Gustav Falke
Landen und Stranden
Gustav Falke

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Draußen gingen Ludwig Burmeister und Helene vorüber. Er hatte sie unterwegs getroffen; sie kam aus dem Geschäft und war auf dem Heimweg.

Helene sah blaß und leidend aus. Sie fühlte sich schon seit längerer Zeit schwach und elend unter dem Einfluß von Seelenqualen und Zukunftsängsten. Sie hatte ihm ihre Befürchtung hinsichtlich ihres Zustandes verschämt angedeutet, und die beiden jungen Leute gingen verstört und ratlos nebeneinander her.

»Sei ruhig, ich laß' dich nicht«, hatte Ludwig 95 wiederholt versichert, heftig, trotzig. Aber was er tun wollte, war ihm und ihr nicht klar. Heiraten konnten sie doch noch nicht.

Vor dem Ernst ihrer Lage war alle Scham und Befangenheit gewichen. Sie sprachen offen über alle Möglichkeiten. Ludwig war eigentlich nur niedergeschlagen in dem Gedanken an seine Eltern, an den Skandal, der unausbleiblich sein würde. Die Tatsache selbst erfüllte ihn eher mit einem geheimen Stolz.

Wenn nur die Eltern nicht wären, seine Eltern und ihre Mutter. Seinen Eltern ließ sich's am Ende noch verheimlichen. Aber Frau Leidig? Oh, er wollte zu ihr gehen. Wenn sie sähe, daß er alles für Helene täte, daß er sie nicht im Stich ließe, würde die alte Frau das anerkennen. Selbstverständlich. So eine einfache Frau. Er war doch immer der Sohn des reichen Burmeister. Und er wollte Helene ja heiraten, in einem Jahr, in zweien, sowie er mündig wäre. Es war ja alles nur eine Frage der Zeit.

So wirbelten die Gedanken bei ihm 96 durcheinander, während Helene nichts als eine dumpfe Angst empfand vor etwas Schrecklichem, Unvermeidlichem, worunter sie erliegen müßte und woraus sie keine Rettung, keinen Ausweg sah.

Sie gingen noch ein Stück an der Neubertstraße vorbei bis zum Lübschen Baum und kehrten wieder um, ohne daß sie ein Wort miteinander gewechselt hatten. An der Ecke der Neubertstraße trennten sie sich.

Ludwig hielt ihre Hand so fest, daß sie Schmerzen empfand.

»Es wird alles gut,« stotterte er, »es wird alles gut.«

Sie sah dankbar zu ihm auf.

* * *

Helene hatte sich nach dem Mittagessen auf ihr Zimmer zurückgezogen. Sie wäre sehr müde und abgespannt; sie müsse etwas schlafen, erklärte sie. Nun lag sie angekleidet auf ihrem Bett, mit tausend sich jagenden Gedanken beschäftigt. 97

Von unten drang noch immer das dumpfe Geräusch der Hochzeitsgesellschaft herauf. Ob er sie auch wohl in den Keller da gesteckt hätte, wenn sie seinen Antrag angenommen hätte? Sie empfand körperliches Unbehagen bei dem Gedanken an Schmüser.

Die Szenen aus dem Billwärder-Park standen wieder vor ihr. Wie hatte sie sich damals Kunkel gegenüber geschämt.

Sie hatte Kunkel lange nicht gesehen. Er war ihr gleichgültig geworden. Sie ärgerte sich, daß sie sich hatte von ihm küssen lassen, aber der Aerger ging nicht tief. Es war ihr, als läge das alles jahrelang hinter ihr. Das war alles untergegangen in ihrer Liebe zu Ludwig, in dieser Liebe, die sich jetzt, da sie sich Mutter fühlte, nur um so leidenschaftlicher an ihn anklammerte.

Zwischen verzehrender Angst und einer großen Glückseligkeit im tapferen Vertrauen auf seine Ehrenhaftigkeit und seine Liebe hin und her geworfen, kam sie zu keinem ruhigen Gedanken, 98 keinem festen Entschluß. Aber endlich siegte ihre optimistische Natur, und sie gab sich mit blinder Leidenschaftlichkeit, mit ihrer glühenden Sehnsucht nach Glück, ihrem Willen zum Glück der Ueberzeugung hin: Er liebt dich, er verläßt dich nicht. Alles wird gut werden.

Der Lärm unten war verstummt. Der Regen schlug leise und gleichmäßig an die Fensterscheiben.

Helene schlief ein. 99

* * *

Der Schlaf war auch die Ursache gewesen, daß unten im Keller Ruhe eintrat.

Als die heitere Gesellschaft von ihrem Standesamtsfrühstück heimkehrte, war sie von lebhaften Vorwürfen empfangen worden.

Die beiden Elternpaare der Brautleute waren inzwischen eingetroffen. Die Mütter hatten unter Führung der Frau Reimers, der alten Kochfrau, die in der Wohnung schon Bescheid wußte, noch einmal alles gemustert und die letzte bessernde Hand angelegt, während die beiden Väter, der eine in der Sofaecke, der andere im Korblehnstuhl vorm Fenster, sich landwirtschaftlichen Gesprächen hingaben.

Der alte Schmüser hatte sich seine kurze Pfeife angesteckt; Möller rauchte eine von »Willy seinen Krämerzigarren«, die er nach jedem Zuge von 100 allen Seiten besah, als wollte er fragen: Wat büst du egentlich för een?

Er beneidete den alten Schmüser um seine Pfeife.

»Harr ik doch min Piep man mitbröcht«, sagte er endlich.

»Smekt se nich?« fragte Schmüser senior.

»I jo, se smeckt woll. Awers wenn man so an sin Piep wennt is.«

»Dat is so.«

Der alte Schmüser, das ältere Ebenbild seines Sohnes, füllte mit seinem kurzen, dicken Körper den ganzen Lehnstuhl aus, der unter jeder seiner Bewegungen ächzte und knarrte. Die kleine Bauernstelle in Vierlanden hatte ihren Besitzer gut genährt. Eine fette Zufriedenheit lag auf dem breiten, roten Gesicht, und die wasserblauen, hervorquellenden Augen sahen wunschlos über die runden Wangenpolster in die Welt.

»Mi geit't god.« Das sagte die ganze Erscheinung des sonntäglich gekleideten Bauern, der 101 die Pfeife, die ihm im linken Mundwinkel hing, nicht aus dem Munde ließ.

Sein Gesellschafter in der Sofaecke, ein dürres abgearbeitetes Männchen in langschößigem, dunkelblauem Tuchrock, schien etwas wie Neid auf den prächtigen Umfang des neuen Familienmitgliedes zu empfinden. Er sah es dann und wann, wenn er sich unbeachtet glaubte, mit einem eigenen musternden Seitenblick an.

Mutter Möller kam in die Stube, in einem etwas verschossenen Seidenkleid und mit einem Kopfputz aus Spitzen und lila Schleifen, deren Farbe zu ihrem breiten gesunden Gesicht schlecht paßte. Frau Schmüser wurde ängstlich.

»Wo bliewt denn de Kinner? De kamt ja gornich wedder an't Hus«, sagte sie und setzte sich breit und schwerfällig auf den nächsten Stuhl.

»Se ward all kamen, Mudder«, meinte ihr Mann.

»In de Stadt is dat all so'n beten witläufig.«

»Se sünd woll'n noch 'n beten inkehrt«, meinte der alte Schmüser. 102

»Is dat'n Stück, is dat'n Stück!« jammerte die kleine Frau, legte die Hände in den Schoß und schüttelte mit dem Kopf, daß die steifen, gelben Bindeschleifen ihrer schwarzen Haube unter ihrem Kinn wie zwei Perpendikel hin und her gingen. Dann strich sie nervös die altmodische, mit schwarzen Spitzen eingefaßte Satinschürze mit den knochigen Arbeitshänden und wiederholte mehrmals besorgt:

»Dat hätt wat to bedüden, dat hätt wat to bedüden.«

Während dieses Zwischengespräches zwischen den Eheleuten Schmüser hatte Frau Möller ihrem Gatten einige Male zugeblinkt, strenge und energisch, als wollte sie ihn auf etwas aufmerksam machen. Er war ganz unruhig unter diesen Blicken seiner gestrengen Ehehälfte geworden, sah sie aber verständnislos an. Da ging sie zu ihm, griff hinter seinen Rücken und zog aus der Sofaecke einen der gehäkelten Schoner heraus. Der war ganz verknüllt und versessen. 103

»I, wo kann dat angahn. Ja, na, dat schöne Dings«, bedauerte Vater Möller kopfschüttelnd.

Er hatte das schöne Ding mit seinem Schnupftuch zusammen in die Sofaecke gestopft.

»O laten S' man. Dat deit nix«, tröstete Frau Schmüser. »Dat plätt wi wedder 'n beten öber.«

In diesem Augenblick rollte die Droschke vors Haus.

»Da sünd se! Gott sei Dank! Na, de sünd aber vergnögt!« riefen sie durcheinander.

Die Frauensleute stürzten in den Laden hinaus.

»Se kamen!« rief Mutter Möller in die Küche hinein.

Die beiden Männer erhoben sich langsam von ihren Sitzen.

»Sünd doch woll'n beten inkehrt«, meinte der alte Schmüser.

Pauline, die als erste den Keller betrat, fiel ihrer Mutter gleich um den Hals.

»Kind, wo sweetst du«, rief die alte Frau. »Wo kann dat angahn.« 104

»O ne, o ne«, rief Pauline und lehnte sich gegen den Ladentisch.

»Kind, wat is di? Du büst ja so narrsch?«

»Nee, nee«, wiederholte Pauline und lachte sehr albern, während sie mit dem Kopf krampfhafte Bewegungen machte, als wollte sie ihn irgendwo verstecken.

Willy Schmüser, von August Dobbernak untergefaßt, zog selig lächelnd seinen Hut vor Frau Möller und ließ ihn dabei fallen.

»Nich wegwerfen. Höflichkeit is gut, aber ümmer bis zu gewisse Grenzen«, sagte Fritz Krüger und nahm den Hut auf.

»Aber wat is dit?« jammerte Frau Schmüser, die hinter Frau Möllers breitem Rücken erst nicht hatte zum Vorschein kommen können.

»Se sünd ja woll all duhn! Min Gott, Willy, schämst –«

»Duhn, gnädige Frau? Duhn? Wer is duhn?« unterbrach Fritz Krüger sie. »Heiter sind wir. Tochter aus Elysium.« 105

Dabei machte er eine vorstellende Handbewegung nach Paulinen hin. Dann faßte er die kleine Frau Schmüser um die Taille.

»Ach, gahn Se af«, wies sie ihn ab. »Se hebbt ja ok eenen sitten.«

»Madam!« verteidigte er sich, schwankte aber und fiel gegen die Wand.

»Laten Se se man erst ruhig tofreden«, besänftigte August Dobbernak die erregten Gemüter.

Ihm, dem »Forschen Mann von der Wasserkante«, wie Fritz Krüger sagte, hatten die paar Schoppen nicht viel anhaben können. Ein Glück für Willy Schmüser, der ohne seine feste Stütze jede Haltung verloren hätte.

»Dat is ne nette Gesellschaft«, schalt Frau Möller.

»Un dat sall 'n Hochtid sin?« jammerte Frau Schmüser: »Wat sall de Paster seggen?«

»Ach wat Paster, de Kerl sall wedder kommen«, lallte Fritz Krüger, dessen Trunkenheit in der warmen, mit allen möglichen Krämer- und 106 Küchengerüchen geschwängerten Atmosphäre des kleinen Raumes auch zum Ausbruch kam.

»Schamen Se sik wat«, schalt ihn Frau Möller aus.

»Na, wat is denn?« fragte nun auch der alte Schmüser, der mittlerweile in der Wohnstubentür erschienen war.

»Gott's Unglück is«, klagte seine Frau. »Se sind alltosamen besapen.«

»Sachte, lütt Fru, so wit sünd wi noch nich«, meinte August Dobbernak etwas beleidigt, »alltosamen, da hürt wi ok to. Dat is överall man half so slimm. Laten Se em nu man tofreden, dat he utslapen kann, nahstens sünd wi all wedder mobil.«

»Dat's 'n vernünftiges Wurt«, sagte der alte Schmüser. »Jaul doch nich ümmer gliek so, Mudder. Worum sall he an sinen Hochtidsdag nich mal 'n lütt'n Swips hemm. Dat geit sacht öwer.«

»Wo is denn de Deern?« fragte Mutter Möller und sah sich um. »Pauline!« rief sie. »Wo bist du, Deern?« 107

Pauline lehnte, während alles um ihren Bräutigam sorgte, leichenblaß an der Toonbank. Ihr ward mit einem Male so schwindelig.

»Nah de Kök.« Das war ihr einziger klarer Gedanke. Alles tanzte und drehte sich vor ihren Augen. Aber sie konnte den rettenden Hafen nicht erreichen. Auf der kleinen dunklen Hinterdiele stand sie in einer Ecke neben einigen Heringsfässern, den linken Arm an die Wand gelegt und auf ihn die Stirn stützend.

So fand die Mutter sie.

Fritz Krüger war, als er Frau Möllers Ruf nach Paulinen gehört hatte, der Suchenden gefolgt. Nun stand er grinsend hinter der entrüsteten Frau und hörte ihre mütterlichen Zornausbrüche mit an.

»Wat, Se wüllt hier noch grieflachen?« schrie sie ihn an, als sie ihn gewahr wurde. »Rut, hier hemm Se nix verloren!«

Sie nahm ihn beim Arm und schob ihn hinaus.

»Und du makst, dat du int Bett kümmst, hörst du Deern!« 108

Sie nahm auch Pauline beim Arm und zog sie von der Wand weg. Als sie aber in das blasse Gesicht der Leidenden sah, erwachte das mütterliche Mitleid und die Sorge.

»Deern! Wo is di denn? Is di noch nich beter? Kumm, drink man erst mal 'n Glas Water.«

Damit führte sie sie in die Küche.

Als die Männer Willy Schmüser ins Schlafzimmer bringen wollten, damit er seinen Rausch ausschliefe, kam ihnen Mutter Möller abwehrend entgegen. »Hier is all besett«, sagte sie.

»I wat,« meinte Dobbernak, »Mann und Fru!«

»Ne, dorut ward nix«, rief Frau Möller und pflanzte sich breit in der Tür auf. »Se wüllt ja woll glik allens up 'n Kopp stelln. Bi'n Schwanz ward dat Peerd nich uptäumt.«

Es half nichts, sie mußten Willy Schmüser aufs Sofa betten.. Er war völlig apathisch und ließ alles mit sich machen. Kaum lag er, so fing er auch schon an zu schnarchen. Es war ein Viertel 109 auf drei. Um vier Uhr sollte der Pastor kommen. Wenn Schmüser auch bis dahin ausgeschlafen und leidlich imstande sein mochte, eine dem feierlichen Akt angemessene Würde zu behaupten, wie sollte aber Pauline bis dahin fertig werden! Sie hatte doch noch Toilette zu machen. Sie konnte doch nicht in dem schwarzen Kleid vor den Pastor treten. Das weiße Brautkleid lag neben der Schlafenden auf Schmüsers Bett. Jeden Augenblick konnten die beiden Brautjungfern mit dem Kranz und dem Schleier kommen.

Die alte Frau Schmüser hatte auf August Dobbernaks Rat Kaffee gekocht. Nun saßen sie alle um den runden Sofatisch und schlürften das heiße Getränk. Jeder fühlte das Bedürfnis, »sik erst man n beten to verhalen«. Die Frauen waren sorgenvoll. Die Männer waren mehr geneigt, die Sache von der komischen Seite zu nehmen. Willy Schmüser schnarchte mit mächtigen Atemzügen, wahre Trompetentöne.

In diesem Augenblick kamen die beiden Brautjungfern, Mimi Trost, eine Cousine von Fritz 110 Krüger, und deren Freundin Lina Kamp. Beide in weißen Mullkleidern, Mimi mit einer roten, Lina mit einer blauen Schärpe. Jede trug ein in Seidenpapier gehülltes leichtes Paket auf beiden vorgestreckten Händen, Mimi Trost den Kranz, Lina Kamp den Schleier. Mit verschämter Koketterie traten sie ins Zimmer. Es war ihnen von den Anwesenden nur Fritz Krüger bekannt, der sich zur »Anschaffung der Brautjungfern« erboten hatte, weil beide Brautleute in Hamburg keine Verwandte noch Bekannte hatten. Fritz Krüger übernahm also auch die Pflicht der Vorstellung.

»Fräulein Lina Kamp«, sagte er, mit würdevoller Handbewegung auf das Mädchen zeigend. Die lange, hagere, bleichsüchtige Blondine mit den eckigen Schultern machte eine steife Verbeugung, verschämt die Blicke auf ihr Paket heftend.

»Und dit is min lütt Cousin: Mimi Trost«, stellte Fritz Krüger weiter vor. »Is dat nich 'n lüt niedliche Deern?« Lina Kamp trat verlegen etwas zurück und machte der kleinen und 111 hübschen Freundin Platz, die errötend kichernd nach allen Seiten hin mit einem Knicks grüßte.

Wieder schnarchte Willy Schmüser in kräftigen Stößen. Die jungen Mädchen wurden erst jetzt auf den schlafenden Bräutigam aufmerksam. Ihre erschrockenen, verdutzten Gesichter riefen bei Fritz Krüger und August Dobbernak ein lautes Gelächter hervor. Die beiden Elternpaare fühlten sich aber doch vor den beiden fremden jungen Mädchen, die ihnen in ihrem städtischen Flitterkram sehr fein erschienen, etwas geniert.

»He is man 'n beten schlecht«, sagte die kleine Frau Schmüser entschuldigend.

»He hätt dat nich god«, bekräftigte Mutter Möller.

»Wüllt wi em nich lewer wecken?« meinte Vater Möller.

Das Klingeln der Haustür überhob die anderen der Antwort. Es war Christian, der Hausdiener aus der Buchhandlung von Roth u. Co., der mit seinem Zunamen v. Bargen hieß. Durch 112 Dobbernak, seinen Schwager, war er mit Schmüser befreundet geworden.

Krüger stellte vor:

»Meine Herrschaften, unser lieber Freund. Herr Christian von Bargen.«

Die vier alten Leute vom Lande erhoben sich von ihren Sitzen. Ihre Mienen drückten halb ehrfürchtige Scheu, halb Mißtrauen aus.

Fritz Krüger wiederholte noch einige Male mit wichtiger Betonung: »von Bargen, Herr von Bargen, Buchhändler.«

Auch die beiden jungen Mädchen musterten ihn sehr neugierig.

»Alter Adel. Altes pommersches Geschlecht«, erklärte Fritz wichtig. Ein ungläubiges Lächeln glitt schüchtern über die alten Gesichter der Landleute, während die beiden Mädchen mit einem Male »lospruschten«.

»Nu kiek de Deerns an«, rief Fritz Krüger. »Lat di dat nich gefallen, Krischan.«

Christian griente nur immer mit seinem gutmütigen, stoppelumrahmten Gesicht zu dem Scherz 113 des Freundes. Er sah in seinem langschößigen schwarzen Gehrock feierlich genug aus, aber alle hatten doch von dem Abkömmling eines alten pommerschen Adelsgeschlechtes eine andere Vorstellung. Lina Kamp schielte immer nach seinen großen behaarten Händen mit den »Trauerrändern« unter den Nägeln.

»Willy! Willy!« rief Frau Schmüser und schüttelte den Schläfer.

»I laten S' em doch«, meinte Christian, der glaubte, Schmüser würde seinetwegen geweckt.

»Ne, dat ward hoge Tid«, belehrten ihn die anderen, und alle zogen ihre Uhren.

»Dunner, dat is ja nah halv veer«, rief Vater Möller.

»Jau, dat is dat woll«, bestätigte Vater Schmüser.

»Willy! Jung!« rief seine Frau wiederholt und schüttelte ihren Sprößling an beiden Schultern.

»Ja – wie? – wo?« stotterte der Geweckte und fuhr ganz erschrocken auf, als er alle die 114 bekannten und unbekannten Gesichter um sich sah. Er sah sich mit offenem Munde, fast ängstlich, um.

»Ward Tid, Willem, de Paster is all dor«, rief ihm Dobbernak zu.

Mit einem Satz sprang Schmüser vom Sofa. Er hatte die Situation begriffen. Er fuhr sich mit beiden Händen nach dem Kopf.

»Ja, min Gott, wat, wat, wo is se denn? Wo is min –?«

Er sah sich hilflos um. 115

* * *

Der Pastor, ein großer, blasser Mann, mit schwarzem Vollbart hatte sich pünktlich um vier Uhr eingestellt. Frau Möller, als die resoluteste, war ihm entgegengegangen.

»Ach, Herr Pastor, nein, was werden Sie man sagen«, jammerte sie, während sie ihn durch die niedrige Tür ins Wohnzimmer komplimentierte.

Mit einem salbungsvollen Lächeln, die Worte der Frau überhörend oder falsch verstehend, trat er unter die Festgäste, die Bibel mit beiden Händen vor die Brust haltend.

Er ging gleich auf Willy Schmüser zu, schüttelte ihm die Hand, sah sich suchend um und fragte: »Wo ist denn die liebe Braut?«

Verlegenes Schweigen, Schurren und Räuspern.

»Ach, Herr Pastor,« raffte sich Frau Möller auf, »mein' Tochter, ich bin nämlich die Mutter 116 dazu, mein' Tochter is'n bischen was leidig, sie hat es gar nich gut und liegt zu Bett.«

Der Pastor machte ein sehr überraschtes Gesicht.

»Das tut mir aber leid«, sagte er und schüttelte bedauernd den Kopf. Doch konnte er eine leise Miene des Aergers nicht unterdrücken.

»Wenn Sie dann nur gleich zu mir geschickt hätten«, sagte er vorwurfsvoll, aber mit einem salbungsvollen Lächeln, das den Vorwurf wieder abschwächen sollte. »Sie glauben gar nicht, wie sehr meine Zeit in Anspruch genommen ist.«

»Ja, das kam so plötzlich, Herr Pastor«, klagte Frau Möller. »Und dann dachten wir auch, sie könnt' sich noch wieder erholen.«

»Sie schläft nu gerade so schön«, wagte die kleine Frau Schmüser mit einem ängstlichen Ton in ihrer schüchternen Stimme zu sagen.

Es herrschte eine gedrückte Stimmung unter den Anwesenden. Keiner wußte etwas zu sagen. Die beiden jungen Mädchen wurden ein über das andere Mal rot und steckten die Köpfe zusammen. 117 Schließlich kam man überein, daß Schmüser am nächsten Tag beim Pastor vorsprechen sollte, um zu bereden, wann diese gestörte Trauung nachgeholt werden könnte.

»Aber ein Glas Wein trinken Herr Pastor doch«, sagte Fritz Krüger und machte sich bei der Flasche zu schaffen.

»Auf das Wohl der lieben Kranken«, sagte der Geistliche salbungsvoll.

Man stieß an. Das hob den Alpdruck, der auf allen lag. Die beiden Mädchen kicherten.

Fritz Krüger plinkte ihnen hinter dem Rücken des Geistlichen, um den alle noch immer ehrfurchtsvoll herumstanden, verliebt zu.

»Es ist eine schlimme Zeit«, sagte der Geistliche im Laufe des Gespräches. »Die Kirchen stehen leer und die Wirtshäuser füllen sich. Aber es gibt doch noch viele und treue Christen«, setzte er hinzu. »Ich sehe das am besten an der heiligen Taufe und den Trauungen.«

Er sah sich mit einem weihevollen Lächeln im Kreise um. »Ich erlebe doch auch viele Freude an 118 meiner lieben Gemeinde. Freilich gibt es ja noch viele Arbeit, im Guten und Bösen. Die Gemeindepflege stellt immer größere Anforderungen an unsere Arbeitskraft.«

Er schwieg. Eine verlegene Pause entstand.

In dieser Stille hinein hörte man plötzlich Pauline laut rufen: »Mudder!«

Frau Möller sprang auf und stürzte ins Nebenzimmer.

»Ist das unsere liebe Kranke?« fragte der Pastor.

»Sie scheint es wieder schlecht zu haben«, erklärte Frau Schmüser.

»Das ist ja höchst betrübend«, bedauerte er. »Hoffentlich wendet sich bald alles zum Guten, mit Gottes Hilfe.«

Er erhob sich und sah nach der Uhr.

»Sie sind also so gut? Morgen vormittag zwischen zehn und elf Uhr«, wandte er sich an Schmüser. Dann verabschiedete er sich mit einer allgemeinen Verbeugung.

Alle blieben verlegen an ihren Plätzen. 119

Der Pastor war schon im Laden und sah sich verwundert um, daß man ihn seinen Weg allein finden ließ, als Fritz Krüger diensteifrig nacheilte.

»Hier geht's längs, Herr Pastor, bitte sehr. Schlechtes Wetter, ganz miserables Wetter. Habe die Ehre, Herr Pastor.«

Der Geistliche machte ihm eine halbe Verbeugung von der Seite und beeilte sich, in seinen Wagen zu kommen. Aergerlich schlug er die Wagentür zu. Es schallte nur so.

* * *

Nu aber'n Beefsteak!« rief Fritz Krüger, als er wieder ins Zimmer trat. Er drückte beide Hände gegen den Magen.

»Dat segg ik ok«, stimmte Dobbernak bei. »Von düsse Predigt sünd wi nich satt woren.«

»Ja, 'n beten mütt'n Se woll noch t.öben«, sagte Frau Schmüser. »Erst mütt wi doch mal den Disch decken.«

Mutter Möller kam aus dem Schlafzimmer. 120

»Se is noch leeg. Ehr Kopp is noch nich so recht. Se will nich uppstahn.«

»Ach watt, de poor Glas Beer«, meinte Fritz Krüger. »Laten Se mi man maken, ich will ehr woll rutkriegen.«

Er machte ein paar Schritte gegen die Tür. Alles lachte. Aber Mutter Möller vertrat ihm den Weg.

»Dat laten S' woll blieben.«

Frau Schmüser kam zurück und schickte die ganze Gesellschaft in den Laden, damit sie Platz zum Anrichten der Tafel bekäme. Die Männer gingen aus dem Zimmer, und die beiden jungen Mädchen halfen den Müttern.

»Na, Willy, nu hest din'n Laden vull«, neckte Fritz Krüger. »Nu wies mal, dat du'n düchtigen Koopmann büst.«

»Wat schall't denn sin?«

»'n Kuß von din Fru. Wat kost't dat Dutzend?«

»Ja, min Jung, de sünd grad utgahn. Frag morgen mal wedder vör.« 121

»Hest denn överall all welk hatt?«

»Schapskopp!«

Der alte Schmüser hatte sich auf eine Buttertonne niedergelassen. Er sah vor sich hin, ohne auf das Gespräch der anderen zu achten. August Dobbernak fragte Vater Möller nach Schneider Piening, ob der noch in Poppenbüttel wäre.

»Den mit dat grise Hoor, weten Se. 'n ollen Bekannten von mi. Mit sin Söhn bün ik tosamen in Japan wesen.«

»Süh, in Japan? Sünd Se in Japan wesen? Süh mal an. Da is ja nu woll jetzt 'n bösartigen Krieg utbraken?«

»Ja, mit de Schinesen. Dat Takeltüg. Dat högt mi, dat de mal fix wat up Jack kriegen.«

»Wo sünd Se denn nah Japan kamen?«

»Als Stüermann, mit de ›Galatäa‹. So vörn Johrene söß, söben. Dat sünd Keerls, de Japanesen. Dat is 'ne Natschon, segg ik, 'ne Natschon is dat.«

»Ja, se sünd ja nu woll bannig baben up.«

Christian v. Bargen besah sich inzwischen die 122 Etiketten der verschiedenen Likör- und Weinflaschen, die in Reih und Glied auf den Borten standen. Er griente vor sich hin, als er seinen Schwager schon so bald auf sein Lieblingsthema kommen hörte.

»Na, du söchst di woll all'n lütten ut«, spottete Fritz Krüger, sich an Christian wendend.

Von der Küche her klang das Klappern von Tellern und Schüsseln, und Bratenduft und Kuchenduft vermischten sich mit den Ladengerüchen. Endlich war angerichtet. Man begab sich zu Tisch.

»Se wull doch man leber mit eten«, empfing Frau Möller die Eintretenden. »Dat wär doch ok to gräßlich wesen.«

Allgemeiner Beifall belohnte Paulinens Entschluß. Sie erschien denn auch gleich darauf, sehr blaß und sehr verschämt.

»Ne, dat geiht nich«, protestierte Dobbernak, »'ne swatte Brut? De Brut möt witt sin.«

Pauline hatte wieder ihr Standesamtskleid angezogen. Beide Mütter waren nach gründlicher Ueberlegung dieses seltenen Falles zu der 123 Ansicht gekommen, daß es unmöglich gut gehen könne, wenn Pauline ihr Brautkleid vor der Trauung anzöge. Paulinen war das sehr schmerzlich gewesen. Sie hatte sich so darauf gefreut, vor den Gästen in ihrem Staat zu glänzen. Aber der Mutter gegenüber hatte sie nie einen eigenen Willen gehabt, sie nicht und der alte Möller auch nicht.

Dobbernaks Protest schlossen sich auch die anderen an. Aber Frau Möller wehrte ab: »Dat mö. nu so gahn. Wi könt uns nu nich noch mal umkledaschen. Dat Eten ward jo kalt.« Das sah man ein, und so nahm Pauline in ihrem schwarzen Kleide an der Seite ihres Mannes Platz.

Frau Reimers hatte ihre Sache gut gemacht. Es schmeckte allen vortrefflich. Fritz Krüger machte für den etwas unbeholfenen Ehemann die Honneurs und schonte vor allem die Weinflaschen nicht.

»He kann nich vull un nich leer sehn«, sagte Dobbernak. 124

»So ein Ereignis muß begossen werden«, meinte Fritz. »Und auch die schöne Predigt.«

»Fangen Se all wedder mit de Predigt an«, begehrte Frau Möller auf.

»Das Geistige, verehrte Frau –«

»Ach wat Geistige! Wi sünd jetzt bi'n Kalfsbraden, dor to brukt wi Ihre Gottlosigkeiten nich.«

»Prost, Fru Möller, dat hemm Se em good langt«, sprang ihr Dobbernak bei, während die anderen über diesen halb ernsten, halb scherzhaften Wortwechsel lachten. Nur Fritz Krügers Nachbarin, die lange Lina Kamp, sah verlegen auf ihren Teller. Sie war »man büschen was dämelig«, wie Krüger vor Tisch schon Christian zugeflüstert hatte, und wußte nicht, ob sie die Sache ernst oder spaßhaft zu nehmen hatte.

Christian saß mit seiner Dame, Mimi Trost, ihr gegenüber. Er sah sie fortwährend an. Das hagere, blasse Mädchen erinnerte ihn lebhaft an die Tochter seines Chefs, an Fräulein Mimi Mieck. Das gab ihr in seinen Augen etwas Feineres. Und dann war sie so gesetzt, sprach nicht so 125 viel. Das mochte er gern. Mimi Trost war in einem Lachen und Räsonnieren und wurde dadurch Christian, der etwas maulfaul war, lästig.

Der alte Möller und der alte Schmüser hatten ihre Frauen ausgetauscht, und August Dobbernak saß allein unten am Tisch. Das war ihm sehr angenehm. Die anderen mußten sich alle »'n büschen drücken«, was Fritz Krügern schon zu der originellen Bemerkung von den frommen Schafen Anlaß gegeben hatte. Er aber konnte gemütlich beide Arme auf den 'Tisch legen und löffeln, wie er es zu Hause gewohnt war: mit festem Stützpunkt für seine arbeitenden Arme.

Paulinen wurde beim Essen schon etwas besser. Sie bekam wieder Farbe und lachte jedesmal, wenn Fritz Krüger sie zärtlich ansah.

»Ich muß das für ihn besorgen«, verteidigte er sich gegen Frau Möller. »Er hat da jetzt keine Zeit zu.«

Schallendes Gelächter. Willy Schmüser war in der Tat mehr mit seinem Teller als mit seiner ihm erst angetrauten Nachbarin beschäftigt. 126

»Laß gut sein, Willy, 'ne ordentliche Vorlage kann nich schaden«, meinte Dobbernak. Erneutes Gelächter.

»Meine Herrschaften!« rief Fritz Krüger, schlug ans Glas und stand auf. »Jetzt ist, glaub' ich, der gehobene Moment gekommen, wo wir das verehrungswürdige Brautpaar hoch leben lassen können.«

»Ja, hoch sollen sie leben! Man to! Hest recht min Jung!« rief es durcheinander. Jeder griff nach seinem Glas und stieß mit dem Nachbarn an.

»Halt! So schnell schießen die Preußen nicht!« rief Fritz und schlug wiederholt ans Glas.

»Ich meine man – Silentium – meine Herren und Damen – aber ich bitte –«

»Fritz hätt dat Wurt!«

Dobbernak klopfte mit der Faust auf den Tisch.

Endlich begriffen alle, daß der Redner mit seinem Toast noch nicht fertig war.

»Also ich meine man«, fuhr Fritz fort. »Wie wir hier so fröhlich beisammen sind und haben einander so lieb, wie der Dichter sagt, ich meine, da 127 sind wir uns alle des ernsten Schrittes bewußt, den unser verehrter lieber Freund Willy Schmüser an diesem seinem heutigen Ehrentage, seinem Ehrentage tun will, meine ich, respektive schon getan hat, denn, meine Herrschaften, sie sind schon Mann und Frau. Ja, das sind sie! Dazu brauchen wir keine Pfaffen und keine Gebetbücher mehr. Und das, meine Herrschaften, das ist, das sage ich, das ist ein Fortschritt in der Kultur, in den Annalen der Menschheit. Und ich bin der Meinung, und wenn ich auch ganz allein stehen soll mit meiner Meinung, daß unser lieber und hochverehrter Freund Willy Schmüser, Wilhelm Schmüser – meine Herrschaften, in diesem feierlichen Augenblicke sage ich Wilhelm – ich meine, daß er mit gerechtem Stolz auf den heutigen Tag zurückblicken kann, weil er sozusagen eine Kulturtat getan hat, daß er sich mit der verehrten Jungfrau Pauline Möller ehelich verbunden hat, auch ohne den Segen der Kirche –«

Frau Möller war schon lange auf ihrem Sitz 128 hin und her gerutscht. Dobbernak hatte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm gelegt:

»Utreden laten, utreden laten.«

Nun aber konnte sie es nicht länger mehr aushalten.

»Dat sind Gottlosigkeiten! Dat hört hier nich her«, rief sie.

Fritz Krüger kriegte »'n kleinen Preller«, als ihm die resolute Frau so in die Rede fiel.

»Erlauben Sie, Madam, das gehört wohl hierher«, sagte er pikiert. »Ich spreche, wie mir um's Herz ist.«

»Ja, utreden laten«, »Schwieg doch, Mudder«, »He meent dat ja nich so«, schwirrte es durcheinander.

»Meine Herrschaften«, fuhr Krüger fort. »Was ich sagen wollte. Unsere liebe, verehrte Frau Schwiegermama hat mich etwas aus'n Text gebracht. Also ich meine man, sie sind nun Mann und Frau, das sind sie, wie sie hier vor uns sitzen, und als solche wollen wir sie nun leben lassen und möge es ihnen gut gehen auf Erden« – 129

Der Redner erhob seine Stimme, er spielte seinen Trumpf aus.

»– Dreierlei gibt es, meine verehrten Anwesenden, was der Mensch muß, was seine Bestimmung ist: sich nähren, sich wehren und sich mehren!«

»Bravo!« rief Dobbernak.

Die beiden Schwiegermütter warfen dem Redner mißbilligende Blicke zu, und die beiden jungen Mädchen wetteiferten mit der Braut im Erröten.

»Also darauf lassen Sie uns anstoßen«, rief Fritz unbeirrt. »Unser lieber, verehrter Freund Willy Schmüser und unsere liebe, verehrte Freundin Frau Pauline Schmüser geborene Möller, sie leben hoch!«

»Hoch soll'n sie leben!« sangen alle mit Begeisterung. Jeder leerte sein Glas bis auf den Rest. Mimi Trost verschluckte sich und kriegte den Husten. Schmüser aber gab in dem allgemeinen Aufstand Paulinen, auf Dobbernaks 130 Aufforderung, einen lauten Kuß, so daß sie laut aufkreischte.

»I wat, nu hör'n de Posamententen up«, meinte Dobbernak. »As sin Fru kümmt Se dat to.«

»Wenn ik düss' lütt Deern hier 'n Kuß geben wull«, setzte er hinzu und faßte Lina Kamp um.

Die Blondine sträubte sich heftig und kreischte laut auf.

»Aber ik kann nich ankamen, se is mi to lang«, sagte Dobbernak und gab sie wieder frei.

Lina Kamp flüchtete in die äußerste Ecke des Zimmers und warf einen begehrlichen Blick auf Fritz Krüger, der aber Dobbernaks Scherz nicht gesehen hatte.

Fritz Krüger gab Anekdoten zum besten, die »nicht von schlechten Eltern waren«, wie Dobbernak versicherte. Man sang Soldatenlieder und betrug sich sehr ausgelassen.

Schmüser hatte Pauline umgefaßt und das rote Gesicht der jungen Frau lag müde auf seiner Schulter. 131

Plötzlich kreischte Lina Kamp auf. August Dobbernak hatte sich hinter ihren Stuhl geschlichen und ihr von hintenherum einen Kuß gegeben.

»Der Mensch der«, schalt sie und scheuerte sich die Lippen mit dem Handrücken.

»Ach was, man nicht so tun«, sagte Fritz Krüger, zog sie an sich und gab ihr auch einen Kuß.

Erneutes Kreischen, aber diesmal wischte sie sich nicht den Mund ab. Sie war blutrot und schlug mit der Serviette nach ihm.

Christian sah mit offenem Munde über den Tisch. Er hätte sie auch gern mal geküßt. Er mochte sie leiden.

»Dat wär aber'n Kuß«, neckte Dobbernak und schnalzte mit der Zunge.

»Ja, min Jung, dat ward di woll nich all Dag«, meinte Fritz Krüger mit der Miene eines Don Juans, dem das etwas Alltägliches ist.

»So? Ik hew woll all mehr Deerns küßt as du.« 132

»Na na!«

»Hest du all mal 'n Japanerin küßt? Hest du all mal 'n Türkin küßt? Oeverall häv ik all lütt Mätens küßt, as di noch keen ankäken hätt.«

»Japan«, spottete Fritz, und Christian schmunzelte verständnisvoll.

»Ja, Japan! Dat wär ok so'n lütt nette Deern as dit Fräulein hier«, sagte Dobbernak.

»Laten S' sik dat nich gefallen, Fräulein«. rief Frau Möller. »Wo kann he Se mit'n Japanesin verglieken.«

»Hemm Se all mal 'n Japanesin sehn?« fragte Dobbernak Frau Möller. »Na also! Ik segg Se, dat wär keen gewöhnliche Deern. Wat ehr Vadder wär, dat wär'n richtigen Mandarin. Mit'n Pfauenfeder, as se dat dor nennt.«

»Ach gahn S' los. Se wüllt mi ja man uzen«, schalt Frau Möller. »Darut ward nix.«

In diesem Augenblick ward von draußen laut an die Fenster geklopft. Alle fuhren erschreckt zusammen. »De verdammten Jungen!« schalt Willy Schmüser. »So'n Rackertüg!« 133

»Nein, was hab' ich mir erschrocken«, rief Lina Kamp.

Die Küsse hatten ihr Selbstgefühl gesteigert, und sie nahm jetzt häufiger das Wort, mit einer gewissen vorlauten Keckheit.

»Denn müssen Sie was für die Nerven nehmen«, sagte Fritz Krüger und griff nach der Weinflasche.

»Ne, ne, ich kann schon gar nicht mehr gerade gehen«, wehrte sie ab und deckte beide Hände über ihr Glas. Aber er schob sie zurück und schenkte ein.

»Mimi, auch noch 'n Glas? Frau Schmüser senior?«

Alle mußten noch einmal trinken.

»Margarete, Mädchen ohnegleichen«, sang Dobbernak und lächelte Lina Kamp, beide Arme nach ihr ausbreitend, zärtlich über den Tisch an.

Eine wein- und bierselige Stimmung hatte alle ergriffen. Man sang, schrie, lachte und lallte durcheinander. Man verstand einander kaum und antwortete nur mit »Prost!«. 134

Fritz Krüger wurde immer zärtlicher gegen Lina Kamp und zog sie wiederholt an sich.

»Is dat nich 'ne söte Deern?«

Er streichelte ihr die Backen, und sie hatte kaum noch Kraft genug, sich zu wehren.

Es ging auf Mitternacht, als die Alten zum Aufbruch mahnten. Lachend und schwatzend empfahl sich endlich die ganze Gesellschaft zusammen. Die Alten logierten in einem Hotel auf dem Schweinemarkt.

Als Schmüser schlaftrunken die Ladentür verriegelt hatte, zog er noch einmal gewohnheitsmäßig die Kassenschieblade aus der Toonbank und fuhr mit der Hand in dem leeren Kasten umher.

Als er wieder ins Zimmer trat, saß Pauline auf dem Sofa und sah ihn mit ganz eigenen Blicken an. Sie war schläfrig wie er. Der genossene Wein tat seine Wirkung auch bei ihr. Aber es war etwas, was sie munterer hielt, als er es war.

»Bannig möd bün ik«, sagte Schmüser, gähnte 135 laut und streckte beide Fäuste, sich reckend und dehnend, in die Luft.

Sie erhob sich langsam.

»Mi is ganz düsig«, sagte sie und tastete sich an Stuhl und Kommode zum Schlafzimmer hin.

Schmüser hielt noch eine leere Weinflasche gegen die Lampe, mit zusammengekniffenen Augen, als suche er nach einem letzten Schluck.

»Se hebbt fein suupt«, lallte er.

Dann nahm er die Lampe und folgte seiner Frau. Die Kuppel klirrte bei seinem unsicheren schwankenden Gang, und die Flamme blakte stoßweise zum Zylinder heraus. 136

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