Hans Fallada
Zwei zarte Lämmchen - weiß wie Schnee
Hans Fallada

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Die einseitige Verlobung

Gerhard Grote war, im Widerspruch zu seinem Namen, kein großer Mann. Nein, körperlich war er eher etwas klein, fast kümmerlich geraten. Und wenn oft von solchen zu kurz Geratenen gesagt wird ›Klein, aber oho!‹, so traf nicht einmal dies auf ihn zu: er war auch noch ein ausnehmend schüchterner junger Mann, ohne jegliches Selbstvertrauen.

Bei solch körperlicher und seelischer Beschaffenheit hatte es einer langen Zeit bedurft, bis Gerhard Grote nur sich selbst im stillen Kämmerlein zu gestehen wagte, daß er sie . . .

Aber jedenfalls war solch Geständnis erst dann erfolgt, als er abends im Bett lag und das Licht gelöscht hatte . . .

Nun war es also vollkommen dunkel . . . Das heißt, in allerletzter Zeit war er manchmal schon so früh ins Bett gegangen, daß es noch gar nicht richtig dunkel war. Woran das nun immer liegen mochte, daß er jetzt schon so früh ins Bett ging, vielleicht ermüdete ihn seine Büroarbeit mehr als früher –?

Also, ob ganz dunkel oder halb dunkel oder dämmerig oder fast noch hell, da lag er nun im Bette und dachte. Er erinnerte sich . . . Oder er malte sich auch aus – er malte sich Situation auf Situation aus, stundenlang – er kam direkt mit seinem Schlaf zu kurz, trotzdem er seiner geschäftlichen Übermüdung wegen immer früher ins Bett stieg!

Bei solchem hartnäckig fortgesetzten Lebenswandel war es schließlich unvermeidlich, daß Gerhard Grote endlich doch, trotz Schüchternheit und Kümmerlichkeit, die herrliche Entdeckung machte, daß er sie liebte, daß er ihretwegen so zeitig schlafen ging, um von ihr mit offenen Augen träumen zu können . . .

Gott, als er sich das erst eingestanden, als er den Mut aufgebracht hatte, sich selbst zu glauben, er, der kleine Grote, liebe, liebe ganz allein, für sich privat gewissermaßen, eine vollkommen selbständige Aktion, nur zur Freude von Gerhard Grote unternommen – Himmel, wie beseligt war er da –! Er stand doch wahrhaftig mitten in der stickedustern Nacht auf, suchte im Dunkeln seine lang vernachlässigten Hanteln aus dem Kleiderschrank und machte in der Rabenschwärze auf dem Bettvorlegerchen Hantelübungen verbunden mit Körpergymnastik: ›Eine, zweie, dreie, viere –!‹

Als er schließlich wieder unter seiner Decke lag, war er durch diese Hantelübungen – in Gedanken – bereits so kräftig geworden, wie er einst in Wirklichkeit von ihnen erhofft hatte. Mühelos befreite er Rosa Täfelein aus den gefährlichsten Situationen und besonders diesen eklen, großsprecherischen Marbach, der in letzter Zeit, wie er eben entdeckt hatte, viel zu viel bei Fräulein Rosa im Samtlager steckte – diesen Burschen erledigte er mit einem Kinnhaken!

Und von nun an konnte mit stolzer Freude weiter geträumt werden, in dem ruhigen Bewußtsein: ich, Gerhard Grote, liebe . . .

Bei Tage sah er sie, dann und wann, wenn er grade im dritten Stock zu tun hatte, nicht übermäßig häufig, sah sie aber in ihrer braunen und elfenbeinfarbenen Lieblichkeit oft genug, um seinen Träumen neuen Stoff zu geben. Manchmal sagte sie vielleicht sogar zu ihm: »Ach, Herr Grote, seien Sie doch so freundlich und helfen Sie mir den Karton ins obere Fach hinauf!«

Worauf er natürlich sofort die Leiter hochkletterte, und beim Zureichen des Kartons berührten sich vielleicht sogar ihre Finger: einfach köstlich! Aber selbstverständlich nichts im Vergleich zu seinen Träumen!

Demnach war der kleine Grote in der Gefahr aller Träumer, das Leben (und die Rosa) über seinen Träumen zu versäumen. Doch nun geschah die Sache mit der Ratte!

Natürlich hätte es in einem so alt angesehenem Hause, wie dem von Brummer & Co., Damenputz en gros, Ratten eigentlich überhaupt nicht geben dürfen. Aber das Haus lag, schon aus Tradition, immer noch in der Altstadt, mit der Rückseite an einem Fleet, und da waren Ratten eben unvermeidlich. Es gab Katzen im Haus und Rattenfallen und Meerzwiebeln und dreimal im Jahre regelmäßig große Giftaktionen mit einem Kammerjäger. Aber deswegen lebten die Ratten immer weiter im Hause, nicht sehr viele, nicht mehr, als mit der Würde des Hauses verträglich war, aber doch immer genug, um die jungen Lageristinnen, Kontoristinnen und Verkäuferinnen manchmal arg zu erschrecken.

Rosa Täfelein war Lageristin, daher trug sich der Rattenfall auf dem Samtlager zu. Grade trat Gerhard Grote ins Lager ein, am Tisch lehnte Marbach und sah frech (fand Gerhard) zu, wie Rosa sich auf der obersten Leitersprosse in der dunkelsten Lagerecke mit einem ganz verstaubten, alten schweren Karton abmühte . . . Sie hatte ihn ziemlich weit vorgezogen, der Karton bekam schon Übergewicht, wollte rutschen –.

»Warten Sie bitte einen Augenblick, ich helfe!« rief Gerhard Grote. – Da sprang aus oder über oder neben dem Karton – so genau war es in der Eile gar nicht zu sehen – eine große rotbraune Ratte hervor –.

Das Mädchen stieß einen Schreckensschrei aus, der Karton fiel, die Ratte lief schon über den Tisch, an Herrn Marbach, der sie wild anstarrte, vorbei und verschwand mit einem Sprung durch die offene Tür auf den Gang hinaus . . .

Ganz unnötig war Gerhard Grote die Leiter hinaufgelaufen, hatte die Schuhe des jungen Mädchens krampfhaft umklammert und gerufen: »Haben Sie bloß keine Angst! Sie ist schon weg!«

Herr Marbach aber rief verblüfft: »So ein Biest! Ganz rot war sie – wie ein Fuchs! Auf zwanzig Zentimeter an meiner Hand vorbei – sie hätte mich ja beißen können, dies Biest!«

Und alle erwachten gewissermaßen. Fräulein Täfelein sah auf ihre Schuhe hinunter und flüsterte: »Oh, bitte nicht, Herr Grote!«

Gerhard zog seine Hände verlegen zurück und sagte: »Direkt aus dem Karton muß sie gesprungen sein! Direkt heraus!«

Während Herr Marbach spöttisch meinte: »Was wolltest du denn mit den Schuhen, Grote? Dachtest du, das waren die Ratten?! Komisch finde ich das . . .«

Worauf Fräulein Täfelein wie Herr Grote glühend rot wurden.

Schließlich wurde der herabgefallene Karton auf den Tisch gestellt und eine Debatte in Gang gesetzt, ob die Ratte aus oder neben dem Karton hervorgekommen sei. Nun wurde auch das Loch in der Seitenwand entdeckt, der Deckel von den Herren abgehoben – Fräulein Täfelein stand mit angehaltenem Atem abseits – ja, dieser Samt mußte glatt abgeschrieben werden, er war völlig unbrauchbar. Madame Ratz hatte ihn wohl schon öfter als Wochenbett benutzt.

»Eine bildschöne Schweinerei!« sagte Marbach. »Sie müßten wirklich öfter die Lagerecken nachsehen, Fräulein Täfelein! Der Chef wird nicht grade entzückt sein.«

Während Gerhard Grote beim Weggehen flüsterte: »Wenn Sie solche Kartons runterzuholen haben, klingeln Sie immer nach mir. Ich helfe Ihnen gerne.«

An diesem Abend hatte er es nicht nötig, sich Wachträume auszudenken, das Leben selbst hatte ihm Stoff genug gegeben. Er erinnerte sich ihres dankbaren Blickes, doch auch der winzigen Schuhe und zarten Fesseln. Er hatte sie auch noch vor Geschäftsschluß mit dem Satz trösten können: ›Manchmal ist der Chef einfach ein Ekel!‹ Denn der Chef hatte (wie Marbach) allein Rosa Täfelein die Schuld für den verdorbenen Samt zugeschoben, trotzdem jeder im Hause wußte, Rattenschäden kamen immer wieder vor, sie waren unvermeidlich . . .

Rosa hatte geweint, und er hatte sich mannhaft auf ihre Seite und gegen den Chef gestellt – süße Wachträume!

Von da an nahm diese Liebe mit freundlichen Blicken, Mißverständnissen, Schmollen, kleinen Seufzern, leeren Reden und beredtem Schweigen ihren üblichen Verlauf, bis eines Tages die Prokuristin der Firma, das ältliche Fräulein Mieder, mit einiger Schärfe sagte: »Sie, hören Sie mal, Sie, Herr Grote! Ich finde, Sie sind ein bißchen viel auf meinem Lager – finden Sie nicht auch?«

Wenn die Beiden bis dahin in einem Zustand völliger Weltfremdheit gelebt hatten, so erwachten sie plötzlich bei dieser rauhen Mahnung, sahen sich in die erblassenden Gesichter – und verstummten tief! Die Entdeckung, daß die Augen der Welt auf ihm ruhten, verstörte den kleinen Grote so sehr, daß er jetzt selbst bei völlig berechtigten Besuchen auf dem Lager nicht hochzusehen und nur abgerissen zu sprechen wagte. Eilends ging er dann, ehe er noch einen Blick seiner Rosa aufgefangen hatte.

Des Abends freilich, vor dem Einschlafen, tat er Fräulein Mieder die schrecklichsten Dinge an. Er ging so weit, ihr kleines Siedlungshäuschen, das sie bekanntermaßen besaß, in Flammen aufgehen zu sehen – freilich rettete er sie dann beherzt aus dem lodernden Dachstuhl (Fräulein Mieder wog gut ihre 80 Kilo, Herr Grote knapp 50!), worauf sie, kaum aus der Ohnmacht erwacht, ihn weinend um Verzeihung bat und ihn anflehte, ihr und ihren Lageristinnen beim Inventarisieren des Lagers zu helfen!

Aber Träume dieser wie Träume sehr anderer Art, rachefreie, liebereiche, konnten ihn nicht mehr sättigen: so sehr selten er Fräulein Täfelein auch sah, um so elfenbeinfarbener schien sie ihm, ja, ein paarmal kam es ihm vor, als habe sie rotgeweinte Augen. Wenn diese Mieder, wenn dieser Marbach, wenn Herr Brummer selbst, wenn sie ihr zusetzten – sie sollten etwas mit ihm erleben! Er mußte mit ihr sprechen, er mußte hören . . .

Doch schien das ganze Damenputzhaus jetzt nur aus Augen und Ohren zu bestehen. Immerzu schlugen Türen, schlichen Sohlen über die Gänge, klingelten Telefone, brummte drohend der Fahrstuhl.

Er stand endlich doch bei ihr, er hatte die Faktur für die Schwestern Niedlich in Bad Bramstedt in der Hand, er wollte sie fragen –. Ja, er hatte es sich schon so lange vorgenommen, er fing an: »Fräulein Täfelein«, fing er an, und die Faktur zitterte in seiner Hand.

»Ja?« fragte sie leise und fuhr fort, ihre Baskenmützen nach Farben und Größen zu sortieren, sah ihn nicht an.

»Fräulein Täfelein!« sagte er wieder und tat einen Schritt auf sie zu. »Ich wollte Sie fragen . . . Sie müssen verstehen, ich mache mir doch Sorgen . . .«

»Ja . . .« sagte sie noch einmal. Vielleicht sah sie ihn diesmal sogar ein bißchen von unten her an. Lächelte sie dabei – etwa über ihn –?

Einen Augenblick verließ ihn sein Mut.

»Da ist diese Rechnung von Niedlich aus Bramstedt«, fing er an. »Sie behaupten, bei der Frühjahrskollektion sei ihnen ein grauer Herrenhaarhut mitgeschickt worden. Bedenken Sie, ein grauer Herrenhaarhut, taubengrau, für die Schwestern Niedlich in Bad Bramstedt!«

Und er sah sie ganz verzweifelt an.

Aber sie war wohl ebenso schüchtern wie er oder sie verstand nicht, daß es nicht der taubengraue Herrenhaarhut war, der ihn in solche Verzweiflung trieb.

»Bei mir kann das unmöglich passiert sein, Herr Grote«, sagte sie leise. »Ich habe schon lange keine Herrenhüte mehr auf Lager. Vielleicht fragen Sie einmal Fräulein Pech . . .«

»Fräulein Täfelein!« flüsterte er fast vorwurfsvoll. »Ich will Sie fragen, und Sie schicken mich zu Fräulein Pech! Ich will Sie fragen . . . Und dabei sind Sie immer so blaß? Ich mache mir doch Sorgen –!«

»Bin ich blaß –?« fragte sie leise und war in diesem Augenblick bestimmt nicht blaß, selbst Gerhard Grote sah es.

»Nein«, sagte er eilig. »Vielleicht sind Sie nicht blaß, aber . . . Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet . . . Aber Sie weinen doch nicht?«

»Nein«, antwortete sie schluckend. »Nein, ich weine nicht. Wie kommen Sie darauf, Herr Grote?« Ihr Schmerz wollte sie überwältigen, fast schon schluchzend sagte sie: »Sie dürfen mich so etwas nicht fragen, Herr Grote! Dann >muß ich ja weinen! Ach Gott, ich bin ja so unglücklich! Und nun dieser Herrenhaarhut von Niedlich! Alle werden wieder sagen, ich bin es gewesen! Und Sie fragen mich, ob ich weine, Herr Grote!«

Die Tränen liefen ihr über ihr Gesicht, kleine silberne Tropfen, und sie suchte nach ihrem Taschentuch. Sie konnte es nicht finden und fing an, mit der Hand zu wischen . . . Dabei schluchzte sie schrecklich . . .

»Fräulein Täfelein!« sagte er flehend, und die Tränen standen auch ihm schon in den Augen. »Fräulein Täfelein, machen Sie sich doch bitte keine Gedanken um den Hut! Ich kläre den Fall bestimmt – und zu Ihren Gunsten!«

Er versuchte, nach ihrer Hand zu haschen. »Fräulein Täfelein!« bat er immer verzweifelter.

»So, sehr hübsch!« sagte Fräulein Mieder mit Schärfe und sah durch ihre Hornbrille ohne jedes Wohlwollen auf das Tränen-Duo. »So – hier stecken Sie also wieder mal, Herr Grote!« Sie schüttelte ihre männermäßig kurz geschnittenen grauen Locken. »Ich finde, Sie sollten Ihre Privatangelegenheiten außerhalb der Geschäftszeit erledigen – finden Sie nicht auch –?«

Sie sah ihn durchbohrend an.

»Ich versichere Ihnen, Fräulein Mieder«, stammelte der kleine Grote bestürzt, »es ist eine Geschäftsangelegenheit! Ich habe hier eine Rechnung für Niedlich in Bad Bramstedt . . . Es handelt sich um einen taubengrauen Herrenhaarhut . . .«

»Und über diesen Hut weint Fräulein Täfelein«, antwortet die Mieder trocken. »Sehr wahrscheinlich, Herr Grote!«

Und schwieg. Fräulein Täfelein hatte ihr Taschentuch gefunden und war hinter ihm verschwunden. Man hörte in der plötzlichen Stille nur ein paar seltsame Laute von ihr . . . In tödlicher Verlegenheit sah Gerhard Grote von der Prokuristin zur Lageristin, von dem Taschentuch zur Hornbrille . . .

Fräulein Mieder weidete sich – an diesem Anblick. Schließlich fragte sie süß: »Wie wäre es, wenn Sie jetzt mein Lager verließen, Herr Grote?«

Ein tiefer Seufzer hob seine Brust. »Es war aber wirklich nichts, Fräulein Mieder«, fing er an. »Wenn ich Ihnen erklären dürfte, Fräulein Mieder . . .«

»Sie sollen das Lager verlassen, Herr Grote!«

»Aber Fräulein Täfelein hat wirklich nicht . . . Sie dürfen ihr keine Vorwürfe machen . . . Ich allein . . .«

»Das ist ja lieblich!« sprach Fräulein Mieder, und ihr Gesicht sagte, wie wenig lieblich sie dies fand. »Sie wollen mir Vorschriften machen –?! Sie verweigern Ihrer Vorgesetzten den Gehorsam –?! Jetzt aber raus, Herr Grote! Wir sprechen uns noch, aber wo anders – nicht auf meinem Lager!«

Und damit war der kleine Grote aus dem Lager hinausgesetzt, er wußte selber nicht, war er von selbst gegangen oder hatte sie ihn hinausgeschoben? Träumend, aber sehr anders als sonst träumend, sah er die grau gestrichene Tür an: was ging nun hinter ihr vor? Machte sie ihr doch Vorwürfe? Das Erlebnis eben erschien ihm sehr viel unwirklicher als alle seine Wachträume! Unwahrscheinlicher! Er, der bisher so glatt und unauffällig seinen Lebensweg gegangen war, saß nun in den schrecklichsten Verwirrungen! Ein weinendes Mädchen, eine empörte Vorgesetzte, Gehorsamsverweigerung und in Aussicht gestellte Abreibung beim Chef . . .

Er drückte auf den Fahrstuhlknopf, der Fahrstuhl schnurrte zu ihm herauf. Er trat ein, schlug die Türen hinter sich zu, drückte den Knopf ›Erdgeschoß‹ und sank aus den verlockenden Höhen des Putzes in die graue Tiefe seiner Buchhalterei.

Aber schon unterwegs überwältigte ihn der Gedanke an Rosas hilfloses der bösartigen Mieder Ausgeliefertsein mit solcher Macht, daß er den Halteknopf drückte, worauf er wieder gen oben fuhr.

Doch was sollte er der Mieder sagen? Dieses Mannweib war derart beschaffen, daß sie nie jemanden zu Worte kommen ließ. Würde er nicht alles noch weiter verschlimmern? Sie hatten Privatdinge getrieben, Niedlichs Faktur war nur ein Vorwand gewesen!

Durch das Gitterwerk der Türen spähte er auf den Gang des dritten Stocks. Er kämpfte noch mit sich, als Schritte nahten: fluchtartig schwebte er hinab zum Erdgeschoß.

Er war mitten zwischen zwei Stockwerken, als er wieder Halt gebot. ›Ich muß mir klar werden‹, dachte er. ›Schließlich habe ich an allem schuld. Nie habe ich gewollt, daß sie meinetwegen weint!‹

Er versank in tiefes Grübeln. Er erinnerte sich seiner ersten Träume, des Glücks, als er seine Liebe entdeckte, des nächtlichen Hantelns, der Ratte, des eklen Marbach, der ersten Miederlichen Mahnung, der eben erfolgten zweiten. Hinter dem Taschentuch war ihr Gesicht nicht zu sehen gewesen, sie hatte ihn nicht mehr angeschaut, sie war böse mit ihm. Sie mußte mit ihm böse sein, in solche Lage hatte er sie gebracht.

Und seine Phantasie entführte ihn flugs aus dem engen Fahrstuhlgehäuse nach Bad Bramstedt. Er klärte für sie den Fall mit dem taubengrauen Herrenhut auf. Mehr noch: er hatte in der Lotterie gewonnen, er kaufte das Niedlich'sche Geschäft, als Einkäufer, als Sieger stand er vor Fräulein Mieder. Leise flüsterte er ihr zu: »Bist du nun zufrieden?«

Unterdes geriet das Haus Brummer & Co. in Aufruhr. Aus allen Stockwerken gellten die Klingeln nach dem Fahrstuhl, der Träumer hörte nichts.

»Der Fahrstuhl ist stecken geblieben! – Es muß jemand darin sein! – Wer denn? – Ich kann nur seine Beine sehen, nach den Beinen ist es der kleine Grote . . . – Das kann stimmen. Der kleine Grote fuhr vorhin auf die Drei. – Ob man zu einem Schlosser schickt? – Ist er denn allein drin? – Da müssen Sie aber erst Fräulein Mieder fragen! – Das möchten Sie so: allein zu zweien!«

Nach einer gewissen, übrigens nicht sehr langen Zeit, erwachte der Träumer, hörte das Gellen der Klingeln und fuhr ins Erdgeschoß, denn oben auf dem Lager hatte er durch seine Träume bereits alles auf's Beste geregelt.

Fünf neugierige, zornige, sachverständige Gesichter begrüßten ihn.

»Was war denn das für 'ne Verkehrsstockung? – Sie sind wohl eingeschlafen, Grote? – So 'ne Rücksichtslosigkeit! – Nee, nicht mal geraucht hat er!«

»Nun, Herr Grote!« sagte das plötzlich auftauchende Fräulein Mieder mit Schärfe. »Sie haben sieben Minuten im Fahrstuhl gesessen! Finden Sie das nicht ein bißchen lange? Ich finde es!«

»Sieben Minuten?« fragte Gerhard Grote verwirrt. Ihm war es, als habe er eben erst das Lager mit der weinenden Rosa verlassen, und die Mieder sei unbegreiflich rasch ins Erdgeschoß hinabgestürmt.

»Ja, sieben Minuten!« wiederholte sie streng. »Was haben Sie denn im Fahrstuhl gemacht? Ist er nicht in Ordnung?«

»Ich weiß nicht. Doch ich glaube, er ist in Ordnung. Ich dachte nur, ich müßte noch mal . . .«

»Nun, was müßten Sie? Sie wollten wohl noch mal nach oben?«

Gerhard Grote nickte nur. Eben erst hatte er unter all den neugierigen, gespannten und strengen Gesichtern hinter den Schultern Fräulein Mieders Rosa Täfelein entdeckt. Auch sie war also hier unten! Wieso war sie hier unten –?

Ganz aus der Ferne nur hörte er die Miedersche empörte Stimme: »Eben erst habe ich Ihnen mein Lager verboten, und schon wollen Sie wieder hinauf fahren! Und Sie fahren nicht nur hoch, Sie halten auch den ganzen Betrieb auf –!«

Hört das alles nur ganz aus der Ferne . . . Das energische Gesicht der bösen Mieder mit der dunklen Hornbrille verliert all seinen Schrecken, er sieht nur das blasse, unglückliche Gesicht Fräulein Täfeleins. Ihren Augen ist noch anzusehen, daß sie geweint haben. Und diesmal hat sie bestimmt um seinetwillen geweint!

Die Posaune des Gerichts dröhnt ewig fort: »Das sind ja ganz unmögliche Zustände! Finden Sie, daß Sie dafür bezahlt werden? Sofort kommen Sie mit zum Chef! Fräulein Täfelein, Sie kommen auch mit! Rumpoussieren dulde ich nicht auf meinem Lager!«

»Einen Augenblick, bitte!« sagt plötzlich der kleine Grote mit festerer Stimme. »Ich habe nicht rumpoussiert! Sie dürfen Fräulein Täfelein auch nicht beleidigen! Ich habe . . .«

»Das können Sie alles Herrn Brummer erzählen . . .« fängt Fräulein Mieder ungeduldig an.

Aber ihr Angestellter unterbricht sie einfach.

»Ich habe mich mit Fräulein Täfelein verlobt!« sagt er mit stolz erhobener Stimme und fühlt doch, wie sein Herzschlag stockt.

Er sieht von allen Gesichtern keines außer dem Rosas. Das bekommt plötzlich einen schmerzhaft erschreckten Ausdruck, etwa, als habe sie jemand gekniffen. Dann weiten sich ihre Augen, fangen an zu glitzern, ihr Mund verzieht sich . . .

»Jawohl, ich habe mich mit Fräulein Täfelein verlobt . . .« wiederholt Gerhard Grote noch einmal, aber schon wesentlich schwächer.

»Warum haben Sie mir das denn nicht schon oben gesagt?!« fragt Fräulein Mieder völlig verblüfft, und doch schon halb versöhnt. »Das ist ja etwas ganz anderes. Ich finde bloß das olle Rumpoussieren so schrecklich. – Fräulein Täfelein, warum haben Sie mir kein Wort davon gesagt?«

Alle sehen die kleine zierliche Rosa Täfelein an. Sie wird unter diesen vielen Blicken glühend rot. Sie stammelt: »Ich . . . Er . . . Ich meine, Herr Grote . . . Er hat ja nicht . . .«

Aber sie hat weder den Mut, ihn Lügen zu strafen, noch die Wahrheit seiner Worte vor so vielen Menschen anzuerkennen. Sie schluchzt auf, schon stürzen ihre Tränen, sie ruft verzweifelt: »Und er war doch nur oben wegen dem Herrenhut!«

Und schon stürzt sie ab, weinend, an jenen Ort, wo auch das geplagteste Geschäftsfräulein sicher ist vor neugierigen Kollegen, bösen Mieders, unbegreiflichen Grotes . . .

Gerhard Grote will ihr durchaus nach, erst ein Machtwort Fräulein Mieders scheucht ihn zu seiner Arbeit zurück.

»Faul!« sagt Herr Marbach ziemlich laut. »Scheint faul. Vorläufig sind Gratulationen noch verboten.«

 


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