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John Hamilton Llewellyns Ende

 

Insel Capri, Jan. 1903

 

Vor einer guten Reihe von Jahren sassen wir einmal im Klub zusammen und plauderten über die Art und Weise, wie wohl ein jeder von uns sein Ende finden würde.

»Was mich betrifft, so kann ich auf einen Magenkrebs hoffen«, sagte ich. »Das ist zwar wenig angenehm, ist aber mal eine gute alte Familientradition; voraussichtlich die einzige, der ich treu bleibe.«

»Nun, und dass ich im ehrenvollen Kampfe mit einem Dutzend Milliarden Bazillen über kurz oder lang unterliegen werde, steht auch fest«, meinte Christian, der schon seit einem Jahre die zweite Hälfte seines letzten Lungenflügels spazieren führte.

Und so wenig romantisch wie diese waren die anderen Todesarten, die die übrigen mit mehr oder weniger grosser Bestimmtheit sich prophezeiten. Banale, erbärmliche Todesarten, für die wir eigentlich alle viel zu schade waren.

» Ich gehe am Weibe zugrunde«, sagte der Maler John Hamilton Llewellyn.

»Ach, wirklich?« lachte Dudley.

Der Maler stutzte einen Augenblick, dann fuhr er langsam fort:

» Nein, ich werde an der Kunst zugrunde gehen.«

»Jedenfalls eine angenehme Todesart.«

»Oder auch nicht.«

Natürlich lachten wir ihn aus. Und legten ihm lange Odds, dass er ein sehr schlechter Prophet sei.

* * *

Nach fünf Jahren sah ich Trower wieder, der damals auch im Pall-Mall war.

»Wieder einmal in London?« fragte er.

»Seit zwei Tagen.«

Ich fragte ihn, ob er heute abend zum Klub komme. Nein, er habe den ganzen Tag am Gericht zu tun. Ich glaube, Trower ist so etwas wie Staatsanwalt, wenn er nicht im Klub ist. – Ob ich bei ihm speisen wolle? Natürlich, Trower speist sehr gut.

Um zehn Uhr waren wir mit dem Kaffee fertig, und der Diener trug den Whisky auf. Lang im Ledersessel und die Füsse am Kamin. Sagt Trower:

»Du wirst sehr wenige von damals noch im Klub finden, sehr wenige.«

»Warum?«

»Die Jungens haben es überaus eilig gehabt, ihre Prophezeiungen wahr zu machen. Erinnerst du dich des Novemberabends, als wir über unsere Todesarten sprachen?«

»Freilich! Tags darauf reiste ich von London weg, um jetzt erst wieder einmal die Nase hineinzustecken.«

»Nun, Christian Breithaupt war der erste; nach einem halben Jahre starb er in Davos.«

»Kunststück! Der hatte leicht Wort halten.«

»Schwerer hatte es schon Dudley von den ›Queens Own‹. Wer hätte damals denken können, dass die je aus London herauskämen? Er erhielt am Spionskop eine Kugel mitten vor die Stirn.«

»Damals glaubte er, er würde an einem Schuss in die Brust sterben. Aber immerhin – das kommt ja auf eins heraus.«

»Wir waren zu acht – – fünf sind schon fort, jeder auf seine Art. Sir Thomas Wimbleton ist der dritte: Lungenentzündung – natürlich. Zum vierten Male. Er konnte eben das Entenjagen nicht lassen, fünf Stunden bis zum Bauch in der Themse. Mag der Teufel wissen, was das für ein Vergnügen ist!«

»Und Bodley?«

»Der lebt noch, du wirst ihn im Klub treffen. Ist gesund und frisch – wie du und ich. – Wie lange noch? Aber Macpherson ist auch tot, Schlagfluss, vor zwei Monaten. Er war fett wie ein Truthahn zu Weihnachten, nur dass es so schnell gehen würde, hätte niemand gedacht. – Fünfunddreissig ist er nur alt geworden, der gute Junge!«

»Bleibt der Maler übrig. Was ist aus ihm geworden?«

»Llewellyn hielt sein Wort besser als einer von uns. Er geht am Weibe zugrunde und an der Kunst.«

»Er geht zugrunde? Wie soll ich das verstehen, Trower?«

»Nun, er ist seit zehn Monaten im Narrenhaus zu Brighton, Abteilung für Unheilbare. Sein junges Modell, wohl zwanzigtausend Jahre alt, löste sich bei seinem heissen Kuss in Wohlgefallen auf. Das fuhr ihm derart ins Gehirn, dass er wahnsinnig wurde.«

»Ich bitte dich, Trower, lass einmal deine Spässe, zumal wenn sie so haarsträubend albern sind wie der da! – Spotte, so viel du willst, über den feisten Macpherson und den bleichen Christian, über den hübschen Dudley und über Wimbletons Wasserjagden, aber lass mir Hamilton in Ruhe! Über Tote mag man lachen, aber nicht über Lebende, die im Irrenhaus sitzen.«

Trower strich langsam die Asche seiner Zigarette ab und mischte sich einen neuen Whisky. Dann nahm er das Eisen und stocherte in den glühenden Scheiten herum. Seine Züge veränderten sich ein wenig, die Unterlippe zog sich noch mehr herunter.

»Ich weiss, der Maler stand dir näher als wir anderen. Das hindert nicht, dass auch du, wenn du seine Geschichte kennst, versuchen wirst, deine Lippen zum Lachen zu zwingen. Es gibt eine Tragik, deren lähmender Wirkung wir uns nur durch Spott entziehen können, und wo ist die Geschichte, die nicht irgendein lächerliches Moment böte? – Wenn wir Germanen erst einmal gallisch zu lächeln gelernt haben, werden wir die erste Rasse der Welt sein; noch mehr als wir es schon sind, würdest du hinzufügen.«

»Komm zu John Hamilton!«

»Seine Geschichte ist kurz das, was ich dir vorhin sagte: eine junge Dame, die er malte und liebte, im holden Alter von wohl zwanzigtausend Jahren, löste sich bei seinem Kuss in Wohlgefallen auf; darüber wurde er wahnsinnig. Das ist alles; wenn du willst, kann ich dir aber auch eine längere Erklärung geben.«

»Bitte! – Du kennst den Fall genau?«

Sehr genau! Genauer, als mir lieb ist. – Ich hatte die amtliche Untersuchung zu führen und hätte mir den Kopf zerbrechen können, ob ich wegen Einbruchdiebstahls, wegen Sachbeschädigung, wegen Leichenschändung oder Gott weiss wegen welcher anderer Delikte noch die Anklage gegen Llewellyn hätte erheben müssen, wenn nicht seine Überführung ins Irrenhaus der Untersuchung ein Ende gemacht hätte.«

»Das wird ja immer merkwürdiger!«

»So merkwürdig, dass du alle Kraft zusammennehmen musst, um es überhaupt zu glauben.«

»So erzähle!«

»John Hamilton Llewellyn arbeitete wohl schon ein halbes Jahr im britischen Museum. Ich glaube, es war Lord Hunstanton, durch dessen Vermittelung er den Auftrag erhielt, die Wandgemälde im dritten Sitzungssaale zu malen. Er ist mit einer Wand kaum fertig geworden, und die Arbeit ist immer noch unvollendet. Man findet eben so leicht niemanden, der ihn ersetzen könnte. Er hatte Talent, Llewellyn, und Phantasie dazu: die war es auch, die ihn ins Narrenhaus brachte.

Zu jener Zeit erhielt das britische Museum eine Sendung von unschätzbarem Werte. Du hast gewiss vor einigen Jahren die Notiz gelesen, die damals alle Zeitungen durchflog und in der ganzen Welt ein berechtigtes Aufsehen erregte. Lamutische Jukagiren hatten in einem Eisspalt der Beresowka im Kolymadistrikt ein ausgewachsenes, fast völlig unversehrtes Mammut gefunden, nur der Rüssel war ein wenig beschädigt; der Gouverneur von Jakutsk hatte sofort darüber lang und breit nach Petersburg berichtet. Auf Veranlassung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften entsandte die Regierung den bekannten Forscher Otto Herz, den Konservator des Zoologischen Museums von St. Petersburg, sowie den Russen Aksakow und den deutschen Präparator Pfitzenmayer nach dem äussersten Nordosten, und es gelang ihnen, nach viermonatiger Reise und zweimonatiger Arbeit den riesigen Eisblock mitsamt dem vorsintflutlichen Dickhäuter unbeschädigt an die Newa zu bringen. Das Mammut ist eines der prächtigsten Zierden des Zarenmuseums, das einzige Stück dieser Art, das unsere Zeit besitzt. – Ich bemerke übrigens, dass diese ganze Gegend voll solcher Riesengeschöpfe steckt, wenn sie auch begreiflicherweise fast alle nur in Bruchstücken vorhanden sind. Die sibirische Sage nennt sie »Mammantu«, das heisst »Erdgräber«, und behauptet, dass sie riesige in der Erde lebende Wühltiere seien, die sterben, sobald sie ans Tageslicht kommen. Die chinesische Elfenbeinindustrie verarbeitet seit Tausenden von Jahren fast ausschliesslich in der Erde gefundene sibirische Mammutstosszähne. Auch in der Lenamündung wurde im Jahre 1799 ein nur wenig versehrtes Mammut gefunden, das sieben Jahre später durch Adams nach Petersburg geschafft wurde, und dessen Bruchstücke durch alle Museen der Welt verstreut sind.

Nun, kurze Zeit nach dieser Expedition erhielt die Verwaltung des britischen Museums einen geheimnisvollen Brief, der sie bewog, sofort den Schreiber nach London kommen zu lassen. Und dieser Schreiber war niemand anders als der famose Aksakow, der sich durch einen genialen Diebstahl einige Millionen verdiente und heute in Paris seine Renten verzehrt. Aksakow hatte nämlich, als er mit seiner Tungusenkarawane das Mammut aus dem sibirischen Eise herausholte, dort einen noch weit wertvolleren Fund gemacht. Davon hatte er seiner Regierung kein Wörtchen gesagt, er liess seinen Schatz vielmehr ruhig dort liegen, wo er schon viele tausend Jahre lag, und pilgerte seelenruhig mit seinem Dickhäuter nach Petersburg zurück. Der Mann hatte wirklich eine Heidenarbeit mit seiner Expedition gehabt und bekam einen Wutanfall nach dem andern, als, nachdem der Zar das seltene Tier im Museum besichtigt hatte, seine Vorgesetzten, der Konservator und der Präparator des Museums, Deutsche natürlich, eine tüchtige Belohnung und hohe Orden erhielten, während er sich mit der vierten Klasse desselben Ordens begnügen musste. – Wer weiss, ob der Bursche nicht auch ohne diesen Vorfall seinen Brief geschrieben hätte; jedenfalls begründete er sein Vorgehen so, und die Direktion des britischen Museums hörte gern seine Gründe an; muss man doch das Gute nehmen, wo man es findet, und nicht lange fragen, wie es genommen wurde, namentlich wenn man das britische Museum zu verwalten hat.

»Der Vorschlag Aksakows war, seinen zweiten Fund aus Sibirien zu holen und persönlich nach London zu bringen. Bei der Ablieferung sollte sofort die Zahlung von 300 000 Pfund erfolgen. Ein Risiko hatte das britische Museum gar nicht, mit Ausnahme von einer verhältnismässig geringen Summe, deren der Russe für die Ausrüstung der neuen Expedition bedurfte. Zur Vorsicht gab man ihm, der inzwischen aus dem russischen Staatsdienst ausgetreten war, noch zwei zuverlässige Engländer aus dem Stabe des Museums mit; ein englischer Walfischfänger brachte die Gesellschaft über Schweden und Kola ins Eismeer. Man landete irgendwo, und während das Schiff herumkreuzte, und seine Besatzung sich mit Robben- und Fischfang die Zeit vertrieb, zog der Russe mit seinen beiden englischen Genossen und einer Horde gemieteter Tungusen ins Land hinein. Diese Expedition Aksakows war naturgemäss ungleich gefährlicher als die erste: damals war er mit dem Geleitbrief des weissen Zaren versehen, der ihm wie ein Zauberstab alle Hilfe gab, die überhaupt zu finden war; jetzt war er nicht nur auf sich ganz allein angewiesen, sondern er musste noch tausend und eine List ersinnen, um nicht von irgendeinem der vielen Millionen Augen seines Zaren erblickt zu werden. Robert Harford, Lord Wilberforces Sohn, der mit bei der Partie war, erzählte mir davon; es war eine verteufelte Geschichte. Ein verdammt feiner Bursche war der Russe, wenn er auch ein Schwindler war: genau in der abgemachten Woche traf er mit der Expedition in der als Stelldichein bestimmten Bucht wieder ein, und zehn Wochen später fuhr der Wallfischfänger die Themse herauf. – Das Geheimnis war so gut gewahrt worden, dass nicht einer von der Mannschaft wusste, was man eigentlich an Bord hatte; still und ohne Aufsehen hatte man in der Zwischenzeit im Museum einen besonderen Raum für den kostbaren Fund herrichten lassen. Dort sollte er ruhig einige dreissig Jahre ruhen, ohne dass ausser den Allerintimsten des Museums auch nur ein Mensch wusste, welch neuen Schatz London beherbergte. Nach dreissig Jahren – nun, da konnte man ihn der Welt schon zeigen, da waren die Leute tot, die heute verantwortlich waren, da würden keine politischen Komplikationen mit den Russen mehr erfolgen, da ja die Tatumstände nicht mehr zu ermitteln waren. In dreissig Jahren, pah, da war aus dem kleinen Diebstahl eine Argonautenfahrt nach dem goldenen Vlies geworden!

So kalkulierte die Verwaltung des Schatzhauses der Welt, und die Rechnung wäre sicher richtig gewesen, wenn nicht unser Freund John Hamilton Llewellyn einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht hätte.

Er gehörte zu den wenigen Sterblichen, die gewürdigt waren, der asiatischen Prinzessin auf englischem Boden den Willkommgruss zu bieten; denn, um nur gleich mit der Sprache herauszurücken: die geheimnisvolle Sendung enthielt nichts anderes als einen kolossalen Eisblock, in dem seit vielen tausend Jahren vollkommen unversehrt ein nacktes junges Weib stak. Die Dame ist da auf dieselbe Weise hineingekommen, wie ihr Zeitgenosse, das Mammut im Petersburger Museum. Wie? – Nun, das ist nicht so leicht zu sagen; schon über das Mammut haben sich viele grosse Gelehrte den Kopf zerbrochen, und bei unserm Fund lag die Sache noch komplizierter.

Das Gemach, das der jungen Dame als zukünftiger Wohnraum zugewiesen war, war sehr merkwürdig. Es lag im zweiten Keller und war zwanzig Meter hoch, vierzig Meter breit und ebenso lang. Längs der Wände standen vier Ammoniakeismaschinen, die jedoch verdeckt waren von hohen, bis in die halbe Decke hinüberragenden Eiswänden. Man hatte für den seltenen Besuch aus dem Norden etwas übriges tun wollen und den unterirdischen Saal, in dessen Mitte der Eisblock gesetzt wurde, in einen wahren Eispalast verwandelt, dessen Temperatur dank der Maschinen stets auf fünfzehn Centigrade unter dem Gefrierpunkte gehalten wurde. Eine platte Eisdecke bildete den Boden, von dem hier und da Eissäulen aufragten, die zum Teil die mit starren Eiszapfen besäte Decke trugen. Geschickt angebrachte elektrische Birnen erleuchteten diesen Winterpalast.

In das Gemach führte eine einzige, luftdicht schliessende, schwere eiserne Doppeltür, die von innen durch einen Eisblock verdeckt war. Nach aussenhin öffnete sie sich zu einem behaglich eingerichteten Vorgemach, in dem die Besucher sich an einem lustig prasselnden Kaminfeuer wieder die Hände wärmen konnten. Smyrnateppiche, ein türkischer Diwan, bequeme Schaukelstühle – – alles war hier ebenso gemütlich, wie es da drinnen ungemütlich war.

Die Schöne war also glücklich in ihrem Eispalast geborgen, der Russe hatte aus dem geheimen Fonds der Verwaltung sein Geld bekommen und war abgereist; die erste Aufregung über den seltenen Schatz hatte sich langsam wieder gelegt. – Zwei würdige Herren waren die beiden einzigen regelmässigen Besucher des Eispalastes: ein Londoner Anthropologe und sein Kollege, ein Edinburger Professor. Sie nahmen Messungen vor, oder wenigstens versuchten sie das, so gut man eben etwas messen kann, das in einem Eisblock von zwölf Kubikmetern eingeschlossen ist. Der Edinburger Herr, Jonathan Honeycock, war einen Monat lang in Petersburg gewesen, um dort das Mammut zu studieren; er gab unserer jungen Dame dasselbe Alter wie diesem, nämlich zwanzigtausend Jahre. Stein und Bein schwor er darauf, dass beide in ein und derselben Stunde kaltgestellt worden seien. Diese Hypothese unterstützte Aksakows Bericht, demzufolge die beiden Fundstellen keine Büchsenschussweite voneinander lagen, beide nach seiner Behauptung in dem alten Bette der Beresowka. Leider fand er durchaus nicht den Beifall seines Londoner Kollegen, des braven Herrn Pennyfeather, M. A., K. C. B. Dieser behauptete, die Tatsache, dass die Fundstellen so nahe beieinander lägen, sei eine rein zufällige. Die junge Dame sei wenigstens dreitausend Jahre jünger als das Mammut, wie ihr ganzes Äussere bewiese. Die menschlichen Zeitgenossen des Mammuts hätten ganz anders ausgesehen. Er legte seinem Kollegen eine Anzahl von Abbildungen vor, die solche Menschen darstellten. Und in der Tat, unsere Prinzessin sah ganz anders aus. Bei den Akten befinden sich eine Reihe von Zeichnungen und eine grosse Studie von Llewellyns Hand, und der war der einzige, der sie ohne ihre Eishülle sah. Milchweiss, mit einem reinen Pfirsichteint, tiefen blauen Augen und blondem Gelock, ein Körper, der dem Praxiteles als Modell hätte dienen können. – Pennyfeather hatte ganz recht: das war etwas anderes als die starkkiefrigen, schlitzäugigen Urzeitweiber auf jenen Abbildungen. Er kam aber schlecht an bei dem Edinburger. Wer habe denn diese Zeichnungen gemacht? fragte jener. Jedenfalls Leute, die nie ein solches Wesen zu Gesicht bekommen hätten. Elende Theoriefuchser, die mit Zuhilfenahme von Affenhäusern und einer unglaublich unästhetischen Phantasie solche Fratzen in die Welt gesetzt hätten. Er, Honeycock, erkläre, dies sei das Weib der Urzeit, und die Verleger täten nichts besseres, als sofort aus allen anthropologischen Werken jene dummen Greuelbilder herauszureissen. Worauf Pennyfeather sagte, Honeycock sei ein Esel. Worauf Honeycock Pennyfeather eine Ohrfeige gab. Worauf Pennyfeather Honeycock in den Bauch boxte. Worauf Honeycock Pennyfeather verklagte. Worauf Pennyfeather Honeycock wieder verklagte. Worauf der Richter Honeycock sowohl wie Pennyfeather zu je zehn Pfund verurteilte, und die Direktion des britischen Museums Pennyfeather sowohl wie Honeycock ihre Türen verschloss.

Nach dieser kleinen Episode hatte die sibirische Jungfrau für einige Zeit Ruhe vor zudringlichen Besuchern. Dann aber kam einer, dessen Besuch für sie ebenso verhängnisvoll werden sollte wie für ihn selbst.

Ich sagte dir schon, dass John Hamilton einer der wenigen war, die bei dem Einzuge der Eisprinzessin zugegen waren. Bei dieser Gelegenheit waren von ihr einige photographische Aufnahmen gemacht worden, die aber mehr oder weniger alle missglückten, da der Eispanzer durch seine eigentümliche Strahlenbrechung solche Verzeichnungen und Verzerrungen auf der Platte hervorrief, dass die junge Dame aussah, wie in einem Lachspiegelkabinett. So war Llewellyn von einigen der Herren von der Verwaltung gebeten worden, doch gelegentlich zu versuchen, eine Zeichnung von ihr zu machen. Selbst sehr interessiert, kam er dem Wunsche gern nach und zeichnete zu verschiedenen Malen in Gegenwart des einen oder anderen Museumsbeamten in dem Eispalast. In der Tat ist es Llewellyn gelungen, an irgendeiner Seite einen besonders günstigen Blick auf die spröde Schöne zu erwischen, denn diese Blätter sind ganz ausserordentlich scharf und klar.

Während dieser Sitzungen nun muss etwas Seltsames in Hamilton vorgegangen sein. Die Beamten gaben später bei ihrer Vernehmung an, dass sie anfänglich nichts Besonderes wahrgenommen hätten, dagegen sei es ihnen bei den letzten Sitzungen aufgefallen, dass der Maler minutenlang, ohne einen Strich zu zeichnen, auf die Eisprinzessin gestarrt habe. Auch habe er, als er vor Kälte den Stift kaum mehr habe festhalten können, sich nicht bewegen lassen, aufzuhören, sondern mit grosser Willenskraft seine Zeichnung beendet. Endlich habe er bei den letzten Sitzungen die Beamten aufgefordert, ja geradezu genötigt, in das Vorzimmer zu gehen. Sie hätten zuerst nichts Auffälliges darin gefunden und es lediglich als eine übertriebene Liebenswürdigkeit des Malers betrachtet, der ihnen statt des unheimlich kalten Eispalastes das behaglich erwärmte Vorzimmer anempfahl. Schliesslich sei es ihnen aber doch merkwürdig vorgekommen, da der Maler ihnen übermässig hohe Trinkgelder gab, damit sie ihn allein liessen. Ein paarmal hätten sie vom Vorzimmer aus im Eissaale sprechen gehört und dabei die Stimme Llewellyns erkannt.

Etwa um dieselbe Zeit erhielt der Direktor Llewellyns Besuch. Dieser bat ihn um die Schlüssel zu den Gemächern der Eisprinzessin. Er wolle ein grösseres Bild von ihr anfertigen und dazu jederzeit ungehindert freien Zutritt haben. Unter anderen Umständen würde seiner Bitte gewiss gewillfahrt worden sein, da ja Llewellyn in das Geheimnis schon eingeweiht war; aber das Benehmen des Malers bei diesem Besuche, die ganze Art, wie er sein Anliegen vorbrachte, war so seltsam, dass der Direktor Argwohn schöpfte, und ihm höflich, aber bestimmt, seine Bitte abschlug. Bei dieser Absage sprang der Maler auf, zitterte heftig, stotterte einige unzusammenhängende Worte und stürzte, ohne Adieu zu sagen, hinaus. Natürlich bestärkte dieses merkwürdige Benehmen den instinktiven Argwohn des Direktors noch mehr, und er erliess an alle Beamten des Museums den strengen Befehl, von nun an keinen Menschen mehr ohne seine besondere schriftliche Erlaubnis in die unterirdischen Räume einzulassen.

Nach einiger Zeit ging im Museum das Gerücht, dass jemand den Versuch gemacht habe, einige Beamte zu bestechen, um in das Eisgewölbe zu gelangen. Der Direktor hörte davon, und da er für den teuren Schatz verantwortlich war, liess er die Sache streng untersuchen. Siehe da, der Herr war niemand anders als unser Freund John Hamilton. Der Direktor begab sich zu ihm in den Sitzungssaal, in dem er malte, er fand ihn auf einem Schemel hockend, das Gesicht in den Händen vergraben. Zur Rede gestellt, bat er den Direktor sehr höflich, aus diesem Zimmer, in dem er augenblicklich Hausherrnrechte habe, so bald wie möglich hinauszugehen. Da der Direktor sah, dass der Künstler jedem Worte unzugänglich sei, ging er achselzuckend fort. Er liess nun drei Kunstschlösser an die Tür zu dem Vorzimmer legen und die Schlüssel im Geldschrank seines Privatzimmers aufbewahren.

Drei Monate lang war alles ruhig. Jede Woche zweimal stattete der Direktor selbst in Begleitung zweier Beamten, die die Eismaschinen nachzusehen hatten, den Wohnräumen der verzauberten Schönen einen Besuch ab – den einzigen, den sie erhielt. Llewellyn kam Tag für Tag in den Sitzungssaal, in dem er malte, aber er arbeitete nichts mehr, die Farben trockneten auf der Palette und die Pinsel lagen ungewaschen auf dem Tisch. Manchmal sass er stundenlang auf dem Schemel, dann wieder rannte er unaufhörlich mit grossen Schritten im Saale auf und nieder. – Die Untersuchung hat mit ziemlicher Sicherheit alles festgestellt, was er in dieser Zeit getrieben hat. Irgendwie auffällig sind nur einige Besuche, die er bekannten Londoner Geldverleihern gemacht hat. Er versuchte, übrigens ohne Erfolg, auf die recht ferne Aussicht einer grösseren Erbschaft hin nicht weniger als zehntausend Pfund zu leihen. Fünfhundert erhielt er schliesslich gegen hohe Zinsen bei Helpless und Neckripper in der Oxfordstreet.

Eines Abends erschien Hamilton nach langer Pause wieder einmal im Klub; wie ich später festgestellt habe, an demselben Tage, an dem er das Geld bekommen hatte. Er begrüsste mich kurz im Lesezimmer und fragte, ob Lord Illingworth da sei. Illingworth, wie du wohl weisst, ist die enragierteste Spielratze in allen drei Königreichen. – Als Llewellyn hörte, dass der Lord wohl erst spät abends kommen würde, nahm er meine Einladung zum Abendessen an, war aber dabei so schweigsam, dass es mir und den anderen, die mit uns speisten, auffiel. Später plauderten wir im Klubzimmer; Llewellyn war dabei so nervös, dass er ordentlich ansteckend wirkte. Immerfort sah er nach der Tür, rutschte auf seinem Sessel hin und her und trank einen Whisky nach dem anderen. Gegen zwölf Uhr sprang er auf und lief Illingworth entgegen, der gerade eintrat.

›Sie sind mir noch Revanche schuldig!‹ rief er ihm zu. ›Wollen Sie heute mit mir spielen?‹

›Aber gewiss!‹ lachte der Lord. ›Wer hält mit?‹

Standerton war natürlich dabei, auch Crawford und Bodley. Wir gingen ins Spielzimmer. Während der Diener die Karten zum Poker brachte, fragte Illingworth:

›Nun, wieviel wollen Sie heute verlieren, Hamilton?‹

›Tausend Pfund in bar und das, wofür ich Ihnen gut bin‹, antwortete der Maler und zog die Noten aus der Brieftasche. Er hatte augenscheinlich ausser dem Geld des Wucherers noch alles mitgebracht, was er besass.

Bodley schlug ihm auf die Schulter.

›Du bist verrückt, Junge! In deiner Lage spielt man nicht so hoch!‹

Unwillig drehte sich Llewellyn zur Seite.

»Lass mich in Ruh', ich weiss, was ich will! Entweder gewinne ich heute zehntausend Pfund, oder ich verspiele, was ich habe!‹

›Viel Glück!‹ lachte Illingworth. ›Wollen Sie mischen, Crawford?‹

Und das Spiel begann …

Hamilton spielte wie ein Kind. In dreiviertel Stunden hatte er sein Geld bis auf die letzte Krone verloren. Er bat Bodley um hundert Pfund, die dieser ihm nicht gut abschlagen konnte, da er fast alles gewonnen hatte. Llewellyn spielte weiter und war in einer Viertelstunde wieder zu Ende. Diesmal wollte er von mir Geld haben. Ich gab ihm nichts, da ich sicher war, dass er doch alles verspielen würde. Er bettelte und flehte mich an, aber ich blieb standhaft. Er ging zum Spieltisch zurück, sah noch einen Augenblick zu, winkte mit der Hand und ging hinaus.

Da mich das Spiel nicht weiter interessierte, ging ich ins Lesezimmer. Ich las noch ein paar Zeitungen, dann stand ich auf, um nach Hause zu gehen. Während mir der Diener in den Mantel half, stürzte Llewellyn in die Garderobe und warf seinen Hut an den Haken. Er bemerkte mich und fragte:

›Spielt man drinnen noch?‹

›Ich weiss nicht.‹

Er hatte kaum zugehört, war mit langen Schritten ins Spielzimmer geeilt. Ich zog meinen Mantel wieder aus und ging ihm nach. Hamilton sass schon am Spieltisch, vor ihm lagen etwa zweihundert Pfund. Wie ich später erfuhr, war er zum Royal-Yacht-Klub gefahren, wo er sich das Geld auf Ehrenwort bis zum nächsten Tage von Lord Henderson geliehen hatte.

Diesmal spielte er mit ziemlichem Glück, da aber die Einsätze verhältnismässig niedrige waren, so hatte er doch im Verlaufe einer Stunde noch kaum tausend Pfund vor sich. Er zählte ein über das andere Mal die Scheine durch und brummte ein paar Flüche vor sich hin.

Lord Illingworth lachte. Sein sprichwörtliches Glück beim Spiel kommt daher, dass er meist der kapitalkräftigste Spieler ist; mit achtzigtausend Pfund Renten im Jahr war er allen anderen im Klub weit überlegen.

›Sie wollen mit Gewalt heute reich werden, Llewellyn! Poker dauert Ihnen zu lange, wollen wir Bac spielen?‹

Der Maler sah ihn so dankbar an, als ob ihm der Lord das Leben gerettet habe. Crawford steigerte die Bank, und das Baccarat fing an. Durch Hamilton angefeuert, war der Lord auch allmählich warm geworden, die Einsätze wurden höher und höher.

›Es ist nicht gerade nett, immer wieder sein Geld durchzuzählen‹, brummte Bodley.

›Ich weiss,‹ antwortete Hamilton bescheiden wie ein Schuljunge, ›aber heute muss ich es tun.‹ Und er zählte hastig weiter. – Er verlor und gewann, einmal hatte er wohl achttausend Pfund zusammen. Da die anderen in bescheidenen Grenzen blieben, spitzte sich schliesslich das Spiel zu einem Duell zwischen dem Maler und Lord Illingworth zu, der inzwischen die Bank übernommen hatte.

Hamilton überzählte wieder einmal sein Geld, er hatte gerade ein paar hohe Schläge gewonnen.

›Noch fünfzig Pfund!‹ murmelte er.

Aber er gewann die fünfzig Pfund nicht. Eine Karte nach der anderen schlug für seinen Gegner, und bald war er wieder kahl wie eine Ratte.

Das Spiel wurde aufgehoben, und die Herren gingen hinaus. Nur Llewellyn blieb sitzen. Er starrte auf die Karten, die verstreut auf dem Tische lagen, und trommelte nervös auf seinem Zigarettenetui. Plötzlich kam der Lord wieder zurück und klopfte ihm auf die Schulter. Hamilton fuhr auf.

›Sie brauchen zehntausend Pfund für irgendeinen Zweck?‹

›Das geht Sie nichts an!‹

›Nicht so schroff, junger Mann!‹ lachte der Lord. ›Ich kaufe für den Preis Ihr Bild, das ich letzten Sommer in Paris auf dem Marsfeld sah. Hier ist das Geld!‹

Er zählte die Noten der Bank von England langsam auf den Tisch. Llewellyn griff danach, aber der Lord hielt die Hand darauf.

›Nicht so schnell, ich stelle eine Bedingung! Ich verlange Ihr Ehrenwort, dass Sie nie wieder spielen.‹

›Nie wieder!‹ rief der Maler und streckte dem Lord seine rechte Hand hin.

Er hat sein Wort gehalten, wie das, das er Henderson gab, dem er am Morgen sein Geld zurücksandte.

Zwei Tage später befand ich mich in der unangenehmen Notwendigkeit, auf einen Aktendeckel schreiben lassen zu müssen:

Contra
John Hamilton Llewellyn
und Genossen
.

Die Untersuchung wurde von der Verwaltung des Britischen Museums beantragt. Ausser gegen unseren Freund richtete sie sich gegen einen Modellsteher und einen unteren Museumsbeamten. Diesen erwischte man sogleich, während es dem anderen, einem dutzendmal vorbestraften, mit allen Hunden gehetzten Jungen gelang, sich davonzumachen. Der Beamte legte ein volles Geständnis ab. Er war mit zweitausend Pfund, die er übrigens wohlweislich in Sicherheit gebracht hatte, von Llewellyn bestochen worden, während seiner Nachtwache die Augen zuzudrücken. Er hatte sich erst dazu bereit gefunden, nachdem der Maler ihm auf das Testament geschworen hatte, dass nichts gestohlen werden würde. Gegen neun Uhr abends sei der Maler mit einem anderen Manne, den er Jack nannte, zum Museum gekommen, er habe ihnen geöffnet, und sie seien zum Direktionsbureau gegangen. Die Tür habe der besagte Jack mit einem Nachschlüssel geöffnet, dann habe er eine grosse Menge von Schlüsseln und Drückern aus der Tasche geholt und versucht, den Geldschrank zu öffnen. Dies sei ohne viele Mühe gelungen, da der Schrank von einem sehr alten, mangelhaften System sei. Aus dem Schranke habe der Maler nur Schlüssel herausgenommen, dann sei er wieder geschlossen worden.

Nun seien alle drei zum Keller hinuntergegangen, hätten dort die kunstvollen Schlösser des Eispalastes geöffnet und seien in das Vorzimmer getreten. Der Maler habe ihm befohlen, Feuer in den Kamin zu legen, und bald sei eine behagliche Wärme im Raume gewesen, währenddessen habe Jack einen Malkasten und eine zusammengeklappte Staffelei, die er mitgebracht, hingestellt. Dann habe der Maler ihm das versprochene Geld gegeben und dem Jack noch viel mehr Geld; wieviel, wisse er nicht. Jedenfalls war es der Rest von Lord Illingworths Summe, denn bei Hamilton fand man keinen Schilling mehr vor. – Der Maler befahl dann den beiden, ihn allein zu lassen, sie gingen hinaus, und er schloss die Tür von innen ab. Die beiden Kumpane gingen in die Portierloge und tranken auf ihren guten Verdienst ein paar Glas Grog zusammen. Der Modellsteher empfahl sich schliesslich, und der Beamte schlief den Schlaf des Gerechten, bis er um sechs Uhr morgens abgelöst wurde. Er ging nach Hause, schlief noch ein paar Stunden und überlegte sich dann ganz ruhig, was nun zu tun sei. Herauskommen würde ja die Geschichte ganz sicher, früher oder später. Fortgejagt würde er also auch ganz sicher. Aber sonst? Er hatte ja nichts getan, was ihn mit dem Gesetz in Konflikt bringen könnte; gestohlen war gewiss nichts worden, dafür bürgte ihm der heilige Schwur des Malers. Für alle Fälle brachte er vorher sein Geld in Sicherheit, dann setzte er sich hin und schrieb ganz gemütlich einen Brief an die Verwaltung, in dem er alles nett auseinandersetzte. Dieses Schreiben trug er selbst zum Britischen Museum. Das war nachmittags um fünf Uhr; der Direktor war gerade im Begriff, nach Hause zu gehen. Er las den Brief, überzeugte sich in dem Geldschranke von dem Verlust der Schlüssel und stürzte mit ein paar Beamten zu dem Keller hinunter, um zu sehen, was geschehen sei. Aber die Eisentür mit den kunstvollen Schlössern widerstand. Der Direktor liess Schlosser holen und schickte inzwischen auch zur Polizei. Nach vierstündigem Arbeiten gelang es ihnen mit Brecheisen und Schmiedehämmern, die ganze Tür herauszuheben, sie fiel krachend in das Vorzimmer; man stürmte hinein. Ein entsetzlicher Dunst schlug ihnen entgegen, der alle im ersten Augenblick wie betäubt zurückweichen liess. Der Direktor hielt sich mit seinem Taschentuch Mund und Nase zu, lief dann durch das Vorzimmer in den Eispalast, gefolgt von den anderen. Der Eisblock war in der Mitte quer durchgespalten, seine Bewohnerin – – – verschwunden.

Da ertönte aus einer Ecke ein klägliches Wimmern, in dem man kaum eine menschliche Stimme erkennen konnte. Fest eingekeilt zwischen dem Eise, fast erfroren, mit dunklem, geronnenem Blute an Gesicht und Händen, in Hemdärmeln und zerfetzten Kleidern, stak John Hamilton Llewellyn. Die Augen stierten ihm aus den Höhlen, und zwischen den Zähnen tropfte ihm Schaum heraus. Nur mit Mühe konnte man ihn zwischen dem Eise hervorzerren, auf alle Fragen hatte er nur ein verständnisloses Lallen. Als man ihn durch das Vorzimmer hinausschaffen wollte, schrie er wie besessen und sträubte sich mit Händen und Füssen. Vier Mann mussten ihn aufnehmen, aber als sie in die Nähe der Tür kamen, riss er sich mit furchtbarem Gebrüll wieder los und stürzte in die entfernteste Ecke. Eine wahnsinnige Angst vor dem Vorzimmer gab dem halb erfrorenen, fast leblos steifen Körper eine solche Kraftenergie, dass den Schutzleuten nichts weiter übrig blieb, als ihn an Händen und Füssen zu fesseln und wie einen Klotz hinauszutragen. Und selbst da noch riss er sich mit einem schrecklichen Schrei vor der Tür los und fiel zu Boden. Sein Kopf schlug hart auf das Eis; er verlor das Bewusstsein.

Nur so konnte er in das Krankenhaus geschafft werden und von dort vier Monate später in die Krankenabteilung des Irrenhauses zu Brighton. Ich habe ihn einmal dort besucht, er sah jämmerlich aus. Beide Ohren und vier Finger der linken Hand sind ihm abgefroren, ein entsetzlicher, röchelnder Husten, der alle Viertelstunden den ganzen Körper erschüttert, zeigt an, dass er sich während jener schrecklichen Nacht im Eispalast auch die Schwindsucht geholt hat, der er hoffentlich bald erliegen wird. Die Sprache hat er nicht wiedererlangt, ebensowenig hat er auch nur einen lichten Moment gehabt. Ein furchtbarer Verfolgungswahn quält ihn Tag und Nacht, so dass er nicht einen Augenblick ohne Aufsicht sein kann.

Was aber ist in jener Nacht in den Gewölben des Britischen Museums vorgegangen?

Ich habe mir redliche Mühe gegeben, alle, selbst die unscheinbarsten Momente zusammenzutragen, um ein klares Bild zu gewinnen; ich habe seine Mappen und Fächer durchsucht, hier gab eine Zeichnung, dort eine Zeile mir Aufschluss über seine Träume. – Natürlich beruht auch so noch vieles auf Hypothesen, aber ich glaube, nicht zu viel Trugschlüsse gemacht zu haben.

John Hamilton Llewellyn war ein Phantast. Oder ein Philosoph, was dasselbe ist. Vor Jahren traf ich ihn eines Abends auf der Strasse, wie er gerade in ein Cab sprang. Er fuhr zur Sternwarte, und ich begleitete ihn. Er war dort gut bekannt und seit seiner Knabenzeit häufiger Gast. Und wie bei allen Astronomen verschoben sich auch bei ihm die Begriffe von Zeit und Raum. Der Astronom sieht in einer Sekunde einen Stern viele tausend Millionen Meilen durchfliegen, die ungeheuren Grössen, mit denen er rechnet, müssen ihm den Sinn für den jämmerlich winzigen Horizont unseres Erdenlebens völlig abstumpfen. Ist aber der Sternbeschauer noch dazu ein Künstler von der Begabung und der Phantasie, wie Hamilton sie besass, so muss sich der Kampf seiner Seele mit dem Stoff zu einem ungeheuren Ringen auswachsen. – Nur von diesem Standpunkte aus wirst du, wenn du seinen Nachlass, den Bodley erworben hat, durchsuchst, seine merkwürdigen Kartons verstehen können. – So war Hamilton durchs Leben gegangen, stets den Alpdruck der Unendlichkeit auf der Brust. Sekundenstaub erschien ihm alles, der Dreck in der Pfütze sowohl, wie das schönste Menschenbild aus Fleisch und Blut. Und dieser Gedanke war es auch, der ihn stets vor der geistigen Reaktion bewahrte, die man Liebe zu nennen pflegt, obwohl mehr wie eine schöne Frau dem blonden, traumäugigen Maler sich wie auf einem Teebrett präsentierte. ›Bitte!‹ Aber Hamilton sagte: ›Danke!‹ und träumte weiter.

Um ihn zu erobern, musste das Unwahrscheinlichste wahr werden, musste eine Schönheit kommen, die so sehr über Zeit und Raum erhaben war wie er selber. Und dieses Unmöglichste wurde wahr: der suchende Ritter fand mitten in dem nebligen, stinkenden London – Dornröschen, die verzauberte Prinzessin. Was denn? Eine schöne, junge Frau, die vor vieltausend Jahren irgendwo in Sibirien geatmet hatte, kam, so wie sie war, zu ihm nach London, um ihm Modell zu stehen. Es war, als ob sie auf ihn blicke, zärtlich, lang, ohne mit den Wimpern zu zucken. Was wollte sie denn nur? Ja, sie hatte sich über eine gewaltige Zeitspanne hinweggesetzt, um ihn zu finden, wie Dornröschen in ihren Rosen war diese sibirische Prinzessin im Eise eingeschlafen, um auf ihren einzigen Ritter zu warten.

Aber sie ist ja tot, sagte er sich. Nun, was soll das? Wenn sie auch tot ist, sollte er sie darum nicht lieben können? Pygmalion liebte eine Statue, der seine Liebe Leben einhauchte, und Jesu Menschenliebe schenkte Jairi totem Töchterlein das Leben wieder! Wunder – ja – aber war denn dies Wunder, das vor ihm stand, ein weniger grosses? Und dann – was ist tot? Ist die Erde tot, die rings Blumen hervortreibt? Ist der Stein tot, der Kristalle bildet? Oder der Wassertropfen, der am Fenster erfriert und Farn und Moos auf das Glas zaubert? – Es gibt keinen Tod!

Diese einzige Frau hatte die allmächtige Zeit besiegt, durch Tausende von Jahren hatte sie ihre Jugend und Schönheit bewahrt. Caesar und Kleopatra und der grosse Napoleon, Michelangelo, Shakespeare und Goethe, die stärksten und grössten Menschen aller Jahrhunderte, sind von dem Fusstritt der Zeit zermalmt worden, wie Würmer am Wege, aber diese kleine schlanke Schönheit hatte ihr mit ihren weissen Händchen ins Gesicht geschlagen und die grosse Mörderin zum Rückzuge gezwungen! – Der Maler träumte und – bewunderte und – – – liebte.

Je öfter er in den Eispalast kam, um seine schöne Frau zu zeichnen, um so klarer malte sich in seiner Seele das Bild, das er schaffen wollte, das grosse Bild seines Lebens: der Sieg der menschlichen Schönheit über die Unendlichkeit. Das war die Mission dieser Frau, darum war sie zu ihm gekommen! So trieb sein träumender Geist die herrlichste Blüte, die nur in vielen hundert Jahren einmal dem menschlichen Geschlechte beschert ist: Liebe und Kunst zu einem reinen, mächtigen Empfinden vereinigt.

Aber nicht so in ihrem Eisblock wollte er seine Liebe malen. Frei, lächelnd, sollte sie auf einem Felsenbett ruhen, in der Hand eine leichte Gerte. Vor ihr die mörderische Zeit, ohnmächtig vor ihrer sieghaften Jugend. Und dieses Bild sollte den Menschen das Bewusstsein ihrer Göttlichkeit geben, das herrlichste Geschenk, das sie je empfangen hatten. Er, mit der überschäumenden Künstlerkraft in der Brust, und dieses herrliche Weib, das die Zeit besiegt, wollten das Ungeheure zuwege bringen.

So reifte in ihm der Gedanke, sie aus dem Eisblock zu befreien, und die Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellten, spornten und stachelten ihn nur noch mehr an. Sein Faktotum Jack, eins von den Modellen, die alles machen, der einzige, zu dem er von seinem Plane sprach, wusste ihm diesen noch schwieriger und gefahrvoller darzustellen, um ihm schliesslich die Idee zu suggerieren, dass er ihn und irgendeinen Museumsbeamten nur durch ungeheure Summen für das Vorhaben gewinnen könne. Daher all seine vergeblichen Versuche, bei den Wucherern Geld aufzutreiben. – Unterdessen war ihm durch den Direktor der weitere Besuch des Eispalastes unmöglich gemacht worden. Er brütete allein in seinem Saale, und sein Wunsch, die Geliebte zu befreien und mit ihr zusammen der Menschheit das Höchste zu schenken, wuchs in diesen einsamen Stunden ins Grenzenlose.

Dann kam die Nacht, in der er in Pall-Mall versuchte, mit den Karten in der Hand das Schicksal zu zwingen. Das Schicksal lachte ihn aus und nahm ihm alles ab, was er hatte. Aber wie eine schöne Frau, die allen Bewerbungen ihres Liebhabers widersteht, um ihm endlich, wenn er trostlos verzweifeln will, sich freiwillig zu schenken, lächelte ihm schliesslich das Schicksal zu und gab ihm durch Lord Illingworths Hand das Geld, das er nötig zu haben glaubte. – Nun zögerte er keinen Augenblick mehr, schon die nächste Nacht wurde zur Ausführung des Planes bestimmt. Es traf sich gut, dass gerade der Beamte, den Jack gewonnen, die Wache hatte; die Schlüssel wurden geholt, der Eispalast erschlossen, und Hamilton gab den beiden das grösste Trinkgeld, das wohl jemals Pförtner erhalten haben.

Er drehte im Vorzimmer von innen dreimal die Schlüssel ab; so, nun war er allein. Er blieb stehen, lauschte, wie die Schritte der beiden sich in den Gängen verloren. Tapp, tapp – – tapp – nun hörte er nichts mehr. Er schöpfte tief Atem, dann entschloss er sich und ging mit raschen Schritten in den Eispalast.

Ah, da war sie! Warum sprang sie nicht heraus aus dem Eise, ihm entgegen? Aber ihre Augen schienen ihn anzusehen und nun – war es nicht, als ob auch ihre Hand ihm winke? Er griff in die Brusttasche und nahm ein kurzes, unten spitz zugeschliffenes Handbeil heraus.

›Verzeih' meiner Ungeduld‹, murmelte er, ›wenn ein Schlag zu rauh wird und dich unsanft berührt!‹ Er ging an die Arbeit, die mit dem unvollkommenen Instrument keine leichte war. Mit unendlicher Vorsicht und Liebe schlug er seinen Weg, ohne die Kälte zu achten, die seine Finger erstarren machte. Wie unsäglich langsam kam er weiter, schon stundenlang glaubte er bei der Arbeit zu sein! Aber es war, als ob ihn die Schöne von Zeit zu Zeit ermunternd anschaue:

›Nur Geduld, Liebster, bald lieg ich in deinen Armen!‹

Krachend brach nach allen Seiten das Eis herunter. Noch ein leiser Schlag und noch einer und noch einer! Er fürchtete einen Augenblick, dass vielleicht am Kopfhaar und an den kleinen Härchen der Haut das Eis festkleben möchte. Aber nein, der Körper war mit einem feinen, wohlriechenden Öle gesalbt, so dass er sie glatt und unverletzt von ihrem Eisbett aufheben konnte. Seine Arme zitterten, sein ganzer Körper schlotterte vor Kälte. Rasch trug er sie auf seinen Armen hinaus, in das warme, entzückend behagliche Vorzimmer, wo die rote Flamme im Kamine ein seltsames Liedchen summte. Leise, ganz sachte legte er sie auf den Divan, ihre Augenlider waren gesunken, sie schien zu schlafen.

Nun den Keilrahmen her, die Staffelei zurecht gerückt und Farben heraus! Er malte mit einem Eifer, einer Begeisterung – – so hatte noch nie ein Maler vor seinem Bilde gestanden! Die Stunden flogen dahin, es schienen ihm Sekunden zu sein. – Unterdessen leckte die mächtige Flamme im Kamin immer höher hinauf, es war eine schier unerträgliche Hitze im Raume. Dicke Schweisstropfen perlten von der Stirne, er glaubte, dass ihn die Aufregung so heiss mache. Warf seinen Rock ab und malte in Hemdärmeln weiter.

Da – – bewegte sich nicht ihr Mund? Er blickte genau hin – wirklich, sie schien die Unterlippe zu einem unmerklichen Lächeln zu verziehen. Hamilton fuhr sich mit der Hand vor die Augen, um die Träume zu verscheuchen. Aber nun, was ist das? – Ihr Arm glitt langsam, ganz langsam herunter – – – sie winkt ihm? – Er warf die Pinsel fort und stürzte zum Diwan. Kniete nieder, ergriff die kleine, weisse Hand, auf der die feinen, blauen Adern hervortraten. Sie liess ihn ruhig gewähren. Und er drückte und presste diese Hand und hob sein Haupt und sah sie wieder an. Mit einem leisen Schrei warf er sich in ihre Arme, schloss die Augen und küsste ihre Wangen und den Mund und den Hals und ihre strahlenden, schneeweissen Brüste.

Und all seine lang verhaltene Liebe und all seine unendliche Sehnsucht nach Schönheit und Kunst küsste er auf den Busen dieses Weibes.

Aber diesem höchsten Augenblick folgte der entsetzlichste. Ein feuchter, ekelhafter Schleim floss ihm über das Gesicht. Er sprang auf, wich ein paar Schritte zurück. – Die Linien verwischten sich – – – was war das, was auf dem Diwan lag? Ein widriger, unerträglicher Geruch drang auf ihn zu, der in den roten Flammen des Feuers Formen anzunehmen schien. Und aus dem zu schleimigem Gallert zerfliessenden Leichnam stieg ihm ein entsetzliches Gespenst entgegen, das seine Polypenarme nach ihm ausstreckte: die grausame Riesin Zeit rächte sich.

Er wollte entfliehen, rannte zur Türe – die Schlüssel, die Schlüssel! Er fand sie nicht, riss und zerrte an der Türe, zerkratzte sich die Hände, warf sich dann mit dem Gesicht dagegen, dass das Blut heruntertroff. – Das Eisen rührte sich nicht! Und immer mächtiger, immer gewaltiger wuchs das furchtbare Gespenst empor, schon fühlte er, wie seine saugenden Finger ihm in Nase und Mund drangen. Er schrie wie ein Besessener, rannte zu der anderen Türe, hinein in den Eispalast, wo er sich in jämmerlicher Todesangst in die äusserste Ecke drängte.

– – Da fand man ihn: ein armes, wahnsinniges Menschlein, das einst geglaubt hatte, die Unendlichkeit mit Füssen treten zu können!«

* * *


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