Hans Fallada
Zwei zarte Lämmchen - weiß wie Schnee
Hans Fallada

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Die Krabben

Auch die Schüchternen haben ihre mutige Stunde, und wenn Stunde zu viel gesagt scheint, so haben sie doch ihre mutige Minute. In einer solchen Minute hatte der kleine kaufmännische Handlungsgehilfe Gerhard Grote vor vielen Kollegen behauptet, er sei mit der Lageristin Rosa Täfelein verlobt, mit diesem zierlichen jungen Mädchen, dem er noch nie ein Wort von Liebe gesagt, ja, mit dem er eigentlich noch nie ein vertrautes Wort gewechselt hatte.

Der Mut ist kurz, die Reu ist lang: nach Geschäftsschluß schleicht durch die abendlichen Straßen der kleine Grote hinter seiner vorgeblichen Verlobten her, und jedes Mal, wenn es so ausschaut, als wolle sie sich umdrehen, tut er einen Satz hinter eine Anschlagsäule oder in einen Hauseingang, oder er stellt sich vor ein Schaufenster . . .

Aber sie dreht sich nicht um. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, daß er ihr nachsteigen könnte, sie denkt überhaupt nicht an ihn. Er aber ist so unverschämt gewesen, sie als seine Verlobte auszugeben – jetzt versteht er sich selbst nicht mehr. Er muß natürlich so schnell wie möglich alles aufklären, nämlich, daß er dies nur gesagt hat, um den Vorwurf des Rumpoussierens von ihr abzuwaschen. Sofort muß er das tun! Als sie aber vor einem Laden stehen bleibt, versteckt er sich sofort hinter einem Zeitungsstand.

Sie tritt in den Laden. Er pirscht sich vorsichtig näher, und als er gerade an der Ladentür feststellt, es ist ein Geschäft mit Räucherfischen, kommt sie schon wieder heraus, und direkt auf ihn zu!

Ihm bleibt nur die eilige Flucht – an ihr vorbei! So stürzt er in den Laden und verlangt, was ihm grade vor Augen liegt, nämlich ein Pfund ungeschälte Krabben. Unendlich umständlich werden sie in eine graue Tüte geschaufelt, abgewogen: zu viel, nun zu wenig, jetzt endlich richtig . . .

»Bitte, sechzig Pfennig, der Herr!«

Unterdes geht sie immer weiter von ihm fort, die Gelegenheit entschwindet, sie heute Abend noch aufzuklären, eine ganze Nacht wird sie schlecht von ihm denken!

Völlig zerschmettert tritt er wieder auf die Straße, geht mutlos in der Richtung weiter, in der sie vorher ging – und da entdeckt er Rosa Täfelein, zehn Schritte vor sich, eilig im Gedränge der Leute gehend!

Mit erleichtertem Herzen folgt er ihr. Sie hat also wohl noch etwas in dieser Straße zu besorgen gehabt, während er im Fischladen war! Freilich trägt sie immer noch nur eine Tüte, eine graue, packpapierne, der seinen gleichend wie ein Ei dem andern . . .

Gerhard Grote weiß so wenig von seiner vorgeblichen Braut, daß er keine Ahnung hat, in welcher Stadtgegend sie wohl wohnt. Als aber der Strom der feierabendlichen Heimkehrer die beiden jetzt in einen Bahnhof spült, ist das Schicksal ihm wiederum günstig: sie fordert ihre Fahrkarte am Schalter so laut, daß er wegen seines Reisezieles nicht in Verlegenheit gerät.

Nebeneinander stehen die beiden auf dem Bahnsteig, wenigstens fast nebeneinander, und als der lange Triebwagen vor ihnen hält, gehen sie durch dieselbe Tür in ihn ein, nur ein dicker Mann drängt sich zwischen sie. Deswegen hat sie ihn wohl noch immer nicht entdeckt. Er ist jetzt schon wieder so mutig geworden, daß er sich beinahe auf ihr Gesicht freut, wenn sie ihn entdeckt. Aber dafür sind im Augenblick die Aussichten schlecht: sie steht mit dem Gesicht zur Fahrtrichtung, er in ihrem Rücken. Doch kann er ein bißchen von ihrem Gesicht im Spiegel einer Parfüm-Reklame sehen.

Er weiß ja nun, wo sie aussteigen wird, aber es beschäftigt ihn angenehm, ihr Dort-Stehen im Spiegel zu kontrollieren.

Allmählich, wie der Zug fährt, hält, wieder fährt, wieder hält, entleert sich der Wagen etwas, jetzt gibt es schon freie Sitzplätze. Aber die beiden bleiben stehen mit dem Rücken zueinander. Er hörte, wie sie leise sagte: »Danke, ich stehe lieber!«, und so steht auch er lieber. Auch ist dieser Blick in den Spiegel wirklich sehr angenehm . . . Er hat sie noch nie so ungestört betrachten können . . .

Vielleicht kommt es daher, daß jetzt kaum noch Leute im Wagen stehen, vielleicht hat sie aber auch ihre Stellung geändert, jedenfalls kann er jetzt mehr von ihrem Gesicht sehen im Spiegel – er sieht ihr Auge. Und plötzlich sieht ihn dieses Auge an im Spiegel, groß, dunkel . . . Ach, der ganze Spiegel ist fast nur Auge geworden, so fremd und vertraut sieht es ihn an, so fragend . . .

»Ihre Tüte, Sie!« sagt eine mürrische Stimme neben ihm.

»Wie bitte –?!« fragt er zusammenfahrend, und das dunkle liebe Auge hat ihn verlassen.

»Passen Sie doch auf! Ihre Tüte tropft ja!«

Es ist eine dicke, recht böse aussehende Frau, die das zu ihm sagt. Er betrachtet ängstlich seine graue Tüte. Richtig, ihr Boden sieht schon ganz naß aus. Er legt die Hand vorsichtig unter diesen aufgeweichten Boden und sieht sich dabei unwillkürlich nach der andern grauen Tüte um. Aber diese Tüte ist nicht sichtbar, dafür begegnet er wieder dem Blick des dunklen Auges. Dieses Mal völlig direkt. Es sieht ihn groß und ernst an . . .

Aber ehe er noch einen Entschluß zu fassen vermag, fordert die mürrische Stimme wieder seine volle Aufmerksamkeit: »Da hat's schon wieder getropft – grade auf meinen Mantel! Halten Sie Ihre Tüte doch ein bißchen weg von mir!«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung!« sagt Gerhard Grote verlegen. »Es ist mir sehr unangenehm . . .«

»Was haben Sie denn drin?« fragt die Frau freundlicher, läßt ihn aber um keinen Preis zu dem dunklen Auge zurückkehren. »Salzgurke –?«

»Krabben . . .« antwortet er gehorsam.

»Was, Krabben –?!« ruft sie, und ihre Stimme wird immer schriller. (Der halbe Wagen hört schon zu.) »Mögen Sie die essen –?!! Igittegitt! Wir sagen immer Maden dazu. Genau wie die Würmer, die die ollen Jungens auf die Angelhaken tun, Regenwürmer. Die Chinesen sollen ja solch Zeugs essen. Und mit sowas machen Sie mir Flecke auf meinen schönen Frühjahrsmantel! Ich dachte, es wären Salzgurken! Jetzt werde ich bestimmt nach den ekligen Maden riechen!«

Sie macht eine Pause, um ihren Mantel zu beschnüffeln. Gerhard Grote benutzt diesen Moment, um vor ihr zu fliehen, so weit es die Wagenlänge erlaubt – natürlich in der Richtung von Fräulein Täfelein fort. Dabei geschieht ihm aber das Unglück, daß er mit seiner weichen Tüte gegen die Lehne eines Sitzes stößt. Mit einem leichten Pluff! löst sich die Tüte auf und die Krabben prasseln auf den Boden: Klickklickklick – klacks!

Er starrt auf sie, ein Bild völligen Jammers – nie wird er nach einer solchen Blamage unter ihren Augen sich aussprechen können mit ihr –!

»Da!« ruft die mürrische Frau im Ton höchsten Entzückens. »Da hat er sie hingeschmissen! Hab' ich mir doch gleich gedacht! Sehen Sie nach, meine Dame, sehen Sie gleich nach, bestimmt hat er Ihnen einen Fleck gemacht!«

Aber die Dame ist nicht ganz so gehässiger Natur wie die Freundin der Salzgurken. Zwar hat sie ihre Beine unter den Sitz gezogen, aber sie sagt beruhigend lächelnd: »Das macht nichts. Wirklich nicht. Die Leute hätten Ihnen auch eine festere Tüte geben können!«

Dafür fährt hinter einer Zeitung ein gespielt entrüsteter Männerkopf vor: »Na, Jüngling, was stehen Sie und starren? Das kann doch nicht so liegen bleiben! Einsammeln, los! Wenn alle darauf treten und einer gleitet aus, Sie sind haftpflichtig!«

Wahrhaftig, der kleine Herr Grote bückt sich gehorsam. Und erst dann fällt ihm ein, daß er ja nichts bei sich hat, in das er diese Krabben einsammeln kann. Er sieht hilflos auf seinen neuen Plagegeist . . .

»Na, worauf warten Sie noch?!« ruft der. »Aufsammeln, fix! Sie haben doch Taschen! Ehe jemand hinfällt, und Sie zahlen ihm eine lebenslängliche Rente, schmieren Sie doch lieber Ihren Anzug ein bißchen ein! Habe ich recht –?«

Und der Herr bricht, entzückt von seiner Witzigkeit, in ein schallendes Gelächter aus, bei dem ihn die meisten Wageninsassen begleiten.

Herr Grote hockt noch immer vor seinen Krabben. Sie sehen ihn aus ihren toten schwarzen Stecknadelknopfaugen alle, alle an. Er richtete sich nicht auf. Er ist dieses seit seiner frühesten Kindheit gewöhnt, dieses gutmütig überlegene Lachen, das die Großen und Selbstsicheren für die Kleinen und Schüchternen haben.

Aber dabei ist er auf seine Art listig; er hat gemerkt, auf was sie alle in ihrer Heiterkeit nicht achten, daß der Zug schon bremst. Und jetzt, da er hält, ist er mit einem Satz über die verhängnisvollen Krabben fort, an der Wagentür, aus dem Wagen, vom Bahnsteig, durch die Sperre, von den Krabben fort, von ihrem Lachen fort, freilich auch von Rosa fort, von der unaufschiebbaren Aussprache fort, an einem unbekannten Ort, auf dessen Name er nicht einmal geachtet hat . . .

Aus dem Bahnhof kommt er noch gelaufen, als er aber nun in den schon späten stillen Frühsommerabend tritt, verlangsamt er den Schritt. Nach links zu scheint der Ort zu liegen, nach rechts verliert sich zwischen ein paar einzelnen Häuschen der Weg unter Bäumen zwischen Feldern und Gärtchen. Auf dem Bahndamm über ihm klappert und rasselt sein Zug schon weiter. Er sieht zu den erleuchteten Fenstern empor, sieht die Gestalten von Menschen, möchte die ihre entdecken, sie nur für einen Augenblick noch einmal sehen – und das rote Schlußlicht schaut ihn schon groß an, lange, wird kleiner, zwinkert ein wenig in einer Kurve und ist verschwunden . . .

Langsam schlägt er den Baumweg in die Felder ein. Im Geäst mit dem jugendfrischen Laub tschilpen und jagen sich noch die spielenden Vögel, in den Villen geht hier und da und dort das freundliche Abendbrotlicht auf. Die Luft ist weich, von einer angenehmen Wärme, er atmet sie tief ein. Nach dem Großstadtbrodem über dem bei Sonne immer ein wenig faulig riechenden Fleet ist diese Luft eine wahre Wohltat für ihn, ein belebender Trank.

Nein, er ist gar nicht so sehr traurig. Dieses und ähnliches ist er gewöhnt. Irgendeine Falle stellt das Leben einem jeden, Sorgen müssen alle haben: dies sind seine Sorgen. Wenn er eines wissen möchte, so ist es das, was sie nun wohl von ihm denkt. Er hätte ihr Gesicht nach dem Unglück sehen mögen, ein Blick hätte ihm genügt . . .

Er geht gar nicht sehr weit. Er findet eine Bank, er setzt sich darauf, streckt die Beine weit von sich und ist nun fast befriedigt von seinem unerwarteten Ausflug. Es ist so hübsch zu denken, daß Rosa Täfelein hier irgendwo draußen im Grünen wohnt, das paßt viel besser zu ihr als das Lager mit staubigen, schweren Kartons und Ratten.

Eine Weile gibt er sich diesen Träumen mit aller Behaglichkeit hin, eingewiegt von dem immer stiller und sanfter werdenden Vorsommerabend. Dann erinnert er sich als ordentlicher Mensch daran, daß seine Wirtin mit dem Abendessen auf ihn wartet. Mutter Witt legt Wert darauf, daß er pünktlich ist, nicht aus irgendwelchen pedantischen Erwägungen heraus, sondern nur darum, weil Vater Witt, der Maurer, seinem Mieter gerne das Beste wegißt. Darum muß Herr Grote vor Herrn Witt zu Hause sein und vor ihm essen, sonst findet er oft nichts Rechtes mehr vor.

Er steht leise von der Bank auf, sachte wandert er wieder dem Bahnhof zu. Jawohl, dieser Abend war sehr schön – trotz allem. Gerhard Grote ist glücklich und zufrieden.

Es dauert eine ganze Weile, bis er merkt, daß er auf diesem abendlichen Wege nicht mehr allein ist: vielleicht zwanzig Meter vor ihm pilgert eine andere Gestalt dahin. Er weiß nicht, von wo sie gekommen ist, diese Gestalt, wann sie auftauchte, jedenfalls wandert sie jetzt vor ihm, genau wie vor gut zwei Stunden Rosa Täfelein vor ihm dahinging – auch auf einen Bahnhof zu.

Von dieser Feststellung ist es nicht weit bis zu dem Wunsch, diese Vorgängerin möge Rosa Täfelein selbst sein, bis zu der Hoffnung, sie sei es. Er beschleunigt seinen Schritt, um überhaupt erst einmal festzustellen, ob die geruhsam fürbaß schreitende Gestalt weiblich oder männlich sei. Es ist natürlich eine vollkommen wahnsinnige Hoffnung, – was soll Rosa Täfelein zur Nacht an diesem verlorenen Ort, dessen Namen er nicht einmal weiß?! Aber eine Hoffnung hat nichts damit zu tun, ob sie verständig oder unverständig ist.

Er ist so schnell gegangen, daß er nun weiß, es ist eine Frauensperson, und nun geht er noch schneller, um zu erkennen, ob sie wohl ähnlich gekleidet wie Rosa Täfelein ist . . .

Ehe er das noch festgestellt hat, kommt wieder der Bahnhof in Sicht. Oben leuchten auf dem fast leeren Bahnsteig die Lampen, grade fährt ein Zug in der Richtung zur Stadt ein. Die Gestalt vor ihm beschleunigt darum den Schritt nicht, sie geht ruhig weiter. Sie hat noch nicht einmal den Kopf nach dem Verfolger gedreht, der ihr nun auf wenige Meter nahe gekommen ist, dessen Schritt sie doch hören muß.

Oben schließen sich die Wagentüren mit rasch aufeinander folgendem Knall, eine Kette fahrender, freundlich erleuchteter Stuben rauscht der Zug der Stadt zu. Unten ist die Gestalt in den Schein der ersten Laterne getreten. Gerhard Grote bleibt das Herz fast stehen, er verlangsamt seinen Schritt:

Es ist wahrhaftig Rosa Täfelein, die da vor ihm hinwandert, nun am Bahnhof vorbei, in den Ort hinein!

Er fällt immer mehr zurück, er geht immer langsamer. Sein schlechtes Gewissen zwickt ihn mit vielen Wenn und Aber, wenn es heute noch nicht zu einer Aussprache kommt, kann er wenigstens die Nacht durch hoffen . . .

Trotzdem geht auch er am Bahnhof vorüber, in die Stadt hinein, sehr langsam, daß er sie grade noch im Auge behält. Aber auch sie geht immer langsamer, vor einem Kino bleibt sie stehen und besieht sich die Fotos, er seinerseits hält vor einem dunklen Schaufenster, aus dem ihn matt und fern die Kappen neuen Schuhwerks ansehen.

Nun geht die Wanderung wieder weiter, langsam um eine Ecke herum, in eine stille, fast dunkle Straße hinein, die nur auf der einen Seite bebaut scheint, mit kleinen Einfamilienhäusern. Nur eine einzige Laterne brennt hier.

Grade unter ihr, in ihrem freundlichen Schein, bleibt sie stehen, faßt eine weiße Lattentür und stößt sie auf. Die Tür knarrt ein wenig und wird dann offen gehalten, Rosa Täfelein tritt noch nicht in das Vorgärtchen ein.

Aus dem Dunkel, aber gar nicht sehr weit ab, sieht Gerhard Grote ihr gespannt zu. Sollte sie wirklich hier in diesem Orte wohnen, in den er blindlings gestürzt ist? Rosa Täfelein steht da noch immer halb abgewendet, im Laternenlicht, nun hustet sie. Er überlegt, ob das etwa ein Signal für ihn ist, ob er zurückhusten soll? Aber Rosa ist zu so etwas Grobem wohl kaum fähig. Er beschließt, still zu bleiben. Schließlich ist es schön genug, daß sie hier beide gemeinsam in der sanften Vorsommernacht stehen, sie hell, er dunkel, aber über beiden die gleiche stille Gloria aller Sterne.

Nachdem Rosa Täfelein noch einmal gehustet hat, aber nur leise, fällt die weiße Lattentür zu, und sie ist gegangen.

Der kleine Grote wartet nur einen Augenblick, dann stürzt er zur Tür, beugt sich zu dem Namensschild und will es lesen. Aber das Schild liegt ziemlich im Dunkeln, er muß mehrere Streichhölzer anbrennen, ehe er liest:

 

Reinhold Täfelein
Entfettungstees

 

»Entfettung-Tees!!!«

Er hat sich noch nicht von seiner Überraschung erholt (irgendwelche Entfettungtees in Verbindung mit der Schlankheit Rosas erscheinen einfach grotesk!), als Rosa Täfelein bei ihm steht, sie auf der Innenseite der Lattentür, er auf der Außenseite.

»Ach Gott!« sagt er nur, recht erschrocken.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, Herr Grote«, flüstert sie fast atemlos, als sei sie zu rasch gelaufen, »wenn Sie meine Krabben haben wollen –?«

Sie bricht ab und sieht ihn mit ihren dunklen Augen verwirrt an.

Er ist nicht weniger verwirrt.

»Ja, die Krabben«, antwortet er endlich. »Das war sehr unangenehm. Die Tüte war aufgeweicht.«

Er verstummt, und nun stehen sie beide eine Weile still, beide jetzt die Augen gesenkt, beide mit klopfendem Herzen . . . Irgendwo schreit in einem der kleinen Einfamilienhäuser mit zorniger Ungeduld ein Kind . . .

»Sie müssen die Tüte von Anfang an unten anfassen«, sagt sie endlich.

»Ich weiß«, gibt er reuig zu. »Ich habe nur nicht gedacht, daß sie so naß wäre.«

Und wieder Schweigen.

»Da schreit ein Kind«, fängt diesmal er wieder an. »Es klingt beinahe, als riefe es Rosa.«

Er ist sehr rot geworden, zum ersten Male spricht er diesen so oft bei sich geflüsterten Vornamen laut aus.

»Das ist mein kleiner Bruder«, erklärt sie. »Er wartet darauf, daß ich ihn ins Bett bringe.« Und sie setzt hinzu: »Bitte, nehmen Sie meine Krabben!«

»Ich kann Sie doch nicht berauben . . .« flüstert er.

»Sie berauben mich wirklich nicht . . .«

»Aber die Tüte würde bis nach Haus wieder entzwei gehen . . .«

»Vielleicht. – Dort drüben steht eine Bank. Vielleicht essen Sie die Krabben gleich dort drüben?«

Jetzt ist sie sehr rot geworden, und er wird es auch, als er sagt: »Wenn Sie – ich meine, ginge es vielleicht, wenn Sie mit mir . . .«

Er hat nach der über die Tür gereichten Tüte gefaßt. Das zornige Gebrüll aus dem Hause läßt jetzt ganz deutlich den Namen Rosa erkennen.

»Ich muß zu Männe!« ruft sie, huscht den Gang zum Haus entlang, und da steht er nun, mit der Krabbentüte in der Hand!

›Wir hätten wenigstens teilen müssen!‹ denkt er. Dann besinnt er sich, daß er die Tüte schon wieder oben anfaßt, und es soll doch von unten geschehen. Die Tüte richtig in der Hand macht er sich auf die Suche nach der Bank und findet sie auf der andern Straßenseite, ziemlich im Schatten. Er stellt die Tüte darauf und setzt sich neben sie.

Nun beginnt er, darüber nachzudenken, ob er die Krabben wirklich essen soll und darf, und gerät schließlich auf die Lösung, daß er sie erst einmal in zwei Häuflein teilt, eines für sie, eines für sich. Das Häuflein für Rosa kommt links von ihm auf die Bank, auf die Herzseite, das eigene nur auf die rechte Seite.

Es ist erstaunlich, wieviel Krabben auf ein Pfund gehen, und da er sich trotz der Dunkelheit noch bemüht, sie auch größenmäßig gerecht zu verteilen, bringt er eine ganze Zeit mit dieser Beschäftigung zu. Dabei behält er das Häuschen gut im Auge, sieht das Licht in der Schreibstube ausgehen und es in einem andern Zimmer hell werden, und schließlich klappt wirklich die Lattentür noch einmal, und Rosa kommt sachte über die Straße gehuscht.

»Ich habe Ihnen ein bißchen Brot mitgebracht«, sagt sie leise. »So ohne alles schmecken die Krabben doch nicht.«

»Hier ist die Hälfte für Sie«, sagt er. »Wenn Sie nicht doch lieber alle nehmen wollen –?«

»Aber nein! Bitte, essen Sie doch!«

»Bitte, essen Sie doch mit mir mit!«

»Ich muß doch wieder rein – meine Mutter wundert sich ja.«

»Bitte, nur ein paar! Nur einen Augenblick! Das ist Ihr Haufen. Bitte, setzen Sie sich doch!«

»Ich muß wirklich rein«, sagt sie und setzt sich. »Wird das Brot auch reichen?«

»Danke, es ist wirklich genug.«

Da sitzen sie nun beide gemeinsam auf der Bank, aber getrennt durch ein Häuflein Krabben. Und in ihrer Befangenheit fangen sie wirklich an, von den Krabben zu essen, erst bloß, um überhaupt etwas zu tun, dann, weil sie richtigen Hunger haben und es ihnen schmeckt. Gesprochen wird dabei gar nichts, weder von einer Verlobung, noch von der erstaunlichen Tatsache, daß er hier in einem entlegenen Vorort vor ihrem Häuschen sitzt.

»Nun muß ich aber rein«, sagt sie schließlich. »Gleich muß Vater kommen.«

»Es ist schade, daß mir meine Krabben hingefallen sind«, antwortet er nach längerem Nachdenken.

»Ja, das ist schade«, stimmt sie zu. »Sie waren wirklich ganz frisch.«

»Nein, ich meine, dann hätten wir hier noch länger zu essen gehabt.«

»Ich muß jetzt aber wirklich rein!«

»Können Sie nicht hinterher, ich meine, nach Ihrem Abendessen – kommen Sie nicht noch einmal heraus?«

»Nein, das kann ich nicht! Und Sie müssen bestimmt gleich in die Stadt fahren. Sie werden sich ja hier erkälten!«

»Ich erkälte mich nicht . . .«

»Aber Sie müssen gleich fahren, versprechen Sie mir das –?«

»Darf ich denn morgen Abend wiederkommen? Ich könnte ja wieder etwas zu essen mitbringen.«

»Nein, bitte nicht. Bitte, bitte nicht!«

»Aber doch übermorgen? Übermorgen ist Sonnabend, da haben wir doch schon um drei Uhr Schluß!«

»Nein, bitte, bitte nicht, Herr Grote! Was sollen denn die Leute von mir denken? Und meine Eltern würden es auch nie erlauben.«

Er ist angesichts ihrer Angst sehr kühn geworden. »Wenn ich nun Ihre Eltern fragte?« flüstert er.

»Aber bitte nicht! Bitte nur das nicht! Bitte fahren Sie jetzt zurück!«

»Ich muß doch mit Ihnen sprechen! Bitte, bitte, nur einmal noch!«

»Ich muß jetzt ins Haus. Bitte, lassen Sie meine Hand los, bitte, Herr Grote!«

»Darf ich denn wirklich gar nicht . . . nie wieder –? Bitte, sagen Sie doch: nur einmal noch!«

»Nein, bitte nicht. Vielleicht bin ich Sonntag Vormittag allein. Aber bitte kommen Sie dann nicht!«

»Sonntag Vormittag – gegen zehn?«

»Nein, Sie dürfen wirklich nicht kommen, vielleicht ist mein Vater dann noch gar nicht aus dem Haus.«

»Also um halb elf –? Bitte, sagen Sie doch!«

»Nicht vor elf! Gute Nacht, Herr Grote. Aber Sie dürfen bestimmt nicht kommen! Und jetzt fahren Sie gleich nach Haus – versprechen Sie mir das?«

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen so sehr!«

»Nein, nicht deswegen. Sie dürfen es bestimmt nicht tun! Und die Krabben haben wir wirklich nicht zum Abendessen gebraucht. Gute Nacht, Herr Grote.«

»Gute Nacht . . .«

Sie stehen jetzt wieder an der Lattentür. Wieder hält er ihre Hand, die sie ihm vorhin erst fortzog. Er weiß gar nicht, wann er sie wieder eingefangen hat.

»Gute Nacht – und am Sonntag um elf!«

»Nein, bitte, bestimmt nicht. Gute Nacht!«

»Auf Wiedersehen, Fräulein Täfelein!«

»Auf Wiedersehen, Herr Grote! Aber bitte nicht. Bestimmt nicht! Bitte nicht!«

 


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