Kurt Faber
Die Seelenverkäufer
Kurt Faber

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Drei Mann und ein Schlitten

Was soll ich nun von der Reise über die Insel erzählen? Ich habe später noch manche abenteuerliche Fahrt unternommen, in aller Herren Länder, aber keine wieder wie diese. Keine je wieder mit einer Seele so voll von widerstreitenden Gefühlen und Empfindungen, die einander jagten wie die Schneeflocken in einem Wintersturm. Das Gefühl, nach so langer, langer Zeit nun endlich los zu sein von dem verhängnisvollen Schiff mit seiner verhaßten Disziplin, war uns allen eine Genugtuung von unaussprechlicher Wonne. Kein Kapitän Carrol, keine Nachtwachen, keine Rationen, kein »Whisky, Johnny« mehr! Hier draußen war alles Freiheit und Ungebundenheit, und der Kochtopf brauchte niemals leer zu werden, solange es wilde Renntiere gab und man eine Patrone hatte, um sie zu schießen. Und doch – während wir so dahin wanderten und uns einzureden versuchten, daß es uns eigentlich ganz wunderbar ginge, da hockte die Sorge schon mitten unter uns. Und die nagenden Zweifel und die fressende Ungeduld. Ich selbst – ob ich es mir auch nicht eingestehen wollte – kam mir vor wie einer, der eine Reise nach dem Mond unternommen hat. Gewiß: da war die Karte, und eine recht sauber ausgeführte Karte obendrein, aber wer garantierte dafür, daß die darin eingezeichneten Linien und Kreuze etwas anderes waren als das zwecklose Spiel einer müßigen Phantasie? Und wenn sie es waren – was dann? Ich mußte darüber nachdenken, ob ich wollte oder nicht, und je weiter wir vordrangen in die weiße Wildnis, desto größer wurde das Fragezeichen.

Das Reisen mit Hundeschlitten ist eine schwere Kunst, von der derjenige, der sich noch nie darin versucht hat, sich nimmer eine richtige Vorstellung machen kann. An der Küste des Eismeeres, wo der Schnee zumeist hart ist, so daß ein Einsinken nicht zu sehr zu befürchten ist, sind die Schlitten auf Läufen gebaut und die Hunde nebeneinander gespannt, während auf dem weichen Schnee weiter im Inland die Hunde hintereinander angespannt sind und der Schlitten selbst flach und ohne Läufe auf dem Schnee liegt. Bei unbetretenen Bahnen muß stets jemand vorauslaufen, nach dem sich die Hunde richten können – falls es ihnen beliebt. Denn es gibt auf dieser Erde kein widerspenstigeres Geschöpf als einen Schlittenhund.

Schon gleich in der ersten halben Stunde, als wir noch kaum außer Sicht des Schiffes im Schatten der Hügel angelangt waren, verweigerten sie die Gefolgschaft. Wie auf Kommando legten sich alle hin und waren mit List und Drohungen nicht mehr zum Weitergehen zu bewegen. Auf alle Peitschenhiebe reagierten sie nur mit schaurigem Geheul. Und plötzlich – wer kann wissen, was alles in so einem Hundegehirn vor sich geht? – stürzten sie übereinander her wie eine Meute gieriger Wölfe; ein wilder Kampf aller gegen alle. Hilflos standen wir dabei und betrachteten dieses knurrende, zähnefletschende Chaos. Zehn gegen eins war zu wetten, daß sie auf dem Schiff den Aufruhr hören würden, und dann war es aus mit der neuen Freiheit. Erst allmählich gelang es, dem Hexensabbat ein Ende zu machen. Dann ging es in gestrecktem Galopp landeinwärts auf der ausgetretenen Bahn, immer im gleichen Tempo, während der ganzen Nacht, hinter den kleinen Teufeln, denen die lange Ruhezeit und die gute Fütterung der letzten Wochen offenbar in die Glieder gefahren war.

Als wir oben auf der Hochebene angelangt waren, war der junge Tag schon angebrochen. Der Morgen stand blutrot über den Schneefeldern, und die aufgehende Sonne warf lange, bläuliche Schatten über die Schneebänke, die in gleichmäßigen Wellen über der Ebene lagen. Beinahe gerade von vorn, aus Nordosten, wehte eine steife, kalte, messerscharfe Brise. Fast genau im Norden stand eine hohe, nach oben etwas abgerundete Bergspitze, die sich ausnahm wie ein Hut, der irgendwo verlorengegangen war in dem flachen Land. Wir alle kannten ihn nur zu gut. Es war der David Jonas. Oft schon hatten wir ihn gesehen bei klarem Wetter, aber dann nur immer ganz weit weg in nebliger Ferne. An jenem Morgen aber stand sein Bild ganz klar und scharf abgegrenzt vor den feurigen Farben des heraufziehenden Tages. Es schien, als ob er nicht mehr als eine Tagesreise weit entfernt wäre, und es war irgend etwas an seinem Anblick, das so kalt und tot und drohend anmutete, daß ich auf der Stelle wieder umgekehrt wäre, wenn ich mich nicht vor mir selbst geschämt hätte ob meiner Zaghaftigkeit. Tief unten in der Bucht, die klein wie ein Spielzeug aussah, lag die »Bonanza« wie ein kleiner schwarzer Punkt in der weißen Wüste. Noch einmal schauten wir hinunter, und einer blickte den anderen an mit einer Miene, in der noch ein Rest von Zweifel war. Noch war es Zeit, noch konnte man es sich überlegen, ehe man für immer die Schiffe hinter sich verbrannte. Dort drunten hatte man doch immer eine Art von Dach über dem Kopfe, man bekam sein täglich Brot, wenn es auch manchmal noch so spärlich war, während hier draußen alles heulende Wildnis und fressende Ungewißheit ist. Und vielleicht – am Ende ist doch besser der Teufel, den man kennt, als der, von dem man gar nichts weiß. Eine ganze Weile standen wir so und starrten unschlüssig in den heraufdämmernden Tag. Das Gift des Zweifels ging um wie ein Gespenst. Da war es Hein, der das erlösende Wort sprach:

»Wat sin mut, mut sin! Man tau!«

Die Hunde sprangen auf und legten sich ins Geschirr mit lautem Heulen. Vorwärts ging es in den Zähnen des Windes, gerade hinein in die unbekannte Wildnis. – – –

Während des ganzen Tages wehte der Wind in heftigen Böen, die in etwa nordnordöstlicher Richtung aus dem Steuerbordviertel unserer Fahrtrichtung kamen. Die eisige Luft setzte sich als dicker Reif in den Haaren und Augenbrauen fest, der Wind zerrte an den Kapuzen der Pelzkleider. Alles in allem war es ein ungemütliches Wandern und ein recht unerfreulicher Anfang der abenteuerlichen Reise. Und doch war es ein schöner Tag mit klirrendem Frost, strahlendem Sonnenschein und helleuchtenden Farben, wie man sie eigentlich nur im Eismeer erleben kann. Gegen Abend aber wuchs die Brise zum Sturme an. Der treibende Schnee, der anfangs nur ganz niedrig von Schneebank zu Schneebank gefegt wurde und uns nur lieb sein konnte, da er vor etwaigen Verfolgern die Spur verwischte, fing jetzt an, wie ein Nebel die Luft zu erfüllen mit Millionen Kristallen, die alle in der Sonne funkelten und von denen jeder einzelne sich wie eine Nadel in die Haut bohrte. Wie sie auf die Kleidung fielen, schmolzen sie und froren gleich wieder, so daß wir bald alle daherkamen wie wandelnde Eiszapfen.

Als der Sturm immer stärker wurde, errichteten wir ein Lager mitten auf der schutzlosen Hochebene, im stärksten Unwetter. Oben auf dem Schlitten lag ein starkes Zelt, aber wir konnten nicht daran denken, dieses hier aufzustellen. Der Wind hätte es davongetragen, noch ehe wir einen einzigen Pflock eingerammt hätten. Von der übrigen Ladung des Schlittens wußten wir nichts und, müde wie wir waren, hatten wir auch keine Lust, jetzt eine Inventur zu machen, denn so etwas ist ein schwieriges, zeitraubendes Unternehmen, wenn man es ausführen muß mit klammen Fingern und dicken Pelzhandschuhen bei fünfzehn bis zwanzig Grad unter Null. Es war wohl die gewöhnliche Ausrüstung, die man einem Hundeschlitten mitgab auf die Reise nach den Jagdgründen, wo die Eskimos die Renntiere erlegten. Ein schöner, aus einer alten Petroleumbüchse gefertigter Ofen befand sich an Bord des Schlittens, aber nichts war zu finden, das irgendwie als Brennmaterial hätte dienen können, es sei denn, daß man den Schlitten selbst in Stücke geschlagen hätte. Wohl eine halbe Stunde lang suchten wir vergeblich in dem rasenden Unwetter. Es war die schlimmste aller Tantalusqualen.

So verbrachten wir ohne Zelt und Feuer eine recht unerfreuliche Nacht. Wir kauerten im Lee des Schlittens und spannten die Persenning als Dach. Das gab wenigstens die Illusion eines Schutzes. Aber der Wind peitschte das Tuch, und der kalte Schnee drang durch tausend Ritzen. War das eine Nacht! Wir knabberten die steinharten Schiffszwiebacke und das rohe Salzfleisch, das hart wie Stein gefroren war in dem Wetter. Keiner hatte einen Geschmack von der Mahlzeit. Wolfshungrig, wie wir waren, hätten wir auch eine Handvoll Sägespäne gegessen, wenn sie uns unter die Finger gekommen wäre. Ich versuchte zu schlafen, ungefähr so wie einer, der nächtlicherweile in einem dichtbesetzten Eisenbahnzuge ein wenig einnickt auf seinem Platze und sich dann glauben macht, er hätte geschlafen. Alle Augenblicke schreckte ich auf, wenn besonders heftige Windstöße an der Decke zerrten und sie in tausend Fetzen davonzutragen drohten, wie ein losgerissenes Bramsegel in einem Kap-Hoorn-Sturme. Trotz alledem war ich offenbar zuletzt doch noch ein wenig eingeschlafen, denn als ich mich wieder umsah, schien der helle Tag durch die Ritzen. Im Lee des Schlittens hatte sich ein Berg von Treibschnee angesammelt, durch den man sich nur mit Mühe einen Weg ins Freie bahnen konnte, wo eben, feurigrot und übernatürlich groß, die Sonne über den Horizont gekrochen kam. Auch die Hunde lagen, völlig zugeweht, in eng zusammengeringelter Haltung unter hohen Schneebänken, wo sie sich offenbar sehr behaglich fühlten. Der Wind wehte noch immer in heftigen Böen, der Treibschnee füllte noch die Luft, aber die Kraft des Sturmes war gebrochen. Bald wurde das Wetter so sichtig, daß man an die Weiterreise denken konnte.

Diese »Stille nach dem Sturme« war jedoch nur eine Frage der Auffassung. Schon wieder trieb der Schnee so heftig, daß man kaum von einem Ende des Schlittens zum anderen sehen konnte. Ringsum starrte der Blick in das graue, undurchdringliche Nichts, und es wäre wohl am geratensten gewesen, zu bleiben, wo man war, zumal auch der Kompaß in jenen nördlich des magnetischen Pols gelegenen Gegenden nur ein sehr unzuverlässiger Helfer ist. Der einzige einigermaßen verläßliche Wegweiser ist die Lagerung der Schneebänke. Mit geringen Ausnahmen weht der Wind immer entweder aus Nordosten oder Südwesten; demgemäß ist auch die Drift dieselbe, und, falls man sich auf einer größeren Fläche befindet, die das freie Spiel dem Winde erlaubt, liegen die Schneebänke in langen Wellen in der gleichen Richtung. Der Wanderer braucht also nur bei sichtigem Wetter den Winkel seiner Marschrichtung zu der Drift festzustellen, um dann bei jedem einigermaßen erträglichen Wetter einen ungefähr richtigen Weg zu ertasten. Alles das hört sich schön an in der Theorie. Etwas anderes ist es aber, wenn man solche Lehre in die Tat umsetzen will. Man schaut und schaut hinein in den tobenden Hexensabbat, man sucht nach den Spuren, man versucht, den weißen Schleier zu durchbohren, bis einem die Augen brennen, bis man irre wird an allen Richtungen der Windrose und man beim besten Willen nicht mehr weiß, ob man vorwärts oder rückwärts marschiert. Mühsam tappten wir durch den losen Schnee, der stellenweise den Schlitten fast zu vergraben drohte, und durch den Kopf gingen uns dabei allerlei Gedanken, wie sie einem kommen mögen, wenn der Magen knurrt. Immer wieder – ob ich wollte oder nicht – gingen meine Gedanken zurück nach Deutschland, und ich dachte mir, wie fein es doch wäre, wenn man zum Beispiel so einen richtigen Apfel zu essen hätte. Stundenlang hing ich diesem verlockenden Gedanken nach, während die Füße sich mechanisch weiter bewegten. – Ein Apfel! Gab es wirklich noch irgendwo ein Land, wo so etwas wuchs, oder war das nicht alles nur ein lockender Traum und die einzige Wahrheit war dieser Spuk? Wieder und wieder suchte ich diese Ideen abzuschütteln, die sich wie Nebel um meinen Kopf legten. Nicht viel anders mochte es in Heins Kopfe ausgesehen haben. Er murmelte etwas vor sich hin, während er mit gesenktem Kopf durch das Schneewehen schritt. Dann aber blieb er unvermittelt stehen und schaute mich an mit strahlenden Augen und einem wahrhaft verklärten Blick:

»Mensch, Plumen und Klüten!«

Gegen Mittag begann das Wetter immer heller zu werden. Ab und zu brach die Sonne hell durch den Treibschnee. Eine Stunde später war ringsum alles blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Da stand auch groß und breit und nicht mehr wie ein flimsiges, hutförmiges Etwas über der Ebene, sondern als ein schroffer, von Schluchten durchzogener Berg, der Jonas. Gerade voraus in unserer Wegrichtung begannen sich seine Umrisse aus dem grauen Nichts des verlaufenden Schneesturms abzusondern. Ein Stein fiel uns vom Herzen bei seinem Anblick. Der Zufall hatte uns richtig geführt. Wir waren nicht im Kreise herumgelaufen, wie wir gefürchtet hatten, sondern im Gegenteil ein schönes Stück vorwärtsgekommen. Während des ganzen Tages drängten wir weiter trotz der Müdigkeit, die uns wie Blei in allen Gliedern lag. Nichts Lebendes war zu sehen mit Ausnahme von einem Strich Gänse, der weit außer Schußweite von Süden herankam. Bei sinkender Nacht schlugen wir ein Lager auf am Fuße des Berges, der finster und trotzig dastand, ganz in schwarze Schatten gehüllt vor dem nördlichen Himmel, der wie ein einziges glutrotes Feuer brannte. Es war ein schöner Abend, mit so kristallheller Luft und so zarten Farben, wie sie nur das Eismeer kennt. Wie feiner Goldstaub lag es über der Ebene, die letzten Sonnenstrahlen brachen sich in Millionen Kristallen, und überall huschten grüne und blaue Lichter über die Schneefelder. Denn es gibt keinen Platz, auf dem die Farben sich so gerne tummeln wie auf einer weiten Schneefläche, und darum sind sie auch nirgends so lebendig wie dort, wo alles andere Leben unter der Decke des ewigen Winters erstarrt. Für den, der niemals jene Gegenden besucht hat, sind sie kalt und tot, von einer weißen Einförmigkeit, die in dem Menschen den Wahnsinn erwecken kann. Wer aber länger dort gelebt hat, der braucht nur einen Augenblick die Augen zuzumachen, um alles wieder vor sich zu sehen in leuchtenden Farben, wie man sie anderwärts vergebens sucht. Auch das Meer besteht nur aus farblosem Wasser. Und doch – was wäre bunter und vielgestaltiger als das Meer? Wer würde wohl müde werden, es anzuschauen in seinem ewigen Wechsel? Bald ist es der dunkelblaue Himmel, der sich darin spiegelt, bald das grollende Unwetter, bald wieder die königliche Glorie eines reinen, fleckenlosen Sonnenunterganges. Und ist es anders mit den Schnee- und Eisfeldern des hohen Nordens? Nur daß dort die Farben sich millionenfach brechen und verstärken in den frostigen Kristallen der reinen Luft und unendlich viel zarter als anderswo zerfließen in der langen, langen Dämmerung.

Ah, wenn man von den Farben leben, wenn sie mit all ihrer Glut ein Lagerfeuer entzünden könnten! Da saßen wir nun, wie die Nacht zuvor, schutzlos in der Kälte, die messerscharf vom klaren Nachthimmel herunterkam. Beim besten Willen war weit und breit kein Brennmaterial zu erspähen, und es war klar, daß unsere schönen Kochtöpfe, von denen wir mehrere an Bord des Schlittens hatten, nicht in Tätigkeit treten konnten, ehe wir ein recht fettes Großwild – am liebsten wohl einen Bären – vor die Büchse bekommen würden. Denn Speck ist Öl und Feuer. Mehrmals im Laufe des Tages hatten wir frische Spuren gekreuzt, aber in der Hitze des Vorwärtsdrängens war aller Jagdeifer vergangen. Nun aber, da es sich um Wärme oder Kälte handelte, hielt jeder schärfsten Ausguck. Jack, der die besten Augen hatte, blickte schon eine Weile gespannt nach Westen wie einer, der etwas ins Auge gefaßt hat. Plötzlich faßte er mich am Ärmel.

»Zwei Männer!« rief er voll Erstaunen.

Ich fing an zu lachen. Hätte er das Auftauchen einer Seeschlange verkündet, so hätte ich eher daran geglaubt als an solche Botschaft. Wie sollten Menschen in diese Wildnis kommen? Als ich aber selbst meine Augen in der angedeuteten Richtung bewegte, da erfror mir das Spottwort auf der Zunge. In weiter Ferne, aber deutlich sichtbar vor dem glutroten Abendhimmel, bewegten sich zwei schwarze Punkte langsam und gemessen, genau wie Menschen, über den Schnee. Oder wie Moschusochsen oder sonst ein vernunftbegabtes Geschöpf von dunkler Farbe. Langsam kamen sie näher und wurden dabei zusehends größer. Plötzlich aber erhoben sie sich auf Flügeln und flogen davon mit lautem Gekrächze. Es waren ganz gewöhnliche Raben, die die Luftspiegelung zu Moschusochsen verzerrt hatte.

Noch einmal überholten wir den ganzen Schlitten, ob sich nicht vielleicht doch etwas fände, was bei gutem Willen als Brennmaterial dienen konnte. Aber es war nichts zu entdecken, und das war um so mehr der Tantalusqual, als er wohlverproviantiert war mit allerlei leckeren Nahrungsmitteln, die nur einer geringen Erwärmung bedurften, um eine lukullische Mahlzeit zu liefern. Da waren ein Sack Mehl, eine Kanne Sirup, mehrere Pakete Tee, eine Büchse mit Speck und Bohnen, auf der eine verlockende Gebrauchsanweisung stand: »Fünf Minuten in kochendes Wasser stellen.« Das alles war für uns nur Theorie und Druckerschwärze. Alle Phantasie half uns nicht über die traurige Wirklichkeit hinweg. Der Tee blieb ungekocht, und der Sirup in der Kanne war so hart wie Zement. So hielten wir auch diesmal wieder eine kümmerliche Mahlzeit mit harten, trockenen Biskuits. Dann machte es sich jeder bequem, so gut er konnte, auf den Renntierfellen, die wir auf dem Boden des Zeltes ausgebreitet hatten, und versank in einen bleiernen Schlaf.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als wir uns am nächsten Morgen zur Weiterreise anschickten. Bei völlig windstillem Wetter passierten wir den Westfuß des Berges mit nordwestlichem Kurse. Noch nie während der ganzen Reise waren wir so schnell vorwärtsgekommen. Abgesehen von der glatten Bahn und dem günstigen Wetter beschleunigte auch das Feuer der Erwartung unsere Schritte. Nach den Zeichnungen der Karte mußte die Ebene sich auf der anderen Seite des Berges in ein Hügelland auflösen, das in sanften Wellen zur Küste abfiel. War das der Fall, so konnte man daraus auch auf die Zuverlässigkeit aller anderen Angaben schließen. Wenn dem aber nicht so war? Ich wagte es nicht auszudenken, was dann wohl für Aussichten für die Reise beständen. Hier sollte es sich erweisen, ob das Ding in meiner Tasche ein brauchbarer Führer war oder nur ein Spuk, der uns in der Wildnis narrte. Ich muß gestehen, daß die Angst mir eiskalt über den Rücken lief, während wir blindlings weitertappten durch die weiße Wüste!

Aber siehe da! Es ging alles nach Wunsch. Noch vor Mittag standen wir am Rande der Ebene, die schroff abfiel zu einem Berglande, das sich weithin gegen Norden erstreckte, bis zu einem dunklen Streifen unter dem Horizont, der auf offenes Wasser im Meere hindeutete. Eine ganze Weile stand ich wie angewurzelt und betrachtete das weite Land unter dem dunstverschleierten Himmel. Auch hier war alles nur Kälte und Leblosigkeit und glitzernder Schnee unter flimmernder Sonne. Irgend etwas schien jedoch zu sagen, daß irgendwo in diesen Tälern, die sich so sanft dahinzogen wie die Täler bei uns zu Hause, daß da auch Leben sein mußte und Tiere oder Menschen von irgendeiner Sorte. Ich holte die Karte hervor und verglich ihre Striche mit den Linien der Landschaft. Es stimmte alles ganz auffallend überein. Da war der Bergrücken, der nach Nordwesten führte, dort der Tafelgrund, den die Karte so anspruchsvoll einen Cañon nannte; und dort, weit draußen in dunstiger Ferne die hohe, fast nadelförmige Spitze, das konnte nur die Bramstenge sein. Es stimmte alles! Mein Herz hüpfte vor Freude bei der Feststellung, und zum ersten Male seit dem ersten Augenblick der Flucht kam über mich ein großes, schönes Gefühl der Ruhe und Sicherheit, als ob ich schon wieder in meiner Koje an Bord der »Bonanza« wäre und nicht auf einer Wildgänsejagd, hier draußen in der Wildnis, bei den Füchsen und Wölfen, tausend Meilen von irgendwo.

Auch Jack, der nichts von Karten verstand und auch nichts davon verstehen wollte, schien die Gegend sehr zu gefallen. Eine Weile schaute er mit leuchtenden Augen über die Hügel. Dann hob er lüstern schnüffelnd die Nase und sog begierig die Brise ein, die von dorther kam.

»Ich riechen Renntier!«

Noch eine Weile saßen wir in der Sonne, die schon beinahe heiß vom Himmel brannte. Ich legte mich lang auf den Schnee und kam dabei ins Dösen, nicht anders, wie man zu Hause dösen mag, wenn man im Grase liegt und den Schmetterlingen nachsieht und den Wolken, die über den blauen Himmel segeln. Um so saurer wurde mir nachher das Arbeiten, als gleich wieder die Tretmühle am Schlitten begann. Hals über Kopf ging es den steilen Abhang hinunter in ein in etwa nordnordwestlicher Richtung laufendes Längstal, wo wir munter weitereilten auf ungebahnten Wegen durch die pfadlose Wildnis. Die Sonne schien immer wärmer. Der Wind wehte ganz leise. Es war, als ob man plötzlich in eine andere Welt gekommen wäre. Zwar war auch hier auf Tal und Höhen nichts anderes zu sehen als die ewige, einförmige Decke von Eis und Schnee; kein Fleckchen Erdreich war zu sehen, es seien denn die hohen, schwarzen Felsblöcke, die da und dort im Talgrund lagen, als ob sie ein Riese hierhingeschleudert hätte in seiner Laune. Aber es war etwas in der Luft, das wie balsamischer Südwind daherkam nach den schneidenden Stürmen der Hochebene. Wohin man blickte, sah man im Schnee die Spuren der wilden Renntiere und die breiten, mit kleinen Punkten umgrenzten Abdrücke der Bärentatzen. Ab und zu war es, als ob ein weißer Polarfuchs über die Wegrichtung huschte. Auf allen Steinen saßen Schneeulen, deren unheimliches Hu-Hu sich mit dem melancholischen Geheul der Wölfe mischte, das von irgendwoher aus der Wildnis kam. Es war nicht eben ein freundliches Konzert, aber in meinen Ohren klang es wie süße Musik, denn es waren doch einmal wieder Laute in dieser Lautlosigkeit. Nach Tagen des Schweigens kam einem die Erkenntnis, daß man nicht das einzige stimmbegabte Geschöpf in dieser Wildnis war, und das erfüllte einen mit großer Beruhigung, selbst wenn es nur Eulen und Wölfe waren, die da mit Engelszungen sangen. Der Tag war schon wieder weit vorgeschritten, als wir eine Atempause machten unter einem Felsblock, der weit über den Abhang ragte und so eine völlig schneefreie Höhle bildete. Es war ein schönes Plätzchen für eine Lagerstelle, aber irgend etwas schien nicht geheuer. Überall war der Schnee hartgetreten von den Spuren des Wildes. Die Hunde, die sonst bei jeder Rast sich niederzuwerfen pflegten wie so viele Bleiklötze, standen knurrend auf einem Klumpen und schauten wild in die Einöde, mit flackernden Augen.

Der Grund der Höhle war bedeckt mit Moosen und Flechten und von ganz kleinen, verkrüppelten Kriechpflanzen, wie sie überall auf den Prärien des hohen Nordens vorkommen. Ich kroch hinein auf der Suche nach vertrocknetem Gestrüpp, das sich als Brennmaterial verwenden ließe. Die Höhle war größer, als sie von außen ausgesehen hatte. Der vordere Teil bot Raum genug, um einen Reiter auf seinem Pferde zu beherbergen. Ein rundes, fast wie ein künstliches Mauerwerk aussehendes Gewölbe führte in einen inneren Teil, von wo ein eiskalter Lufthauch herauskam. Der Instinkt des Naturforschers siegte über alle bessere Vernunft, und ich machte mich an die Untersuchung dieses so furchtbar interessanten Höllenrachens. Vorsichtig tappte ich durch die ägyptische Finsternis über die glatte Bahn, die immer tiefer führte. Mit jedem Schritt wurde es unheimlicher. Der dumpfe Modergeruch wurde immer unerträglicher. Zuweilen huschte und raschelte es in der Finsternis. Es mochten wohl Ratten und Mäuse sein, die hier ihr Unwesen trieben. Oder ein hungriger Polarwolf. Oder war es nur das Spiel der überhitzten Phantasie? Plötzlich ertönte aus nächster Nähe, aber vom Eingang her, ein dumpfes Knurren, wie das eines ausgewachsenen Kettenhundes. Zugleich ließ sich von draußen her die Stimme des Eskimos vernehmen.

»Nannuk! Nannuk! Großer Nannuk!«

Die Hunde erhoben ein ohrenbetäubendes Geheul. Erschreckt wandte ich mich um, direkt im Eingang der Höhle stand ein Eisbär von einem Umfang, der mindestens das Doppelte war von all den Bären, die ich bisher gesehen hatte. Wie angewurzelt blieb er auf meiner Rückzugslinie stehen, den spitzen Kopf, der so lächerlich klein und zierlich ist im Verhältnis zu der übrigen Ungeschlachtheit seines Körpers, hob er witternd zur Decke. Dann kam er unbesorgt herangetrollt, in einem gleichmäßig wiegenden Gang.

Offenbar hatte er noch nie in seinem Leben einen Menschen gesehen und wußte nicht, wessen man sich zu versehen hat im Umgang mit diesem gefährlichsten aller Raubtiere. Was er immer auch im Schilde führte, Gutes konnte es jedenfalls nicht sein. Am Ende kam es auf dasselbe heraus, ob er mich mit seinen Tatzen im Zorn erschlagen oder aus lauter Liebenswürdigkeit in der Umarmung ersticken würde. Ich vergaß alle Vorsicht und rannte laut schreiend immer tiefer in den schwarzen Schlund der Höhle hinein. Es war nur eine Frage der Sekunden, wann er mich einholen würde. Da krachte draußen ein Schuß. Die Kugel pfiff haarscharf an meinem Kopfe vorbei und schlug klatschend in die Felswand. Wie versteinert blieb der Bär stehen vor diesem neuen Wunder. Er stand nun ganz im Schatten der Höhle. Nichts war von ihm zu erkennen als die beiden Augen, die wie zwei grüne flackernde Teufelsaugen in der Finsternis glühten. So stand er wohl eine ganze Minute lang. Oder waren es deren zehn? Oder eine Stunde? Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Draußen krachte Schuß auf Schuß, und es war offenbar, daß keiner sein Ziel verfehlte. Jetzt erst schien Meister Petz zum Bewußtsein seiner Lage zu kommen. Mit einem heiseren Gebrüll, das in der Höhle ein schauriges Echo weckte, stellte er sich auf die Hinterläufe. Dann schnellte er vorwärts in der Dunkelheit. Mit ein paar täppischen Sätzen hatte er mich eingeholt. Ein Tatzenhieb seiner rechten Klaue verursachte eine häßliche Wunde an der Hand, die den Knochen bloßlegte. Noch heute ist an ihrer Stelle eine tiefe Narbe, die mir später noch manchen Verdruß bereitet hat, weil böse Menschen sie mit ganz anderen Abenteuern in Verbindung bringen. Der Anprall hatte mich zu Boden geworfen. Ich lag auf dem Rücken, und das zottige, übelriechende Ungeheuer direkt über mir, auf allen Vieren. Aus einer klaffenden Kopfwunde floß das dunkelrote, fast schwarze Blut in Strömen, mir gerade ins Gesicht. Der Strom wollte mich fast ersticken. Aber ich rührte mich nicht. Ein tiefer Seufzer erschütterte den ganzen Körper, dann brach die gewaltige Masse dicht neben mir zusammen wie ein eingestürztes Haus. Im nächsten Augenblick war Jack zur Stelle und stieß das lange Messer noch einmal tief in die Eingeweide. Als der Bär kein Lebenszeichen mehr von sich gab, putzte er sein Messer und biß ein Stück Tabak ab. Dann erst machte er sich daran, den Schaden zu besehen. Er schien sehr erstaunt, mich noch unter den Lebenden zu sehen.

»Nix kaputt? Nix Nannukmagen?« sagte er ruhig. »Allright, very well

Denn die Sorte läßt sich von Tod und Leben nicht imponieren. Nachdem wir mit vieler Mühe mein Bein freigemacht hatten, das der Bär im Fallen unter sich begraben und fast zerquetscht hatte, humpelte ich wieder hinaus ins Tageslicht, das ich um ein Haar nicht wiedergesehen hätte. Ich bin später noch in manchen Höhlen gewesen, auf jener sowohl wie auf anderen Reisen, aber in keiner je wieder, ohne mich vorher eingehend umzuschauen, denn es sind die gebrannten Kinder, die das Feuer scheuen.

Als ich draußen ankam, waren sie eben dabei, noch einen zweiten Bären abzuhäuten. Es war das Männchen, das unbesorgt über den Talgrund kam, um sich nach dem Befinden seiner besseren Hälfte zu erkundigen, die, für mich so sehr zur Unzeit, in der Höhle logierte.

Wie dem auch sei: Da war nun wieder »Kaukau angenini«, wie die Eskimos sagen. Die Hunde fielen mit wahrem Wolfshunger über die Fleischfetzen her und schluckten und würgten, bis sie einfach nicht mehr konnten und sich flach in den Schnee legen mußten aus purer Überfressenheit. Das Erfreulichste bei diesem Reichtum war aber die Tatsache, daß wir endlich wieder Brennmaterial im Überfluß hatten. Der Speck lieferte das Öl, ein Stück Moos den Docht für die Lampe. Bald kochte der Teekessel über dem Feuer, und die Welt war auf einmal wieder wunderschön. Es war so warm, daß man draußen vor dem Zelte sitzen konnte. Die Sonne, die kaum noch über die Hügel hinwegschaute, goß einen Goldregen über die Schneefelder, und es war, als ob die ganze Natur sich reckte und streckte in wonniger Behaglichkeit. Ehe wir noch recht unser Lager aufgebaut hatten, besuchten uns schon die Spatzen, die piepsend um den Kochtopf hüpften.

Am anderen Morgen weckte uns das Zwitschern der Vögel und das neckische Spiel der Sonnenstrahlen, die in flüssigen Ringeln auf dem Zeltboden tanzten. Wieder war es ein warmer, windstiller Tag. Der Schnee war weich und naß, und der Schlitten blieb alle Augenblicke stecken. Schon von der ersten Stunde dieses mühsamen Marschierens waren wir alle in Schweiß gebadet. Fast mit jedem Schritt talabwärts in unserer Windrichtung wurde es lebendiger in der Umgegend. Da und dort erhob sich zwischen den Steinen eine Schar von Schneehühnern und lief schwirrend davon. Die Eulen saßen regungslos auf den Felsen, und die Raben stolzierten schwarz und gravitätisch durch diese Symphonie in Weiß. Hoch oben in der blauen Luft kamen als Boten des Sommers die Gänse in langen Strichen herangesegelt.

Bald kamen wir in das Tal eines kleinen Flusses, dessen Wasser man deutlich rauschen hörte unter der Eisdecke. Die Oberfläche des Flußeises war vom Winde spiegelblank gefegt, wie eine Schlittschuhbahn. Auf der Karte war diese Stelle deutlich eingezeichnet.

»Blowhole – das Spautloch«, hieß die Bezeichnung. Und sie machte ihrem Namen Ehre. Ein scharfer Talwind ging klagend zwischen den Felsen. Da er gerade von achtern kam, verloren wir keine Zeit, ihn auszunutzen nach seemännischer Art. Wir heißten die Schlittensegel, nahmen die Hunde an Bord, und fort ging die Reise in ansehnlichem Tempo.

Stellenweise war das Tal recht eng, und an einzelnen Punkten traten die Felsen so nahe zusammen, daß es aussah, als ob sie eine einzige Wand bildeten, die das Tal abriegelte. Erst bei näherem Herankommen gewahrte man die schluchtartige Öffnung, durch die der Flußlauf seinen Kurs verfolgte. In solchen Schluchten wuchs der Wind zu orkanartiger Stärke. Man mußte das Segel herunternehmen, und es bedurfte aller Steuerungskunst dreier starker Männer, um zu verhindern, daß der Schlitten in seiner rasenden Fahrt an den roten Felswänden zerschellte. Spät abends erreichten wir eine Gegend, wo das Land wieder offener wurde und keine Felsblöcke mehr aus der Schneedecke schauten. Zahllose Spuren von allerlei Großwild liefen hier über die Fahrtrichtung. Etwas abseits, an einem Hügelhang, bewegte sich, deutlich sichtbar auf dem weißen Hintergrund, eine große Anzahl dunkler Punkte, die Jack als eine Herde wilder Renntiere ausmachte. Der Flußlauf war nunmehr eingesäumt mit kleinen Weidenbüschen, der Aufenthaltsort zahlloser Enten und sonstiger Vögel, die bei unserem Herannahen mit lautem Quack Quack davonflogen.

Unversehens standen wir am Ufer eines großen, fast kreisrunden, zwischen flachen Hügeln eingebetteten Sees. Er war noch ganz mit Schnee und Eis bedeckt, und seine Grenzen waren nur erkenntlich an dem Saum von Weidenbüschen, die die Ufer umgaben. In einiger Entfernung bemerkte man einen Spalt im Eise, aus dem das Wasser wie aus einem Springbrunnen hervorquoll und das umgebende Eis weithin überschwemmte. Es war schon beinahe dunkel, und die Nordlichter standen zitternd am Himmel, als wir unser Lager aufschlugen, hart neben einem besonders dichten Weidengebüsch, in dem sich eben erst mit geschäftigem Geschnatter ein Strich Wildgänse niedergelassen hatte. Hier wenigstens fehlte es nicht an Nahrungsmitteln und auch nicht an Brennmaterial. Hastig raffte ich zusammen, was ich davon finden konnte. Als das Feuer in Gang war, warf ich noch ein Stück Bärenspeck hinein, der es zischend aufflammen ließ mit dunkelroter Farbe. Ein Schuß mit dem Schrotgewehr brachte zwei Wildgänse zur Strecke, die im Nu gerupft und im Kochtopf waren. Über dem kam auch Jack zurück, der gleich bei unserer Ankunft auf rätselhafte Weise in den Büschen verschwunden war. Die Begeisterung war nicht gering, als die auf einer Weidengerte aufgespießte Beute von großen, glänzenden Weißfischen sichtbar wurde.

In jener Nacht saßen wir noch lange beisammen und taten uns gütlich an Fischen und Gänsebraten und schwatzten und lachten und vergaßen alle Müdigkeit über der günstigen Wendung des Geschicks. Aber lange, nachdem die anderen schon eingeschlafen waren, saß ich vor dem Zelt und schaute in das knisternde Feuer, das unstet flackerte im Winde, der kalt aus dem Talgrund kam. Und meine Gedanken waren wilder als der Wind und unruhiger als das Feuer. Die Müdigkeit lag mir schwer in allen Gliedern. Alle Augenblicke fielen mir die Augen zu, aber schlafen konnte ich nicht. Immer mehr kam ich ins Grübeln. Mit wirrem Kopf saß ich vor dem Feuer, das puffend und knisternd in sich versank, und lauschte auf die Stimmen der flüsternden Nacht. Von fernher heulten die Wölfe, und neben dem Feuer knurrten zuweilen die Hunde, wie im Traum. Das ganze Abenteuer, in das wir uns gestürzt hatten, kam mir auf einmal so unwirklich, so unmöglich vor, daß ich mich fragen mußte, ob ich noch ich selber war oder ob das alles nur ein Spuk war, der mich narrte, ein phantastischer Traum, aus dem ich einmal aufwachen würde wie einer, der ein Gespenst gesehen. Was sollte sie eigentlich, diese seltsame Reise, von irgendwo nach irgendwo? So etwas konnte man zuweilen in den Büchern lesen, aber daß das auch in Wirklichkeit möglich wäre, das hatte ich im Ernst noch nicht vermutet.

Gewiß: da war die Karte! Aber das war doch nur ein dünner, zerbrechlicher Faden als ein einziger Führer durch Eis und Winternacht. Ein Stück Papier! Und wer garantierte dafür, daß sie nicht ein Narrenseil war, das uns in dieser Wildnis foppte?

Noch einmal – aber zum wievielten Male? – holte ich sie hervor aus dem schmutzigen Tabaksbeutel. Noch einmal breitete ich sie vor mir aus und studierte sie mit geröteten Augen und klammen, halbverfrorenen Fingern und achtete nicht, wie darüber die Sonne schon wieder hinter den Hügeln hervorgekrochen kam und Land und Himmel vergoldete in ihrer kalten Schönheit. –

Inzwischen waren die Hunde immer unruhiger geworden. Sie knurrten und murrten, und nun waren sie alle auf den Beinen und bellten in den heraufziehenden Tag hinein. Es mußte wohl ein Bär, ein Moschusochse oder eine Herde Karibus in der Nähe sein, denn daß es die bloße Freude an der Morgenröte war, die sie zu solcher Begeisterung entflammte, war doch nicht wohl anzunehmen bei solch prosaischem Geschöpf wie einem Eskimohund. Immer barbarischer wurde der Lärm. Nun war auch Jack auf den Beinen und starrte mit den Hunden hinaus nach einem Gegenstand auf dem Seeis, der für schlechte Kabelunaaugen nicht erkennbar war.

»Nannuk! Nannuk!« rief er voll Begeisterung, indem er seine Winchesterbüchse ergriff. Gleich darauf legte er sie wieder beiseite mit einem erstaunten Gesicht. Quer über das Eis kam, vom anderen Ufer des Sees her, ein dunkler Gegenstand, der sich gerade auf unser Lager zu bewegte. Ein Nannuk konnte es nicht sein. Dafür war er zu dunkel, und außerdem waren die Bewegungen viel bestimmter, als man bei einem Tiere der Wildnis vermuten konnte. Schnell kam es näher. Nun konnte man es deutlich ausmachen. Es war wahrhaftig ein Mann!

Diese Erkenntnis kam mir fast wie eine Offenbarung. Was man in anderen Zonen zuerst vermutet hätte, war uns hier in dieser Einöde wie ein Wunder. Doch da ging es deutlich erkennbar vor dem hellen Hintergrund der aufgehenden Sonne. Ein großer, sehr magerer Mann mit einem Sack auf dem Rücken, Gewehr über der Schulter und Schneeschuhen von der breiten, geflochtenen Sorte, wie sie Eskimos tragen. Als er in Rufweite herangelangt war, blieb er stehen, hob die Hand an den Mund und rief uns an nach seemännischem Brauch: »Schiff ahoi! Was für ein Fahrzeug ist das?«

»Bootsmannschaft der ›Bonanza‹!«

»Bonanza? Kenn' ich nicht. Dreht bei, bis ich komme!«

Langsam kam er näher, inmitten der tobenden Hundemeute, die er sich mit kräftigen Schlägen seines Stockes nur mühsam vom Halse halten konnte. Im Schatten der aufgehenden Sonne war sein Gesicht nicht zu erkennen, aber seine Gestalt wuchs immer mächtiger aus der Wildnis: ein Mann weit über Normalgröße mit auffallend langen Armen und Beinen, die seiner Erscheinung etwas Affenartiges verliehen. Er trug einen eng anliegenden Anzug aus Seehundfell. Der lange, knochige Kopf stak in einer von einem Wolfsfell umrahmten Kapuze.

»Muktuk Kabeluna«, meinte Jack. Ein schwarzer Weißer.

Es war in der Tat ein farbiger Gentleman, der uns da die Ehre seines Besuches antat. Nicht eben schwarz, aber von jener interessanten Kaffeefarbe, wie man sie bei den Mischvölkern auf den Azoren und Kapverdischen Inseln oder bei den Kanaken der Südsee antrifft. Er hatte ein verwittertes, pockennarbiges Gesicht, mit ungewöhnlich prononcierter Nase und großen, lebhaften, lackglänzenden Augen. Als er dicht herangekommen war, machte er eine Verbeugung, die nicht ohne Grazie war.

»Good morning, gentlemen«, sagte er mit einer weichen Stimme, die seine westindische Herkunft verriet. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen! Verdammt froh bin ich darüber! Seit Jahren habe ich keinen Christenmenschen mehr gesehen, abgesehen von Fung Li und Possum und Tom und Admiral Dewey. Und die kann man doch nicht zu den Christen zählen!«

Mit einem Satz war er mitten unter uns. Ehe ich es verhindern konnte, packte er meine Hand in seinen Riesentatzen wie in einem Schraubstock und schüttelte sie wie ein Pumpenhebel. Dann ließ er von mir ab und wiederholte die Zeremonie bei den anderen. Nachdem er so der Reihe nach shake hands gemacht hatte, setzte er seine Rede fort, ohne einem anderen Gelegenheit zu einer Zwischenbemerkung zu geben.

»Mein Name ist Jonas. – Abraham Lincoln Jonas. Direkt von Jamaika, wo der gute Rum herkommt, von dem ich nimmer einen Tropfen zu trinken bekommen habe in so vielen Jahren. Meine Mutter stammt aus dem lieben alten Georgia, wo die Wassermelonen so groß sind wie die Kanonenkugeln. Mein Großvater ist dort Reverend gewesen an der Episkopalkirche. Man sagt, daß ich viel Ähnlichkeit mit ihm habe, und das will ich gern glauben, denn ich war ein hübscher Mann in meinen Tagen, ehe ich aufs Salzfleisch- und Hartbrotessen verfallen bin an Bord des alten ›Walroß‹.«

»Walroß?«

»Was denn sonst? Ein ordentlicher Seemann muß Schiffsplanken haben, auf denen er sein Salzpferd essen kann. Dort unten liegt der Kasten, nicht eine halbe Tagesreise von hier. – Und von wo mögt ihr herkommen? – ›Bonanza‹? Noch nie etwas gehört von solchem Schiff. – ›Bonanza‹! Ha! Ha! Ja, jetzt fällt mir was ein! Jetzt weiß ich!«

Er fing an zu lachen über alle Stufen der Tonleiter und lachte immer weiter, bis ihm die Tränen über die schokoladenbraune Gesichtshaut rollten. Inzwischen hatten wir ihn in das Zelt gelotst, wo seine schwarzen Augen auf den dort aufgebauten Schätzen ruhten in funkelnder Begeisterung. Wieder packte er mich mit seinen unwiderstehlichen Schraubstocktatzen, und seine Stimme zitterte vor Erwartung.

»Sag' doch, Jim, Jack, oder wie du immer heißen mögst, ist da nicht auch Tabak unter dem Haufen? Wenn das der Fall ist, so verkaufe ich dir meine Seele gleich jetzt für ein einziges Lot. Tabak! Seit Jahren habe ich so etwas nicht mehr gesehen! Alles haben wir an Bord des ›Walroß‹. Mehl, Zucker, Hartbrot, Salzpferd. Es fehlt uns an nichts. Aber meine Seele ist krank nach Tabak! Mit der Zeit macht man sich ja so eine Art Preventer. Seegras und Roßhaar und Kabelgarn habe ich in meiner Pfeife geraucht, aber es ist doch alles nicht wie der richtige Stoff.«

Ich gab ihm ein Pfund von dem schwarzen Plattentabak, nach dem er gierig schnappte mit seinen krummen Fingern. Während er mit religiöser Andacht den Tabak zerschnitt, in der Hand zerrieb und dann die Pfeife stopfte, war kein Wort mehr aus ihm herauszubringen. Erst als das Zelt ganz erfüllt war von den blauen Wolken, fuhr er bedächtig in seiner Rede fort. »›Bonanza‹? Nein, von dem Kasten habe ich noch nie gehört. Aber ich wette meinen Hut gegen das Pfund Tabak, daß Alaska-Jim dort an Bord ist.«

»Das ist er auch.«

»Das wußt' ich zuvor. Alaska-Jim ist überall dort, wo's etwas zu erben gibt.«

»Da haben Sie den Herrn wohl schon früher gekannt?«

»Ob ich ihn kenne? Niemand kennt ihn besser als Abraham Lincoln Jonas. Ein glatter Gentleman mit einer langen Zunge, aber mit einem kurzen Gewissen. Ich habe ihn selber gesehen, damals in der Missionsstraße in San Franzisko, als er Steuermann war an Bord der ›Comliebank‹. Eben geht er an einem Wirtshaus vorbei, und heraus kommen drei Paar Hände, die eine alte Rechnung mit ihm hatten von wegen Schikanieren an Bord. Alle waren bewaffnet mit Scheidemessern, die groß genug waren, um den Teufel zu erschrecken. Aber nicht Alaska-Jim. Er boxt den ersten in den Straßengraben, schlägt den beiden anderen die Köpfe zusammen und bringt sie alle vor Anker in der Polizeistation. Ein andermal, als der Bootsmann auf der ›Mary Sachs‹ ihm den Walfisch verscheuchte, da ging er auf ihn los mit dem Bombengewehr und sprengte ihn in die Luft, daß man die Trümmer in einem Monat nicht mehr zusammengefunden hätte. Ich habe es gesehen mit meinen eigenen Augen. – Ah, Teufel waren Sonntagsschüler neben Alaska-Jim!«

So plätscherte seine Unterhaltung noch eine Weile weiter um dieses Thema, bis sie plötzlich auf ein anderes Gebiet übersprang.

»Ich bin schwarz«, sagte er unvermittelt. »Oder wenigstens doch nicht gerade das, was man einen weißen Mann nennen könnte. Aber ich bin nicht der erste beste hergelaufene Nigger, wie ihr wohl meinen könntet, wenn ihr mich daherkommen seht mit einem Sack auf dem Rücken. So wie ihr mich da seht, bin ich Kapitän. Kapitän und Reeder, Makler und Versicherer, alles in einer Person, seitdem alle Mann an Bord zu David Jonas gegangen sind. Alle, mit Ausnahme von Fung Li, und den kann man doch kaum unter die Menschen rechnen. Herr und Meister bin ich über das Schiff. Kein Mensch ist da als Boß. Keine Arbeit, keine Nachtwachen mehr für Abraham Lincoln Jonas! Ich gehe auf die Jagd, wenn es mir Spaß macht und lege mich zur Koje, wenn es mir darum zu tun ist. Fung Li kocht mir das Essen. Ich schlafe viel, arbeite wenig und werde mit der Zeit fett wie ein Proviantmeister. Aber meine Seele ist krank nach christlicher Gesellschaft. Kommt mit mir, Jungens! Ich werde euch heuern als Bootssteuerer. Ich werde jedem eine Koje in der Kajüte einräumen, und ihr sollt leben wie die Kampfhähne.«

Er unterbrach seine Rede und ließ seine großen, leuchtenden Augen von einem zum anderen gleiten. Nicht die Hälfte hatten wir verstanden von dem Gerede. Nur ungefähr konnte ich mir zusammenreimen, was es mit Tom und Fung Li für eine Bewandtnis hatte, und gar die Anwesenheit einer solchen Respektsperson, wie die des Admirals Dewey, war mir ein unlösbares Rätsel. Da er uns aber gar so freundlich anlachte mit seinem dunkelbraunem Negergesicht, aus dem die weißen Zähne wie Perlen leuchteten, sagten wir nicht Nein zu der Einladung.

Im Nu war das Lager abgebrochen, und schon waren wir auf dem Weitermarsch unter Führung des Kapitäns Abraham Lincoln Jonas, der mit seinem wiegenden Seemannsgang weit voraus marschierte, um den Hunden die Spur zu brechen. Wir marschierten quer über den See und dann steil bergauf bis zur Spitze eines Hügels, von wo das Land wieder steil abfiel zur Meeresküste. Wieder, wie auf der anderen Seite der Halbinsel, lag es auch hier endlos weit ausgebreitet in seiner schaurigen Eintönigkeit von Eis und Schnee. Fern im Norden lag unter dem Horizont das offene Wasser als ein dunkelblauer Streifen, und darüber stand ebenso dunkelblau sein Widerschein am blassen Himmel. In einer kleinen, gegen Westen offenen Bai lag fest eingefroren zwischen übereinandergeschobenen Treibeisschollen eine Bark, die der »Bonanza« zum Verwechseln ähnlich sah. So viel Ähnlichkeit hatte die Gegend mit der, die wir eben erst verlassen hatten am Anfang unserer Reise, daß ich mich einen Augenblick fragen mußte, ob wir nicht am Ende im Kreise herumgegangen und an den Anfang zurückgekommen wären. Ich mußte mich in den Arm zwicken, um mich zu vergewissern, daß ich nicht träumte.

Die anderen waren weniger angekränkelt von der Blässe des Gedankens. Am wenigsten die Hunde, die dort unten offenbar eine Mahlzeit witterten. Hals über Kopf ging es bergab, und schon nach zwei Stunden hielten wir auf dem holperigen Eis der Bai, gerade vor dem Schiff.

Von allen Schiffen, die ich je gesehen habe, war dieses das verwahrloseste. Es machte mehr den Eindruck eines von Gott und der Welt verlassenen Wracks. Das ganze stehende Gut hing lose herunter. Überall baumelten die losen, halb ausgeschorenen Gordings und Gaitaue. Die Bramrahe war in der Mitte durchgebrochen, und es sah aus, als ob der andere Teil im nächsten Augenblick auch herunterkommen wollte. Die Großrahe hing lose herunter wie ein lahmer Flügel. Alles war verwittert und verdorben. Von überall kam eine knarrende, ächzende Musik aus rostigen Lagern und ungeölten Blöcken. Kein Lebewesen war zu entdecken, es sei denn eine Eule, die unbeweglich, mit großen, starren Augen auf dem fast gänzlich zugeschneiten Gangspill saß.

»Das ist Tom«, sagte Kapitän Jonas, während wir an Bord gingen, »mein alter Schiffskamerad. Und ein verdammt besserer als manche von denen, die keine Federn haben.«

 


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