Gustav Falke
Landen und Stranden
Gustav Falke

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Vier Tage später stand Helene an der Leiche ihrer Mutter.

Ein Lungenschlag hatte ihrem Leben ein Ende gemacht, nachdem sie nur einen Tag bettlägerig gewesen war. Der Arzt, der sich ungehalten über seine späte Berufung aussprach, konstatierte einen heftigen Influenza-Anfall mit hinzugetretener Lungenentzündung.

Als Adolf abends aus dem Geschäft kam, fand er die Mutter im Bett und eine von der Nachbarin besorgte Wärterin vor. Er schrieb sofort die verabredete Karte an Helene, aber schon in der Nacht starb die Kranke. Die Wärterin hatte ihn mit dieser Nachricht aus dem Schlafe gestört. Er weinte in einem fort und war ganz kopflos. Beim Morgengrauen stürzte er zum Arzt, um die Anzeige zu machen, und dann zu Helene. 184

Nun saßen die beiden im Wohnzimmer, blaß, mit verweinten Augen, gähnend vor Abspannung und wortkarg. Sie sprachen nur im Flüsterton. Der Arzt war dagewesen und hatte den Totenschein ausgestellt. Die Wärterin hantierte geräuschvoll umher. Tote wachen ja nicht mehr auf. Der Kanarienvogel sang aus voller Kehle.

Ein Mädchen klingelte und stieß die Haustür stürmisch gegen die Schutzkette.

»Is min Mütz farrig?« rief sie. »Is Fru Leidig nich da?«

Die Geschwister im Zimmer hörten nur ein undeutliches Gemurmel als Antwort. Dann wurde die Haustür wieder ganz leise geschlossen.

Dann kam die Nachbarin von der anderen Flurseite. Sie kam ins Zimmer und gab Helene und Adolf, die sich mit halb abgewandtem Gesicht erhoben, als genierten sie sich, die Hand.

»Das is aber mal schnell gekommen«, sagte die Frau. »Vor vierzehn Tagen war sie noch so vergnügt. Wir haben noch so zusammen gelacht. 185 Wir kauften noch Butter zusammen hier an der Tür.«

Adolf kämpfte mit seinen Tränen, und Helene deckte einen Sofaschoner über das Bauer, um den Vogel zum Schweigen zu bringen.

* * *

Zwei Tage später brachten sie Mutter Leidig unter die Erde.

Es war keine »schöne Leiche«. Es war alles nur sehr einfach, fast ärmlich. Nur die vielen Kränze ließen das nicht so zur Geltung kommen. Sie bedeckten den ganzen Sarg, lagen noch zur Seite auf dem Wagen, und Helene und Adolf, die in der einzigen Trauerkutsche saßen, hielten jedes noch einen in der Hand. Auch Schmüsers hatten einen Kranz geschickt, ebenso Berta. Sogar Justus Mieck hatte in dieser Weise seine Teilnahme bezeugt und dadurch Adolfs heute sehr lose sitzenden Tränen aufs neue wieder 186 hervorstürzen lassen. Ganz zuletzt war noch ein Dienstmädchen, ein kleines, junges Ding, aus der Nachbarschaft angelaufen gekommen mit einem bescheidenen Kranz aus Jungferngrün und weißen Papierrosen.

»Ick wull doch Fru Leidig ok gern 'n Kranz mitgewen«, hatte sie gesagt. »Und sehen kann ik se wull nich mehr?«

Die Wärterin hatte ihr den Kranz ohne Dank abgenommen und ihr bedeutet, daß der Sarg schon geschlossen sei. Verlegen war sie wieder weggegangen, von niemand sonst bemerkt. 187

* * *

Drei Wochen waren seit Mutter Leidigs Beerdigung vergangen. Das Pfingstfest war gekommen. Der Trauerfall hatte Helene damals gleich bestimmt, auf die beabsichtigte Tour zu verzichten, zum großen Bedauern der anderen jungen Mädchen. Aber sie sahen ein, daß sich ein solches Vergnügen für eine Leidtragende nicht schicken würde. Aber Helenes erster tiefer Schmerz, der alles für sie in ein trostloses Grau hüllte, milderte sich bald. Viel tat Bertas Zuspruch, ihre besondere Art, alles von der besten Seite zu nehmen.

»Das ist nun mal so, Kind«, sagte sie. »Sterben müssen wir ja alle, das hilft nun mal nichts. Gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen.« Und ein anderes Mal: »Damit tust du der Mutter kein Unrecht an, wenn du mal lachst. Das ewige Weinen macht es doch nicht.« 188

Mehr noch als Bertas Zuspruch tat die Ablenkung der täglichen regelmäßigen Geschäftstätigkeit. Dazu kam die Sorge um den Nachlaß der Mutter. Was sollte daraus werden?

Helene und Adolf hatten anfangs geplant, zusammenzuziehen. Sie hätten in einer billigen Vorortgegend, vielleicht in Barmbeck, recht gut eine ausreichende Etage für einen erschwinglichen Preis mieten können. Dann wäre der Haushalt der Mutter beieinander geblieben. Aber wer sollte die Wirtschaft führen? Helenes Zeit war zu sehr vom Geschäft in Anspruch genommen, und eine Hilfe zu halten, erlaubten die Mittel nicht. Dann war auch die Unsicherheit ihrer beiderseitigen Lage zu bedenken. Adolf würde ja zwar bald in eine bezahlte Stellung aufrücken. Ob er dann aber in Hamburg Platz fände, war doch noch fraglich. Und Helene konnte immer auf Kündigen gefaßt sein, mußte wenigstens mit der Möglichkeit rechnen, einmal stellenlos zu sein. Was dann? 189

So kamen sie schließlich nach längerer Beratung zu dem Entschluß, den Nachlaß der Mutter zu veräußern und die kleine Summe zu gleichen Teilen für sich zu belegen.

Adolf hatte bei einer sauberen Familie ein freundliches Zimmer unterm Dach gemietet, das ihm vollkommen genügte, wo er sich bald heimisch fühlte, und wofür er nur mäßige Pension zahlte.

Als nun das Pfingstfest vor der Tür war und Helene Zeuge der Vorbereitungen wurde, die Berta zu dem geplanten Ausflug traf, war die erste Trauer schon so weit in den Hintergrund getreten, daß sich ein lebhaftes Bedauern regte, nicht mittun zu dürfen. Es war das erstemal, daß der Pfingsttag für sie so still vergehen sollte. Das ganze Gefühl ihres Unglücks überkam sie, und es erschien ihr als erlittenes Unrecht. Warum mußte gerade sie all dieses Pech haben, wie sie sich in einer trotzigen Anwandlung burschikos ausdrückte.

Als nun Berta ihr zuredete, eine Zerstreuung 190 wäre ganz gut für sie, das sei keine Sünde, wurde sie halbwegs willig, sich nicht auszuschließen. Dann hörte sie von Adolf, daß er mit einigen Freunden eine Pfingsttour verabredet hätte. Auf ihre fragenden Blicke meinte er: »Man lebt mal wieder auf. Darin besteht die Trauer ja doch nicht.«

Da entschloß auch sie sich, mit den Freundinnen zu gehen.

»Das ist vernünftig«, rief Berta. »Einmal lebt man nur.«

Sie hatten die ursprüngliche Absicht, nach Bahrenfeld zu fahren, aufgegeben und sich für Blankenese entschieden, wo auf dem Süllberg großes Konzert und Ball war.

Natürlich mußte Helene auf ein helles Pfingstkostüm verzichten. Nur einen weißen Strohhut gestattete sie sich, garnierte ihn aber eigenhändig mit schwarzem Band. Sie sah in dieser ihr aufgenötigten Einfachheit gegen die fast backfischmäßig aufgeputzten Freundinnen beinahe vornehm aus. 191

In der Straßenbahn traf die kleine Gesellschaft zufällig Herren, die Lilli, die Cousine Bertas, kannten. Der eine der beiden, ein sehr lang aufgeschossener Dreißiger, der nur ins Coupé gelangen konnte, indem er wie ein Taschenmesser zusammenklappte, stellte sich sofort vor. »Die Damen gestatten«, schnarrte er mit einer eckigen Verbeugung seines langen Oberkörpers. »Mein Name ist Doktor Kummer.« Dann nannte er den Namen seines Freundes:

»Herr Leonhard Meise, Dichter.«

»Unsinn«, schalt der Dichter errötend.

Die Damen hatten offenbar wenig Interesse für Literatur, denn sie zeigten nur noch durch vereinzelte scheue Blicke auf Meise, daß sie sich mit ihm beschäftigten; Kummer und Meise sahen beide sehr erhitzt aus. Sie hatten schon etliches getrunken. Ihre ganze Unterhaltung bestand jetzt darin, sich gegenseitig anzulächeln, wobei ihre Mienen deutlich verrieten, daß keiner wußte, was der andere eigentlich im Sinne hatte. Aber sie 192 blieben doch so in einer gewissen Konversation miteinander.

Meise warf beständig verstohlene Blicke nach Helene hinüber, die am entferntesten von ihm saß, in der Fensterecke, und weniger an dem Geplauder der anderen teilnahm. Sie sah viel zum Fenster hinaus, wie absichtlich ihr Gesicht der vollen Sonne aussetzend.

»Ihr Teint wird leiden, Fräulein«, machte Kummer sie scherzend aufmerksam.

»Meinen Sie?« gab sie zurück und rümpfte ganz leicht die Nase. Er hatte dieses Naserümpfen bemerkt und wurde rot. Er war etwas empfindlich. Um das zu verbergen, fing er an, übermäßig laut zu sprechen. Er hatte ein helles, blechernes Organ, wie eine Kindertrompete. Meise sah etwas müde aus. Er war nur schmächtig, kaum Mittelgröße. Ein wenig verhungert, hätte man sagen können, wenn nicht eine ganz gesunde Farbe dem widersprochen hätte.

Helene war sein beständiges Anstarren aufgefallen. Sie ärgerte sich etwas darüber, empfand 193 aber doch Interesse für ihn, weniger für seine Person als für den Dichter. Sie ließ ein paarmal ihre hübschen Augen forschend auf ihm ruhen. Ein leises, glückliches Lächeln ging über sein schmales, von einem rötlich-blonden Spitzbart umrahmtes Gesicht. Er drehte schmunzelnd an seinem spärlichen Schnurrbart und pfiff leise vor sich hin. Seine Müdigkeit war mit einem Male verflogen. »Süßes Ding, das«, sagte er zu sich selbst. »Warum sie wohl trauert?«

Er malte sich eine ganz unglückliche Geschichte aus. Waise natürlich. Er war ganz glücklich bei dem Gedanken. Um so mehr konnte er ihr sein. Er sah sie jetzt nicht mehr so verstohlen an, sondern ganz offen, als hätte er schon ein Anrecht auf sie. Helene merkte das und wurde sogar einmal verlegen unter seinem Blick. Das machte ihn erst recht glücklich. Er deutete sich das nach seinen Wünschen. Er konnte die Zeit nicht erwarten, wo es ihm gestattet wäre, sich ihr mehr zu nähern. So über die ganze Gesellschaft hinweg, mochte er doch nicht mit ihr anbinden. 194

Als sie in Blankenese ausstiegen, stand sie einen Augenblick an seiner Seite. Aber er war zu geniert, um sogleich ein passendes Gespräch anzuknüpfen, das sie eine Zeitlang an ihn gefesselt hätte. Als sie dann den Weg nach dem Süllberg antraten, ging sie zwischen Berta und der Möller, und er konnte nicht mehr an sie herankommen.

Lilli, die an seiner Seite ging, sah ja ganz adrett aus, nur so puppenhaft. Und dann, das reine Lamm.

»Wie heißt doch noch die junge Dame in Schwarz«, fragte er seine Begleiterin.

»Fräulein Leidig.«

»Sie hat Trauer?« fragte er sehr überflüssiger Weise.

»Ihre Mutter.«

»Der Vater lebt noch?«

»Nein. Nur noch ein Bruder.«

Also Waise. Ganz wie er sich's gedacht.

Dann und wann erhaschte er einen Ton ihrer Stimme. Manchmal lachte sie auch. Ein ganz 195 fröhliches Lachen, das eigentümlich mit ihrer schwarzen Kleidung kontrastierte. Das fiel ihm auf, aber nicht unangenehm. Bei ihrer Stimme mußte er an die hohen Töne einer Oboe denken.

Auf der festlich geschmückten Terrasse des Süllberges hatte sich schon viel Publikum eingefunden. Doch hatte die kleine Gesellschaft das Glück, daß gerade einer der besten Tische, unmittelbar an der Balustrade, geräumt wurde. Berta und die kleine Sandvoß liefen ungeniert darauf zu, um ihn in Beschlag zu nehmen, bevor andere sich dort niederließen. Dabei kam Meise neben Helene zu sitzen. Er war fest entschlossen, mit ihr anzubinden.

Es war wirklich ein herrlicher Tag. Der Himmel war fast wolkenlos, nur im Westen lagen einzelne rosige Wölkchen um die sich senkende Sonne, die alles in ein rötliches Gold kleidete: den belebten Strom und das maigrüne Wiesengelände des jenseitigen Marschenufers. Man sah deutlich drüben den Turm von Buxtehude und noch 196 weiter zurück, in einem blauen Dunst, den waldigen Rücken der Harburger Berge.

Kummer machte die Damen auf alles aufmerksam. Nicht nur auf die Ortschaften, sondern auch auf die intimen Reize der Landschaft.

»Sehen Sie diesen Hauch! Sehen Sie dort diese Lichter auf dem Wasser?«

»Wo?« fragte die kleine Sandvoß. Sie dachte an Laternen und hörte mit offenem Munde zu, als Kummer sie belehrte und, den Bildungsstandpunkt dieser jungen Dame vergessend, sich in allerlei Kunstausdrücken erging, von Farbentönen, intimen Wirkungen und den musikalischen Reizen einer Landschaft sprach.

Nachdem man sich erfrischt und einen kleinen Spaziergang gemacht hatte, sollte getanzt werden. Helene wollte erst nicht, aber die Freundinnen meinten, sie fänden nichts dabei.

»Einen Tanz, Fräulein«, sagte Kummer. »Ich finde auch nichts dabei.«

Sie willigte schweigend ein. Die erste 197 Fanfare erklang aus dem Saal und sie begaben sich hinein.

Helene tanzte gern und gut, und sie kannte nichts Schrecklicheres, als sich mit einem schlechten Tänzer abzuquälen. Meise, der sie natürlich um den Tanz gebeten hatte, tanzte herzlich schlecht, so daß sie es beide aufgaben.

»Walzer ist mir unmöglich«, sagte er. »Vielleicht wagen Sie nachher mal eine Polka mit mir, darin bin ich groß.«

Sie sagte nur »bitte« und sah etwas mißmutig in die tanzenden Paare. Er schien doch furchtbar hölzern zu sein.

Ihre Einsilbigkeit tat ihm weh. Aber vielleicht war es ja auch etwas anderes, was sie verstimmte. Sie hatte gewiß Bedenken, ihrer Trauer wegen. Und er gab ihr ja recht, er fand es auch eigentlich nicht passend.

»Wenn es Ihnen lieber ist, Fräulein? Es ist so schön draußen.«

Sie sah ihn verwundert, verständnislos an. 198

Dann aber ward plötzlich ihr klar, wie er es meinte.

»Ja«, sagte sie hastig.

Er führte sie hinaus, und sie nahmen an einem einsamen, etwas versteckten Tisch Platz.

»Es war unrecht von mir«, sagte sie.

»Wie man es ansieht«, erwiderte er ausweichend. »Das ist Gefühlssache.«

»Sie haben Ihre Frau Mutter verloren, höre ich?« fragte er teilnehmend.

Es lag so viel Herzlichkeit in seinem Ton, daß sie ihm vertraulich von ihrem Verlust erzählte.

Der Schmerz kam wieder bei ihr durch, sie machte sich Vorwürfe, daß sie sich dieses Vergnügen gestattet hatte. Eine sentimentale Traurigkeit überkam sie, die sie für seine zarte, tröstende Teilnahme empfänglicher machte. Er, in einer wehmütig-glücklichen Sentimentalität, ganz verliebt in dieses schöne, vom Unglück verfolgte Mädchen, das ganz allein in der Welt stand, eine Waise, er fand eine Beredsamkeit, die ihm 199 vor einer halben Stunde noch nicht zu Gebote gestanden hatte. Und diese Beredsamkeit machte Eindruck auf sie. Das war alles so neu, so ganz anders, als sonst die jungen Herren redeten. Es hatte alles so einen besonderen Ton. Er war so ganz Teilnahme, ganz zarte Rücksichtsnahme. Sie fühlte sich durch ihn gehoben.

Aus dem Saal klangen die heiteren Rhythmen einer Polka. Aber beide dachten nicht mehr ans Tanzen. Es war schon ziemlich dunkel geworden. Lichter und Lampions wurden angezündet. Auf dem Strome blitzten die Schiffslichter auf, hier ein grünes, da ein rotes. Ein letzter Tagesschimmer kämpfte noch um die Herrschaft. Nur nach Hamburg zu lag schon alles in einem grauen Dämmern, das sich schnell verdunkelte.

Die anderen hatten sie nicht gerade vermißt, sondern sich nur einige Male gewundert, daß sie die beiden nicht mehr sahen.

Alle hatten tüchtig getanzt. Kummer hatte sogar leidlich Walzer tanzen gelernt, was ihn ganz glücklich machte. 200

Auf dem Heimweg, den man mit dem Dampfboot antrat, wurden sie voneinander getrennt. Es waren nur noch drei Sitzplätze auf dem Deck; in die heiße Kajüte wollte niemand hinunter, und so einigten sich die Damen, daß Helene, Berta und die dicke Möller sich setzten. Die anderen standen, hin und her geschoben und wieder schiebend, wenn sie Bedürfnis fühlten, sich etwas »auszutreten«.

Als sie an der St. Pauli-Landungsbrücke ans Land stiegen, wurde die Kaffeefrage, die vorher schon flüchtig berührt worden war, wieder aufgeworfen.

Die Möller war müde, ließ sich aber doch überreden. Und so saß man noch eine Stunde im Café. Meise bedauerte, daß Helene so ganz in der Nähe wohnte, er hätte sie gern auf einem langen Weg nach Hause gebracht. Aber die paar Schritte nach dem Zeughausmarkt gingen sie allzusammen mit. Die Möller und die Sandvoß, die beide in St. Georg wohnten, sprangen unterwegs auf den letzten Nachtwagen der 201 Stern-Linie. So blieben zuletzt Kummer und Meise mit Lilli zurück, nachdem Berta und Helene sich mit einem »Schön Dank auch« verabschiedet hatten. – Kummer schlug noch den Besuch eines Nachtcafés vor, das sich in einer Seitengasse, an der Hafenseite, befand. Da landeten sie. Es war leer hier. Nur ein Gast saß im Vorderzimmer und schlief. Kummer, der hier bekannt war, führte Lilli und Meise direkt in ein Hinterzimmer, wo bequeme Plüschmöbel um einen runden Tisch standen, und das von einer mattbrennenden Hängelampe erhellt wurde. Er setzte sich an das Klavier und begann zu phantasieren.

Meise hörte ihm gern zu, er war selbst etwas musikalisch, konnte aber nur nach Noten stümpern. Kummers Spiel regte ihn an, eine heiße, schwere Stimmung kam über ihn.

Währenddessen kamen neue Gäste, die, durch die Musik gelockt, ins Hinterzimmer traten.

»Lassen Sie sich nicht stören«, rief der eine, ein blasser, hübscher, junger Mensch mit 202 schwarzem Haar, der offenbar mit Interesse zuhörte.

Kummer sah sich kaum um und spielte ruhig weiter. Die beiden Herren nahmen im Nebenzimmer Platz. Als Kummer aber aufhörte, kam der blasse Schwarze herein, applaudierte leicht und meinte: »Das war ja künstlerisch. Sie sind Musiker, wenn ich fragen darf?«

Kummer strich in einer ihm eigenen, halb verlegenen Art das bartlose Kinn.

»O nein«, sagte er lächelnd.

»Man sollte es glauben. Ich bin Musiker. Daher meine Frage.«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte Kummer, dem das Lob doch etwas geschmeichelt hatte.

»Mein Name ist Frisoni«, stellte er sich vor.

»Sturz«, sagte der andere nach einer Verbeugung, und als Kummer ihn fragend ansah, wiederholte er:

»Sturz, kurz Sturz.« 203

Es war ein kleines, bewegliches Männchen, bartlos, mit sehr gelichtetem blonden Haupthaar und einem nervösen Mienenspiel.

Frisoni und Kummer waren gleich in einem Gespräch über Musik, in dessen Verlauf sich der Pianist, der wohl glaubte, in dieser Gesellschaft keine Veranlassung zu haben, sich zu verleugnen, als Klavierspieler in einem bekannten besseren Tingeltangel zu erkennen gab.

»Die Kunst geht nach Brot«, sagte er gleichsam entschuldigend. »Als ich auf dem Konservatorium war, hatte ich andere Träume.«

Kummer stieß mit ihm an. Ihm war ein Tingeltangel-Pianist eine viel interessantere Persönlichkeit als ein Bülow. Er hatte eine Neigung für solche halb verbummelten Existenzen, für die Schiffbrüchigen des Lebens.

»Der Herr ist gewiß ein Kollege von Ihnen?« fragte er Frisoni.

»Stimmt, Mylord,« antwortete Sturz, »wir sind beide Kunstmacher und leben von unseren 204 Talenten. Signor Frisoni läuft über die Tasten und ich taste mich über die Läufer, womit die gütige Direktion unseres Musentempels mir den Holzweg bedeckt, auf denen ich mich schon seit – na sagen wir seit Entdeckung meines Talentes befinde.«

»Sie sind Komiker?« sagte Kummer lachend.

»Komiker, was heißt Komiker! Ich bin der ernsteste Mensch der Welt, aber ich habe das Pech, daß alle Welt mich komisch nimmt. Ich sage Ihnen, ich könnte den Othello spielen, den Hamlet. Aber ich werde der Narr sein. Nach den ersten Worten lacht das ganze Auditorium, lacht Tränen.«

Er sagte das alles ernst, zuletzt fast heftig.

»Sehen Sie, Sie lachen«, rief er, als alle ihn belustigt ansahen.

»Und wenn ich mich jetzt vor Ihren offnen Augen aufhänge, Sie würden sich den Bauch halten und lachen, statt mich abzuschneiden. Ich bin eben ein Komiker.« 205

Und jetzt sprang er auf, faßte die Kellnerin um die Taille und sang: »Margarete, Mädchen ohnegleichen.«

»Warum so schweigsam, Euer Gnaden?« wandte er sich an Meise. »Fürchten Sie den Sturm aus seinen Höhlen zu jagen, oder gefällt Ihnen Jago nicht?«

Meise lachte. Ihm fiel nicht gleich eine Erwiderung ein.

»Der Herr ist Dichter«, sagte Kummer.

Meise warf ihm einen wütenden Blick zu. Der Komiker stutzte einen Augenblick und streifte Meise mit einem fragenden, prüfenden Blick.

»Sagen Sie, wie sind Sie denn eigentlich dazu gekommen?« fuhr Sturz fort. »Haben Sie denn keine Eltern gehabt, keinen Vormund, keine sorgende Tante? Sie sind Lyriker, nicht wahr? Ihre Mienen verraten es mir. So kennzeichnet nur das tiefste Unglück.«

Kummer saß schmunzelnd da. Das war ja ein göttlicher Spaß. Meise kam nicht ganz zum 206 Genuß der Situation. Er war etwas empfindlich und empfand den Scherz halb als Spott.

Während Kummer noch mit den neuen Bekannten zusammenblieb, fand es Meise aber doch an der Zeit, nach Hause zu gehen. Sie hatten alle tüchtig getrunken und er fühlte, daß seine Gedanken anfingen, sich zu verwirren. 207

* * *

Helene zog das Fazit des Pfingstausfluges und fand es unbefriedigend. Nun hatte sie wieder diesen Meise, der sie mit seiner Verehrung förmlich verfolgte, und den sie nun einmal nicht ausstehen konnte. Damals in der Pfingststimmung und so unter dem ersten Eindruck war er ihr noch leidlich erschienen. Und da er es wirklich ehrlich meinte, hatte sie ihm eine weitere Annäherung gestattet. Sie hatte Briefe von ihm bekommen, Gedichte und war ein paarmal mit ihm ausgegangen. Aber er war ihr zu still und zu wenig splendid. Sie merkte wohl, daß er es nicht hatte und sich vielleicht schon über seine Mittel anstrengte, wenn er ihr statt Bier und Butterbrot einmal Beefsteak und Porter spendierte. Er war ja ganz nett, und er tat ihr auch manchmal leid, und wenn sie ihn nur ein ganz 208 klein wenig lieben könnte, hätte sie ja gern auf Beefsteak und Porter verzichtet. So war sie ja nicht. Aber sich nur aus Gutmütigkeit von ihm mit Butterbrot abspeisen lassen und mit Gedichten, die sie nicht verstand, das war ihr auf die Dauer doch zu langweilig. – Und dann war es noch was anderes, was zwischen ihnen stand. Ihre Vergangenheit. Wenn er erführe, daß sie schon einmal Mutter war. Vielleicht wäre das gut, ihn abzuschrecken. Aber was ihn abschreckte, würde auch andere abschrecken. Und schwer fiel es auf sie: Du hast einen Makel an dir. Dein Fehltritt begleitet dich wie eine drohende Wolke.

Berta war in diesem Fall auch zweifelhaft, was das Rechte sei: Offenes Bekenntnis oder Abwarten, ob er »Lunte riecht«?

Noch wäre sie ja auch zu nichts verpflichtet. Wenn er ernstlich um sie anhielt, wäre ja immer noch Zeit.

»Erst halt ihn man mal fest«, meinte sie. »Du weißt ja: ein Sperling auf dem Dach.« 209

Und so ließ sie sich denn sein Werben zunächst gefallen.

Es war an einem der sehr heißen, drückenden Augusttage gewesen. Die elektrische Spannung hatte sich am Abend in einem erfrischenden Gewitter gelöst. Meise und Helene waren vor dem niederprasselnden Regen in den Gartenpavillon des Dammtorbahnhofs geflüchtet. Wie früher Kunkel und dann Ludwig war jetzt Meise Helenes häufiger Begleiter, »ihr getreuer Pudel«, wie sie ihn Berta gegenüber nannte. Es fiel dieser Vergleich nicht zu seinem Vorteil aus. Als Mensch – ja. Es war ja keine Frage, daß er Kunkel an Bildung und Wissen weit überragte und auch an Charakter. Nun »gingen« sie schon seit Wochen, ja Monaten zusammen, und noch immer war er nicht aus dem Anschmachten, aus diesem Minnedienst voll zarter Rücksichten, Höflichkeiten und Aufmerksamkeiten herausgetreten.

Als das Gewitter sich verzogen und der Regen aufgehört hatte, machten sie einen Spaziergang 210 durch den nahen Botanischen Garten. Es war schon ziemlich dunkel, der Himmel noch nicht ganz aufgeklärt. Die Luft war erquickend.

Sie gingen langsam, Arm in Arm, auf den feuchten Wegen um den kleinen Teich, den »Kleinen Ukleisee«. Sie gingen unterm Schirm, der Tropfen wegen, die noch schwer von den Bäumen fielen und sich oft, wenn der Wind die Zweige faßte oder der Schirm sie streifte, in einem Sprühregen von dem dunklen feuchten Laub lösten.

Der Gewitterregen hatte den Garten menschenleer gemacht. Es waren nur wenige Besucher zurückgekehrt, und die beiden fanden einsame Wege. Der köstliche Duft und Erdgeruch, die idyllische Ruhe dieser kleinen Parkeinsamkeit inmitten des großstädtischen Getriebes, die geheimnisvolle Poesie des Dunkels, alles wirkte auf Meises empfängliches Gemüt, auf seine feinen Sinne berauschend. Das Gebimmel der Straßenbahnwagen, die doch in nächster Nähe unaufhörlich den Kreuzungspunkt auf dem Stephansplatz 211 passierten, erklang ihm wie aus weiter Ferne. Er war in einem Zustand traumhafter Entrücktheit.

Sie standen auf der Holzbrücke, die beide Ufer des kleinen Sees verbindet, und sahen, noch immer unter dem Schirm, in das dunkle Wasser, worin sich der Himmel mit den zerrissenen Wolken und einzelnen durchblickenden Sternen spiegelte. Undeutlich sahen auch ihre beiden Gesichter, nah aneinander gedrängt, aus dem Wasser zu ihnen herauf.

Helene hatte ein Grauen vor dem Tode. Um so leichter wurde sie an ihn erinnert.

»Nun da hinunterspringen«, sagte sie halb scherzend, halb mit einem leisen Schauder.

»Wie schön«, sagte er. »So gerade in den Himmel hinein.«

Es lag ein klein wenig Resignation darin, wie er das sagte.

»Probieren Sie's!« sagte sie mit einem leisen Spott.

»Sie spotten wieder«, sagte er, und es klang so traurig, daß sie sich schämte und es ableugnete. 212

So weit war Meise noch nie gegangen, was war nur über ihn gekommen? Er kam sich selbst wunderlich vor. Er war ganz heiß geworden, und in ihm wühlte und strudelte es von aufquellenden Gefühlen und Gedanken, die er nicht dämmen konnte.

Als sie so beschämt verneinte, über ihn zu spotten, sich aber abwandte, um ihren plötzlich aufsteigenden Aerger über diese Szene zu verbergen, hier mitten auf der Brücke, wo jeden Augenblick Leute aus dem tiefen Schatten der walddunklen Ufer auftauchen konnten, nahm er das für weibliche Scham, und ganz willenlos in den Wirbeln seiner plötzlich erwachenden und überschäumenden Leidenschaftlichkeit treibend, sprach er ihr in stammelnden Sätzen von seiner grenzenlosen Liebe. Er hatte ihre Hand gefaßt, die sie ihm, verwirrt von diesem bei ihm nicht vermuteten heftigen Gefühlsausbruch, überließ.

»Helene, seien Sie gut«, bat er, sie an sich ziehend.

Sie hätte sich gern losgemacht, war aber in 213 einem wunderlichen Zwiespalt der Gefühle, der sie willenlos machte. Der Triumph, diesen »sanften Heinrich« so in Flammen gebracht zu haben, sprach auch mit. Sie zitterte. Sie fühlte seinen Arm um ihren Nacken, empfand Abneigung und doch eine sinnliche Erregtheit.

Sie griff mechanisch, mit einer kraftlosen Bewegung, nach seiner Hand, die auf ihrer Schulter lag.

»Nein, was soll das. Nicht doch«, stieß sie hervor.

Aber schon brannte sein Kuß auf ihrer Wange, erstickte auf ihren Lippen ein weiteres Wort des Widerstandes.

Einen Augenblick lag sie, überwältigt von seiner Leidenschaftlichkeit, in seinen Armen. Mit geschlossenen Augen, in einer eigenartigen Betäubung, widerstandslos ihr Gesicht, ihren Hals, seinen Küssen preisgebend. Dann, zu sich kommend, riß sie sich mit einem gewaltsamen Ruck los.

Aber sie sagte nichts.

Am anderen Tage war Helene sehr unzufrieden 214 mit sich. Wie hatte sie sich nur das alles von ihm gefallen lassen können. Sie schämte sich, ärgerte sich. Sie haßte Meise, wollte mit ihm brechen. Abends fand sie einen Brief von ihm vor. Er war mit der letzten Post gekommen, und Berta, die zufälligerweise etwas früher zu Hause war, hatte ihn in Empfang genommen. Sie erriet den Absender und wollte natürlich wissen, was er ihr schrieb.

Helene wollte aber erst den Brief allein lesen. Dann reichte sie ihn Berta nachdenklich hinüber.

»Da, lies mal«, sagte sie. Der Brief schien sie doch ernstlicher zu beschäftigen.

Berta las:

»Liebes, liebes Fräulein. Hier sitze ich, in später Nacht, es wird bald tagen, und schreibe Ihnen, nur um mit Ihnen zu plaudern. Mein Herz ist so voll, so voll. Ob Sie mir zürnen? Ach, ich bin so glücklich, daß ich keinen vernünftigen Gedanken fassen kann. Ich liebe Sie so, ich liebe Sie so. 215 Sagen läßt sich das nicht, schreiben erst gar nicht, nur stammeln, nur küssen.

Mein Kopf ist so rebellisch. Es ist ja auch nur, daß ich Ihnen schreibe. Das tut mir schon wohl, nur Ihren Namen schreiben zu können, Ihren lieben, süßen Namen, den ich immer vor mich hinsage und an dessen Musik ich mich berausche.

Gute Nacht, liebes, einziges Mädchen. Ich zähle die Stunden, wo ich Dich wiedersehen soll.

Ihr Leonhard M.«.

Berta reichte Helenen den Brief mit einem leichten Achselzucken und einem schalkhaften Aufblitzen ihrer lustigen Augen zurück. 216

* * *

Meise betrachtete Helene seit jener Nacht im Botanischen Garten als gewonnen. Nun war sie sein. Nun wollte, nun mußte er ernstlich an die Zukunft denken. Er war ihr in glücklicher, gehobener Stimmung zwei Tage später entgegengetreten und hatte sie, die von Berta beredet worden war, einen so ehrlichen Liebhaber nicht sofort abzuweisen, freundlich entgegenkommend gefunden. So wie er jetzt war, etwas kecker, männlicher in seinem Siegesbewußtsein, kostete ihr dieses Entgegenkommen weniger Ueberwindung, als sie selbst geglaubt hatte. Er gefiel ihr schon besser. Er war munterer, vertraulicher und sogar ein klein wenig flott.

Aber verloben wollte sie sich noch nicht mit ihm.

Ob sie ihm denn nicht gut sei?

O ja, aber bevor er nicht so gestellt sei, daß sie ein sicheres Auskommen hätten, möchte sie sich nicht 217 gern öffentlich binden. Sie möchte nicht dieses lange Herumziehen vor den Leuten.

Hauptsächlich aber war es nur die Furcht vor dem Geständnis, zu dem sie sich bei einer dauernden Verbindung mit ihm verpflichtet fühlte, was sie zögern ließ. Aber er betrachte sie als seine Braut, rief er aus. Sie sagte nichts darauf, duldete aber, daß er ihre Hand erfaßte, Dann erzählte er ihr von seinen Plänen und von seinen großen Hoffnungen.

Er hätte sein erstes Buch an einen Verleger geschickt. Seine ersten Gedichte. Alle seine Freunde machten ihm große Hoffnungen, wenigstens auf einen Erfolg bei der Kritik. Und wenn er erst bekannt wäre, könnte auch der pekuniäre Erfolg nicht ausbleiben. Denn was man auch sagen möge, das Gute wäre noch immer anerkannt; natürlich gäbe es Ausnahmen. Aber warum sollte es ihm nicht glücken so gut wie tausend anderen. Er war sehr hoffnungsfreudig in seinem Liebesglück. Er erbat sich ihre Erlaubnis, ihren Namen auf das Widmungsblatt 218 setzen zu dürfen. Das schmeichelte ihr. Sie wurde ganz rot. Es war aber auch etwas Scham dabei. Durfte sie das alles so ruhig hinnehmen? Trieb sie nicht ein falsches Spiel mit ihm, belog sie ihn nicht? Ihn aber entzückte ihre Verwirrung, deren Ursache er falsch oder wenigstens einseitig deutete.

Eines Tages kam er glückstrahlend an. Er hatte einen Verleger für sein Buch gefunden. Daß er die Hälfte der Druckkosten tragen mußte, womit zwei Drittel seiner kleinen Sparkasseneinlage draufgingen, verschwieg er.

Nun warteten sie beide auf das Erscheinen des Buches, sie auf ihren Namen, er mit der Freude einer Mutter, die bald ihr Erstgeborenes im Schoß halten soll. Und als er ihr nun das Buch brachte, in reizendem Einband, Rot und Gold, mit einem blauseidenen Lesebändchen, empfand sie doch etwas wie Stolz auf ihn.

Sein eigener Stolz, der ihm aus den Augen leuchtete, verschönte ihn. »Der erste Stein zu unserem Schloß«, sagte er glückselig.

Sie hatte den kleinen Band im Schoß liegen, 219 nahm ihn alle Augenblicke wieder in die Hand und besah ihn von allen Seiten. Der Inhalt schien sie wenig zu interessieren. Nur das Titelblatt las sie. »Aus jungen Tagen. Gedichte von Leonhard Meise.« Und dann das Widmungsblatt: »Meiner Helene zu eigen.«

Das Gefühl ihres Unwertes überkam sie. Da stand nun ihr Name, der Name einer Gefallenen.

Wenn er jetzt alles erführe, was würde dann geschehen?

Oh, was gäbe sie jetzt darum, wenn alles anders wäre, wenn sie sich ohne diese beständige Furcht so recht von Herzen freuen könnte. Durfte sie sich ihm jetzt noch entdecken? War es nicht schon zu spät dazu? Plötzlich stürzten ihr die Tränen aus den Augen.

Er streichelte ihr den Scheitel und küßte sie auf die Stirn.

Bei all ihrem Schmerz und bei der Güte für ihn, die sie in ihrem Herzen aufsteigen fühlte, empfand sie doch diese Berührung mit einem leisen Unbehagen. 220

›Du mußt das ja nun dulden. Du bist ihm das schuldig. – Hättest du ihn doch nicht kennengelernt. – Das nimmt kein gutes Ende.‹

Alles ging in bunter Folge durch ihren Kopf.

Sie nahm sich fest vor, ihm morgen, oder doch in den nächsten Tagen, alles zu gestehen. Das beruhigte sie. Heute wollte sie ihm seine gute Stimmung nicht stören. Er war so glücklich über sein Buch. Heute nicht, das wäre unrecht von ihr gewesen. Aber morgen. 221

* * *

Der Neid der unverlobten Freundinnen, alle die kleinen Triumphe der Eitelkeit, die der Brautstand mit sich bringt, versetzten Helene in eine glückliche Stimmung. Dazu kam Meises neugebackener Zeitungsruhm, den sie fleißig unter den Freundinnen und Kolleginnen kolportierte. Fürwahr, sie brauchte sich eines solchen Verlobten nicht zu schämen. Alle die kleinen Aufmerksamkeiten seiner Freunde schmeichelten ihr. Sie kamen ihr achtungsvoller entgegen, sie fühlte sich gehoben, es war ein feiner Unterschied zwischen der jetzigen Artigkeit Kummers und seiner bisherigen leichten Vertraulichkeit, die sie mit Lilli ungefähr auf eine Stufe stellte.

Auch Adolf freute sich des schwesterlichen Glückes. Helene und er sahen sich jetzt freilich sehr selten. Er hatte sich eine kleine Welt geschaffen, 222 in der er sich wohl fühlte und die er gut in Ordnung hielt. Sein Chef war mit ihm wohl zufrieden. Die Schwärmerei für Fräulein Mimi war verhältnismäßig schmerzlos vorübergegangen.

Meise hatte in erster aufblühender Schaffenslust seinen Roman in kürzester Zeit fertiggestellt, als er berechnet hatte. Mit vollem Vertrauen in seine Fähigkeiten und getragen von dem Erfolg seiner Gedichte hatte er gearbeitet. Der Lohn blieb aus. Der Roman kam von den Redaktionen zurück: Ablehnungen unter den schmeichelhaftesten Ausdrücken, aber Ablehnungen.

Meise war nicht entmutigt. Er hatte freilich fest gehofft, hatte sein Bestes gegeben. Aber er wußte ja so gut wie Kummer, daß das Beste keine begehrte Ware war. Ihm selbst war es ja auch nicht um billigen Ruhm und klingenden Erfolg zu tun. Es war ja nur um Helene, daß es ihn bedrückte. Aber sie nahm es ruhig hin. Nur in ihren Blicken las er eine Enttäuschung. Um sie gutgelaunt zu machen, erfüllte er ihr in diesen 223 Tagen eine Bitte, der er sonst nicht ohne Zögern nachgegeben hätte.

Berta hatte schon vor längerer Zeit von ihrer Cousine Lilli von jener Pfingstnacht mit Frisoni und Sturz erfahren. Sie hatte auch damals Helenen davon erzählt. Nun hatte Lilli Gelegenheit gehabt, den Komiker, der ihr so viel Spaß gemacht, in seinem Konzertlokal aufzusuchen. Sie wäre ganz weggewesen, so hätte sie gelacht, erzählte sie an Berta.

An einem der nächsten Tage kamen Meise und Kummer, die beiden Freundinnen abzuholen. Sie waren alle vier sehr lustig auf dem Weg nach dem Konzertlokal, die beiden Mädchen in großer Erwartung, die Kummer etwas herabzustimmen suchte.

Der ziemlich geräumige Saal war halb besetzt. Eine etwas korpulente Brünette mit auffällig geschminkten Wangen, in langschleppigem blauen Kleid, sang mit belegter Stimme, jeden Ton im Munde kauend, ein sentimentales Lied, als sie eintraten. Frisoni saß am Klavier und begleitete 224 nachlässig zurückgelehnt und mit einem weltschmerzlichen, müden Blick ins Publikum. Als er Kummer erkannte, flog sogleich ein Lächeln über sein hübsches Gesicht, und er grüßte mit einem schnellen, kurzen Nicken.

»Du, das ist ja der«, raunte Berta Helenen zu.

»Wer?«

»Weißt du nicht mehr? Bei Wiezel damals?«

Jetzt erinnerte sich Helene seiner und auch des italienischen Namens von damals her. Aber auch der eigentümlichen Blicke, mit denen er sie damals beobachtet. Sie hatte sich damals beinahe etwas vor ihm gefürchtet. Was er wohl gedacht haben mochte, als sie so schnell die Treppe nach dem Hafen hinunterstürzte, nur um ihm zu entgehen? Sie beobachtete ihn jetzt neugierig. Ob er sie wohl wiedererkannt hatte? Anscheinend nicht. Aber halbwegs wünschte sie es. Dieses zufällige Wiederbegegnen reizte sie. Und wie drollig, daß er auch ihren Bräutigam und Dr. Kummer kannte. Was er wohl sagen würde, wenn er sie wiedererkannte. 225

Jetzt trat Sturz auf, mit lebhaftem Beifallsklatschen empfangen. Er war in einer hochkomischen Maske, trug eine fuchsige Perücke, einen grauen Riesenzylinder, eine goldene Brille, einen hellblauen Frack mit großen gelben Knöpfen, eine weiße Weste und grün und schwarz karierte Beinkleider.

Berta lachte laut auf und Helene kicherte. Auch Sturz erkannte mit flüchtigem Blick Meise und Kummer wieder und schnitt eine drollige Grimasse. Seine improvisierten Couplets, die allerlei Lokalereignisse und Persönlichkeiten verspotteten, waren von einem köstlichen, drastischen Humor gewürzt, so daß Helene, obgleich sie nur die Hälfte verstand, sich vor Lachen nicht zu lassen wußte und Frisoni ganz vergaß.

Bertas Aufmerksamkeit war inzwischen durch Kummer abgelenkt worden, der mit auffallendem Interesse eine der Sängerinnen musterte, die, beinahe abgesondert von den anderen, am äußersten Ende des Podiums saß. Es war eine noch sehr junge Person, mit langen, blonden Flechten und 226 einem kindlichen Gesicht. Sie schien von den Vorträgen ihrer Kolleginnen gar keine Notiz zu nehmen und nur Augen für einen jungen sehr eleganten Herrn zu haben, der an einem der vorderen Tische ihr gerade gegenüber saß und dann und wann sein Glas mit einem beredten Blick gegen sie hob, bevor er es an seine Lippen führte. Es lag eine große Vertraulichkeit in dem Lächeln der jungen Sängerin, das nichts Freches oder Frivoles hatte. Sie schien fast nichts zu tun zu haben. Nur einmal trat sie auf und sang ein einfaches Volkslied, dessen Text aber unverständlich blieb. Nur Kummer wandte sich wie elektrisiert zu den anderen.

»Eine Dänin, eine Dänin«, sagte er enthusiasmiert, um sich dann mit ausgesprochenem Behagen auf seinen Stuhl zurückzusetzen, den Kneifer zu putzen und die dänische Sängerin anzustarren. Dabei lag es wie Sonnenschein auf seinem Gesicht.

Berta hatte Helene auf die beiden aufmerksam gemacht, auf die Dänin und ihren eleganten 227 Verehrer, der gleichfalls, während sie sang, kein Auge von ihr abwandte. Nachdem die Dänin geendet, war eine Pause im Programm vorgesehen.

Meise hatte Lust zu gehen, aber Kummer konnte sich nicht von der Dänin trennen. Auch die Damen wollten noch bleiben. Während Meise noch Einwendungen versuchte, trat Frisoni, der während der Pause das Podium verlassen hatte, an ihren Tisch. Er erkannte Helene und Berta, stutzte einen Augenblick, beherrschte sich aber schnell.

Kummer stellte die Damen vor. Frisoni, mit der Ungeniertheit, die sich in eigenem Hause wußte, rückte sich einen Stuhl an den Tisch und begann ein gleichgültiges Gespräch. Helene, die ein Erröten nicht hatte unterdrücken können, als er sich ihr vorstellte, fühlte wieder diese eigentümlichen Blicke auf sich ruhen, flüchtig, sekundenlang nur. Kein Zweifel, er hatte sie erkannt.

Kummer fragte natürlich sofort nach der Dänin. Frisoni erzählte, daß sie die Braut jenes eleganten, jungen Mannes sei, eines Kaufmannes, 228 der mit Ungeduld den Ablauf ihres Kontraktes, das Ende dieses Monats, erwarte.

»Ein sehr liebenswürdiger, junger Mann aus bester Familie«, setzte er hinzu. »Wenn Sie bis nach Schluß bleiben wollen, können Sie seine Bekanntschaft machen.«

»Auch der Dame?« fragte Kummer eifrig.

Frisoni lachte.

»Auch der Dame, gewiß.«

»Dann bleiben wir, was?« meinte Kummer.

Meise sah nach der Uhr. Er genierte sich etwas vor Frisoni und wollte nicht für einen Philister gelten, da auch Helene und Berta sehr neugierig waren, eine Tingeltangelsängerin näher kennenzulernen.

»Also nach dem Konzert«, sagte Frisoni. »Wollen die Herrschaften nur an diesem Tisch auf mich warten.«

Er empfahl sich mit einer eleganten Verbeugung und einem verbindlichen Lächeln gegen die Damen. 229

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