Hans Fallada
Zwei zarte Lämmchen - weiß wie Schnee
Hans Fallada

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Das Fußball-Konfekt

Den ganzen Sonnabend-Vormittag – während der Geschäftszeit – und den längeren Teil des Sonnabend-Nachmittag – in seiner Freizeit – hatte der kleine Handlungsgehilfe Gerhard Grote darüber nachgedacht, was er der Rosa Täfelein wohl mitbringen könnte beim ersten Besuch am Sonntag-Vormittag: Rosen oder Ringe –?

Es war ja nun so, daß die beiden an sich offiziell verlobt waren, so wären Ringe sicher das Richtige gewesen. Aber es war ja leider auch wieder so, daß bisher Gerhard Grote nur in einem Anfall von Tollkühnheit fremden Leuten gegenüber behauptet hatte, mit Fräulein Täfelein verlobt zu sein, der Rosa aber bis zur Stunde noch kein Wort von Liebe gesprochen hatte, so waren Ringe vielleicht voreilig und aufdringlich, Rosen aber angemessen.

Andererseits hinwiederum war es wohl wirklich an der Zeit, auch Fräulein Rosa den völligen Ernst jener kühnen Behauptung zu beweisen, und was gibt es Ernsthafteres als zwei goldene Ringe, deren sanfter und freundlicher Glanz bestimmt ist, ein ganzes langes, gemeinsames Leben zu erleuchten –?!

In diesen Zweifeln kaufte Gerhard Grote keines von beiden, nicht Ringe noch Rosen, sondern eine ungeheure, wahrhaft überlebensgroße Schachtel Konfekt, auf deren Deckel freilich – gewissermaßen zum Ausgleich – purpurrote Rosen zwischen schnäbelnden Tauben abgebildet waren. Vielleicht hatte ihn aber auch bei diesem Ankauf das Gefühl geleitet, er müsse Rosa Täfelein einen Ersatz für die weggegessenen Krabben bieten.

Mit dieser unschuldsweiß verhüllten Pappschachtel unter dem Arm fuhr Gerhard Grote mit einem Zug noch vor acht Uhr in den freundlichen Vorort, der Rosa behauste, hinaus. Da er erst um elf zu ihr durfte, war die Fahrzeit vielleicht ein wenig früh gewählt, aber Gerhard Grotes Morgen war schon lang gewesen. Wie ein schüchterner Hausgeist hatte er schon seit der vierten Stunde in der Witt'schen Wohnung gespukt, hatte gehantelt und Gymnastik getrieben, sich außergewöhnlich gewaschen und auch sonst gestriegelt, hatte höchstpersönlich Anzug und Schlips gebügelt – oh, man kann gar nicht stark und sauber genug in seiner Verlobung und damit in einem ganz anderen, neuen, wirklichen Leben seinen Eingang halten –!

Diesmal saß Gerhard Grote ohne Sorgen zwischen all den sonntäglichen Mitfahrern, keine graue, packpapierene Tüte mußte ihn ängstigen, mit einem glücklichen Lächeln sah er zu den Fenstern des eilig ratternden Zuges hinaus. Eilig wurde aus der Stadt mit ihren grauen Hinterhöfen aufgelockerte Vorstadt und Land. Hier stand schon in einem Gärtchen eine junge Frau und fütterte aus ihrer Schürze die pickenden Hühner. Dort strich an einem Weiherchen ein bärtiger Alter mit einem Teerquast den Boden des umgestürzten Bootes, daß er glänzte, und weiterhin standen den Bahndamm entlang viele hochstenglige Blumen ihm unbekannten Namens und sahen mit ihren goldenen und gelben Gesichtern fremd und doch freundlich dem vorüberfahrenden Menschlein ins Auge.

Kinder liefen aus den Häusern, noch ihre Lätzchen unter dem Kinn und ihre Musbrote in der Hand, einen ganz glücklichen, schulfreien Sonntag vor sich. Aus einem Fenster lehnte, auf der Fensterbank sitzend, ein junges Mädchen, und von außen in das Fenster hinein lehnte, den Ellenbogen auf dem Fensterbrett, ein Jüngling, und die beiden waren so eifrig in ihr Gespräch vertieft, daß sie nicht einen Blick auf den nahe vorüberrasselnden Zug warfen. Auf einem Waldweg aber sah der kleine Gerhard Grote, wie ein Märchenbild, ein großes braunes Pferd. Ein Mann ritt darauf, und vor dem Mann saß ein Kind, ein kleines Mädchen, fast auf dem Pferdehals und hielt ein Sträußchen mit weißen Blumen in der Hand. Das war so schön wie ein richtiges gemaltes Bild!

Ach, da schien dem kleinen Handlungsgehilfen aus der Damenputz-Branche die Welt so friedlich und rein! Sein schüchternes Herz ging so sacht und befreit, daß er meinte, nie eine wirkliche Sorge im Leben gekannt, nie eine Träne der Trauer geweint zu haben, sondern als sei alles von eh und je eitel Glück und Sonne gewesen, und werde es auch immer weiter sein.

Und nun hielt der Zug, und Gerhard Grote stieg aus mit seinem großen Konfektkarton unter dem Arm. Anders als sonst fand er seine Fahrkarte sofort, und als nun der Lärm des Zuges verebbt war, hörte er die Kirchenglocken des Fleckens läuten, eilig und ein wenig bimmlig, aber so fröhlich! Da kam es ganz von selbst, daß er erst einmal zu dieser Kirche ging, und eine lange Weile stand er still, den Hut in der Hand, hinter der letzten Bankreihe, hörte die Orgel spielen und die Gemeinde singen und erinnerte sich dessen, wie er als kleiner Bub mit seiner nun schon längst verstorbenen Mutter so in der Kirche gewesen, und etwas von der alten seligen Andacht rührte sich wieder in ihm und von dem alten törichten Vertrauen auf den lieben Kindergott, der ihm doch trotz allen Bittens nie eine Rechenaufgabe richtig gemacht und nie ein Loch in der Hose heil gezaubert hatte.

Etwas später saß er wieder auf der Bank, auf der sie beide gesessen, und als Beweis, daß sie dort wirklich gesessen (was ihm oft ganz traumhaft erschien), sahen ihn die schwarzen Krabbenaugen aus dem Sande an. Und gegenüber das Haus, ihr Haus, blitzte mit vier blanken Fenstern in der Sonne, mit dreien aus dem Erdgeschoß und einem aus dem spitzen Giebel, und er wußte nun doch schon so viel von seiner verlobten Braut, daß hinter dem rechts unten der kleine Bruder Männe geschrieen, hinter dem Fenster links unten aber das Abendbrotlicht gebrannt hatte. Nun wünschte er nur noch, daß sie oben hinter dem Giebelfenster wohnen möge, und er wartete lange darauf, daß ihr liebes Gesicht dort erschiene. Aber es rührte sich gar nichts im ganzen Hause, nicht einmal eine Kinderstimme rief daraus. Nur von Stricken, die über Pfähle neben dem Hause gezogen waren, hingen mißfarbene Pflanzenbündel und schwankten manchmal leise im Vorsommerwinde, und das waren ja nun wohl die Kräuter, aus denen Herr Reinhold Täfelein seine Entfettungs-Tees braute.

Gerhard Grote hätte es gern gesehen, wenn der Vater des geliebten Mädchens einen etwas vertrauteren Beruf gehabt hätte. So däuchte er ihn fast wie ein halber Hexenmeister, vor dem ein Bewerber um der Tochter Hand sich ängstigen mußte.

Aber weder der Hexenmeister, noch die verzauberte Prinzeß, noch ihre Mutter, noch der Bruder Männe ließ sich hinter den Fenstern sehen. Nichts rührte und regte sich im verwunschenen Häuschen, nur manchmal raschelten die Kräuter im Winde.

Jetzt fingen sie auch wieder an, auf dem Kirchturm zu läuten, und als Gerhard Grote seine Uhr zog, war es fünf Minuten nach Elf! Ach, wie die Zeit lief! Sie lief zum Schrecken erregen, die beschauliche Ruhe war schon wieder vorbei, Beschlüsse mußten gefaßt werden.

So stand Gerhard Grote von seiner Bank auf und setzte sich wieder, er tat fünf Schritte auf das Häuschen zu und das nächste Mal tat er gar schon zehn Schritte und las das Schild ›Reinhold Täfelein – Entfettungstees‹ – wobei er ein Geräusch zu hören meinte und eilig nach seiner Bank zurückschlich.

Im Dorfe läuteten sie die Mittagstunde, als er schließlich doch mit Zagen und Zorn (aber der Zorn galt der eigenen Schüchternheit) den Klingelknopf drückte . . .

Lange blieb es still, und er wagte nicht, noch einmal zu klingeln, und er horchte und spähte durch die Milchglasscheiben, und sein Herz klopfte sehr.

Dann rief eine Kinderstimme »Röschen, es hat geklingelt!«, und feste kurze Schritte liefen gegen die Tür.

»Wer ist denn da?« rief das Kind. »Papa ist nicht zu Haus!«

Und Gerhard Grote wußte nicht, was er dem Kinde antworten sollte.

Aber nun kam ein leichter, leiser Schritt, und ihre Stimme fragte auch: »Wer ist denn da?«.

Er antwortete: »Herr Grote« und wurde, ehe er sie noch gesehen, glühend rot vor der Tür und verbesserte sich hastig in: »Gerhard Grote«. Aber das schien ihm wieder zu vertraulich. Denn woher sollte sie seinen Vornamen wissen? Im Geschäft nannten sie ihn alle nur den kleinen Grote.

So war er sehr rot und verlegen, als die Tür nun wirklich aufging und Rosa Täfelein leibhaftig vor ihm stand, einen kleinen braunhaarigen Jungen neben sich, mit einem bunt gestickten Schürzchen angetan, so häuslich und heimlich, wie er sie noch nie gesehen.

Einen Augenblick standen die beiden stumm voreinander, dann tat immer noch keines von ihnen den Mund auf, aber der kleine Junge fragte: »Ist das der Onkel, der schon um elf kommen sollte, Röschen? Warum soll denn der Papa nichts von ihm wissen, Röschen? Warum sagt er denn gar nichts, Röschen?«

Und bei jeder Frage des kleinen Mannes wurden beide immer verlegener, und am liebsten wäre es ihnen gewesen, die Tür zwischen ihnen wäre schon wieder geschlossen!

Da das aber nicht anging, sagte Rosa Täfelein verlegen: »Ach, Männe!«

Und er: »Ich sitze schon seit neun vor'm Haus, aber ich wagte nicht . . . Ich dachte nämlich, Ihr Vater . . .«

Und er verstummte wieder mit einem Blick auf den Jungen.

Und sie: »Ich habe hinten in der Küche geplättet . . . Ich dachte, Sie würden eher kommen.«

Und er: »Ich wäre ja so gerne. Aber ich dachte, Sie wären noch nicht allein . . .«

. . . Wobei die Augen des kleinen Jungen aufmerksam von einem zum andern gingen, und er nun in das verwirrte neue Schweigen hineinfragte: »Was hast du denn in dem runden Paket? Torte –?«

»Pfui, Männe, sei doch nicht so neugierig!« rief Rosa Täfelein. Aber diese Frage hat doch etwas das Eis gebrochen, und er durfte eintreten und den Hut auf einen Haken im kleinen Flur hängen, wobei Männe das weiße, runde Paket nicht aus den Augen ließ . . .

Und – siehe da! – in dem Wohnzimmer standen auf dem weiß gedeckten Tisch zwei grünliche Stengelgläser und zwischen ihnen eine Schüssel mit kleinen Kuchen und eine Weinflasche, so daß sogar Gerhard Grote erriet, sein Besuch komme weder unerwartet noch unerwünscht.

Glücklich knüpfte er an seinem Paket, während Rosa Täfelein leise fragte: »Darf ich Ihnen vielleicht einen Schluck Wein anbieten, Herr Grote? Es ist Johannisbeerwein aus unserm Garten!«

»Oh, gerne, so gerne«, antwortete der kleine Grote, der nie Alkohol trank und Alkohol verabscheute. Wenn er aber in ihrem Garten gewachsen war . . . Und er ging mit dem Karton, auf dem purpurrote Rosen mit schnäbelnden Tauben abgebildet waren, auf sie zu und sagte: »Ich habe Ihnen auch etwas mitgebracht – für die Krabben, Fräulein Täfelein!«

»Oh, das sollen Sie doch nicht«, rief Rosa und legte die Hände verschlungen gegen ihre Brust. »Das ist ja viel zu viel, Herr Grote . . .«

»Für Sie kann es nie zu viel sein – Rosa!« sagte Herr Grote tollkühn und gab den Karton in ihre Hände.

Sie stand ganz glücklich da und sah das Bild an und flüsterte: »Was für schöne Rosen! Ich danke Ihnen sehr, Herr Grote!«

Aber Männe rief drängend: »Mach doch mal auf, Rosa! Ist da Schokolade drin?«

Nahe beugten sich drei Köpfe über den Kasten, vier Hände mühten sich gemeinsam um das Abheben des Deckels, und nun lagen die Pralinen vor ihnen, in goldenen und roten und blauen glänzenden Papieren. Aber die nicht eingewickelten mit ihren Mandeln darauf oder mit halben Nüssen oder streifig schwarz und bräunlich oder aus lauter kleinen Schnitzeln zusammengebacken – die sahen nicht weniger verlockend aus.

»Bitte, Röschen, schenk mir einen ab!« bat Männe.

Und nicht weniger mutig rief auch Herr Grote: »Ja, bitte, schenken Sie mir auch einen, Fräulein Täfelein!«

Und so war alles auf dem allerbesten Wege, als plötzlich Rosa zusammenfuhr, ihr entzückendes Näschen rümpfte und mit dem Schrei: »Oh Gott, mein Plätteisen!« aus dem Zimmer stürzte. Während ihr Gerhard Grote noch verwirrt nachschaute, sagte der kleine Männe gnädig: »Du darfst dir ruhig deinen alleine nehmen, du hast ihr ja die ganze Kiste geschenkt!«

Und nach einer Pause: »Aber du mußt mir auch noch einen geben!«

Selber nehmen wollte sich freilich Gerhard Grote keinen, er bevorzugte ihn aus den Händen Rosas, aber ihrem Bruder gab er gerne einen und noch einen und einen dritten . . .

Als dann aber immer noch durch die offen gebliebene Stubentür verwirrte Geräusche drangen, ging er auf den Zehenspitzen, magisch gezogen, dieser offenen Türe zu, durch sie hindurch, über den kleinen Flur, durch eine andere offene Tür in die Küche . . .

Und da stand nun Rosa Täfelein, ein sanft blaues Wäschestück in der Hand, ein Bild tiefen Leids. Denn so nahe wohnen Glück und Jammer beieinander in jeder Menschenbrust, daß sie, die eben noch über einer Schachtel Pralinen alle Seligkeit gefühlt hatte, nun über ein freilich arg versengtes Hemd alles Leid spürte. Sie sah ihn, Tränen in den Augen, an und flüsterte: »Sehen Sie doch, Herr Grote, ganz versengt! Was wird bloß Mutter sagen?!«

Einesteils war er sehr verlegen, denn es war ja doch für einen jungen Mann ein sehr verfängliches Wäschestück, aber andernteils rührte ihn ihr Kummer sehr, und gerne hätte er wenigstens ihre Hand gefaßt und sie getröstet. Aber solch ein Wunsch machte ihn nur noch verlegener. So stand er stumm da und bemühte sich, an dem bläulichen Hemdlein mit der häßlichen braunen Bügeleisenspur vorbei in ihr trauriges Gesicht zu sehen, während sie wieder klagte: »So was ist mir doch noch nie vorgekommen! Was soll ich nur Mutter sagen? Und nun auch noch grade heute –!«

Ja, über dies ›grade heute‹ wäre nun viel zu sagen gewesen, es machte Gerhard Grote direkt Mut. Er ging näher heran und sagte eindringlich: »Können wir nicht schnell ein neues kaufen? Vielleicht gibt es noch grade so eines!«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Die Läden sind doch alle zu! Und Mutter würde es auch sofort merken!«

Er beharrte darauf: »Aber wenn es ein ganz gleiches ist! In manchen Laden kommt man auch von hinten herein!«

Sie blieb ablehnend: »Aber man sieht doch, ob ein Hemd gewaschen oder neu ist!«

Und er war voller Einfälle: »Man könnte es ja schnell ins Wasser stecken!«

Und so vertieften sich die beiden statt in Liebe und Verlobung in das angesengte Hemdlein, vor dem Gerhard Grote rasch alle Scheu verlor. Rosa versuchte, den Sengfleck auszuwaschen, und er sah ihr dabei gespannt zu – bis aus dem Fleck ein Loch wurde, ein großes Loch, das unbestreitbar die Form eines Bügeleisens hatte.

Trotzdem nun Frau Täfelein wirklich die sanfteste aller Frauen war, und trotzdem es nicht einmal ihr Hemd, sondern das Rosas war, nahm das Unglück jetzt ganz bedrohliche Formen an. Schon schien es die ganze Zukunft der beiden zu überschatten, denn Gerhard Grote war zweifelsohne ein Mitschuldiger . . .

»Hätte ich doch schon um elf geklingelt!« sagte er reuig zum fünften Mal.

Und sie: »Ja, da war ich noch nicht beim Bügeln. Ich habe ja nur gebügelt, weil ich dachte, Sie kämen nicht mehr . . .«

Und er: »Warum haben Sie nur nicht einmal aus dem Fenster gesehen –?!«

Und wieder sie: »Aber doch wegen Männe nicht! Was soll er denn von mir denken, wenn ich Ihnen winke?«

Da, mitten in dieser wieder hoffnungsvoller werdenden Unterhaltung, flog etwas zum offenen Küchenfenster hinein, klatschte auf den Fliesenboden –.

»Oh, Männe!« rief Rosa aus dem Fenster in das Höfchen hinab, »Du sollst doch nicht mit Steinen werfen!«

Gerhard Grote aber sah fassungslos auf das Wurfgeschoß, das rosa und schwärzlich am Boden klebte. »Es ist kein Stein, Fräulein Täfelein!« flüsterte er, schrecklicher Ahnungen voll. »Es ist ein Praliné!«

»Was –?!!« flüsterte sie.

Einen Augenblick betrachteten beide mit ernsten Mienen den süßen Matsch auf den Fliesen, und dann liefen sie gemeinsam, nach einem Blick des Schreckens, in das Wohnzimmerchen. Auf dem weißen Tisch stand noch unangerührt die Schale mit den kleinen Kuchen, standen noch unangetrunken die beiden grünstengligen Gläser Johannisbeerwein – aber der Karton mit Konfekt stand nicht mehr dort –!

Sie liefen auf das Höfchen hinter dem Haus, und auf dem Höfchen fanden sie den kleinen Männe, einen sehr veränderten Männe mit roten Backen und glänzenden Augen.

»Alle hab' ich sie aufgefuttert, Röschen!« rief er strahlend. »Die haben aber fein geschmeckt! Manche waren innen ganz scharf, da hab ich gleich was Süßes hinterher gegessen. Ihr habt ja noch den Wein und die Kuchen, von den Kuchen habe ich keine gegessen, bestimmt nicht, Röschen! Ehrenwort! Und die letzten, die ich nicht mehr runter kriegte, mit denen habe ich Fußball gespielt, man kann fein mit Konfekt Fußball spielen – habe ich nicht großartig in die Küche gezielt, Röschen?«

Ach Gott, es war kein Zweifel: dieser kleine Bruder hatte nicht nur einen Riesenkarton voll Pralinen verschlungen, was seinem kleinen Magen keinesfalls guttun konnte, sondern er hatte sich auch an den likörgefüllten einen richtigen Schwips angetrunken, der ihm jedes Gefühl für das Verwerfliche seines Tuns genommen hatte.

Dafür wurde seine zierliche große Schwester immer elfenbeinfarbener, und auch Herr Gerhard Grote fühlte sich bleich und angstvoll werden – sie jedenfalls fühlten sich völlig als Sünder.

»Ach Gott!« flüsterte Rosa.

»Wenn er bloß nicht krank wird!« echote Gerhard.

»Komisch ist mir im Bäucher!« sagte der muntere Knabe. »Und manchmal laufen meine Beine ganz wo anders hin als ich. Aber Spaß macht's doch. Und aus dem Karton mach ich mir ein Katzenhaus, und dann klau ich mir bei Ebelings eine kleine Katze . . .«

»O Gott!« rief Rosa wieder, erschüttert von dieser Demoralisation. »Du mußt ins Bett, Männe! Du wirst ja schon ganz weiß! Und du mußt Rizinus nehmen, mindestens einen Eßlöffel voll –!«

»Ich will aber kein Rizinus!« fing der Männe an zu brüllen, und in einer Sekunde hatte sich sein strahlendes Gesicht in ein wutschreiendes verwandelt. »Und ich gehe auch nicht ins Bett! Du hast mir gar nichts zu sagen –!«

»Sofort kommst du her!« rief Rosa, und dieser Ruf verriet, daß in all ihrer Zierlichkeit und Schüchternheit doch einige häusliche Energien versteckt waren. Sie faßte ihn bei der Hand. »Oh, komm, Männe, sei ein lieber Junge und geh ins Bett. Sonst muß der Onkel Doktor kommen, und du mußt Medizin nehmen . . .«

Der Junge aber hörte nicht mehr, er hatte sich in ein wutschreiendes, tobendes, schlagendes, strampelndes Etwas verwandelt. Mühsam schleppte ihn Rosa Täfelein hinter sich drein ins Haus hinein . . . Stumm, verwirrt, betäubt von dem fürchterlichen Lärm folgte der kleine Gerhard Grote . . . Um wenigstens etwas zu tun, trug er die entleerte Konfektschachtel . . .

»Oh, bist du stille, Männe!« bat Rosa. »Was bist du für ein schlimmer Junge! Hast du denn Röschen gar nicht mehr lieb –?«

Aber er hatte Röschen gar nicht mehr lieb, um keinen Preis wollte er in sein Zimmer. Er stieß mit den Füßen nach ihren Schienbeinen.

Und plötzlich erschlaffte sein Widerstand. Jetzt wurde er wirklich schneeweiß.

»Mir wird so schlecht, Röschen!« jammerte er. »Oh Gott, ich muß mich übergeben. Röschen, ich muß auf's Örtchen! Bitte, schnell!«

»Herr Grote«, sagte Rosa Täfelein mit stiller Fassung und öffnete dabei die geheime Tür. »Sie sehen selbst . . . Bitte, gehen Sie jetzt!«

»Aber ich kann Ihnen doch vielleicht helfen –!«

»Bitte, gehen Sie! Bitte, bitte! (So ist es schön, Männe, gleich wird dir besser sein!) Sie sehen, es soll nicht sein! Ich habe gleich gewußt, wir haben kein Glück . . .«

»Bitte, Fräulein Täfelein, Rosa, Röschen – denken Sie doch nicht so was –!«

»Ja, Männe, gleich kommst du in dein Bett. Das muß ja weh tun, armer Junge. Ich mache dir einen schönen warmen Umschlag . . .«

»Das olle Konfekt –!«

»Ja, Männe, wenn man zuviel davon ißt, dann ist es oll . . . Bitte, gehen Sie! Meine Eltern müssen jeden Augenblick kommen. Wenn Sie uns so finden – gehen Sie!«

Es ging der kleine Herr Grote, traurig, sehr traurig . . .

Nicht seiner fehlgeschlagenen Hoffnungen wegen traurig, sondern weil er daran dachte, wie er Rosa Täfelein zurückließ – mit einem durch seine Schuld kranken Bruder, dem noch ein Löffel Rizinus gegeben werden mußte, mit einem angesengten Nachthemd und mit zwei unangetrunkenen grünstengligen Gläsern Johannisbeerwein auf dem Tisch – und die Eltern im Anmarsch!

Wie würde sie sich retten? Schon daran zu denken, machte sein Herz traurig.

Den leeren Pralinenkarton trug er noch immer unter seinem Arm. Aber er wußte es nicht.

 


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