Hans Fallada
Zwei zarte Lämmchen - weiß wie Schnee
Hans Fallada

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Kuß

Es begab sich nun, daß am Sonnabend der Woche, die der Konfekt-Niederlage folgte, Fräulein Mieder, die gestrenge Prokuristin der Firma Brummer & Co., mit Herrenschnitt und horngefaßter Brille, wie alljährlich ihren Geburtstag feierte. Will sagen, ihr Geburtstag fiel natürlich wie bei allen andern Menschen auf jeden beliebigen Wochentag. Da aber nur der Sonnabend Nachmittag in der Firma dienstfrei war, und da nach geheiligtem Brauch die ganze Firma diesen Freudentag mit genoß, wurde das Fest eben am Sonnabend Nachmittag gefeiert.

Große Verhandlungen, fast Verschwörungen waren schon durch Wochen vorausgegangen, Gelder waren gesammelt, ein Festredner (diesmal der lange Marbach) bestimmt, Spähtrupps waren verschiedentlich vorgeschickt, um Fräulein Mieders sehnlichste Wünsche zu erkunden (diesmal ein Wohnzimmerteppich, Kammgarn, 2X3) und schließlich waren die Überreicher des Geschenkes bestimmt (die Schwestern Pech).

Während dieser sich ständig steigernden Vorbereitungen und Spannungen war der kleine Herr Grote wie sein eigenes Gespenst herumgeschlichen, innerlich völlig verstört und sehr unglücklich. Zwar hatte er, nach einem schrecklichen Sonntagsrest und nach einer schlaflos verbrachten Nacht, am Montag Morgen aus sicherem Versteck Rosa Täfelein durch das Portal in Brummer & Co. eingehen sehen, nicht anders anzusehen wie sonst, und er hatte sich doch wahrhaftig eingebildet, sie könne an den Folgen seiner Schandtat erkrankt sein, wie der arme kleine Männe, oder vom Vater verstoßen sich ein Leid angetan oder endlich die Stellung in einem Hause aufgegeben haben, in dem solch ein Mensch lebte wie er.

Eine kurze Zeit hatte seine Brust leichter geatmet, als er sie ohne alle sichtbaren Folgen an sich vorübergleiten gesehen hatte, und dann waren all die alten Zweifelsfragen mit verdoppelter Kraft auf ihn eingestürmt: wie ging es Männe? Was war aus dem Nachthemd geworden, und was mit all den andern Spuren dieses unseligen Besuches?! Was hatte die Mutter gesagt, und was hatte der Vater getan, diese unbekannte Mannesgestalt, der die berufsmäßige Herstellung von Entfettungstees etwas düster Drohendes gab?! Denn Entfettungs-Tees-Anfertigen, das wurde immer mehr in Gerhard Grotes Augen zu einem Beruf am Rande der Menschheit!

Jawohl, nicht zehnmal, sondern mindestens zwanzigmal war er schon im Fahrstuhl gewesen, ins Samtlager hinaufzufahren, und hatte es doch nicht getan. Denn wie konnte er sie nach allen diesen Dingen fragen –?! Sie mußte ihm, dem Schuldigen, ja Vorwürfe machen, und da sie viel zu zartfühlend für Vorwürfe war, konnte sie ihm gar nichts sagen!

So blieb er in der Buchhalterei und seinen Zweifeln, aber man glaube nicht, daß diese Zurückhaltung in einem Hause wie Brummer & Co. unbemerkt blieb! Wenn je eine Branche, so schärft der Damenputz das Auge für die feinsten Einzelheiten, auch in Liebesdingen, und die immer noch fehlenden Verlobungsringe waren schon allein für sich ein schwerwiegendes Indiz. Daß nun aber das sogenannte Brautpaar nie mehr beieinander gesehen wurde, ja, daß Gerhard Grote ein ängstliches Bestreben verriet, alle das Samtlager angehende Fakturen an seine Kollegen abzuschieben, das gab erst zu Geflüster, dann zu Zweifeln, dann zu Vermutungen, schließlich zu der Gewißheit Anlaß: die eben erst begonnene Verlobung war schon wieder geplatzt!

So ein Unfall geht gewissermaßen gegen die Firmenehre, die ganze Kollegenschaft konnte ihm nicht tatenlos gegenüberstehen. Hier waren zwei junge Menschen, wie geschaffen füreinander, ›zwei zarte Lämmchen, weiß wie Schnee‹, drückte sich der ruchlose Weltmann Marbach aus, im Schatten der Firma hatten sie sich verlobt – und die Firma sollte einfach zusehen, wie aus so glückhaft Begonnenem nichts wurde?!

»Keinesfalls auf diese Art, mein altes Herbstgewitter«, sprach der Herr Marbach und – nach mancher geheimen Verhandlung, – sagte er am Freitag zu seinem Kollegen Grote: »Du, hör mal, Grote . . .«

»Ja, bitte schön, Marbach –?«

»Morgen feiert doch die Mieder ihren, ich glaube, sechzigsten Lenz . . .«

»Ja, Fräulein Mieder feiert morgen ihren neunundvierzigsten Geburtstag . . .«

»Na, also! Genau, was ich dir sage, alter Fidibus! Über Vierzig ist es ja doch schnurz, über Vierzig ist alles Eiszeit. Und da schenken wir also dieses Fußboden wärmende Hemd – du verstehst doch, Grote –?«

»Jawohl, der Kammgarnteppich, Marbach. Ich habe ihn mir auch angesehen, sehr hübsch finde ich ihn.«

»Und die beiden Pechösen sollten ihn überreichen . . .«

»Ist das geändert? Warum? Ich finde, die passen besonders gut. Sie sehen doch beinahe wie Zwillinge aus, und wenn sie dann noch gleiche Kleider anhaben . . .«

»Na, wir, das heißt die ganze Kollegenschaft, wir finden, zwei andere passen noch besser dazu. An wen, meinst du wohl, denken wir, altes Haus?«

»Keine Ahnung!« meinte der kleine Grote verwirrt, und doch überkam ihn schon eine recht deutliche Ahnung.

»Nun, mein Guter« sagte Marbach mit überlegener Väterlichkeit und behielt dabei das verdächtige Kind scharf im Auge. »Wir haben nämlich an deine Braut und dich gedacht. Ihr seid doch eigentlich noch etwas Besseres als Fast-Zwillinge.« Und mit Nachdruck: »Ihr seid das Brautpaar der Firma!«

»Aber nein! Bitte nicht!« bat Grote in äußerster Verwirrung.

»Was? Seid ihr etwa nicht mehr? Schon nicht mehr –?«

»Doch! Natürlich! Ich meine, wenn Fräulein Täfelein . . .«

»Du hast doch Rosa Täfelein nicht etwa auf den Arm genommen –?«

»Aber nein!«

»Und sie dich doch erst recht nicht –?!«

»Bestimmt nicht! Ganz gewiß nicht! Hör mal, Marbach«, begann Gerhard Grote überstürzt, »ich sage dir, es ist nur, daß ich so leicht verlegen werde.«

»Warum sollst du denn verlegen werden? Es sind doch alles Kollegen. Und den Speech schwinge ich doch! Ihr habt doch nur zu überreichen!«

»Ja, natürlich. Und dann ist der Teppich ziemlich groß, und Fräulein Täfelein und ich, wir sind doch nicht sehr kräftig.«

»Du redest Stuß, mein kleiner Sohn Grote. Ihr sollt ja nicht in der Teppichspedition arbeiten, ihr sollt den Teppich bloß übergeben!«

»Ja, aber Fräulein Täfelein wird nicht einverstanden sein –!« rief Gerhard Grote, der keinen Ausweg mehr wußte, verzweifelt aus.

»Warum soll sie nicht einverstanden sein, wenn du ihr richtiger Bräutigam bist –?!« Und noch einmal mit der Hartnäckigkeit eines Untersuchungsrichters: »Du bist es doch wirklich, Grote?«

»Natürlich bin ich es!« rief Gerhard Grote, aber es kam ihm doch alles andere als natürlich vor. –

Der Sonnabend-Morgen zog herauf mit sanfter Bläue und mildem Sonnenschein. Gegen Mittag wurde es wärmer, sehr männliche Naturen wie Marbach liefen schon in Hemdsärmeln herum, und das Fleet hinter dem Firmenhaus fing an zu riechen.

Einmal am Vormittag war Gerhard Grote schon bis zum Samtlager gekommen, und durch die offene Tür hatte er sie da stehen sehen, in einem Leinenkleid, mit Feldblumen und goldenen Ähren bestickt. Sie hatte herzbezwingend ausgesehen. Dann hatte sie ihn angeschaut, hatte ihn dort entdeckt auf seinem Späherposten, hatte ihn so ernst und fragend angesehen, daß er es nicht mehr ausgehalten hatte. Er war leise gegangen, mit gesenktem Blick, die Brust von all den alten, immer neuen Vorwürfen zerrissen. Gegangen war er? Geschlichen!

Er verstand ja alles! Daß sie böse mit ihm war, daß sie nichts von ihm wissen wollte, daß er ihr nur Unglück brachte – alles verstand er. Und nun sollte er mit ihr der Mieder einen Teppich überreichen! Er beschloß eisern bei sich zu erkranken, zu fehlen, sich telephonisch, telegraphisch zu entschuldigen – und wenn auch alle über ihn herfielen, wenn er in Acht und Bann getan wurde, aus der Firma fortgehen mußte!

Vorsorglich begann er, sein Taschentuch gegen die Backe zu drücken, leise zu seufzen, also Zahnschmerz zu markieren. Nur daß im Sonnabendtrubel niemand auch nur die geringste Notiz von diesen schüchternen Schmerzensäußerungen nahm! Aber er würde doch fehlen, unter allen Umständen!

»Also dann bitte um vier Uhr, und zwar pünktlich!« hatte Fräulein Mieder in all ihrer gewohnten Herrlichkeit gesagt. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn der Kaffee nicht ganz heiß getrunken wird – oder mögen Sie ihn kalt?«

Und nun eilten alle, daß sie nach Hause kamen, um schnell einen Happen zu essen und sich schön zu machen – allein der kleine Grote ließ sich viel Zeit beim Aufräumen seines Pultes. Schließlich aber trat er auf die Straße und ging langsam dem Witt'schen Mittagessen und einem öden, leeren Wochenend zu.

Wie aber ward ihm, als ihn plötzlich eine schüchterne Stimme ansprach: »Ach, bitte, Herr Grote . . .«

Und Rosa Täfelein stand vor ihm!

»Bitte –? Ach, guten Tag, Fräulein Täfelein«, sagte er und war so erschrocken, daß er ihr nicht einmal die Hand zu geben wagte.

»Es ist nur . . . Weil wir doch beide heute den Teppich . . . Sie wissen wohl schon –?«

Sie war nicht weniger befangen als er.

»Ja. Doch. Marbach hat es mir gesagt.«

»Ich ziehe mein hellgrau seidenes Kleid an, und da habe ich gedacht, Sie haben doch auch einen hellgrauen Anzug –? Ich glaube wenigstens . . .«

»Doch, den habe ich . . .« gab er zu und fing leise zu leuchten an.

»Und wenn es Ihnen möglich wäre, Herr Grote, ich weiß ja nicht, aber wenn Sie sich dazu einen hellblau seidenen Schlips besorgen könnten –? Er braucht ja gar nicht so teuer zu sein . . .«

»Doch, doch, er kann ruhig teuer sein, Fräulein Täfelein. Er muß es sogar sein, für eine solche Gelegenheit.«

»Ich habe nämlich auch einen hellblauen Besatz auf meinem Kleid. Und dann vielleicht noch braune Schuhe –?«

»So gerne, Fräulein Täfelein. Wirklich furchtbar gerne!«

Sie verstummten und sahen einander mit strahlenden Augen an, hingerissen von ihrem Gegenstand, diesem Festgewand für eine Teppichüberreichung. Oder vielleicht hingerissen nicht nur von diesem Gegenstand . . .

Dann wurden beide plötzlich verlegen. Sie senkten die Lider, er räusperte sich, sie murmelte: »Ich muß wohl los . . .«

»Ja, ich will mir auch noch den Schlips besorgen . . .«

»Aber nicht zu teuer! Auf Wiedersehen, Herr Grote!«

»Auf Wiedersehen, Fräulein Täfelein.«

Jetzt hielten sie sich doch bei den Händen und sahen einander an. Beide lächelten, eifrig und beglückt. Das Blut summte ihnen in den Ohren, und es schien, als summe die ganze Welt mit. »Auf Wiedersehen!« sagten sie beide noch einmal, ganz verloren in ihre Gefühle.

Dann stieß ein Straßenpassant, dem sie im Wege standen, gegen sie, und beide erwachten. Die Stadt war wieder da, das Portal der Firma Brummer & Co., viele Menschen, sie waren nicht mehr allein . . .

Sie trennten sich überstürzt und verlegen wie zwei, die ein gemeinsames Vergehen zu verbergen haben. Erst nachträglich fiel ihm ein, daß er sie weder nach Männe noch nach den sonstigen Folgen seines Sonntag-Besuches gefragt hatte. Geschweige, daß die immer dringlicher werdende Verlobung zur Sprache gekommen wäre. Aber diese Versäumnisse bekümmerten ihn im Augenblick nicht mehr gar so sehr.

Nun wurde ein hellblau seidener Schlips für den hohen, aber noch vor ihr zu verantwortenden Preis von vier Mark gekauft, aber zu Mittag gegessen wurde kaum. Es wurde sich umgekleidet und der Weg zum Siedlungshäuschen von Fräulein Mieder eingeschlagen, doch daran wurde nicht gedacht, daß er einmal, nicht so lange her, dieses Siedlungshäuschen in Flammen gesteckt, freilich auch Fräulein Mieder gerettet hatte – es wurde an anderes gedacht.

Der Himmel schien jetzt noch tiefer blau, und es wurde richtig heiß. In der kleinen, mit lauter gleich gebauten Häusern bestandenen Straße wehten die jungen Birken in einem sachten Vorsommerwind mit ihren langen grüngoldenen Ruten. Am Hause blühten gelbe, rosa und tiefrote Rankrosen, und Fräulein Mieder empfing ihre Gäste in Sportrock und weißer gefälteter Bluse, die wie ein Herrenoberhemd aussah. Sie trug auch einen schwarzen Schlips darauf.

Die gesamte Firma, siebenundzwanzig Weiblein und Männlein, erfüllte sämtliche Räume des Häuschens – nur der Seniorchef, der alte Herr Brummer, fehlte. Er ging bekanntermaßen nirgend mehr hin – außer zur Börsenfrühstückszeit in Wimmers Austernkeller und in einige andere Lokale, wo es gut zu essen und zu trinken gab. Aber sein Sohn Edmund vertrat ihn . . .

Wie alljährlich wurde viel bewundert das Schlafzimmer, das nur ein Eisenbett mit spartanisch dünner Matratze und Wolldecke, einen Holzstuhl und einen Kleiderrechen enthielt. Die Fenster dieses Raumes blieben bis in den tiefen Winter ausgehängt, denn Fräulein Mieder war für strengste Abhärtung.

»Ihr wißt gar nicht, wie schön es ist, wenn man davon aufwacht, daß einem Regen oder Schnee ins Gesicht treibt. Dann fühle ich, wie ich den Elementen trotze. Kurz: ich finde es einfach gesund – finden Sie nicht auch?«

Alle fanden murmelnd, daß es fabelhaft gesund sein müsse. Über dem Eisenbett begegneten sich die Blicke des sogenannten Brautpaares. Gerhard Grote fühlte sich versonnen angesehen, er bewegte leise verneinend den Kopf. Er dachte sich ihr Schlafzimmer anders, molliger . . . Dann wurde er sehr rot, weil er schon an so etwas wie ›ihr gemeinsames Schlafzimmer‹ gedacht hatte, wo sie doch noch nicht einmal richtig verlobt waren!

Die Geschenküberreichung ging etwas überstürzt vor sich, denn der Kaffee war durch ein Mißverständnis schon gebrüht worden, und das kältegewohnte Geburtstagskind wünschte ihn doch glühend heiß! Im Namen der Firma überreichte der junge Brummer eine Pelzmuffe. Er wies darauf hin, daß er im vorigen Jahre eine Pelzkappe habe überbringen dürfen, er sprach die Hoffnung aus, daß er zum nächsten, besonders feierlichen 50. Geburtstag mit einem Pelzjackett hier werde erscheinen dürfen . . .

Die Muffe gegen den hageren Leib gepreßt, sah Fräulein Mieder ernst durch ihre Brillengläser auf Täfelein und Grote, die, zwei Teppichecken in den Händen, Brautführern mit einer Schleppe glichen. Allgemein fand man, daß die beiden Grau und Hellblau gut zueinander standen, und daß danach alle Vermutungen über Mißhelligkeiten zwischen den Brautleuten irrtümlich sein mußten.

Hinter den beiden, auf dem Ende des Geschenk-Teppichs stehend, hielt Herr Marbach seine sowohl launige als auch gereimte Festansprache, in der die Verse:

›Zwei zarte Lämmchen, unschuldsweiß,
Bringen dir hier den Ehrenpreis‹ –

allgemein beifälliges Gelächter hervorriefen.

Die Kaffeetafel war von der Terrasse über den Rasenplatz fort bis an den Gartenzaun gedeckt, sie nahm also die ganze Länge des Gartens ein. An ihrem Ende präsidierte Fräulein Mieder neben Herrn Edmund Brummer, an das andere war Fräulein Rosa Täfelein neben Herrn Gerhard Grote gesetzt worden. Aus den Nachbargärten wurde viel geguckt.

Der älteste Firmenangestellte, Oberbuchhalter Pohle, gab Erinnerungen an jene Zeit preis, da Fräulein Mieder noch der Stift der Firma Brummer & Co. gewesen war und echte Reiher noch nicht von imitierten hatte unterscheiden können. So etwas war den meisten ganz unglaublich! Fräulein Mieder schien doch die Kenntnis des Damenputzes angeboren!

Allgemein verurteilt wurde als schlechter Scherz ein von dem kleinen Aufwaschmädchen hereingebrachtes Paketchen, das sie auf dem Flur gefunden hatte und das an Fräulein Mieder adressiert war. Nach dem Auswickeln zeigte sich als Inhalt ein kleiner Rasierapparat, wohl nur aus Schokolade in goldener Staniolumhüllung, aber die Anspielung auf den dunklen Flaum, der Fräulein Mieders Oberlippe zierte, und auf einige starke Haare aus einem Muttermal am Kinn, war taktlos.

Die Angestellten sahen sich verstohlen untereinander an, wem wohl solche Tat zuzutrauen sei, Fräulein Mieder aber sagte mit einem ganz klein wenig verächtlichen Lächeln: »Ich hätte nicht gedacht, daß noch solche Kinder in unserer Firma tätig sind. Hätten Sie?«

Herr Edmund Brummer hätte auch nicht.

Aber diese kleine Mißstimmung verging rasch, als man zu den Spielen überging. Fräulein Mieder bevorzugte noch jene Spiele, die sie als Kind in ihrer Eltern Haus gespielt hatte, wie Tellerdrehen; Alle Vögel fliegen; Schlüssel, Schlüssel, du mußt wandern . . . Und es war erstaunlich, wie lebendig diese abgeklärten Großstädter bei diesen kindlichen Spielen wurden! Wenn der alte Herr Pohle mit seinem weiß-gelblichen Vollbart, eine Serviette über den Augen, sich etwas gichtbrüchig auf den Schoß von Fräulein Pech setzte und verlangte: »Mäuschen, piep!« – und wenn Fräulein Pech dann wie ein richtiges Mäuschen völlig unerkennbar piepte, und Herr Pohle riet falsch, so schüttelten sich alle vor Lachen.

»Doch das Schönste waren doch die ›Drei Fragen hinter verschlossener Tür‹! Hier wurden die hübschesten Anspielungen auf kleine berufliche Schwächen, geahnte persönliche Beziehungen angebracht. Als Herr Brummer junior ein deutliches ›Nein‹ sagte, und die Frage hatte gelautet: ›Bewilligen Sie gerne eine Gehaltserhöhung?‹, da kannte das allgemeine Entzücken keine Grenzen mehr, sogar Fräulein Mieder geruhte zu lächeln. Und als Herr Marbach ›Ja‹ gesagt hatte, und es erwies sich, die Frage hatte gelautet: ›Verschenken Sie gerne Rasierapparate?‹, da wurde zwar nicht laut gelacht, aber eine allgemeine Befriedung über dies Gottesurteil war unverkennbar.

Und nun stand der kleine Herr Grote auf der Außenseite der verschlossenen Tür, und sein Herz klopfte so vergnügt: er hatte nicht die geringste Scheu davor, jetzt drei Minuten im Brennpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Schon wurde er hereingerufen, und Herr Funke aus der Reiseabteilung fragte ihn: »Die erste Frage: ja oder nein –?«

»Nein«, sprach Herr Grote mit fester Stimme.

»Sie können also Ratten nicht von Damenschuhen unterscheiden – sehr, sehr traurig!« stellte Herr Funke fest, und sie lachten.

Ein klein bißchen rot wurde Gerhard Grote, als er an jenes Erlebnis auf dem Samtlager dachte, und er warf einen raschen Blick nach jener Ecke, in der er Rosa Täfelein vermutete. Doch sah er sie nicht.

»Die zweite Frage!« rief Herr Funke. »Nein oder Ja?«

»Nein!« antwortete Gerhard Grote nach kurzem Besinnen.

»Das habe ich mir doch gleich gedacht!« sagte Herr Funke fast triumphierend. »Das Schicksal hat gesprochen: Sie sagen es selbst, daß Sie nicht verlobt sind!«

Und dieses Mal wagte der Bräutigam nicht einmal einen Blick in die Ecke zu seiner Braut. Dafür aber beschloß er, da es ihm mit dem ›Nein‹ so mißraten war, es nun mit dem ›Ja‹ zu versuchen, und er sagte es laut und deutlich, dieses ›Ja‹ zur dritten Frage hinter der verschlossenen Tür.

Aber der Jubel, der nun losbrach!

»Das glauben wir!« riefen sie. »Das möchte er, erst die Verlobung ableugnen, aber küssen will er! – Sie küssen die Bewußte mit Leidenschaft, Sie haben es selbst bejaht! – Ja, schau einer, diese stillen Wasser . . .«

Mit einem verlorenen Lächeln stand der kleine Grote inmitten von all diesem Tumult. Es mußte ja gleich zu Ende sein, gleich kam der nächste dran, gleich wurde der Nächste ausgelacht! Und Rosa Täfelein blieb Gottlob unsichtbar . . .

Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe –?! Der so bescheiden und geduldig vor sich hinlächelnde Schüchterne reizte erst recht die Spottlust der Großen, der Starken. Sie riefen:

»Nun soll er es aber auch tun dürfen! – Los, Grote, zeige, daß du ein Mann bist! – Küssen ist keine Sünd! – Sie haben doch nichts dagegen, Fräulein Mieder? Es ist ja bloß Spaß!«

Und Gerhard Grote, der wirklich geglaubt hatte, es sei bloß Spaß, merkte, daß es ihnen völlig Ernst war, daß er küssen sollte, hier vor allen Leuten, Rosa Täfelein, mit der er noch gar nicht richtig verlobt war –!

Ehe er noch einen Entschluß gefaßt, ehe er noch ein Wort des Widerspruchs geäußert hatte, fühlte er sich gezogen und geschoben, übermütig lachend brachten ihn die Kollegen in jene Ecke . . .

Und da sah er nun nahe vor sich Rosa Täfelein, wie er umringt von den Kollegen war sie umgeben von den Kolleginnen . . . Und flüchtig fällt ihm auf, da all diese andern so gespannte, erwartungsvolle Gesichter machen, während Rosa zwar ein bißchen rot, aber gar nicht übermäßig verlegen aussieht. Und ihm fällt die alte Liederzeile ein: ›Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich am . . .

Fast ganz still ist es geworden . . .

Ganz nahe stehen die beiden voreinander, die Schieber und Schubser haben sie schon losgelassen . . . Alle warten . . . Eigentlich wartet auch Gerhard Grote, denn: wie macht man das? Einfach so den Kopf vorstrecken nach ihrem Munde hin –?

Unwillig erklingt die Stimme Fräulein Mieders: »Nun aber ein bißchen los! Ich kann die olle Anstellerei nicht leiden! Ihr seid doch Brautleute – oder nicht?«

Und gehorsam bewegt Gerhard Grote in der geplanten Weise seinen Kopf nach vorne – als ihm entgegengekommen wird, als zwei Arme sich um seinen Hals schlingen – und nun legt sich ihr Mund auf den seinen, er macht die Augen zu . . .

Und die Welt versinkt. Die Kollegen sind vergessen, wie Zeit, wie Ort. Etwas Liebliches, Lebendiges, von einer zarten Frische, etwas Weiches, so süß. Und ganz rasch drehen sich die Bilder hinter seinen geschlossenen Lidern zurück, und er sieht in einem Helldunkel eine zarte, frauliche Gestalt, die sich zu ihm beugt und ihn küßt: die lang dahin gegangene Mutter. Der Kuß von heute vereint sich mit dem Kuß von damals, eine glückverheißende Seligkeit, daß die Liebe ihn nicht verlassen hat . . .

»Genug, genug!« rufen sie lachend, aber freundlich lachend. »Wir glauben's euch jetzt. – Nein, diese Rosa! Wer das von ihr geglaubt hätte!«

Erwachend sieht er in ihr Gesicht, das fast einen triumphierenden Ausdruck trägt. »Fräulein Täfelein«, flüstert er glücklich.

Aber ehe noch ein weiteres Wort gesprochen ist, schieben sich die andern dazwischen. Noch manches Spiel soll gespielt werden, noch viele Scherze sind in Vorbereitung.

An diesem Abend sahen sich die beiden nicht wieder in die Augen.

 


 << zurück weiter >>