Kurt Faber
Die Seelenverkäufer
Kurt Faber

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Alaska-Jim

Die Brise, die uns bei den Hawai-Inseln zu Hilfe gekommen war, verstärkte sich von Stunde zu Stunde. Bald kam sie aus Nordosten mit der Stärke eines halben Sturmes. Die »Bonanza« lag über wie eine Jacht, mit der Leereling beinahe unter Wasser. Scharfe Spritzer flogen polternd und rasselnd über das Verdeck. Es war wieder einmal ein richtiges Passatwetter, obwohl wir schon wieder aus den Passatregionen hinaus im Norden des Wendekreises waren. Der Himmel war tiefblau mit wolligen Windwolken, die darüber segelten. Fliegende Fische schwirrten über das dunkelblaue, von weißen Schaumflocken lustig durchsetzte Wasser, und überall in der Luft sah man die geschäftigen Bubies und die flinken Fregattenvögel. Noch nie auf der ganzen Reise hatte ich so viel Phosphor im Wasser gesehen. Nicht nur das Kielwasser des Schiffes, sondern das ganze Meer weithin funkelte und glühte nächtlicherweile in dem weißen Lichte. Wo immer das Wasser im Lee durch die Speigatts drang und sich auf dem Verdeck verlor, da war es, als ob einer von irgendwoher eine Handvoll Diamanten ausgestreut hätte. Während der ganzen Nacht konnte ich nicht schlafen, selbst in der Freiwache nicht, und das wollte schon etwas heißen. Mit gierigen Augen sog ich den faszinierenden Anblick ein, und ich dachte mir, welch wunderbares Handwerk doch das des Matrosen wäre, wenn man immer solches Wetter hätte. Aber dieses ist wohl auch der beste Bundesgenosse aller harten Kapitäne und aller hungrigen Schiffe. Wie mancher schon hat in kalten Nächten bei hungrigem Magen der Seefahrt abgeschworen und ist dann trotz allem und allem wieder in das Garn gegangen, wenn in schwachen Stunden das Brausen des Windes seine Ohren betörte und das Phosphorleuchten in seine Augen kam! Ich will indes auch diese Geschichte kurz machen mit einem weiteren großen Sprung, der uns direkt ins Beringmeer führt.

Eines Tages wurde vom Ausguck das Eis gesichtet. Weit in der Ferne lag sein Widerschein als ein blendend weißer Streifen unter dem düsteren Horizont, über der fast tintenschwarz schimmernden Wasserfläche. Ehe man recht wußte, wie es geschehen, waren wir schon mitten drin. Wer nie in seinem Leben auf einem vorwärtsdrängenden Schiffe durch ein Feld von Treibeis gefahren ist, der kann sich nur schlecht eine Vorstellung machen von dem eigenartigen Zauber dieses Bildes. Die See ist dort immer spiegelglatt, da das Gewicht des Eises keinen Seegang aufkommen läßt. Ist das Wetter schön und der Himmel blau, so betrachtet er sich in dem Wasser wie in einem Spiegel, und die Eisschollen auf dem Wasser sehen aus wie weiße, fliegende Schäfchenwolken. Unter der Wasserfläche leuchten sie in einem hellen Smaragdgrün, und alles in allem ist es ein buntes, lebendiges Bild, das wohl gemalt zu werden verdiente. Das Treibeis, das man beim Eintritt in die nördlichen Meere zuerst antrifft, liegt immer in vereinzelten Feldern, durch die sich das Schiff mit Knirschen und Krachen mühelos einen Weg bahnen kann. Dazwischen liegen wieder weite, völlig eisfreie Meeresflächen. Je weiter man vorwärts kommt, je dichter werden die Eismassen und je seltener die eisfreien Zwischenräume. Ehe man sich's versieht, kommt das Eis von allen Richtungen hereingetrieben, und schon ist man eingeschlossen von den dicken Massen des Packeises, die weithin nicht einen Tropfen offenen Wassers übriglassen.

Es hatte den Anschein, als ob in diesem Jahre das Eis besonders weit nach Süden vorgedrungen war. Schon in der Mitte des Beringmeeres waren wir hart und fest eingeschlossen als Gefangene des Eises. Soweit man blickte, war nichts zu sehen als Eis und immer wieder Eis nach allen Himmelsrichtungen. Ein frostiger Hauch war in der Luft. Am Himmel irrlichterten die Nordlichter, die ich nun zum ersten, aber wahrlich nicht zum letzten Male zu bewundern Gelegenheit hatte. Aus der Ferne kam das Bellen der Seehunde und das heisere Schreien der Lummen. Wir waren nicht die einzigen, die hier im Eise lagen. Da und dort sah man die schlanke Takelage einer Bark zwischen den Eisfeldern. Es schien, als ob die ganze Flotte hier festgehalten werde. Es waren Schiffe aus San Franzisko, von dem Typ der »Bonanza«, aber alle mit einer Hilfsmaschine ausgerüstet für den Kampf mit dem Eis. Es war offenbar, daß wir hier in eine Gesellschaft geraten waren, in die wir nicht recht paßten. Kaum waren wir angekommen, als die Leute der anderen Schiffe über das Eis herüberkamen, um uns zu »gammen«. Neugierig schauten sie sich um, schüttelten mißbilligend die sachverständigen Köpfe und meinten, wir würden in dieser Gegend nicht länger andauern als ein Schneeball in der Hölle. Das Beste, was wir tun könnten, wäre, so schnell wie möglich wieder umzukehren zu den Kanaken und den Kokosnüssen, wo wir hingehörten.

Die Bootssteurer versammelten sich mit ihren Kameraden in der Kombüse, wo Doc ihnen einen steifen Grog braute. Während nun das kochende Wasser ein lustiges Lied im Teekessel sang, spannen unsere Gäste lange Garne, denen ich begierig zuhörte, denn was sie zu erzählen hatten, das waren Dinge aus einer anderen Welt, von deren Existenz ich bisher noch kaum zu träumen gewagt hatte.

»Wenn einer ein Seemann ist, so ist's MacKay«, sagte einer von den Gästen, ein dürrer Mann mit einer ungesunden Gesichtsfarbe und einer großen Zahnlücke, die er wohl einem Boxkampfe verdanken mochte, »abgesehen vom Whiskytrinken hat's ihm noch keiner gleichgetan in der ganzen Flotte.«

»Er war es gewesen«, verbesserte Luis Gonzalez. »Aber wo ist er heute? Tot und unter der Luke. Ein Futter für die Fische, wie die anderen. In fünf Jahren hat man nichts mehr von ihm gehört. Das hat er nun von seiner Insel.«

»Warum nicht gar!« brauste der andere auf. »Zehn Jahre lang komme ich nun schon hier herauf, und da war kein Sommer, in dem ich dieses Lied nicht hörte. Aber es sind die Totgesagten, die am längsten leben. Sie sind ein gutes Paar, MacKay und das alte ›Walroß‹. Und ich wette meinen Zahltag gegen ein Pfund Tabak, daß er auch diesmal wieder sein Kabel koggt, wenn eben David Jones ihn schon zu entern suchte. Und wenn nicht – nun ja, da ist auch noch Alaska-Jim.«

»Alaska-Jim!« unterbrach ihn Luis. »Ist der diesmal auch dabei?«

»Nein«, fuhr der andere fort. »Er hat die Seefahrt aufgegeben und sich bei Point Barrow niedergelassen mit seiner Eskimofamilie. Keinen tapfereren Mann als Alaska-Jim hat es je gegeben auf dieser Seite des Polarkreises. Der würde den Teufel mit Sand und Steinen schrubben, wenn man ihn gut genug dafür bezahlte. Aber er liebt auch gern seine drei Mahlzeiten je Tag und ein warmes Bett, ohne Nachtwachen, und so mußte sich MacKay nach einem anderen Steuermann umsehen für die letzte Reise. Jim ist nun gut aufgehoben bei seiner alten Eskimodame, und wenn eines Tages MacKay, auf den ich eben meinen Zahltag gegen ein Pfund Tabak gesetzt habe, wenn der einmal wirklich nicht mehr zurückkommt, dann ist Jim immer noch da mit seiner Seekiste.«

»Wird groß was drin sein!« unterbrach ihn einer der Zuhörer.

»Was drin?« fuhr der andere leidenschaftlich fort. »Bei Gott, es ist alles drin, wie in einer Nußschale. MacKays Tagebücher und Abrechnungen, die er ihm gestohlen hatte, als er mit ihm die erste Reise auf dem ›Krampus‹ machte, die Karte mit dem Fluß, der die Goldnuggets führte, und mit der genauen Lage der Insel, die niemand sonst weiß, Kapitän Tilden ebensowenig wie ein anderer.«

»Tilden?« rief einer der Zuhörer, »er gäbe eines von seinen Augen, wenn er mit dem anderen die Insel sehen könnte.«

»Wer redet von den Augen?« fuhr der Gelbgesichtige fort, »'s ist nur eine reine Geldfrage. Jim wird sich als Lotse hergeben für den, der ihm am meisten bietet, und da kann er schon etwas verlangen, denn die Karte allein ist so gut wie hunderttausend Dollars.«

»Wie eine Million!« rief Luis Gonzalez.

»Wie zehn Millionen!« antworteten mehrere Stimmen.

»Zehn Millionen Dollars«, wiederholten sie alle andächtig, und es war, als ob die Ehrfurcht vor dieser großen Summe sich jedem auf die Zunge gelegt hätte. Eine Weile hörte man noch das kochende Grogwasser, das mit dem Deckel des Teekessels klapperte, man hörte das Wasser, das gegen die Schiffsseite wusch. Dann gingen sie alle still auseinander.

Wenige Wochen später hatte ich Gelegenheit, diese formidable Persönlichkeit – Alaska-Jim – von Angesicht kennenzulernen. Es war in diesem Sommer eine besonders günstige Saison. Seit vielen Jahren hatte man nicht mehr so wenig Eis gesehen. Ungehindert kamen wir durch die Beringstraße und hatten auch bald Point Barrow, das gefürchtete amerikanische Nordkap, umschifft. Nun lagen wir einige Tagereisen östlich davon an dem dem Lande vorgelagerten Eise vertaut. Seit langem hatten wir wieder einmal schönes Wetter. Der Wind war völlig eingeschlafen. Die Sonne schien hell in der klaren Luft. Gegen Norden lag das offene, fast eislose Meer mit seinen hüpfenden Wellen, auf denen der Sonnenschein glitzerte. Überall am Horizont stand der dunkelblaue Widerschein des offenen Wassers am wolkenlosen Himmel, und eigentlich war es ein so schöner Tag, wie ihn nur das Eismeer kennt. Eben schlug es acht Glas. Die Mitternachtsonne stand tief und übernatürlich groß und rot über dem nächtlichen Horizont. So fasziniert war ich von der weißen, verträumten Schönheit dieses nächtlichen Tages, daß ich darüber das Schlafengehen vergaß. Stunden vergingen, und ich lag immer noch auf der Luke und schaute in die rote Sonne und auf die mächtigen Eisfelder, die sich grün spiegelten in dem fast tintenschwarz schimmernden Wasser. Auf dem Achterdeck erging sich der Kapitän mit hoher Fahrt und murrte vor sich hin, wie das seine Art war, wenn etwas seine schwarze Seele bedrückte. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und musterte mit dem Fernglas das Festland, das sich hinter einem Labyrinth von zerrissenen Eisfeldern und Wasserrinnen ganz flach und für das unbewaffnete Auge kaum sichtbar gegen Süden ausbreitete.

»Fier weg das Steuerbordboot!« hallte seine Bärenstimme über das Verdeck. Im Augenblick waren Tausik und Uniaktuk, die beiden in der Beringstraße an Bord gekommenen Eskimos, zur Stelle. Das Boot wurde zu Wasser gelassen. Eben wollten sie vom Schiffe abstoßen, als der Kapitän sich eines anderen besann.

»Was hast du um diese Zeit hier an Deck verloren, Johnny?« rief er mir zu. »Hast wohl nicht genug zu tun? Ich werde schon Arbeit für dich finden. Kannst mal mitpullen hier im Boot.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mit einem Satz war ich unten, packte einen Riemen und pullte aus Leibeskräften, aus Angst, er könnte sich im nächsten Augenblick doch noch eines anderen besinnen. Der Alte ergriff den großen Steuerriemen und hielt gerade auf Land zu. Immer kleiner wurde das Schiff in der Ferne. Je kleiner es wurde, desto besser gefiel es mir. Es war lange her, seit ich die »Bonanza« von außen betrachten konnte, und es gab doch wirklich auf dieser Erde keinen Anblick, den ich mehr genossen hätte als diesen. Mir war zumute wie einem, der nach langer Gefangenschaft sein Gefängnis in der Ferne verschwinden sieht. Nur langsam kamen wir vorwärts in den vielgewundenen Rinnen. Keiner sprach ein Wort. Man hörte nur das Rücken der Ruder und das bellende Schreien der Seehunde, die mit schnurrbärtigen Köpfen und glotzenden Augen überall aus dem Wasser auftauchten. Endlich kamen wir in eine kleine Lagune, deren Ufer dicht mit Treibholz übersät waren. Knirschend lief das Boot auf den Sand.

Wir sprangen in das kalte Wasser und zogen das Boot vollends an Land. Es war, wie gesagt, schon lange her, daß ich richtigen Erdboden unter den Füßen gehabt hatte. Am liebsten wäre ich mit bocksbeinigen Sprüngen davongelaufen, ganz wie einer von den Eskimohunden, wenn sie im Schnee losgelassen werden; am liebsten wäre ich hineingerannt auf Nimmerwiederkehr in das weite Land in all seiner trostlosen Wildheit und Menschenleere. Wunderbar still und friedlich war es ringsum. Die Spatzen zwitscherten zwischen den Steinen.

Eine Schar wilder Gänse zog hoch oben am Himmel hin mit lautem, trompetenartigen Geschnatter. Sonst hörte man nichts als das leise Murmeln des Meeres am Strande. Weit und breit war nichts Menschliches zu sehen; wohl aber deutete manches darauf hin, daß auch dieser weltverlassene Erdwinkel zuweilen nicht ganz unbewohnt sein konnte. Dicht am Strande lag ein umgestülptes Kanu aus Walroßhaut, und allenthalben sah man die Reste der Lagerfeuer mit verkohlten Holzscheiten und gebleichten Knochen, die von glorreichen Mahlzeiten erzählten. In einiger Entfernung stand ein breites, vielgeästetes Gerüst, an dem die von Wind und Sonne schwarz gedorrten Fische zum Trocknen aufgehängt waren. Richtig wie eine Reihe von Galgen sah es aus im unsicheren Lichte der tiefstehenden Sonne, in dem brütenden Schatten des mitternächtigen Tages.

Auf einem ziemlich gut ausgetretenen Pfade marschierten wir, immer entlang dem Strande und immer über das schöne, trockene Treibholz, das vom Meere herangespült worden war, geradeswegs auf eine weit in das Meer hinausragende Sandbank am Fuße eines steil abfallenden Vorlandes. Seit langem hatte ich nichts mehr so genossen wie diese Wanderung. Weithin verdämmerte der nächtliche Tag über den blendend weißen Eisfeldern über dem spiegelglatten Wasser, das bald dunkelblau, bald wieder schwarz wie Stahl aufblitzte in wechselndem Lichte. Millionenfach brachen sich die Strahlen im unsicheren Scheine der ewig währenden arktischen Dämmerung. Sie wiegten sich über dem Wasser, sie lagen wie Goldstaub über dem Horizont und malten die Ferne in feurigen Farben bis weit hinaus in die wilde Einsamkeit des unendlichen Meeres, wo die »Bonanza« als ein kleiner, schwarzer, verlorener Punkt zwischen den Eisschollen lag. Etwas weiter landeinwärts zog sich ein niedriger, jedoch ziemlich steil ansteigender Hügel hin, an dessen Hängen noch überall dicke, schmutziggraue Schneemassen lagen, von denen zahllose murmelnde, plaudernde Bäche herunterrieselten. Überall stand das Wasser in glitzernden Teichen, und in jedem Teiche puddelten sich die bunten Wildenten. Und überall in dem grünen Teppich von Moosen und Flechten wucherten die Blumen in verschwenderischer Üppigkeit. Ich bückte mich danach und pflückte sie ab und konnte es kaum glauben. So lange waren wir nun schon in dieser toten, starren Einöde, in tobenden Stürmen und eiskalten Nebeln, daß ich an alles andere glauben mochte, nur nicht an Blumen in diesen Zonen. Und doch war hier allenthalben der Moosteppich am Strande durchsetzt mit Veilchen, Vergißmeinnicht, Schlüsselblumen, so bunt, so lustig und leuchtend wie nur irgendwo bei uns zu Hause – ja, wo denn? – gab es denn noch irgendwo ein Zuhause für uns?

Wir mochten etwa eine Stunde unterwegs gewesen sein, als lautes Hundegebell die Nähe menschlicher Behausungen verriet. Wenige Minuten später standen wir mitten in dem Feldlager der Eskimos, das sich weithin über die ganze Sandbank ausbreitete. So plötzlich war der Szenenwechsel, daß ich einen Augenblick keinen richtigen Abstand gewinnen konnte zu der Tatsache. Eine Weile stand ich sprachlos vor dem phantastischen Bilde.

Der Eskimo – als echter Nomade – ist überall zu Hause. Wo immer er sich niederläßt, nie ist er verlegen um ein Dach über seinem Kopfe. Im Winter macht er es sich bequem im Schneehause, wozu ihm die hartgefrorenen Schneebänke jederzeit das nötige Baumaterial liefern. Manchem mag solches Schneehaus als Nonplusultra der Ungemütlichkeit erscheinen; ein purer Aberglaube, der dringend der Richtigstellung bedarf wie so manche andere irrige landläufige Ansicht über das Eismeer und seine Bewohner. Ich habe später noch manche Nacht in einem Schneehause zugebracht, und es ist mir in der Erinnerung an diese nichts anderes zurückgeblieben als ein Gefühl der wohligen Wärme und der molligen Behaglichkeit. In den wenigen Sommermonaten behilft sich der Eskimo in der Regel mit einem ziemlich kümmerlichen Vorwand von einem Zelt, das im wesentlichen aus einem kreisförmig in den Boden gesteckten und an der Spitze zusammengebundenen Gerippe aus Weidengerten besteht, über das dann eine Hülle aus Renntier- oder Seehundhäuten gebreitet wird, die more holy than righteous ist, wie man auf englisch sagt. Solche Behausung nennt man ein Iglu. Die Eskimos sind im allgemeinen keine geselligen Naturen. Sind die Zeiten gut, ist die Jagd ergiebig, so zerstreuen sie sich weithin im Lande, und jeder errichtet sein Iglu dort, wo es ihm eben behagt. Geht jedoch der Hunger um – und das ist nur allzu häufig der Fall –, so fliegen sie zusammen wie die Motten nach dem Lichte. Iglu steht dann neben Iglu, der blaue Rauch kommt aus hundert Lagerfeuern, das Heulen der Hunde steigt als vielstimmiges Konzert zum frostigen Himmel der schweigenden Wildnis. Kommt man auf solchen Lagerplatz so stolpert man zunächst über Haufen von weggeworfenen Knochen, über Renntiergerippe, die wie poliert aussehen in ihrer abgenagten Reinlichkeit. Überall herrscht geniale Unordnung. Schlitten, Boote, Kochgeschirre, Pelzkleider und sonstige Landesprodukte liegen, kleine Kinder krabbeln umher. Da und dort watschelt eine alte Frau vorüber mit einem kleinen Baby in der mit Wolfs- oder Hundefell verbrämten Kapuze ihrer Pelzjacke, da und dort flitzt durch das Wasser ein flinker Kajak, in dem sich die kupferbraunen, halbwüchsigen Burschen amüsieren. Vor allem aber grüßt einen die Meute der Hunde. Ein Eskimohund kann nicht bellen, desto besser versteht er sich aufs Heulen, Knurren und Fauchen. Schaurig steigt das Klagelied zum Himmel. Im Nu ist man umringt von einer keifenden, zähnefletschenden Meute. Die Mordlust leuchtet mit flackerndem Licht aus ihren wilden Augen. Keinen Pfennig mag man mehr um sein Leben geben. Da kommt der Herr mit der Peitsche. Alles zieht den Schwanz ein. Fort ist der Spuk, so schnell, wie er gekommen. Wir schreiten nach dem Iglu Pak, dem »Großen Haus«, das in der Mitte des Lagers steht. Und nun beginnt die große Visite.

Der Eskimo ist immer gastfrei. Solange einer etwas zu essen hat, haben es die anderen auch, und sei es der letzte Fisch und das letzte Stück Speck. Hier aber wurde im gegenwärtigen Augenblick aus dem Vollen gewirtschaftet. Der Sommer war gekommen und mit ihm die Enten, die Fische, die Seehunde. In der Luft und im Wasser war überall »Kaukau umalakta«. Ohne weitere Umstände setzten wir uns zu den anderen, die da im großen Kreise um das Feuer hockten, und ließen uns bedienen, als ob das so sein müßte. Im Topfe über dem Feuer kochte ein halbes Dutzend Enten, und der Haufen der weißen, wunderbar appetitlich aussehenden Fische neben dem Feuer wurde immer von neuem aufgefüllt. Weit weniger appetitlich war allerdings die etwas summarische Art der Zubereitung dieser Schätze. So wie er war, mit Schuppen, Eingeweiden und allem Zubehör, wurde der Fisch auf einen Stock gespießt und von der Flamme langsam braun und knusprig gebacken, ganz so, wie sie in der argentinischen Pampa ihren Asado braten. Stundenlang dauerte die Mahlzeit. Immer neue Haufen von Enten und Fischen servierten die Weiber auf mächtigen, rohgeschnitzten Holzschalen, und noch immer war kein Ende unseres Eismeerhungers. Die Sonne, die inzwischen immer höher gestiegen war, schien warm und wohlig, und ihre hellen Strahlen spielten glitzernd über Eis und Wasser. Groß und rot brannte in der Mitte das mächtige Feuer, um das engzusammengekauert die Weiber hockten und ihre langen Pfeifen mit den kurzen Köpfen rauchten, derweilen sie mit leerem Blick in die Weite starrten. Eine frische Brise war vom Meere aufgesprungen und wirbelte wie ein Schneegestöber die überall umherliegenden Enten- und Gänsefedern, nach denen die jungen Hunde mit komischer Täppischkeit sprangen. Es war also, wie gesagt, eine recht gemütliche Zusammenkunft, und sicher hätte sich das Idyll noch weit in den Tag hinein ausgedehnt, wenn nicht plötzlich um die Landzunge herum ein großes Kanu in Sicht gekommen wäre. Alles eilte hinunter zum Strande, wo eben die neuen Gäste das Boot an Land holten. Der Strand ist an jener Stelle außerordentlich flach, so daß es nicht leicht ist, ein Fahrzeug – und sei es nur ein flachbordiges Eskimoumiak – aufs Trockene zu bringen. Alle legten mit Hand an, und so war die Arbeit bald getan. Nur der Mann am Steuer machte keine Miene zu helfen, sondern ließ sich im Gegenteil mit samt dem Boot auf das trockene Land ziehen. Er war ein großer, starker Kerl und eigentlich einer der dicksten Menschen, die ich je gesehen habe. Er war ganz à la Eskimo gekleidet, und mit seinem breiten, kupferbraunen Gesicht und den kleinen, zwischen Fettpolstern tief eingebetteten Augen hätte ich ihn für einen Eingeborenen gehalten, wenn nicht der Kapitän auf ihn zugegangen wäre und ihm freundlichst die Hand geschüttelt hätte.

»How do you do, Mister Jim?«

»Allright, allright«, antwortete dieser, »man kann nicht klagen!«

Der also angeredete Mister Jim schien sich in der Tat der allerbesten Gesundheit zu erfreuen. Sobald das Boot auf dem Trockenen war, setzte er an Land mit einem elastischen Sprung, den man seinen kurzen, dicken Beinen nimmermehr zutrauen mochte. Vor dem Kochtopf blieb er stehen und zog genüssig die Düfte ein, die daraus emporstiegen. »Hier geht's zu wie bei Vanderbilts im Waldorf Astoria!« meinte er schmunzelnd. »Enten, bei Gott! Ihr habt mein Leibgericht erraten! Ich hab' das gerochen an der anderen Seite von Point Barrow. Bratet nur Enten oder einen Schneehasen oder so eine richtige fette Gans, und Alaska-Jim wird herbeikommen.«

Nun erst schaute er vom Kochtopf auf und blickte sich um im Kreise der Eskimos, die den Blick nicht eben besonders freundlich erwiderten, wie mir schien. »Und da sind auch Ukuea«, fuhr er fort, »und Tuktuk und Uluuluk und alle die anderen hübsch beisammen wie eine einzige glückliche Familie sozusagen. Freut mich, euch alle wiederzusehen.« Von einem ging er zum andern und schüttelte allen die Hände und fand zwischendurch noch Zeit, mir väterlich wohlwollend auf die Schulter zu klopfen. »Fixer Junge, den Sie da mitgebracht haben«, meinte er wohlwollend, »so fix, wie man sie nur eben findet dort unten an der Wasserkant von New Bedford; ganz ein Ebenbild von mir selber, wie ich noch jung war. Das hab' ich auf den ersten Blick gesehen. – Wir beide, wir wollen zusammenhalten, Johnny, wie Pech und Schwefel.«

Die Stunden vergingen, und es war immer noch kein Ende der Beredsamkeit. Auch die Eskimos wurden zusehends animierter. Nur der Kapitän schaute wortlos vor sich hin und rauchte seine Pfeife wie einer, der mit seinen Gedanken woanders ist. Je länger das Palaver dauerte, je mehr begannen auch meine Gedanken zu wandern. Mir war, als ob ich Blei in den Augen hätte. Ich lehnte mich gegen einen umherstehenden Schlitten. Immer undeutlicher kam das Gewirr der Stimmen an mein Ohr, wie wenn es aus weiter Ferne und aus anderen Welten käme. Schon war ich eingeschlafen. – –

Mir war, als ob ich mich eben erst hingelegt hätte, als eine rauhe Stimme mich aus dem Schlafe weckte. Das breite, behäbig grinsende Gesicht eines Eskimos führte mich augenblicklich in die Wirklichkeit zurück. Ich sollte nach dem Kabelunazelt kommen.

Als ich mir den Schlaf aus den Augen gerieben hatte und mich umsah in der Gegend, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß es schon wieder Nacht geworden war, denn die Sonne stand tief über dem nördlichen Horizont. Irgendwo am Strande hockten die Eskimos eng zusammengehuddelt und schlugen gleichmäßig Takt auf großen Seehundsfelltrommeln und sangen dazu ein nimmerendendes Lied, das eintönig über das stille Wasser kam. Im »Kabelunazelt« beschäftigten sie mich mit dem Sortieren von Patronen, und das war eine Arbeit, die mir sehr zusagte, denn es war warm und behaglich in dem Zelt.

Der Wind spielte mit dem Tuche. Sonnenschein drang durch die Ritzen und tanzte in flüssigen Ringeln auf dem Sandboden. In der Ecke kochte und brodelte ein Teetopf. Auf einem mächtigen Eisbärfell im Hintergrund saßen der Kapitän und Alaska-Jim und trieben Handelsgeschäfte. Es ging alles Zug um Zug, denn keiner schien allzu große Stücke zu halten auf die Vertrauenswürdigkeit des andern. Der stattliche Haufen Fuchsfelle, der anfangs neben Alaska-Jim lag, wurde immer kleiner und wanderte stückweise hinüber nach der Steuerbordseite, wo der Kapitän hockte. Dafür aber wurde der vor ihm liegende Haufen Silberdollars immer größer. Eines nach dem anderen begutachtete der Kapitän die Felle, befühlte sie mit den Händen, hielt sie ans Licht und warf mit nachlässiger Miene immer noch einen Dollar zu den anderen. Nachdem sie mit den weißen Polarfüchsen fertig waren, kamen sie zu den Mardern und Luchsen, den Kreuzfüchsen und den silbergrauen. Aus den Silberdollars wurden funkelnde Goldstücke, bei deren Anblick Jims Augen förmlich aus den Höhlen traten. Nachdem sie endlich fertig waren mit den Handelsgeschäften, setzten sie die Unterhaltung mit halblauter Stimme fort, wie Leute, die etwas besprechen, von dem das Ohr nicht hören darf, was der Mund zu sagen hat. Immer erregter wurde das Gespräch. Plötzlich unterbrach Alaska-Jim seine Rede und warf einen fragenden Seitenblick auf mich.

»Pah«, sagte der Kapitän, »kümmere dich nicht um ihn, der weiß ja noch nicht, daß er geboren ist!«

Dann redeten sie weiter und vergaßen schließlich alle Vorsicht!

»Nein«, sagte Alaska-Jim, »er ist tot! So tot wie meinetwegen der Eisbär, auf dem wir hier sitzen. Wie sollte es wohl anders sein? Fünf Jahre ist es her, seit er flugs gegangen ist, und er ist seit dem Tage nicht mehr gesichtet worden.«

»Und wo mag das Schiff geblieben sein?« meinte der Kapitän.

»Das ›Walroß‹? Auf seiner Insel natürlich! Wo denn sonst?«

»Und MacGregor?«

»MacGregor! Der war doch kein Mann neben Kapitän MacKay! Sie wissen ja, wie es war mit Kapitän MacKay. Immer war er ein Gentleman. Einen sanfteren Menschen gab es nicht in der ganzen Flotte. Aber hinter den Dollars war er her wie der Teufel hinter der armen Seele. Und wenn es sich um seine Insel handelte, so war er gar der Teufel selber. – MacGregor hätte das wissen sollen; wenigstens war er eine Hand, die alt genug war in dem Geschäfte, um es zu wissen. Und so passierte es ihm – ich sag's gerade, wie es ist, und mache kein Hehl draus. Er hängte sich an sein Kielwasser, um ihn auszuspionieren. Da machte Kapitän MacKay ein Gesicht, das sauer genug war, um den Teufel zu erschrecken, und wie MacGregor ihm eines Tages seinen Walfisch abzujagen suchte, da packte er die Harpune mit dem Bombengewehr und blies das Boot zum Teufel mitsamt dem Fisch.«

»Ja, das wird er wohl getan haben«, meinte der Kapitän, das war so einer von seinen Späßen!«

»So war's wohl mit MacKay«, fuhr Jim fort. »Er war ein spaßiger Mann, wenn er dazu aufgelegt war; aber es waren ungesunde Späße, und mancher fixe Junge hat sie nicht überlebt. Zehn Jahre lang bin ich unter ihm gefahren als Steuermann und kann das bezeugen, besser als irgendeiner auf dieser Seite des Polarkreises.«

Langsam und zögernd hatte er die Worte vor sich hingesprochen. Plötzlich aber sprang er auf und schaute wild vor sich hin mit funkelnden Augen, die ihn ganz verändert aussehen ließen.

»Hab' ich nun endlich lange genug gewartet?« fragte er mit einer Stimme, die von Leidenschaft zitterte. »Durch drei lange Sommer habe ich die Herrschaften hier empfangen und mit ihnen geschwatzt vom schönen Wetter, von den Preisen für die Fuchsfelle und was weiß ich. Mac-Gregor hat es so mit mir gemacht, und Cook und Kelly und all' die anderen. Und nachdem sie lange genug geschwatzt hatten, haben sie mich alle hier liegen lassen wie ein beigedrehtes Bumboot an der Kanalküste, weil keiner darunter war, der auch nur die Courage einer Küchenschabe hatte. Dabei ist jeder verlorene Tag so gut wie eine verlorene Kiste voll barem Gold. Und die Insel –«

»Ich gäb' meine rechte Hand, wenn ich wüßte –« rief der Kapitän, der ebenfalls aufgesprungen war, nachdem er anfänglich mit erzwungener Gleichgültigkeit zugehört hatte.

»Wer redet von abgehackten Händen?« fragte Jim, »'s ist nur eine Frage von Dollars. Ich habe die Kiste; ich habe die Karte. Reden wir von Geschäften.«

»Ich gäb' meine rechte Hand«, sagte der Kapitän noch einmal.

»'s ist nur eine Frage von Dollars«, meinte Jim, »und von ein bißchen Tinte und Papier, damit nachher die langen Advokatenzungen mich nicht noch einmal um meinen Anteil beschwatzen.«

Mißtrauisch schaute er sich im Zelte um, währenddessen es sich beide bequem machten zu einer langen Unterredung.

»Hab' ich doch draußen meine Pfeife liegen lassen in Unioktoks Zelt oder sonstwo! Spring, Johnny, sei ein guter Junge und komm nicht eher wieder, als bis du sie gefunden hast.«

Als ich nach einer Weile wieder zurückkam, natürlich ohne die nie verlorengegangene Pfeife, war das Gespräch schon wieder in friedliche Bahnen eingelenkt über gleichgültige Angelegenheiten. Die Fuchsfelle wurden in eine Kiste gepackt und alles fertiggemacht zur Rückkehr an Bord, nicht eben zu meiner Freude, denn es gab in dem Augenblick nichts, vor dem ich mich mehr fürchtete. Ich hatte eine unbestimmte Ahnung, daß es diesmal für lange Zeit, vielleicht für immer sein würde. Bald marschierten wir wieder auf dem engen Pfade, der zu dem Landungsplatze unseres Bootes führte.

Die ganze große Mahalla des Eskimos gab uns das Geleit und ebenso Alaska-Jim, der mit Sack und Pack aufbrach, offenbar in der Absicht, sein Iglu eine Weile an Bord der »Bonanza« aufzuschlagen. Seinen Seesack hatte er mir aufgeladen. Mit der schweren Last und meinen kleinen Beinen konnte ich kaum Schritt halten mit seinem Tempo. Nicht weit vom Ziel warf ich die Last hin, um einen Augenblick zu verschnaufen. Alaska-Jim setzte sich auf einen Stein und stopfte sich seine Pfeife. Wir befanden uns mitten im Eskimofriedhof. Überall standen die hohen Gerüste aus Treibholz, auf denen lang ausgestreckt die Toten lagen. Alle waren eingewickelt in halbvermoderte Renntierfelle, aus denen die Knochen herausragten. Ein eklig-süßlicher Verwesungsgeruch lag in der Luft, so recht ein Platz, wo man das Fürchten lernen konnte, zumal jetzt, wo die Sonne tief stand und dunkle Schatten am Hügel lagen. »Keine hübsche Gesellschaft«, sagte Alaska-Jim, während er in aller Seelenruhe seine Pfeife anzündete, »aber wer sagt dir, daß die Lebenden schöner sind? Da ist zum Beispiel der alte Muktuk, der auf dem Gerüst dort hinten über der Wasserrinne liegt. Keinen häßlicheren Menschen als ihn hat es gegeben zwischen hier und der Beringstraße. Aber gut war er wie ein 20-Dollar-Goldstück. Keiner ist jemals hungrig aus seinem Iglu gekommen, solange er selbst etwas zu essen hatte. Was hat er nun davon? Vor einem halben Jahre kommt ein Messinka von der sibirischen Küste und befördert ihn zu David Jonas mit dem Winchestergewehr. Nun liegt er da mit den anderen, und kein Wunder! Das konnte ich ihm vorher schon sagen, denn ich kenne die Welt und die Menschen, vor allem die seefahrenden Menschen. Ich bin schon bei den Portugiesen und bei den Kanaken gewesen und einmal drunten in Tristan da Cunha. Ich habe Austern gefischt und Walfische gefangen, ich habe Whisky geschmuggelt und Seehunde gestohlen, ich habe Messer gehen und Menschen einander totschießen sehen, es gibt keinen Teufelstrick, bei dem ich nicht dabei gewesen wäre in meinen Tagen, aber noch nie – ich sag' dir's, wie's ist – noch niemals habe ich gesehen, daß etwas Gutes vom Guten gekommen wäre.«

Eine Weile schaute er vor sich hin und sog schweigend an seiner Pfeife. Dann fuhr er fort in seiner Rede, die er weniger für mich als für sich selbst und die umliegenden Toten hielt:

»Er ist ein Fuchs, Ben Tilden, es gibt keinen in der Flotte, der ein größerer wäre als er. Aber er ist nicht Fuchs genug für Alaska-Jim. Ich halte den Schatz in der Kiste, ich liege auf der Lauer wie ein Eisbär vor einem Seehundloche – aber wenn der Tag kommt, dann spute dich, Alaska-Jim, tue Heu in deine Stiefel! Schlag' zu, wen's trifft, und tue es gut. Die Toten erzählen keine Geschichten!«

Noch eine ganze Weile dauerte die Unterhaltung, die immer mehr in einen eintönigen Monolog des Mister Jim auslief. Draußen auf dem Meere war indes die Mitternachtsonne immer tiefer gesunken. Blutrot und übernatürlich groß stand sie am Himmel, der in allen Farben glühte. Es war, als ob der ganze Horizont im Norden über den Eisfeldern in hellen Flammen stünde. Weiter gegen den Zenit ging das Farbenspiel über in schimmerndes Gelb und Grün und tiefdunkles Blau, aus dem vereinzelte Sterne aufblitzten wie funkelnde Edelsteine. Es war eine Farbensymphonie, wie sie nur der hohe Norden kennt. Man hätte tausend Augen haben mögen, um das Bild zu genießen in dieser feierlichen Stille, wo nur die Farben lebendig waren.

Nur halb hörte ich auf das Gerede meines Begleiters, denn mir war unheimlich zumute und – ob ich wollte oder nicht – ich fing an, mich zu fürchten in dieser Umwelt der Toten, zumal jetzt, wo das Zwielicht immer tiefer sank und die hohen Gerüste endlos lange Schatten an den Hügelhang warfen. Fast auf jedem Gerüst saß eine gescheckte Schneeule mit großen, starren Augen und schrie heiser in die sinkende Nacht. Mehrmals machte ich Miene zum Aufbrechen, aber Alaska-Jim schien keine Eile zu haben.

»Nur keine Hast«, sagte er beschwichtigend, »das tut keinem gut und verdirbt die Gesundheit. Du wirst das auch noch herausfinden, wenn du erst einmal so viele Biskuits gegessen hast wie ich. Es ist eine feine Nacht, die man genießen muß, wenn man sich in so guter Gesellschaft befindet.«

Und so genoß er denn noch eine Weile das einseitige Plauderstündchen. Wohl eine Stunde lang schaute er wortlos den blauen Tabakringen nach, die er mit der Regelmäßigkeit einer Dampfmaschine in die Luft hinausblies. Dann saugte er noch eine Weile an der leeren Pfeife. Dann klopfte er sie aus auf einem Stein, steckte sie in die Hosentasche und schritt gemächlich weiter nach dem Strande.

Dort unten hatte sich die ganze Gesellschaft schon versammelt. Am Rande der Lagune brannten mehrere mächtige Feuer. Nicht weit von der Lagune, fest verankert in dem Grundeis, lag der kopflose Rumpf eines Walfisches, den sie inzwischen irgendwo im Meere aufgefunden und mit ihren Booten hierher geschleppt und festgemacht hatten. Offenbar war er der Überrest der Jagdbeute eines der Walfischfänger, die wegen des hohen Wertes der Barten zumeist nur den oberen Teil des Kopfes verarbeiten und sich nicht der Mühe des Auskochens der den Körper umhüllenden Speckschicht unterziehen. Um so glorreicher ist dann die Ausbeute der als Aasgeier ausziehenden Eskimopiraten.

Da lag nun die mächtige schwarze Masse wohlvertaut im Eise.

Kaukau umalakta!

Ein süßlicher Geruch von Fäulnis und Verwesung kam von dort herüber. Die Möwen schwebten in weißen Wolken darüber und vollführten ein Geschrei, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Sie zankten und balgten sich um die Beute und schlangen die Fleischstücke hinunter; bis sie einfach nicht mehr konnten und schwer wie Bleiklötze ins Wasser fielen, aus purer Überfressenheit. Nicht anders erging es den Hunden. Schon von ferne hatten sie das Kommen der Beute beobachtet und es begrüßt mit lautem Geheul und gierigen Blicken der flackrigen Wolfsaugen. Nun gab es kein Halten mehr. Kaum war der Schatz festgemacht, so stürzten sie darüber her und rissen an den Speckstücken und würgten sie hinunter, bis sie vor Erschöpfung schweratmend auf dem Eise lagen und sich in Krämpfen wanden. Und nicht viel anders – das muß ich gestehen – benahmen sich auch die Herren der Schöpfung.

Vor jedem Iglu brannte ein Feuer, und über jedem Feuer brodelte es im Kochtopf. Die Weiber hockten enggehuddelt um die Feuer, und die Männer schnitten mit ihren Messern lange Streifen aus der schwarzen Haut, die sie mit größtem Appetit verzehrten, obwohl sie zehn Meter gegen den Wind stank, oder vielleicht gerade deshalb. Alaska-Jim, der in dieser Umwelt einen Platz einnahm wie der Sultan im Märchen, ließ sich gleich häuslich nieder und wurde bedient von den anderen, als ob das so sein müßte. So war alles wieder einmal in festlicher Stimmung, und es war kein Ende des Schmausens. Nur der Kapitän saß mürrisch auf dem Bootsrand und starrte hinaus auf das Meer, wo eben der wieder auffrischende Wind das Eis von der Küste abtrieb. Ostwind bedeutet offenes Wasser in jenen Zonen des Eismeeres. Dieses wieder schmeckt nach Walfischen, und es ist darum die höchste aller Teufelsqualen für den Kapitän eines Walfischfängers, wenn er solche Gelegenheit verpassen soll im dolce far niente bei einem Eskimo-Hula-Hula am Strande. Indes: Die sauren Mienen des Kapitäns standen hier nicht annähernd so hoch im Kurs wie drüben an Bord der »Bonanza«, wo jede von ihnen ein Befehl war und ein Omen für alle Mann an Bord.

Der Wind frischte immer mehr auf, und als wir endlich das Boot zur Rückreise fertig machten, war er zu einem kleinen Sturme angewachsen. Die See war schwarz wie Tinte. Draußen auf dem offenen Meere tanzten unzählige Schaumflocken, und überall stießen knirschend und mahlend die Eisschollen aufeinander.

Der letzte, der an Bord kam, war Alaska-Jim. Mit ihm kam auch der Seesack, den ich selbst so getreulich vom anderen Lager bis hierher geschleppt hatte, und vor allem auch die Seekiste. Diese betrachtete ich mit besonderem Interesse. Sie sah nicht eben aus wie ein Behälter, in dem man Schätze aufzubewahren pflegt. Es war eine ganz ordinäre Seekiste wie unzählige andere, die jahraus, jahrein in den Mannschaftsräumen über alle Meere fahren. Die stark abgestoßenen Ecken legten Zeugnis davon ab, wie oft sie schon bei hoher See von Bordwand zu Bordwand geschliddert sein mochte. Auf dem Deckel war mit einem glühenden Eisen ein I. S. eingebrannt. Mitten auf dem Deckel stand die etwas ungeschickte Zeichnung einer Bark unter vollen Segeln.

Nach langen Mühen waren wir endlich langseits des Schiffes, wo der inzwischen immer stärker angeschwollene Seegang unser Boot mit mächtigen Stößen gegen die Bordwand warf. Mit einem heruntergelassenen Tauende heißten sie die Kiste an Deck. »Vorsicht mit der Kiste«, rief Alaska-Jim, »wer mir das Ding fallen läßt, kann mal leicht nachspringen ins Wasser!« Wie drunten an Land, so mußte ich auch jetzt wieder den großen Seesack achteraus nach der Kajüte schleppen, denn wenn es etwas gab, was Alaska-Jim haßte, so war es harte Arbeit. In der Kajüte des verstorbenen Mister Mulligan – sie war nicht größer als die Speisekammer neben meiner Mutter Küche und bot gerade noch Raum genug für ein Bullauge und zwei übereinander angebrachte Kojen – machte sich Alaska-Jim sogleich an das Auspacken seiner Habseligkeiten, die alle nach Tee und Tabak rochen. Zuerst kam ein neuer Anzug aus schwerem blauen Tuch zum Vorschein. Den warf er achtlos in eine Ecke. Dann erschien eine Blechmug und ebensolcher Teller. Dann allerlei blauleinenes, mit Teer und Farbflecken beschmiertes Arbeitszeug, ein Paar Gummistiefel, die dem Riesen Goliath selbst bis zu den Hüften gegangen wären, dann ein Südwester, Ölzeug, eine Marlinspike, ein ein Meter langes Stück Sunlightseife, ein halbes Dutzend Walroßzähne mit Eskimotätowierungen, mehrere Pfund Plattentabak und von dem schwarzen, geringelten, den sie in Hamburg »swarten Krusen« nennen. Schon lagen die Schätze hoch aufgeschichtet in der Koje, und immer noch kamen neue zum Vorschein, denn es gibt auf dieser Erde nichts, das unergründlicher wäre als ein Seesack. So wie er den Plunder aus dem Sack zog, so ließ er ihn auch liegen und machte nicht einmal den Versuch, die Behausung etwas wohnlicher einzurichten.

Zufällig fiel sein Blick auf die Oberkoje, wo Mister Mulligan, der in seinen jungen Jahren ein großer Schürzenjäger gewesen sein mochte, die Wand mit einer Galerie junger Mädchen verziert hatte, alle mit blauen Augen und roten Backen, strotzend von Gesundheit, alle parfümiert, nach Rosen und Veilchen duftend, mit eingedruckten Vergißmeinnichten und zierlichen Sprüchen, die von Liebe, vom Sterben und von unvergänglicher Treue erzählten. Und alle rings gruppiert wie ein Fächer um die in großem Format hergestellte Photographie eines Mädchens von ausgesprochenem jüdischen Typus. Oft schon hatte ich das Bild betrachtet, denn es war – abgesehen von Kanaken- und Eskimoweibern – das einzige Weibliche, das man an Bord der »Bonanza« zu sehen bekommen hatte in all den langen Monaten. Je mehr ich es betrachtete, desto mehr hatte ich ihm Interesse abgewonnen, und ich war geneigt, zu ihren Gunsten anzunehmen, daß der Photograph der jungen Dame nicht eben geschmeichelt hatte bei Abnahme des Bildes. Alaska-Jim aber belehrte mich eines anderen.

»Jenny!« rief er. »Jenny, wie sie immer war, mit den kleinen Chinesenfüßen und dem großen Hut, der ausschaute wie ein Yankeeklipper vor dem Winde. So habe ich sie zuletzt gesehen in MacFarlans Bar in San Franzisko.« Immer aufmerksamer betrachtete er das Bild und immer wohlgefälliger. »Jenny! Gutes, altes Mädchen! – Sie war nicht eben hübsch, sagst du, und da magst du wohl recht haben, aber darauf kommt es nicht an bei dieser Sorte. Abgesehen von der großen Gallionsfigur im Gesicht wäre sie schon die richtige Partie gewesen für einen seefahrenden Mann.

Ah, sie waren große Freunde, John Mulligan und Jenny! Sie hat sich an ihn gehängt wie ein Hai an manches gute Schiff. Sie hat seinen Schoner der chilenischen Polizei in die Hände gespielt, gerade als das Geld Hand über Hand hereinkam, dort unten bei Kap Hoorn beim Seehundstehlen. Sie ist weich, geworden, wie sie in San Franzisko vor Richter Baily standen wegen Opiumschmuggels: sie ist es, die den Angeber gespielt hat, wie er am Strand von Roratonga den ›Morning Star‹ aufs Land setzte. – Ah, gebe sich einer ab mit den Frauenzimmern!

Ein Millionär könnte er heute sein und Kapitän auf seinem eigenen Schiff, wenn's nicht für diesen schwarzen Teufel gewesen wäre. – Und wo ist er heute? Futter für die Haifische in den Solandergründen. – Und Jenny ist heute auch schon unter der Luke in David Jonas' Spind. Sie starb an Typhus in Rio de Janeiro, und das ist das Beste, was sie sich und anderen angetan hat in ihrem ganzen Leben.«

Eine Weile saß er regungslos auf der Kiste und saugte an seiner Tabakpfeife, genau so, wie er es drüben auf dem Eskimofriedhof getan hatte.

»Und Kapitän Tilden ist auch nicht so ohne«, fuhr er nachdenklich fort, »so zäh wie eine Walroßhaut und zweimal so häßlich. Abgesehen von MacKay gibt es keine härtere Nuß als ihn in der ganzen Flotte. Man sieht's ihm nicht so an. Er hat eine sanfte Art zu sprechen, er gebraucht keine bösen Worte, wenigstens nicht soviel wie das, was man sonst gewohnt ist von seefahrenden Menschen an Bord der Walfischfänger, zumal von den Kapitänen. Stundenlang kannst du ihn über den Büchern sitzen sehen. Er hat etwas von einem Gelehrten an sich. Mathematik, Navigation, Lateinisch, eimervoll. Nein, das ist nicht natürlich, sage ich, das schickt sich nicht für einen christlichen Seemann! Wenn ich es mit der Religion zu tun bekomme, so gehe ich in die Sonntagsschule, wenn's mir ums Studieren ist, so setze ich mich in eine Bibliothek, an Bord aber tue ich, wie die Seeleute tun. So muß jeder sagen, der etwas versteht von Schiffen und von Seeleuten. Bei Kapitän Tilden aber kannst du niemals wissen, was er ist. Aber er hat so eine Art, die Menschen anzusehen, die einem auf die Nerven geht. Ich bin sonst nicht eben das, was man so einen nervösen Landlümmel nennt, aber wenn Ben Tilden mich anschaut, dann werde ich es. Das ist die Art, wie er John Andersen anschaute, ehe er ihn niederschoß wie einen tollen Hund, weil er ihm den Walfisch verlor an der afrikanischen Küste, das ist die Art, wie er mit Tom Parkers umsprang an Bord des ›Narwal‹, wo alle Mann krank waren an Beriberi und er ihn zurückließ, zu sterben wie ein Hund auf den Poumotosinseln. ›Dürfte ich Sie bitten, Mister O'Connor, einen Augenblick mit mir nach der Kajüte zu kommen?‹ sagte er eines Tages zu seinem Ersten Offizier, genau so freundlich und höflich sagte er es, wie ich eben zu dir, und well – Mister O'Connor ist lebend nicht mehr aus der Kajüte gekommen.

Ja, er ist ein Teufel, aber er ist nicht Teufel genug für Alaska-Jim! Denn ich bin nicht so wie die anderen Jungens, die blind und täppisch in die Falle laufen, weil seefahrende Menschen nicht gern denken mögen. Ich habe einen Kopf, und das ist mehr, als die meisten haben. Ich segle hart zu Wind, ich gebe Ruder und drehe bei, wenn's nicht anders geht. Aber ich halte meinen Kurs, wenn's sein muß bis in David Jonas' Spind.«

Nur die Hälfte hatte ich verstanden von dem, was er mir da erzählte, aber auch schon daraus habe ich ersehen, daß hier eine Persönlichkeit an Bord gekommen war, die den Dingen eine andere Wendung geben sollte. Mir war das eben recht, denn alles war mir erwünscht als Abwechselung in dem ewigen Einerlei dieser Tretmühle.

Noch drei Wochen lang lagen wir vor der Küste. Der Wind, der sich zu einem richtigen Sturme ausgewachsen hatte, trieb uns im dicken Nebel eine Strecke weit außer Sicht des Landes. Erst drei Wochen später kamen wir wieder zu derselben Stelle zurück, und zwar ankerten wir diesmal in größter Nähe des Landes, kaum eine Steinwurfweite von der Lagune, denn das Küsteneis war inzwischen losgebrochen und ins offene Meer hinausgetrieben. Auch sonst hatte der Platz sich erheblich geändert seit unserer letzten Anwesenheit, wenn auch nicht zu seinem Vorteil. Die leuchtenden Farben, die damals im weichen Lichte der Mitternachtsonne über Land und Wasser lagen, waren alle verschwunden, und grau in grau malte sich die Landschaft unter dem trüben Himmel. Die Hügel, wo noch vor wenigen Wochen die Blumen blühten und das helle Wasser von den Schneefeldern rieselte, waren nun alle wieder tief verschneit, und es war, als ob der Himmel nicht genug tun konnte, um diese tote Welt immer noch tiefer in sein weißes Leinentuch zu hüllen. Unaufhörlich wirbelten die dicken Schneeflocken über Land und Wasser, als ob es eben schon Weihnachten wäre und nicht erst der Monat August, wo sie zu Hause anfangen, die Trauben zu pflücken.

Nein, nimmer werde ich jenen Tag vergessen, und wenn ich so alt werde wie Methusalem selber. Ich stand an Deck und schaute in das Schneegestöber, und dabei gingen meine Gedanken weithin nach Süden, zu warmen Zonen. Je länger ich in den wirbelnden Schnee hineinschaute, je nachdenklicher wurde mir zumute. Ich fing an, mir zu überlegen, was ich wohl einmal anfangen mochte, wenn auch diese lange, lange Reise einmal vorüber wäre. Auf einem der Yankeeschiffe an der kalifornischen Küste, wo sie viel Geld verdienen, wollte ich fahren. Ich wollte sparen wie ein Nigger. Einen Dollar wollte ich zum andern legen, bis es reichte zu einem kleinen Schoner für den Kopra- und Perlmutterhandel bei den Marshallinseln. Oder wie wäre es mit der Kängurujagd in Australien, dem Schildkrötenfangen auf den Galapagosinseln oder dem Diamantensuchen in Südwestafrika? – Oder sonst irgend etwas. Aber etwas Richtiges müßte es sein. Und ein bißchen phantastisch, abenteuerlich und ausgefallen. Noch eine Weile hing ich diesen Gedanken nach und kam immer tiefer in die Welt der Palmen und Kokosnüsse, als von drüben am Lande ein vielstimmiger Ruf ertönte. »Schiff ahoi!«

Eine Anzahl Boote stieß vom Lande ab, und ehe man recht wußte, wie es geschehen, hatten sich alle unsere braunen Freunde von damals an Bord versammelt. Mit Kind und Kegel kamen sie auf das Verdeck, wo sie sich häuslich niederließen und offenbar auch ganz zu Hause fühlten. Die Männer durchsuchten alle Winkel des Schiffes, wo nichts ihrer kindlich-naiven Neugier entging, die Weiber hockten auf ausgebreiteten Renntierfellen auf der Luke und rauchten ihre lange Pfeife, derweilen die kleinen Babies in der Kapuze ihrer schweren Renntierfellröcke mit den kleinen Händen gestikulierten. Es war ein recht seltsames Idyll, über dessen Anschauen ich alle Müdigkeit und alle Nachtruhe vergaß.

Wäre ich zehnmal so müde gewesen, hätte ich doch keinen Schlaf finden können über dem Anblick des phantastischen Lebens, das so unerwartet aus dem Meere heraufgestiegen war.

Und immer kamen noch weitere Gäste. Sie kamen mit Zelten, Schlitten, Hunden, Kochtöpfen und ihrem gesamten Hausrat. Unförmige Fellboote, die bei dem Herannahen im Wasser wie große Tausendfüßler aussahen, wurden an Deck geheißt und sorgfältig verstaut. Immer größer wurde die Herde der Hunde, die das Verdeck bevölkerten. Sie verkrochen sich unter den Spieren und Stangen, und immer von Zeit zu Zeit erfüllten sie die Luft mit schaurigem Geheul. Je mehr ich mir das alles betrachtete, je weniger mochte es mir gefallen, je unerklärlicher kam mir der Zauber vor. Das anfängliche Interesse verwandelte sich in Erstaunen und dann in Bestürzung.

Was sollte dieser Spuk?

Was wollten wir mit Eskimos und Schlittenhunden, wir, die wir in wenigen Monaten schon wieder unter der Tropensonne segelten? Oder vielleicht –?

Der Verdacht kam über mich wie der Dieb in der Nacht. Die Möglichkeit, die ich bisher in den entferntesten Träumen nicht in Betracht gezogen hatte, begann zu dämmern mit dem grauen Tage, und ehe die Nacht wiedergekommen war, war sie zur traurigen Gewißheit geworden.

Die Mehrzahl der Gäste ging freilich bald wieder an Land, ein halbes Dutzend aber – darunter die Hälfte Weiber – blieb an Bord, zusammen mit den Hunden und Schlitten. Sie halfen uns in ihrer stürmischen Art bei der Arbeit am Gangspill. Bald hing der Anker tropfend an der Back. Die Segel begannen sich zu füllen im Winde. Mit brennender Ungeduld und halb noch mit einer verlorenen Hoffnung im Herzen stand ich am Ruder und wartete auf den Kurs, den man setzen würde, wenn wir erst vom Lande klar waren.

»Nord-Nord-Ost!« sagte der Steuermann.

So war der Kurs an diesem und noch an manchem folgenden Tage, wenn er auch nicht immer so auf dem Kompaß stand, denn in jenen weltverlassenen Meeren ist infolge der Nähe des magnetischen Nordpols kein Verlaß auf dieses Instrument.

Ja, immer werde ich an jene Reise denken wie einer, der im Erwachen an böse Träume denkt! Mit immer gleicher Stetigkeit heulte der Ostwind und jagte die scharfen Spritzer über das Verdeck. Das Schiff lag weit über unter dem Druck der Segel und rollte in der Dünung, die sich zuweilen zu grünen Bergen anstürmte und zischend und schäumend über die Bordwand brach. Und kaum irgendwo ein Stück Eis! Es war wie ein Wunder. Schon waren wir mehrere Tagereisen weit in gerader Richtung vom Lande weg nach Norden gefahren, mitten hinein in die berühmte und berüchtigte Beaufortsee, die auf dieser Höhe noch kein Schiffer vor uns befahren hatte, es sei denn vielleicht Kapitän MacKay mit dem alten »Walroß« auf seinen sagenhaften Reisen.

Der Sommer war vorbei, und Nachtschatten lagen wieder über dem Wasser. Seltsam fahl huschten sie über das Verdeck. Die Lampe in der Kajüte brannte rot in der sinkenden Nacht. Man hörte nur das immer gleiche Brausen des Windes und das Rauschen des Wassers vor dem Bug. Es war allenthalben so eine große, schöne, fast feierliche Ruhe, wie man sie nur in stillen Nächten auf hoher See erleben kann, wenn der Ausguckmann auf der Back auf und ab schreitet und ab und zu die Glocken der Glasen schlagen.

Lange saß ich an Deck und konnte keinen Schlaf finden über der Unruhe, die stärker als je über mich gekommen war. Ich schaute nach den vereinzelten Sternen, zwischen denen die Mastspitzen gleichmäßig hin und her pendelten, ich sah die Nordlichter unruhig flimmern über dem nördlichen Horizont, und ich dachte mir:

»Ach, Eismeer! – Wärst du zu Hause!«

 


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