Gustav? Daß ich nicht lache! Der läßt noch Droschken fahren, wenn mir kein Zahn mehr weh tut! Der ist doch eisern, der Gustav! Nicht wahr, das bist du doch, Gustav? Eisern!«
Es tat gut, in soviel Anerkennung und Bewunderung zu sitzen. Die erkannten an, was er geleistet hatte. Es war keine Kleinigkeit gewesen, aus dem verlotterten Betrieb vom Schwiegervater solchen Musterstall zu machen! Das hatte Arbeit gekostet, Nachdenken, Sorgen – dreißig Kutscher in Ordnung halten, die immer mal gerne einen über den Durst trinken, das war schon eine Sache! Zu Haus fanden sie alles immer selbstverständlich. Hier erinnerten sie sich: »Und weißt du noch, Gustav, wie dir der alte Kublank den Fuchs aufreden wollte? Dem er Arsenik zu fressen gegeben hatte? Und du wolltest durchaus nicht ...?«
Geschichten von Pferden, die lange tot waren, von Händlern, die in keiner Gewerberolle mehr standen – uralte Geschichten. Aber man wurde warm dabei. Hackendahl blieb viel länger sitzen, als er gewollt hatte, aber was sollte er zu Haus?
Sie aßen alle zusammen am Biertisch ihr Abendbrot, kalte Buletten oder warme Würstchen mit Kartoffelsalat. Dann gingen sie sogar noch weiter. Einer wußte ein kleines Bier-Varieté in der Nähe. Sie saßen um einen großen Tisch, neugierig, beifällig, unverwöhnt sahen sie zu der kleinen Bühne, auf der eine Chansonette schrill schrie, ein kümmerlicher Zauberer kümmerliche Kaninchen verschwinden ließ und zum Schluß Kartenkunststücke zeigte, die die Pferdehändler besser auszuführen wußten. Dann warf eine Tänzerin ihre spitzenbesetzten weißen Röcke in die Höhe und drehte sich zum Schluß rasend im Kreise, daß man ihre Hosen sah. Die Männer klatschten rasend Beifall.
Aber es kam noch etwas, eine Zugabe. Der Unternehmer ging mit der Zeit. Auf der Bühne standen zwei Mädchen, die eine durch Gewehr und Helm als Soldat, die andere durch Säbel und Monokel als Leutnant gekennzeichnet. Der Soldat sollte exerzieren, aber der Soldat wollte nicht. Der Leutnant klirrte mit dem Säbel, er schnarrte viele Ähs, verlor sogar sein Monokel – aber der Soldat blieb dabei: Er wollte nicht exerzieren.
Nicht mehr. Rasch stellte es sich heraus, daß der Soldat meinte, er könne genug, er wollte nach Paris! Nach Paris! Der Leutnant war begeistert von diesem Gedanken. Er faßte seinen Soldaten um, gemeinsam walzten die beiden den Siegeswalzer nach Paris – aus der Kulisse wurden schwarzweißrote Fähnchen geschwenkt, bengalisches Licht flammte auf.
Das Klavier trommelte: »Heil dir im Siegerkranz«, stehend sang das Publikum mit, alle waren ernst und begeistert.
Erst beim Nachhausegehen merkte Hackendahl, daß er nicht nur begeistert gewesen war. Man konnte es den beiden Mädchen nachsehen, daß ihr Griffekloppen nicht geklappt hatte. Davon verstanden Mädchen nichts. Aber man sollte so etwas doch lieber nicht machen. Siegeswalzer nach Paris – das sah ja so aus, als brauchte man nur einfach hinzutanzen, als könne es gar keine Kämpfe geben, als sei all die schwere Friedensarbeit am Militär ganz überflüssig gewesen! Nein, so nicht!
Hackendahl versprach sich, nicht wieder in dieses Lokal zu gehen. Auch bei den Händlern würde er sich so bald nicht wieder sehen lassen. Die sollten erst einmal arbeiten, Pferde heranholen. Ein Mann, der auf sich hält, trinkt nicht mehr, als er vertragen kann.
Er kommt auf seinen Fuhrhof, gewohnheitsmäßig geht er erst in den Stall. Nur eine Stallaterne brennt, Rabause ist nicht da. Logisch, es lohnt sich nicht, wegen fünf Pferden eine Stallwache zu bezahlen.
Hackendahl tritt in den Stand des Schimmels; das Pferd steht müde da, mit tief hängendem Kopf. Es hat noch Heu genug in der Raufe, aber es hat ein paar Strohhalme von der Streu ins Maul genommen – und sie zu kauen vergessen. Da steht das Tier, abgetrieben, die Strohhalme spießen aus seinem Maul, es sieht jämmerlich aus. Es hat die Wettfahrt nicht überwunden, es hat sich damals überjagt. Hackendahl sagt sich, daß der Schimmel nie wieder zurechtkommen wird.
Aber er braucht kein Stroh zu fressen, auch kein Heu; Hackendahl hat für seinen Schimmel etwas Besseres. Als sie vorhin zum Abschluß im Varieté eine Tasse Kaffee tranken, hat der Kellner eine Dose mit Zucker auf den Tisch gesetzt. Natürlich haben alle Pferdehändler in die Dose gegriffen, Hackendahl mit. Sie haben die Dose geleert, nicht für ihren Kaffee, nein, für die Pferde, die jeder von ihnen zu Haus stehen hat. In Lokalen, in denen Pferdehändler regelmäßig verkehren, stellt man keine Zuckerdose auf den Tisch, da zählt man die Zuckerstückchen zu – die Dosen werden zu schnell leer!
Hackendahl hält seinem Schimmel den Zucker hin. Der Schimmel dreht das trübe blaue Auge im gelblichen Weiß nach seinem Herrn. Er schnuppert mit den Lippen an der Hand, am Zucker – und läßt den Kopf wieder sinken.
»Willst du nicht?« sagt Hackendahl im plötzlichen Ärger. »Dann läßt du's eben bleiben!«
Aber er hat nun keine Lust mehr, den Zucker an die anderen Pferde zu verteilen. Ärgerlich geht er aus dem Stall. Er steigt die Treppe zur Wohnung hinauf. Während er das tut, überlegt er, wie er sonst eigentlich die Treppe hinaufgeht, nachts, ob laut oder leise oder mit seinem gewöhnlichen Schritt. Aber er kommt nicht darauf. Jedenfalls wird er nicht extra leise gehen: Er hat nicht mehr getrunken, als er vertragen kann!
Oben steht er einen Augenblick überlegend still. Natürlich muß er seinen gewohnten Rundgang wie alle Abende machen; keiner soll ihm anmerken, daß er was getrunken hat.
Als er die Tür zum Schlafzimmer der Jungen öffnet, ist er überrascht, wie dunkel es darin ist. Er kann nicht erkennen, ob sie in ihren Betten liegen und schlafen. Dann fällt ihm ein, daß er heute ja seinen Gang viel später als sonst macht, darum ist es schon so dunkel. Es ist ja schon Nacht, wieviel Uhr eigentlich? Na, jedenfalls schon Nacht, und sonst ist Abenddämmerung.
Vorsichtig, auf den Zehenspitzen tastet er sich in den Raum. Er fährt mit der Hand über das Kopfende des Bettes, er fühlt noch einmal nach: Er hat richtig gefühlt, es stimmt, das Bett ist leer. Er steht nachdenklich da. Das war eben nicht richtig, es stimmt ja grade nicht! Das Bett sollte nicht leer sein, der Junge sollte darin liegen.
Er überlegt, was er nun tun muß. Soll er mit dem Bengel schimpfen? Aber er kann nicht mit dem Bengel schimpfen, der Bengel ist ja nicht da! Soll er mit den anderen schimpfen? Natürlich soll er das! Die anderen können auch aufpassen, immer, wenn er nur einen Augenblick fort ist, passiert so etwas!
Er ist schon im Begriff loszubrechen, als ihm einfällt, daß er erst nachsehen will, ob die anderen da sind. Er tastet nach dem zweiten Bett, er befühlt das Kopfende: Siehst du, auch das Bett ist leer.
Ein Lächeln breitet sich über sein schweres Gesicht aus: Es ist doch gut, daß er noch nachgesehen hat. Nun hat er schon zwei erwischt. Wenn nun auch noch der dritte fort ist – denen wird er es aber zeigen, was Ordnung heißt in seinem Hause!
Aber der dritte ist da. Heinz liegt ruhig im Bett und schläft. Der Vater tastet nach dem Gesicht, bekommt die Haare zu fassen und zieht. »Du! Bubi!«
»Hmm!«
»Bubi!!« – Schon sehr viel kräftiger.
»Ich schlafe ...«
»Bubi – wo sind die anderen?«
»Wer?«
»Otto!«
Bubi richtet sich auf, schlaftrunken starrt er auf den schattenhaften Vater. »Otto ...?«
»Ja, frag noch! Otto!«
»Vater! Du hast doch Otto selbst zur Bahn gebracht!«
»Ich ...? Otto ...?«
»Ja, er ist doch bei den Soldaten!«
Der Vater ist verwirrt, daß er das vergessen hat! Er versucht seine Verwirrung zu bemänteln. »Ich mein doch Erich!« sagt er.
»Erich ...?« fragt Bubi dagegen, um Zeit zu gewinnen. »Ja, Erich! Wo ist denn Erich?«
»Erich ...?«
»Ja, frag noch Erich! Erich, wo Erich ist, will ich wissen!«
»Erich!« Bubi hat jetzt des Vaters Zustand klar erkannt. Sofort macht er sich daran, Erichs Abwesenheit zu vertuschen. »Erich – Erich hat doch Mutter geholfen, die Droschken kassieren. Du warst doch nicht da! Wo warst du denn, Vater?«
»Ich war auf der Bank ...«, sagt der Vater mürrisch. »Aber Erich ...«
»Die Banken machen doch um fünf zu, Vater. Wo warste denn noch, erzähl doch! Warste beim Schloß?«
»Ich hab nach Pferden rumgefragt. Wir müssen doch neue Pferde haben. Aber Erich ...«
»Kriegen wir neue Pferde? Au fein, Vater!«
»Jetzt gibt's doch keine Pferde in Berlin! Aber es kommen frische. Da kriegen wir welche!«
»Pyramidal! Du, Vater ...«
»Ja? Was ist denn?«
»Wülste dich hier nich ein bißchen aufs Bett legen? Da störste Mutter nich, Mutter schläft schon lange.«
»Das stört Mutter nicht, wenn ich komme. Das hört Mutter gar nicht. Ich werde mich doch nicht auf Erichs Bett legen. Wo ist Erich überhaupt?«
»Erst hat er Muttern geholfen, die Droschken kassieren. Warte, Vater, ich helf dir die Schuhe ausziehen. Dann können wir hier noch ein bißchen quatschen. Im Bett quatscht sich das fein!«
»Ich leg mich doch nicht auf Erichs Bett!«
»Ottos Bett ist ja auch frei, Vater, und Ottos Bett ist bequemer als Erichs Bett. – Wart, Vater, ich hänge deine Jacke hier hin – wir brauchen gar kein Licht zu machen. Das soll keiner merken ...«
»Was soll keiner merken?«
»Der Hoffmann sagt, morgen wollen se aber nich offene Taxe fahren, morgen wollen se mit Gepäckdroschke los. Da liegt ein großes Geschäft, meint Hoffmann.«
»So ein Stuß!« brummelt der alte Hackendahl. »Gepäckdroschke! Wer soll denn jetzt verreisen?«
»Aber sie kommen doch alle zurück, Vater, aus der Sommerfrische! Die reißen dort jetzt alle aus und wollen schnell nach Haus, weil keiner an den Krieg geglaubt hat. Zu Hunderten sind sie an den Bahnhöfen mit ihren Koffern – und kein Fuhrwerk zu kriegen! Hoffmann sagt ...«
»Ach, Hoffmann ...!« Hackendahl zieht die Decke über sich. »Das muß ich mir erst überlegen, Gepäckdroschke, und dann die abgetriebenen Gäule!«
»Du, Vater!«
»Das war wohl schwer mit den ollen Pferdehändlern?«
»Wieso schwer? Alles Geschäft ist schwer. Aber sie hatten gar keine Pferde.«
»Nee, ich meine auch bloß – so mit dem Trinken. Du hältst dich großartig, Vater, aber gut ist doch, daß Mutter nichts merkt.«
»Nicht was merkt?«
»Na, ein bißchen hast du doch geladen, Vater!«
»Ich! Nee! Gar nichts. Das kommt dir bloß im Dunkeln so vor. Ich war eben noch im Stall.«
»Und in welchem Bett liegst du jetzt, Vater?« kichert Heinz.
»In welchem Bett? Dämlicher Bengel! Als wenn ich das nicht wüßte!«
»Sag doch! In Ottos oder in Erichs Bett?«
»Bubi! Otto ist doch im Kriege, das hast du doch eben selber gesagt!«
»Na – und?«
»Dann liege ich also in Erichs Bett!«
Bubi schüttelt sich vor Lachen, er kriecht ganz in seine Kissen hinein. Aber des Vaters Stimme erreicht ihn doch: »Bubi!«
»Was denn, Vater?«
»Ich hab bei den Mädels noch nicht nachgesehen. Hilf mir mal raus aus dem Bett. Ich muß erst bei den Mädels nachsehen, ob sie zu Hause sind.«
»Die Mädels, Vater?«
Gereizt, ungeduldig: »Ja, hilf mir aus dem Bett. Mir ist ein bißchen schwindlig.«
»Aber die Sophie wohnt doch im Krankenhaus, Vater. Doch schon lange!«
»Ja, ist das eine Sache? Im Krankenhaus, ich will das aber nicht haben! Fünf Kinder hat man – und keines ist da!«
»Ich bin doch da, Vater!«
»Und wo ist Eva?«
»Eva ist schon vor einer ganzen Weile ins Bett gegangen, Vater.«
»Laß mich nachsehen, Vater – du weckst sie ja bloß. Nachher erzählt sie es noch Muttern ...«
Bubi schlüpft aus dem Bett und geht ins Nebenzimmer. Der Vater hockt halb in seinen Kissen.
Ich hätte selber gehen sollen, denkt er. Auf Bubi ist auch kein Verlaß.
Dann kommt Bubi zurück.
»Eva schläft, Vater.«
»Ist das auch bestimmt wahr?«
»Eva schläft ganz bestimmt. Sie schläft auf der Seite, sie schnarcht.«
»Na, denn is gut. Denn wollen wir auch schlafen. Gute Nacht, Bubi.«
»Gute Nacht, Vater! Schlaf auch schön.«
Gespräch im Dunkeln, zu zweien.
»Wat ick dir noch fragen wollte: Warum biste heute nachmittag nich jekommen, wie ick dir jewunken habe?«
»Vater war doch dabei!«
»So, dein Vater is dir also mehr als icke!«
»Und ich mußte Otto doch adieu sagen, Otto ist doch fort in den Krieg.«
»So, dein Bruder is dir also ooch mehr als icke!«
»Ich konnte doch nicht anders, Eugen, quäl mich doch nicht so! Du tust mir weh!«
»Jetzt wer ick dir mal was sagen, Mächen, von wejen weh tun un so! Wenn de von jetzt an nich kommst, wenn ick pfeife, weg von Vätern un Muttern un deine janze Mischpoke, denn roocht's! Haste det vastanden?«
»Ja, Eugen!«
»Denn roocht's, ha'ick jesacht!«
»Ja, Eugen!«
»Ja, Eugen, imma: ja, Eugen! Weeßte aber ooch, wie det is, wenn et bei mir roocht, haste da'n Bejriff von?«
»Ja, Eugen!«
»Wirste allet tun, wat ick dir sare?«
»Ja, Eugen!«
»Bin ick dir lieber als Vater un Mutter un Bruder?«
»Oh, Eugen! – Ja, Eugen!«
»Det hat wohl weh jetan? Sag doch: ja, Eugen.«
»Ja, Eugen!«
»Det soll dir noch viel weher tun – heute nacht bleibste hier bei mir ...«
»Oh, Eugen, Vater ...«
»Wat is Vater?! Wat is Vater?! Wat is Vater?!«
»Eugen!«
»Sag gleich, auf der Stelle sagste: ›Vater is'n Dreck.‹ Sag det oder – ick kenn mir nich vor Wut! Sag ...«
»Vater ist ein Dreck.«
»Jut. Heute nacht bleibste hier bei mir.«
»Ja, Eugen.«
»Un wenn dein Oller dir morjen rausballert, kommste bei mir.«
»Ja, Eugen!«
»Du kommst doch jerne bei deinen Eugen?«
»Ja, Eugen.«
»Ick bin dir doch lieber wie Vater un Mutter?«
»Ja, Eugen.«
»Siehste, wie zahm de schon wirst? Solche wie dich, da nehm ick sechse von uff mir. Du sollst sehn, det jefällt dir noch. Du sollst sehen, ick jefall dir ooch noch! Jefall ick dir, Evchen ...?«
»Ja, Eugen.«
»Dowe Nuß! Los, nimm deine Klamotten. Zieh dir an, hau ab bei deinen Ollen. Mach schnell, hörste?! Du ödest mir. Hauste ab?«
»Ja, Eugen.«
»Ick denk, du sollst hierbleiben?«
»Un jetzt willste abhauen?«
»Wie du willst, Eugen.«
»Na, denn hau ab, Dowe! Aba wenn ick pfeife ...«
»Ja, Eugen, dann komm ich.«
Der Junge in Feldgrau sprang in großen Sätzen die Treppe hinauf, er nahm zwei Stufen auf einmal. An der Tür drückte er, ohne sich zu besinnen, den Klingelknopf mehrere Male, und noch ein paarmal, als nicht sofort geöffnet wurde. Er sah flüchtig die Schilder unter den Namen an, sehr viele Schilder, sehr große, aber nüchterne Schilder, schwarze Buchstaben auf weißer Emaille: »Justizrat Dr. Meier – Rechtsanwalt und Notar. – Geschäftsstunden von 10-1, 3-6. – Mitglied des Reichstags.«
Er näherte den Finger wieder dem Klingelknopf – da ging die Tür auf.
»Warum denn so eilig?« fragte der Öffnende mit tiefer Stimme. »Herr Justizrat ist jetzt doch nicht zu sprechen – ach, du bist es, Erich. Komm herein – ich sage dem Doktor gleich Bescheid.«
»Ich sag's ihm selber!« rief Erich und lief schon in das Zimmer des Abgeordneten.
Der schwere, dunkle Mann las in einer Zeitung. »Ich wünsche jetzt nicht gestört zu werden«, sagte er, erkannte aber schon den Eindringling. »Ach, Erich! Erich in Uniform! Das hast du aber schnell geschafft! Ich höre, die Regimenter können sich vor Freiwilligen nicht retten. Wo bist du angekommen?«
»Bei einem Ersatzbataillon in Lichterfelde. Von dreitausend, die sich gemeldet haben, haben sie hundertfünfzig genommen!«
»Und dich darunter. Sehr schön. Ich habe es immer gesagt: Was du wirklich willst, führst du auch durch. – Und so hast du dich uns also in Uniform zeigen wollen, uns roten Genossen? Gut siehst du aus! Schneidig – was ja wohl das Höchste an Preußentum bedeutet.«
»Ich bin nicht gekommen, weil ich mich in Uniform zeigen wollte! So albern bin ich doch nicht, Herr Doktor!«
»Vielleicht ist das gar nicht so albern, Erich? Es muß für viele heute ein schönes Gefühl sein, die Uniform zu tragen. Ihr verteidigt uns doch, ihr wollt doch sogar für uns sterben!«
»Natürlich freue ich mich auch, daß ich Soldat bin. Aber doch nicht wegen der Uniform!«
»Und der Ton bei deinen Preußen – er gefällt dir? Anschnauzer waren doch sonst für dich, was das rote Tuch für den Stier ist! Oder wird nicht mehr geschnauzt ...?«
»Doch«, gab Erich zu. »Es ist elend, manchmal kann ich mich kaum beherrschen. Und das Gemeinste ist nicht das Schnauzen, sondern das Spötteln und Triezen, wenn einer nicht so kann, wie er soll! Manche können doch wirklich nicht, die nie geturnt haben und so ... Stundenlang geht es über die her, alle Tage!«
Der Abgeordnete sah aufmerksam in das erregte Gesicht. »Nun, mein Erich«, sagte er. »Ich hoffe, du kannst die Schnauze halten, wie man auf preußisch sagt. Die Kriegsartikel sind recht scharf, und Rebellion ist heute etwas Todeswürdiges. – Ich sagte dir wohl schon mal, daß du eigentlich ein Rebell bist«, setzte er hinzu. »Du wirst immer gegen jeden Zwang antoben, bis zur eigenen Vernichtung.«
»Ich kann aber jetzt die Schnauze halten, Herr Doktor!« rief Erich stolz. »Man kann alles, wenn die Sache es lohnt! Ich denke immer: Ein Vierteljahr werden wir nur ausgebildet, dann kommen wir doch an die Front und können kämpfen!«
»Vielleicht werdet ihr noch eher herauskommen, Erich. England hat uns jetzt auch den Krieg erklärt, weißt du es schon?«
»England auch?« rief der Junge bestürzt. »Aber warum denn? Unsere Vettern, gleichen Blutes, und der Kaiser ist ganz nahe mit denen verwandt! Warum denn?«
»Weil wir die belgische Neutralität verletzt haben. Sagen sie. Und das haben wir ja auch wirklich getan.«
»Aber England«, rief der Junge, »hat sich hundertmal in seiner Geschichte über Verträge hinweggesetzt! Es hat nie ein Papier geachtet, wenn es um ein Lebensrecht seines Volkes ging! Und jetzt ging es um unser Lebensrecht!«
»Sie sagen Christentum, und sie meinen Kattun!« zitierte der Abgeordnete, trübe lächelnd. »Sie sagen belgische Neutralität, und sie meinen unsere Flotte, unsere Kolonien!«
»Aber England besitzt fast ein Fünftel der Welt – was zählen da unsere paar Kolonien?«
»Ein reicher Mann ist nie reich genug. Wir werden es schwer bekommen, Erich. Sei dir klar, daß fast die ganze Welt Deutschland haßt.«
»Aber warum? Wir wollten doch in Frieden leben ...«
»Weil wir zwiespältig sind. Weil sie uns nie verstehen. Sie wollen uns immer verstehen, aber Deutschland, mein Sohn, kann man nicht verstehen. Deutschland muß man lieben oder hassen.«
»Ja«, rief der Junge, »jetzt weiß ich wieder, warum ich hierherkam. Ich habe doch recht behalten, Herr Abgeordneter, Herr Mitglied des Reichstages, Herr Sozialdemokrat! Auch Sie lieben Deutschland – Sie haben doch für die Kriegskredite gestimmt, alle, einer wie der andere!«
»Ja«, gab der Abgeordnete fast verlegen zu. »Wir haben diesen Krieg gebilligt. Die Rede des Reichskanzlers war kläglich. Wenn er uns die Wahrheit gesagt hat, so hat er uns nicht die volle Wahrheit gesagt. Vieles blieb unklar ...«
»Sie haben mit Ja gestimmt!«
»Österreichs Haltung ist zwiespältig. Der Kaiser redet von Nibelungentreue, aber der, dem wir zu Hilfe kamen, hat heute noch nicht an Rußland den Krieg erklärt. Die Herren in Wien möchten ihren kleinen Strafkrieg gegen Serbien führen, und wir dürfen uns für sie mit der Welt herumschlagen!«
»Und doch haben Sie ja gesagt!«
»Weil wir Deutschland lieben, jawohl, Erich. Es sind unendliche Fehler gemacht worden, vom Kaiser, von diesem philosophierenden Kanzler – von allen. Aber man läßt ein Kind nicht wegen Fehlern im Stich, man verläßt auch nicht seine Mutter ... Wir haben mit Ja gestimmt. Wir konnten gar nicht anders. Das ganze Volk sagt ja, Erich. Und wir wollten auch nicht anders. Hoffentlich, hoffentlich sind unsere Regierenden im Kriege anders, als sie im Frieden waren ...«
»Es wird alles anders«, sagte Erich.
Der Abgeordnete sah zweifelhaft darein. »Sie schleifen euch auf dem Kasernenhof wie früher, Erich. Sie werden sich auch in den Regierungsstuben nicht ändern. Erich, jetzt geht ein Wille durch das Volk, ein Glaube, ein Zusammenhalt! Wenn sie diese Stunde nicht nützen, wenn sie sich nicht ohne Dünkel in die Front eingliedern – wenn auch diese Gelegenheit ungenützt verstreicht, dann, Erich, kommt eine schreckliche Zeit. Dann bricht alles auseinander, dann ist es ganz vorbei mit ihnen. Heute glaubt alles an Deutschland, liebt alles Deutschland, aber wenn sie diesen Glauben, diese Liebe verlieren – was dann? Vielleicht nie wieder!«
»Wir werden ihn nicht verlieren«, sagte Erich. »Sie können uns schleifen, sie mögen dünkelhaft sein: Sie zählen ja nicht! Es sind bloß ein paar. Wenn ich sie auf dem Kasernenhofe schreien höre, denke ich immer, es ist mein Vater. Es ist seine Art zu brüllen, es sind seine Ausdrücke. Ich habe das so gehaßt, es war mir so unerträglich geworden, daß ich mich oft schon beim Klang seiner Stimme schüttelte!«
Er hielt einen Augenblick inne, dann sagte er leise: »Jetzt denke ich manchmal: Er kann auch nicht anders. Er ist so geworden. Im Grunde liebt er uns – auf seine Art!«
Der Abgeordnete schüttelte leicht den Kopf. »Das ist eine Entschuldigung, die wir nicht annehmen können, Erich. So könnte man jede Ungerechtigkeit, jede Gemeinheit freisprechen. – Aber es ist immerhin eine bemerkenswerte Wandlung bei dir, mein Sohn, ich sehe jede Stunde, es geht wirklich etwas vor im deutschen Menschen. Der verknöchertste Parteifunktionär, wandelt sich. Und es ist nicht bloß Hurra-Patriotismus. Möge es dauern, Erich. Und mögen sie die Stunde nicht versäumen. Vielleicht kommt sie nie wieder!«
Die Obertertia tobte. Schon vor fünf Minuten hatte es zum Unterrichtsbeginn nach der großen Pause geläutet, aber kein Lehrer hatte sich bisher sehen lassen. Das kam in diesen ersten Wochen und Monaten nach Kriegsbeginn häufig vor. Weit über die Hälfte der Lehrerschaft war eingezogen worden, mit ein paar kümmerlichen Hilfslehrern (dienstuntauglichen) suchte man den Unterricht durchzuführen.
Die Jungen genossen die ungewohnte Freiheit mit vollen Zügen. Der Ausbruch des Krieges, der siegreiche Vormarsch der Truppen in Belgien, in Frankreich, alle diese Erfolge hatten ihnen einen nicht zu bändigenden Übermut gegeben. Ohne sich darüber klar zu sein, fühlten sie sich als die Vertreter einer Nation, die alle Völker der Erde besiegte, sie waren die Söhne und die Brüder von Helden. Wenn geflaggt wurde, wenn schon wieder die Glocken läuteten: Lüttich gefallen, Antwerpen eingeschlossen – so war das ihr Stolz, ihr Erfolg, ihr Sieg!
Der blasse, bebrillte Hilfslehrer aus dem Klassenzimmer nebenan steckte seinen Kopf flehend durch die Tür. »Jungen! Jungen!!«
»Seid doch mal still! Da will wer was!«
»Mein Bruder hat geschrieben, in einem Keller haben sie so viel Weinfässer gefunden ...«
»Jungen! Meine Herren!«
»Seid doch mal still ...«
»Sie haben einfach die Böden von den Fässern eingehauen ...«
»Ruhe! sage ich. Ruhe!!« Der Hilfslehrer war zornrot.
»Unterrichten Sie denn jetzt bei uns, Herr – Professor?«
»Nein, aber ich möchte nebenan unterrichten. Und bei dem Krach, den ihr macht, ist das einfach unmöglich!«
»Hier macht doch keiner Krach!«
»Wer macht denn hier Krach? Ich nicht! Du etwa?«
»Sie machen hier allein Krach, Herr Professor!«
»Krach! Krach! Ist hier vielleicht einer, der Krach heißt?«
»Ihr solltet euch was schämen. Jungen! Ihr wollt deutsche Jungen sein?! Ein deutscher Junge gehorcht, wenn ihm etwas befohlen wird. Nur durch Gehorsam lernt man Befehlen!«
Aber der Unselige hatte sich völlig im Ton vergriffen, jetzt wurden sie bösartig.
»Sie haben uns gar nichts zu befehlen!«
»Warum sind Sie überhaupt nicht an der Front?«
»An der Front dürfen Sie befehlen!«
»Wer nicht kriegsdienstfähig ist, der hat gar nichts zu sagen!«
»Untaugliche haben das Maul zu halten!«
Der Hilfslehrer wurde kreideweiß. »Schämen ...«, murmelte er. »Es ist häßlich ...«
Er machte ein paar Schritte zum Pult, besann sich, drehte sich rasch um und verließ eilig die Klasse.
Einen Augenblick herrschte betretenes Stillschweigen, ein wenig schämten sie sich doch.
Dann rief eine grobe, im Stimmwechsel begriffene Stimme: »Der Deutsche sagt: Auf Wiedersehen – nicht adieu!«
Erstes Gelächter.
»Gott strafe England!« schrie ein anderer.
Zweites Gelächter.
»Und die Arschpauker!«
Tosendes Gelächter!
Ein paar fingen an zu singen, das Lied, das damals in aller Munde war, das Rachelied, das Zornlied: »Was schiert uns Russe und Franzos? Schuß wider Schuß und Stoß um Stoß!«
Mehr und mehr sangen es. Bis zu dem Kehrreim, den sie alle gemeinsam schmetterten, über die Bänke gelümmelt, mit den Pultdeckeln Takt schlagend, an den Klassenschrank gelehnt: »Wir haben alle nur einen Feind: England!«
»Ich bitte um Ruhe«, sagte eine leise, aber sehr deutliche Stimme vom Lehrerpult her.
Dort stand ihr Professor, jetzt der richtige, beim Gesang war er unbemerkt eingetreten. Ein älterer Mann mit hoher gebuckelter Stirn, die bläulichweiß glänzte, zurückgekämmt eine Mähne von rotflammendem Haar, in das sich schon graue Strähnen mengten. Die blauen Augen leuchteten. Professor Degener, Lehrer des Lateinischen und Griechischen, eigentlich ein Männchen Ende der Fünfzig, mit Spitzbauch und ziemlich lächerlich gekleidet.
»Auf eure Plätze!«
Sie schoben sich verlegen durch die Gänge, sie grobsten sich halblaut an: »Mach doch Platz, Schafskopf!«.
»Selber Schafskopf, schlaf bloß nicht ein.«
»Das gibt noch was!«
»Au Backe, wenn ich noch mal Karzer fasse, kriege ich das Konsilium!«
»Degener hat einen Rochus!«
»Die Klasse hat sich schmählich benommen«, sagte der Professor in eine tiefe, atemholende Stille hinein. Er war blaß vor Zorn, sein rotes Haar flammte. »Nicht allein ist es undeutsch, einem anderen ein körperliches Gebrechen vorzuwerfen.« Er sprach Deutsch nur, als übersetze er es aus dem geliebten Latein. »Es ist auch schmählich, bei allen Völkern des Erdballes, selbst bei den Engländern! Es ist überall schmählich. Herr Kandidat Tulieb ist lungenleidend. Er müßte in einer Heilstätte sein, er unterrichtet euch, weil Not am Mann ist. Man kann nicht nur draußen auf dem Felde der Ehre sterben. – Oh, Schmach ...!«
Er stand oben, flammend, sie saßen unten. Manche hielten die Köpfe gesenkt, andere sahen verloren zum Fenster hinaus. Aber es gab auch einige, die den geliebten, nun so zornigen Lehrer offen ansahen.
»Die drei«, sprach Professor Degener, »die sich am schuldbeladensten fühlen, werden sich jetzt in das andere Klassenzimmer begeben und sich vor versammelter Untertertia bei Herrn Tulieb entschuldigen. Sie werden ihn um Verzeihung bitten, wohlverstanden – keine Redensarten, Jungen, sondern Bekenntnis eurer Schuld und Reue. Reue!«
Er sah wieder über seine Klasse.
»Ich selbst werde jetzt das Klassenzimmer verlassen und erst nach fünf Minuten hierher zurückkehren. Unterdes wird die Klasse darüber einig geworden sein, welche Strafe sie sich selbst für ihr schmähliches Verhalten auferlegt ...«
»Au Backe, das haut hin ...«, flüsterte einer gedankenverloren.
»Fünf Minuten!« rief der Professor und lief, nach einem Blick über seine Schäflein, auf dünnen Beinchen unter dem Ostereierbauch aus dem Klassenzimmer.
»So ein Aas!« sagte einer bewundernd.
»Nicht diese Töne, Lieber«, sprach der nächste und schlug den ersten auf den Bizeps. »Degener hat ganz recht. Wer geht Abbitte leisten?«
Sie sahen sich verlegen an.
»Also erst mal ich«, sprach Hoffmann. »Dann – du, Hackendahl?«
»Meinethalben! Aber ich rede nicht.«
»Und ich!« sprach Porzig.
»Nein, du nicht. Porzig. Du mußt hier über unsere Gesamtstrafe beraten. Aber denkt was Vernünftiges aus, daß Rotkopp zufrieden ist – es muß schwer sein! – Komm du lieber mit, Lindemann.«
Sie gingen eilig. Sie klopften an. »Herein!« krähte der Kandidat Tulieb. Aber als er die drei erkannte: »Ich fordere euch auf, sofort dieses Klassenzimmer zu verlassen!«
Die Untertertia sah schadenfroh auf die drei Büßer.
»Hoffmann und Hackendahl in Canossa!« rief einer ziemlich laut.
»Holt Schnee, es kniet sich kühler.«
»Herr Kandidat, wir kommen ...«
»Wollt ihr nicht einmal jetzt gehorchen?! Ihr sollt dies Zimmer verlassen! Ich will euch nicht sehen ...«
Er war kein edelmütiger Sieger, der Herr Kandidat Tulieb, nein, das war er nicht ...
»Wir haben uns wie die Schweine benommen«, sagte Hoffmann rauh. »Wir bitten um Verzeihung ...«
»Verzeihung, das ist leicht gesagt ...«, sprach der Kandidat. »Ihr habt mich in meiner Ehre gekränkt ...«
»Verzeihen Sie uns doch, Herr Kandidat!« rief Hackendahl. »Wir werden uns von jetzt an auch anständig benehmen!«
»Werdet ihr das?« Der Kandidat lächelte. »Ihr da von der Untertertia, seht her! Nehmt euch ein Beispiel! Das sind die traurigen Folgen des Ungehorsams ...«
Die drei stöhnten nur: »Schwein ...«
»Aber so leicht kommt ihr mir nicht davon. Hat Herr Professor Degener euch schon bestraft ...?«
»Nein.«
»Natürlich. Er hat es mir überlassen! Ihr seid die drei Rädelsführer, ich sehe es euern Gesichtern an ... Ihr werdet mir jeder dreihundertmal den Satz niederschreiben: Sunt pueri pueri, pueri puerilia tractant ... Übersetze mir das, du da!«
Heinz Hackendahl übersetzte: »Kinder sind Kinder, Kinder treiben Kindisches!«
»Kindereien, jawohl! So schätze ich euch ein! Geht!«
»Haben Sie uns verziehen, Herr Kandidat?« fragte Hoffmann vorsorglich.
»Wenn ihr den Satz dreihundertmal säuberlich geschrieben morgen hier abliefert, dann ja. Eher nicht. Das könnt ihr Herrn Professor Degener sagen.«
Die drei standen auf dem Gang, schweigend, grimmig.
»Ich habe wohl gesehen, wie du gewackelt hast, Hackendahl«, flüsterte Lindemann. »Du warst schön wütend.«
»War ich auch! Aber ich habe daran gedacht, daß man sich bei den Soldaten auch anbrüllen lassen muß, ohne die Miene zu verziehen. Ich habe nur ganz wenig gewackelt.«
»Merde, da haben wir dreihundertmal Abschreiben extra weg, und wir haben kein Wort gesagt!«
»Hauptsächlich war es Lange, das elende Schwein!«
»Na, jetzt hilft's nichts mehr. Wollen hören, was die anderen unterdes ausgebrütet haben.«
Es war nichts Besonderes: Sie hatten beschlossen, einen Monat lang alle Sonntage auf den Stadtgütern bei der Ernte zu helfen, denn die Arbeitskräfte waren knapp und die Ernte weit zurück.
»Mäßig!« erklärte Hoffmann. »Ob Rotkopp das als Strafe ansieht?«
»Und ihr? Was habt ihr bei der Brillenschlange ausgerichtet?«
»Ach, reden wir nicht davon ...«
Sie hatten auch keine Zeit mehr dafür, Herr Professor Degener bestieg das Katheder.
»Ist alles geregelt? Gut. – Nein, danke, ich wünsche keine Mitteilungen. Ich bin vollkommen überzeugt, daß ihr alles anständig erledigt habt. – Statt aber nun ...«, sagte er und sah die Klasse an, »statt aber nun unsern Cäsar zur Hand zu nehmen, müssen wir etwas anderes tun. Die Klasse steht auf!«
Sie taten es.
»Haltung! Die Klasse hört: Auf dem Felde der Ehre fielen: Günther Schwarz, bisher Oberprimaner unseres Gymnasiums, Grenadier im 3. Garderegiment zu Fuß. Herbert Simmichen, Oberprima, Kriegsfreiwilliger bei der 15. Feldartillerie, 3. Batterie. Dulce et decorum est pro patria mori ...«
Einen Augenblick Stille.
»Die Klasse setzt sich. Ich verlese euch jetzt die Berichte der Kompanieführer über den Tod eurer Mitschüler ...«
»Es fehlt noch ein Ring. Wo hast du deinen Ring, Evchen?«
»Ich habe doch keinen Ring, Vater!« widersprach Eva.
»Natürlich hast du einen! Solchen mit einem braunen Stein. Nicht wahr, Mutter, Evchen hatte einen Ring ...?«
Die Mutter saß weinerlich vor dem runden Tisch in der Wohnstube, auf den der Vater alles gelegt hatte, was an Gold im Hause war: seine geliebte dicke Uhr mit der schweren Kette; die kleine, mit Emaille verzierte Uhr der Mutter, die an einer Schleife aus Gold auf der Brust getragen wurde; eine goldene Bleistifthülse; ein Paar große Manschettenknöpfe, deren Goldgehalt nicht ganz zweifelsfrei war. Ein Goldkettchen mit goldenem Kreuz, das die Sophie zur Konfirmation bekommen hatte. Die ehemals dicken goldenen Eheringe, die Zeit und Arbeit glatt und dünn geschliffen hatten. Eine goldene Brosche mit einer daranhängenden – falschen – kleinen Perle. Sieben goldene Zehnmarkstücke, fünf zu zwanzig Mark.
An den Mauern, auf den Litfaßsäulen klebten überall die Plakate: »Gold gab ich für Eisen! Bringt euer Gold zur Goldankaufstelle!« Die Zeitungen schrieben alle Tage davon, vielfach bewundert gingen Herren herum, die schon die schmale Eisenkette statt der goldenen auf der Weste trugen.
»Kein Stück Gold bleibt im Haus!« rief Vater Hackendahl. »Wir müssen alles abliefern! Haben wir nicht noch was? Mutter, hattest du nicht mal so kleine Dinger in den Ohren, keine Ohrringe, mehr wie Knöpfe – ich erinnere mich doch!«
»Ach, Vater«, jammerte die alte Mutter, »die kleinen Dinger – laß sie mir doch! Ein bißchen muß man doch aus seiner Jugend für sich behalten dürfen. Sie wiegen rein gar nichts, so eine Kleinigkeit kann der Regierung doch auch nichts helfen ...«
»Nichts da!« entschied Hackendahl. »Wir sollen unser Gold der Regierung geben, und da tun wir's auch! Ich versteh dich nicht, Mutter!. Du hast den Erich und den Otto hergeben müssen, und nun weinst du wegen so ein paar Golddingern!«
»Ich weine aber auch wegen Erich und Otto«, sagte die Frau und stand mühsam auf. »Immer, wenn ich den Postboten auf der Treppe höre, muß ich weinen ...«
»Ich weiß ja, Mutter!« sagte er begütigend. »Es ist nicht leicht, aber es wird doch getan, damit wir siegen. Und wir kriegen Eisen dafür, Mutter! Wozu heiß ich denn der eiserne Gustav?! Eisen paßt viel besser zu uns als Gold.«
»Ich geh ja schon, Vater!«
Und sie ging in die Schlafstube. Der Vater sah sich um, Eva war auch gegangen. Nein, er hatte Eva nicht vergessen, er sah den Goldhaufen an: Der Ring war nicht dabei. Man muß alles hergeben, dachte er. Wenn man das Liebste für sich zurückbehält, dann ist es ja kein Opfer.
Er horchte. Es war still in der Wohnung, aber jetzt war es immer totenstill in der Wohnung, wenn Bubi in der Schule war. Bubi war der einzige, der noch ein bißchen Leben ins Haus brachte. Totenstill! Hackendahl erinnerte sich: Früher hatte Eva viel gesungen, jetzt nie mehr. Totenstill. Und nun mußte er zu ihr rübergehen in ihr Zimmer, den Ring holen.
Hackendahl setzte sich in den Stuhl seiner Frau an den runden Tisch, er sah den Goldhaufen an. Für einen kleinen Bürger war es eine ganze Menge, was er da opferte. Aber es war nicht genug, es fehlte ein Ring, und wenn nur ein wenig fehlte, galt das Opfer nicht. Ein Opfer, bei dem man etwas ungeopfert ließ, galt nicht. Es war wie beim Militär: Eine Ordnung, die nicht ganz und gar ordentlich war, war überhaupt keine Ordnung. Und wenn nur ein Knopf eine matte Stelle hatte, wenn an der Hacke des glänzend gewichsten Schuhs nur ein Spritzerchen Schmutz saß – dann war es eben keine Ordnung.
Dazu war man da – auf der Welt, im deutschen Lande, auf dem Droschkenhof, in diesem Hause: daß man dafür sorgte, hier an der Stelle, für die Hackendahl einzustehen hatte, geschah alles ordentlich. Dann fühlte man sich wohl, dann hatte man ein gutes Gewissen vor sich, seinem Kaiser und seinem Herrgott. Man durfte eben nicht nachgeben, keine Ausnahme durfte man machen, eisern mußte man sein. Eisern!
Nachdenklich schiebt Hackendahl die Goldstücke hin und her. Er baut Türmchen aus ihnen, und dann legt er so etwas wie ein Kreuz. Ja, Otto hat schon das Eiserne – wer hätte das von Otto gedacht?! Aber es war jedenfalls ein Zufall gewesen, und kräftig war Otto ja. Das war noch ein guter Tag gewesen, da man berichten konnte: »Mein Sohn hat das Eiserne!«
Er war überall damit rumgegangen, auch in den Kneipen. Er war in letzter Zeit recht viel in Kneipen gewesen, man gewöhnte es sich an, wenn man gar nichts zu tun hatte. Rabause erledigte ja alles allein. Ein Leben lang war man immer nach aller Kraft tätig gewesen – wer hätte gedacht, daß man in einem Kriege, in einem großen Kriege, in einem Weltkriege Untätigkeit und Langeweile kennenlernen würde?!
Hackendahl sitzt mit gerunzelter Stirn da und spielt mit seinen Goldstücken. Er ist sich vollkommen klar darüber, daß weder Mutter noch Eva mit ihren Schätzen bei ihm angetreten sind, daß er aufzustehen und Dampf zu machen hat. Aber er sitzt da und kann sich nicht entschließen! Ist es darum, weil er die Auseinandersetzung mit der Tochter fürchtet? Der Ring mit dem braunen Stein – sie muß ihn doch von ihrem Kavalier haben!
Hackendahl seufzt schwer. Mit seiner großen Hand schiebt er das Gold endgültig auf einen Haufen zusammen, dann steht er auf. Er sieht sich suchend im Zimmer um, er kann sich immer noch nicht entschließen. Endlich ruft er (und er versucht, seiner Stimme den alten, befehlenden Klang zu geben): »Mutter! Wo bleibst du denn? Ich warte!«
»Ich find die Ohrringe nicht«, ruft sie zurück. »Ich weiß nicht, wo ich sie hingetan habe. Es ist doch Jahre her ...«
»Mach ein bißchen zu, Mutter«, mahnt er. »Bis zwölf will ich auf der Ankaufstelle sein, um eins machen die doch zu.«
»Ich such schon«, ruft sie. »Habe bloß einen Augenblick Geduld, Vater!«
In dem Augenblick könnte er zu Eva gehen. Er hat schon die Türklinke in der Hand, da hört er den Rabause auf dem Hof rufen. Er geht zum Fenster und fragt: »Was ist denn, Rabause? Wer ist denn da?«
»Es ist einer von Eggebrecht. Ich habe aber gesagt, Sie hätten keine Zeit. Sie wollten Ihr Gold abliefern.«
»Was ist denn?«
»Herr Eggebrecht ist heute früh mit einem Transport Pferde aus Polen gekommen. Sie müßten aber gleich hin – sonst wären sie wieder weg wie das letztemal.«
»Ich komme!« ruft Hackendahl, und das ist nun freilich wieder die alte kräftige Stimme des alten eisernen Gustav.
Pferde, es sind Pferde da! Seit Monaten und Monaten lauert er auf Pferde, es hat immer nicht geklappt. »Mutter!« ruft er. »Laß das mit dem Gold – oder geh meinethalben selber! Unter den Linden, in der Reichsbank, du weißt doch. Ich geh los – Eggebrecht ist mit Pferden da, aus Polen!«
»Vater! Vater!! Vater!! Du mußt mir doch Bescheid sagen! Wieviel Geld willst du denn dafür haben, und wieviel eiserne Uhrketten soll ich nehmen? Auch eine für mich?«
»Mach alles, wie du willst! Ich habe wirklich keine Zeit, Mutter! Sonst sind die Pferde wieder weg! Und ich muß Pferde haben! Ich muß!! Wo ist denn mein Bankbuch? – Evchen, gut, daß ich dich noch sehe. Der Eggebrecht ist mit Pferden da, ich muß gleich hin, sonst sind sie wieder weg. – Also deinen Ring legst du dazu, das versprichst du mir doch? Da wird ›er‹ schön mit einverstanden sein, so ein feiner Kerl, wie der sicher ist! – Na, du erzählst mir später mal alles, jetzt muß ich zu Eggebrecht ...«
Er läuft die Treppe hinunter.
»Hörst du, Evchen?« fragt die Mutter, und sie lacht beinahe. »Vater läuft die Treppen runter wie ein Junger! Ja, wenn Vater was von Pferden hört ...!«
»Seine Pferde gehen ihm eben über alles.«
»Er soll ruhig wieder Pferde kaufen. Wenn auch das Droschkengeschäft schlecht geht. Und manche sagen auch: Es ist überhaupt alle mit der Pferdedroschke. Aber das war ja kein Leben für Vatern – er fing schon richtig mit Bummeln an. Na, damit ist es nun vorbei, wenn er wieder Pferde kriegt.«
»Ja, wenn Vater nur wieder was zum Kommandieren hat – Pferde, Kutscher, Kinder, es ist ihm ganz gleich, nur Kommandieren muß sein.«
Die Mutter findet es ganz natürlich. »So war Vater immer, Evchen. Noch in Pasewalk, wie er ganz jung war, wenn er da mal Urlaub hatte – nicht zu ertragen war der Mann! Immer raus aus der Kammer, rein in die Stube, raus aus der Stube, rein in die Kammer ... Mit dem Zollstock hat er nachgemessen, wie die Bettvorleger liegen mußten, und unserm Hänschen – wir hatten damals noch 'nen Kanarienvogel, aber das weißt du nicht mehr – hat er das Futter auf der Briefwaage abgewogen! Extra auf die Post ist er deswegen gegangen!«
»Daß du es ausgehalten hast, Mutter!«
»Aber wieso denn? Du bist ja komisch, Evchen. Vater ist doch gut – da mußt du erst mal andere Männer kennenlernen! Ihr meckert bloß immer, weil er ein bißchen scharf im Regiment ist. Aber darum müßt ihr nicht meckern, da habt ihr gar keine Ursache zu. Ihr tut ja doch, was ihr wollt! Wo hast du denn deinen Ring?«
»Ich geb ihn nicht her, Mutter!«
»Das sollst du auch gar nicht! Wo es so fein paßt, daß Vater zu Eggebrecht ist, und ich muß abliefern. Aber ich liefere nicht ab, der Weg ist mir zu weit, die ganze Frankfurter runter und über den Alex und die Königstraße und dann beim Schloß längs – nee, Kind, das ist nichts für meine Krampfadern. Geh du man, und dann erzählst du mir alles, wie es gewesen ist, und dann sagen wir Vatern, ich war da. Mußt dich nur beeilen, daß du schnell zurück bist.«
»Ja, Mutter. Ich kann ja doch auch in die Ankaufstelle in der Frankfurter gehen, es ist doch egal, wo man abliefert.«
»Nee, das mach bloß nicht! Reichsbank ist das Höchste, darauf sieht Vater, und wenn dann die Stempel nicht stimmen unter den Quittungen ...«
»Ich gehe also zur Reichsbank, Mutter.«
»Dann machste dich also gleich fertig und gehst los. Und nun paß mal auf, ich habe dir gesagt, deinen Ring nehmen wir nicht, und das sollst du auch nicht, denn ich verstehe, daß ein junges Mädchen an so was hängt ... Aber du mußt mir auch mehr erzählen, Evchen. Ich seh ja doch, was los ist, und paß bloß auf, daß er dich heiratet, eh was passiert ist. Mit so was versteht Vater keinen Spaß ...«
»Ach, Mutter ...«
»Ich weiß ja, so was erzählt eine Tochter lieber allen anderen Leuten, nur nicht der Mutter. Aber du wirst schon kommen, du wirst mir schon kommen. – Und meine Ohrringe gebe ich auch nicht, die wiegen nichts, da merkt Vater auch nichts davon ... Und dann paß auf, aber du mußt mir heilig versprechen, Vater nichts zu sagen, dann nehme ich mir hier von den Goldstücken, dreie von den großen und dreie von den kleinen ...«
»Ach, Mutter ...«
»Das ist kein Schmu, Evchen. Die will ich nicht für mich, die will ich aufheben. Jetzt reden sie immer abliefern! Aber man weiß doch nicht, wie die Zeiten noch werden. Wo wir jetzt schon Brotkarten haben, wer weiß, was das alles noch gibt. Abliefern müssen doch nur wir Kleinen – aber wie es die Großen halten, davon hört man nichts, man denkt es sich bloß. Dem Kaiser werden sie keine Brotkarte geben, und ob er all das Gold- und Silbergeschirr aus dem Schloß abliefert ... Nee, du hast recht, Kind, nu geh lieber los. Und wenn du zurückkommst, paßt du gut auf, daß du Vater nicht grade in die Arme läufst, nicht wahr?«
Viele Hufe klapperten über das Steinpflaster des Hofes, die Mutter fuhr neugierig mit dem Kopf aus dem Fenster, trotzdem sie es gar nicht durfte. Denn Eva war noch nicht zurück von der Reichsbank.
Aber der Vater dachte jetzt nicht an Gold und Reichsbank. Fröhlich winkte er der Mutter.
»Wir haben wieder Pferde, Mutter!« rief er. »Jetzt kommt Leben in den Betrieb.«
Die Mutter schaute. Sie hatte viele Pferde erlebt auf dem Hofe; auf allen Gängen in die Stadt mit Vater hatte sie auf Pferde achten müssen. Mutter kannte Pferde. »Sind sie nicht sehr klein?« rief sie aus dem Fenster.
»Klein ...?« rief Vater zurück und ärgerte sich gewaltig. »Klein ...?! Kleiner als du sind sie auch nicht! – Komm, Rabause! Hilf die Pferde in den Stall bringen. Jetzt gibt's Arbeit! Klein – die denkt, im Kriege spannen wir Elefanten vor die Droschken. – Klein ...«
Er schluckte, mit neuem Zorn rief er zum Fenster hinauf: »Ich komm nicht zum Abendessen. Eßt ihr alleine – ich habe zu tun.«
»Siebzehn Stück«, sagte Rabause. »Da können wir wieder zwanzig Droschken fahren lassen – und den Schimmel und den Braunen lassen wir ein bißchen stehen, lange hätten die es nicht mehr gemacht.«
»Richtig«, lobte Hackendahl. »So habe ich es mir auch gedacht – und so 'ne Frau sagt klein!«
»Ganz so groß wie unsere alten sind sie ja wohl nicht«, meinte Rabause vorsichtig.
»Ganz so groß ...«, sagte Hackendahl vorwurfsvoll. »Quatsch doch keinen Quatsch, Rabause! Richtige Ponys sind das! Russenpferde sind's, Panjepferdchen nennt man so was! Klein? Natürlich sind sie klein. Die müssen ja klein sein, sonst kriegen wir sie nämlich nicht, sonst nimmt sie nämlich die Militärverwaltung für sich.«
»Richtig«, sagte Rabause. »Ponys. Solche hab ich früher schon mal gesehen, Herr Chef, bei Renzen im Zirkus ...«
»Zirkus! Das hättste nun auch nich sagen müssen, Rabause! Zirkus, das klingt, wie wenn meine Frau ›klein‹ sagt. Wir haben hier keinen Zirkus!«
»Weiß ich, Herr Chef. Ich mein ja auch nur: als ob Zirkus!«
»Na schön, ich dachte, du wolltest auf demselben Horn wie meine Frau tuten. Nun habe ich gedacht, Rabause: Das Geschirr werden wir ändern lassen müssen. So paßt das den Katzen nicht. Ich bestell gleich nachher den Sattler. Und der Schmied muß auch her, die Beschläge an den Gabeln müssen versetzt werden ...«
»Das kostet einen Haufen Geld, Herr Chef, und wenn mal wieder Frieden ist, und wir haben wieder richtige Pferde ...«
»Es ist aber nicht Frieden, es ist Krieg, Rabause! Und ich richte mich jetzt auf den Krieg ein. Immer habe ich gelauert und gelauert, es muß doch Frieden werden, jetzt lauer ich nicht mehr. Bei mir ist jetzt Krieg, und ich will auch im Krieg was anderes zu tun haben, als bloß warten. – Nee, ich freu mich, daß es nun wieder Arbeit gibt. Und du freust dich doch auch, Rabause? Das war doch kein Leben nicht, mit fünf Schindern ...?«
»Ich freue mich auch. Versteht sich. Satt werden wir die Katzen ja kriegen, wenn's Hafer auch bloß auf Bezugschein gibt ...«
»Stimmt, Rabause! Und wenn der Hafer mal knapp ist, frißt so 'ne Katze auch bloß Heu, und in Rußland sollen sie sogar nur Stroh zu fressen kriegen, sagt Eggebrecht. Das mach ich aber nicht, denn wer arbeitet, der soll auch essen.«
»Billig werden sie sein im Futter, und wenn sie nu auch billig im Preis gewesen sind, weil se doch man klein sind, Herr Chef ...«
»Klein! Nun sagst du auch klein, genau wie meine Frau, Rabause. Ich versteh dich nicht! Wie können sie denn billig sein, wo's keine Pferde gibt?! Da können sie doch gar nicht billig sein! Denk doch mal selber nach, Rabause ...«
»Nee, billig können se wohl nich sein, Herr Chef, da haben Sie recht.«
»Teuer sind sie! So teuer, daß ich erst weggehen wollte von Eggebrecht. Aber dann habe ich mir's überlegt, Rabause. Arbeit muß ich haben, und wenn ich sie nicht kaufe, kauft sie ein anderer ...«
»Da haben Sie recht ...«
»Unter uns, Rabause, aber du darfst es meiner Frau nicht sagen. Ich habe dem Eggebrecht für die siebzehn Katzen mehr zahlen müssen, als ich für meine siebenundzwanzig guten Pferde bekommen habe!«
»Herr Hackendahl ...!«
»Reden wir nicht davon! Ich habe dir nischt gesagt! Aber wenn erst meine zwanzig Droschken wieder vom Hof rollen, dann denke ich nicht mehr an das Geld. Dann freue ich mich. Dann denke ich, was die Leute kucken werden: zwanzig Droschken! Und dann werden sie sagen: ›Ja, der Gustav, der is eisern. Der läßt sich nicht unterkriegen, genau nicht wie der Hindenburg. Der ist eisern!‹ – Und dann freue ich mich ...«