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Die Herren Juristen

Den Fischen, den Raubtieren und Vögeln ist es gestattet, dass eines das andere fresse, denn keine Gerechtigkeit ist über ihnen. Den Menschen aber gab Gott die Gerechtigkeit – –

Isidorus Hisp, Orig. seu etym. libr. XX.

 

Insel Porquerolles (Var), Juni 1905

 

»Glauben Sie mir, Herr Assessor«, sagte der Staatsanwalt, »der Jurist, der nicht nach einer, sagen wir zwanzigjährigen Praxis, zu der absoluten Überzeugung kommt, dass jedes, aber auch jedes einzelne Strafurteil in irgend einer Beziehung schmählich ungerecht ist, ist ein Trottel! Jeder von uns weiss, dass das Strafrecht das reaktionärste Ding ist, das es gibt, dass drei Viertel der Paragraphen aller Strafgesetzbücher der Welt schon am Tage ihres Inkrafttretens nicht mehr zu ihrer Zeit passen. Mümmelgreise am Tage ihrer Geburt, würde mein Aktuar sagen, der bekanntlich der beste Karnevalsschwätzer unserer Stadt ist!«

»Sie sind ja der reine Anarchist!« lachte der Landgerichtspräsident. »Prost, Herr Staatsanwalt.«

»Prosit!« antwortete dieser. »Anarchist? – Nun ja – wenigstens unter uns – am Juristenstammtische. Und auch da würde ich mir nicht den Schnabel verbrennen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass alle die Herren und besonders Sie, Herr Präsident, meine Ansichten vollkommen teilen.«

»Na, man arbeitet in Berlin ja augenblicklich wieder an einer verbesserten und wahrscheinlich vermehrten Neuausgabe unseres Strafgesetzbuches,« lachte der Präsident. »Da sollten Sie eine Denkschrift verfassen und der Kommission unterbreiten. Vielleicht bekommen wir dann wirklich was Vernünftiges.«

»Sie weichen mir aus,« erwiderte der Staatsanwalt, »weil Sie mir zustimmen müssten! – Eine Denkschrift? – Was käme dabei heraus? Weder ich noch irgend ein anderer kann da etwas ändern. Kleine Verbesserungen könnten wir bringen, ein paar ganz dumme Paragraphen hinauswerfen, in der Hauptsache aber ist jede Verbesserung unmöglich. Das Strafrecht bedingt ja in sich selbst die unerhörteste Ungerechtigkeit.«

»Na erlauben Sie mal!« rief der Präsident.

»Ich will Ihnen Ihre eigenen Worte wiedergeben«, fuhr der Staatsanwalt unbeirrt fort. »Sie erinnern sich, dass der Bankier, den wir neulich wegen betrügerischen Bankrotts zu vier Jahren Zuchthaus verurteilen mussten, bei der Verkündung des Urteils in die Worte ausbrach: ›Das überlebe ich nicht!‹ Man brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er recht hatte, dass er die Anstalt nie lebend verlassen würde.

»In der darauffolgenden Sache verurteilten wir einen Schiffsheizer wegen Notzucht zu derselben Strafe, der Kerl sagte ganz vergnügt: ›Danke, Herr Gerichtshof, ick nehme die Strafe an; is nich so schlimm in die Pension!‹ – Da sagten Sie zu mir, Herr Präsident: ›Das ist doch keine Gerechtigkeit! Was dem einen ein langsamer qualvoller Tod ist, ist dem andern fast ein Vergnügen! Es ist ein Skandal!‹ War es nicht so?«

»Gewiss!« antwortete der Präsident, »und ich glaube, dass alle im Saale Anwesenden diese Ansicht teilten.«

»Das glaube ich auch,« bekräftigte der Staatsanwalt. »Es ist eben ein kleines Beispiel von der ewigen Ungerechtigkeit aller Strafen. Sie wollen noch berücksichtigen, dass wir in beiden Fällen, ich als Vertreter der Staatsanwaltschaft sowohl, wie die Herren Richter, uns haben beeinflussen lassen, wie wir uns ja – – hier können wir doch ehrlich sein – – in jedem einzelnen Falle so lange beeinflussen lassen, bis wir völlig verknöchert sind, bis wir willenlose Maschinen, lebendige Paragraphen geworden sind. – Wir haben bei dem Bankier, in dessen gastfreiem Hause wir verkehrten, den wir in anderer Beziehung schätzten und achteten, Milde angewandt: weniger wie vier Jahre Zuchthaus konnten wir für sein Verbrechen, das Hunderte von kleinen Existenzen ruinierte, unmöglich geben. Auf der andern Seite hat uns das freche, herausfordernde Betragen des Heizers vom ersten Augenblick an gereizt, bei einem andern hätten wir im gleichen Falle kaum die Hälfte gegeben. Und trotzdem ist der Bankier ungleich härter bestraft worden! – Was ist für den Mann aus dem Volke eine kleine Gefängnisstrafe wegen Diebstahls! Ein Nichts, er sitzt sie ab und vergisst sie am Tage darauf. Der Rechtsanwalt aber, der Beamte, der wegen irgendeiner kleinen Depotunterschlagung auch nur einen Tag brummen muss, ist für sein Leben verloren, er wird aus seinem Stande ausgestossen und ist sozial gerichtet. Ist das Gerechtigkeit? Und nun nehmen Sie ein noch krasseres Beispiel. Was ist die Zuchthausstrafe für einen Mann von der universalen Bildung, von der vielleicht überraffinierten Kultur Oskar Wildes? – Ob er zu Recht oder zu Unrecht verurteilt wurde, ob der famose Paragraph ins Mittelalter gehört oder nicht, ist ganz gleichgültig, sicher ist, dass dieselbe Strafe für ihn tausendfach härter war als für jeden anderen! Alles moderne Strafrecht ist auf dem Prinzip einer allgemeinen Gleichheit aufgebaut – – die wir nicht haben, vielleicht nie haben werden! Und deshalb muss, unter allen Umständen, fast jedes einzelne Urteil ein ungerechtes sein. Die Themis ist die Göttin der Ungerechtigkeit, und wir, meine Herren, sind ihre Diener!«

»Ich verstehe nicht, Herr Staatsanwalt,« bemerkte der kleine Landrichter, »warum Sie mit diesen Ansichten es nicht vorziehen, der Dame Themis den Rücken zu wenden!«

»Und doch sind die Gründe sehr einfach,« erwiderte jener, »ich bin nicht unabhängig, ich habe eine Familie. Glauben Sie mir, dass nur dieses recht mässige Gehalt, auf das wir alle schimpfen, die grosse Mehrzahl von uns am Richterstuhle fesselt, wenn wir einmal zur Einsicht gekommen sind! – – Ausserdem würde ich draussen auch auf nichts anderes stossen; unser ganzes gesellschaftliches System ist ja auf Ungerechtigkeit aufgebaut, das ist die Basis.«

»Zugegeben, dass es so wäre,« sagte der Präsident, »so sagen Sie doch selbst, dass eine Änderung unmöglich ist! – Warum also eine schmerzliche Wunde berühren, die wir nicht heilen können?«

»Eine schmerzliche Wunde – ja, aber es ist eine Art wollüstiger Schmerz!« antwortete der Staatsanwalt. – »Nach jedem Urteil empfinde ich einen ekelhaften, bitteren Geschmack im Munde, und dass es Ihnen ebenso geht, Herr Präsident, beweist Ihre Äusserung, die ich Ihnen soeben wiedergegeben habe. – Ich fühle mich als eine Maschine, als ein Sklave elender Druckzeilen, da will ich wenigstens draussen das Recht haben, einmal denken zu dürfen – so beim Biere, wissen Sie!«

Er setzte den Krug an die Lippen und leerte ihn. Dann fuhr er nachdenklich fort:

»Sehen Sie, meine Herren, am nächsten Dienstag habe ich wieder einer Hinrichtung beizuwohnen. Mir graut vor dem Gedanken – –«

Der Referendar streckte den Kopf vor.

»Ach, Herr Staatsanwalt,« unterbrach er, »wollen Sie mich nicht mitnehmen? Ich möchte so schrecklich gern eine Hinrichtung sehen. Bitte!«

Der Staatsanwalt sah ihn bitter lächelnd an.

»Natürlich!« sagte er. »Natürlich! So habe ich auch das erstemal gebettelt! Ich werde Ihnen abraten, und Sie werden mit dem Kopf schütteln. Und wenn ich's Ihnen abschlage, wird Sie nach Jahr und Tag ein anderer Kollege mitnehmen. Also kommen Sie nur, ich verspreche Ihnen, dass Sie sich schämen werden, wie nie in Ihrem Leben.«

»Danke!« sagte der Referendar und hob sein Glas. »Danke Ihnen sehr! Darf ich mir erlauben, Herr Staatsanwalt?« Der Staatsanwalt hörte nicht, er folgte seinem trüben Gedankengange.

»Wissen Sie,« wandte er sich an den Präsidenten, »das ist das schlimmste: wenn das Verbrechen selbst, das erbärmlichste, niederträchtigste Verbrechen, uns zum Bewusstsein bringt, dass es noch höher, oh, viel höher steht, als wir scheinheiligen Diener der Gerechtigkeit! Wenn es uns in seiner bodenlosen Verruchtheit eine Grösse zeigt, die all unseren Formelkram zu Fetzen weht, wenn es wie mit Feuer den eisernen Panzer all der Gesetze und Paragraphen von der Brust wegschmilzt, dass wir wie nackte Würmchen vor ihm im Staube kriechen.«

»Ich bin neugierig«, sagte der Präsident.

»Oh, ich will Ihnen einen solchen Fall erzählen«, fuhr der Staatsanwalt fort. »Es ist der tiefste Eindruck, den ich in meinem Leben empfangen habe. Es war vor vier Jahren, am 17. November, als ich in Saarbrücken der Guillotinierung des Raubmörders Koschian beiwohnte – Marie, noch einen Krug!« unterbrach er sich.

Die dicke Kellnerin war schon herangekommen, sie wurde aufmerksam, als er von Guillotine und Raubmörder sprach. »Erzählen Sie!« drängte der Referendar.

»Warten Sie nur!« rief der Staatsanwalt. Er hob sein Glas und sagte: »Ich trinke meine Blume dem Andenken dieses erbärmlichsten aller Verbrecher, dieses Pestauswurfes der Menschheit, der doch – – vielleicht – – ein Held war.«

Langsam setzte er in dem Schweigen den Krug auf den Tisch.

»Mit Ausnahme von Ihnen, Herr Referendar,« fuhr er fort, »haben Sie gewiss alle, meine Herren, einmal einem solchen traurigen Schauspiele zugeschaut, Sie wissen, wie sich dabei die Person benimmt, die die Hauptrolle zu spielen hat. So ein Mörder, wie ihn z. B. der ausgezeichnete Montmartredichter Aristide Bruant in seinem Liede von La Roquette, dem Pariser Richtplatze, besingt, ist eine sehr seltene Ausnahme. Der Dichter lässt da den Verbrecher seinen Monolog schliessen: ›Mit festen Schritten will ich gehen – Zur Guillotine – Und keiner soll mich zittern sehen – Vor der Maschine – Verdammt, wenn mir der Nacken zuckt – Steckt er im Brette – Bevor ich in den Sack gespuckt – Auf La Roquette.‹ – Das war ein sehr löblicher Vorsatz des Mörders, aber ich fürchte, es kam ganz anders. Ich fürchte, er machte es gerade so wie sein Berliner Kollege, den Hans Hyan in seiner ›Letzten Nacht‹ sein Selbstgespräch also endigen lässt: ›Wie kleen der Jas uf eenmal brennt – Der Morjen kraucht schon durch die Jitter – Na, Maxe, nun man nich jeflennt – Jetzt heesst et Mut, un keen Jezitter! – Se kommen … Wat? Is denn schon Zeit? – Na ja, dat is vor die so'n Futter! – Wat? … Ick? … Jawoll, ick bin bereit! – Herr Paster … Meine Mutter! – Mutter!!‹ – Dieses entsetzliche Geschrei: Mutter! Mutter!, das dem, der es einmal gehört, nie wieder aus den Ohren will, das ist das Charakteristische! Es gibt Ausnahmen, freilich, aber sie sind dünn gesät; lesen Sie die Memoiren des Scharfrichters Krauts, so werden Sie sehen, dass unter seinen hundertundsechsundfünfzig Delinquenten sich nur ein einziger ›männlich‹ betragen hat, nämlich der Kaiserattentäter Hödel.«

»Was machte er?« fragte der Referendar.

»Interessiert Sie das so?« fuhr der Staatsanwalt fort. »Nun, er sprach vorher mit seinem Partner, eben dem Scharfrichter Krauts, und liess sich eingehend von ihm die ganze Geschichte erklären. Er versprach ihm, seine Rolle ausgezeichnet zu spielen, und bat, ihm nicht die Hände fesseln zu wollen. Krauts schlug diese Bitte ab, obwohl er sie, wie die Folge lehrte, recht gut hätte gewähren können. Denn Hödel kniete ruhig nieder, legte seinen Kopf auf den Block, duckte ihn ein wenig, blinzelte mit dem linken Auge hinauf und fragte: ›Ist es so gut, Herr Scharfrichter?‹ – ›Ein bisschen mehr nach vorne‹, erwiderte dieser. Der Delinquent schob seinen Kopf etwas nach vorne und fragte wieder: ›So richtig?‹ – Aber diesmal erwiderte sein Partner nicht mehr. Es war richtig so. Das quecksilbergefüllte Richtbeil fiel nieder, und der Kopf, der noch eine Antwort erwartete, sprang in den Sack. Krauts gesteht, dass er aus Angst zuschlug, hätte er dem Delinquenten noch einmal geantwortet, sagt er, so hätte er nicht mehr die Kraft gehabt, seine Pflicht als Nachrichter zu erfüllen.

Hier haben wir also eine Ausnahme, aber wir brauchen nur die Akten dieses hirnverbrannten, zweck- und sinnlosen Attentates zu lesen, um zu wissen, dass wir es bei Hödel nicht mit einem normalen Menschen zu tun hatten. Sein Benehmen von Anfang bis zu Ende war ein unnatürliches.«

»Welches ist denn das natürliche Benehmen eines Menschen bei seiner Hinrichtung?« fragte der blonde Assessor.

»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte der Staatsanwalt. »Vor einigen Jahren wohnte ich in Dortmund der Hinrichtung einer Frau bei, die mit Hilfe ihres Geliebten ihren Mann und drei Kinder vergiftet hatte. Ich kannte sie von dem Prozesse her, hatte ich doch selbst die Anklage gegen sie vertreten. Es war ein rohes, unglaublich gefühlloses Weib, und ich konnte mir in meiner Rede einen Vergleich mit der Medea nicht verkneifen – zumal ich drei Gymnasiallehrer unter den Geschworenen hatte. Nun ist in Dortmund der Hof, auf dem die Hinrichtungen vollstreckt werden, in dem neuen Gefängnis, etwas ausserhalb der Stadt, während die Mörderin in der Stadt in dem alten Gefängnis interniert war. Während ihrer Überführung um fünf Uhr morgens schrie sie in ihrem Wagen wie eine Besessene, ich glaube, halb Dortmund ist von diesem fürchterlichen: ›Mama! Mama!‹ aus dem Schlafe geweckt worden. Ich folgte mit dem Gerichtsarzte in einem zweiten Wagen; wir stopften uns die Finger in die Ohren, was natürlich nichts nützte. Die Fahrt schien uns eine Ewigkeit; als wir endlich ausstiegen, wurde der gute Doktor seekrank – – na, ich war auch nicht weit davon entfernt, um die Wahrheit zu sagen!

Da gelang es dem Weibe, während sie auf das Schafott geführt wurde, die auf dem Rücken gefesselten Hände zu lösen und damit den unbedeckten Hals zu umschlingen. Sie wusste – da schlägt man dir durch; diese gefährdete Stelle also wollte sie schützen. Die drei Henkersknechte, herkulische Kerle, ungeschlachte Metzgergesellen, sprangen auf sie zu, rissen ihr die Hände herunter. Aber sowie sie eine gelöst hatten, brachte das Weib mit einer verzweifelten Kraft die andere wieder hinten an den Hals. Wie Krallen gruben sich ihre Nägel tief ins Fleisch, sie fühlte: solange sie da festhielt, war ihr Leben gerettet. Dieser schmähliche Kampf dauerte fünf Minuten, und dazwischen erschütterte die Morgenluft ihr ohrzerreissendes Geschrei: ›Mama! Mama! Mama!‹

Schliesslich riss einem der Knechte, dem sie den Finger halb durchgebissen hatte – – der Doktor hat ihn nachher amputieren müssen – die Geduld. Er hob die Faust und liess sie krachend auf den Schädel des Weibes niedersausen. Sie sank zusammen, betäubt auf einen Augenblick; man benutzte natürlich die Gelegenheit.

– Sehen Sie, Herr Assessor, das Benehmen dieses Weibes – – – das ist das natürliche!«

»Pfui Teufel!« sagte der Assessor und trank sein Bier aus.

»Gehen Sie doch,« rief ihm der Staatsanwalt zu, »ich bin überzeugt, Sie würdens nicht anders machen – und ich auch nicht! Sie waren doch zusammen mit mir bei der letzten Hinrichtung – wie war's denn da? Genau so wie bei denen, die die übrigen Herren anzusehen das Unglück hatten, und wie bei den vierzehn oder fünfzehn, denen beizuwohnen mich die Pflicht zwang. Vor Angst Halbtote schleppte man in den Hof, sie gingen nicht, man trug sie die Stufen hinauf zur Guillotine oder zum Richtblock. Immer dasselbe – selten eine Abweichung! Und immer wieder der verzweifelte Ruf nach der Mutter, als ob die hier helfen könne. Ich habe einen Kerl, der seine Mutter selbst totgeschlagen hatte, in dieser letzten Viertelstunde wie ein Wahnsinniger seine Mutter um Hilfe anflehen hören! – Und das heisst: nicht mit erwachsenen, denkenden Menschen hat es der Henker zu tun, sondern mit Kindern, mit schwachen, hilfeschreienden Kindern!«

»Bei alledem«, warf der Landgerichtspräsident ein, »sind Sie von dem, worauf Sie hinauswollten, völlig abgekommen.«

»Geben Sie dem Referendar die Schuld, Herr Präsident,« erwiderte der Staatsanwalt, »er wollte so gerne von Hödel hören. Aber Sie haben recht, ich werde mich beeilen!«

Er leerte seinen Krug und fuhr fort:

»Sie werden mir zugeben, meine Herren, dass der Eindruck einer Hinrichtung auf alle Beteiligten ein entsetzlicher ist. Wir können uns hundertmal vorreden: dem Kerl geschieht ganz recht; es ist ein Segen für die Menschheit, dass man ihm den Kopf herunterschlägt und derlei schöne Phrasen, wir werden doch nie darüber hinauskommen, dass wir einem völlig wehrlosen Menschen das Leben rauben. Dieses ›Mutter, Mutter‹-Schreien, das uns an die eigene Kindheit, an die eigene Mutter erinnert, wird nie verfehlen, in uns das Gefühl zu erwecken, dass wir eine feige, erbärmliche Handlung begehen. Und alles, was wir dagegen einwenden, erscheint uns, in der Viertelstunde wenigstens, als schlechte, inhaltlose Redensarten. – Ist das richtig?«

»Ich für mein Teil teile diese Ansicht vollkommen,« bestätigte der Landgerichtspräsident.

»Nun gut,« begann der Staatsanwalt von neuem, »ich glaube, dass auch die anderen Herren diese Überzeugung haben. Wollen Sie sich daran während meiner Erzählung erinnern!

Vor vier Jahren also hatte ich den Raubmörder Koschian dem Nachrichter zu übergeben. Es war ein Bursche, der trotz seiner neunzehn Jahre bereits ein paar Dutzend Vorstrafen hatte, und sein Verbrechen war eines der rohesten und gemeinsten, die mir in meiner Praxis vorgekommen sind. Er wanderte durch die Eifel, traf im Hochwald einen anderen, einundsiebzig Jahre alten Landstreicher und erschlug ihn mit dem Knüppel, um ihn seiner Barschaft von sieben Pfennigen zu berauben. Das ist nichts Aussergewöhnliches; aber ein Bild von der unglaublichen Rohheit dieser Bestie können Sie sich machen, wenn ich Ihnen sage, dass er drei Tage nach der Tat, aus jenem merkwürdigen Gefühl heraus, das die Mörder so häufig wieder zu ihren Opfern zurücktreibt, denselben einsamen Weg zog und den Alten noch lebend und leise röchelnd in dem Strassengraben fand, in den er ihn geworfen. Jeder Mensch, der nur ein Fünkchen Gefühl im Leibe hat, wäre bei diesem Anblick entsetzt geflohen, von Furien gepeitscht, wie mein Aktuar sagt! Koschian dachte nicht daran, er nahm wieder seinen Knüppel und hieb auf des Alten harten Schädel ein. Dann blieb er noch einen halben Tag lang in der Nähe seines Opfers, um sich zu vergewissern, dass er diesmal ganze Arbeit getan, durchsuchte nochmals die Taschen – vergeblich – und ging ruhig davon.

Nach einigen Tagen wurde er festgenommen, leugnete erst, bequemte sich dann aber, da alle Indizien gegen ihn sprachen, zu einem zynischen Geständnis, dem wir diese Einzelheiten verdanken. Na, die kurze Verhandlung endete natürlich mit einem Todesurteil. – Auch machte die Krone von ihrem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch. So hatte ich denn in kurzer Zeit die Pflicht, mich wieder einmal zu einem solchen letzten Gange zu rüsten.

Es war ein dunkler, nebelfeuchter Novembermorgen. Auf punkt acht Uhr war die Hinrichtung festgesetzt. Als ich in Gesellschaft des Arztes auf dem Gefängnishofe eintraf, war der Scharfrichter Reindl, der abends vorher mit der Guillotine aus Köln eingetroffen war, damit beschäftigt, seinen Gesellen die letzten Anweisungen zu geben. Der Henker, wie gewöhnlich in Frack und weisser Binde, prüfte sorgfältig, während er mühsam die weissen Glacéhandschuhe über die roten Fleischerhände zog, das Holzgerüst und die Maschine, liess die Leute noch ein paar Nägel einschlagen, den Sack ein wenig nach vorne schieben und strich leise mit dem Finger über die Schneide des Messers. – Wie bei jeder Hinrichtung, so fiel mir auch jetzt das alte Revolutionsliedchen ein, das die Bastillenstürmer auf den Erfinder der Mordmaschine, den Pariser Arzt Guillotin, sangen; gegen meinen Willen murmelten meine Lippen die Worte:

Guillotin,
Médecin
Politique,
S'imagine un beau matin
Que pendre est trop inhumain
Et peu patriotique.
Aussitôt
Il lui faut
Un supplice,
Qui sans corde ni couteau
Lui fait du bourreau
L'office.

Ich wurde unterbrochen, der alte Gefängnisdirektor kam zu mir mit der Meldung, dass alles bereit sei. Ich gab also Befehl, den Delinquenten herzubringen, und kurz darauf öffnete sich die Hoftür. Der Mörder, die Hände auf dem Rücken gefesselt, wurde von einem halben Dutzend Gefängniswärter herausgeführt, begleitet von dem Geistlichen, dessen Zuspruch er übrigens mit unflätigen Redensarten zurückgewiesen hatte. Er schlenderte ganz gemütlich daher, mit demselben frechen, hochfahrenden Gesicht, das er auch bei der Verhandlung zur Schau getragen. Prüfend schaute er auf das Gerüst, dann sah er scharf auf mich. Und als ob er meine Gedanken erraten habe, spitzte er die Lippen und pfiff laut: Tá, tá, tá – Tí, tí, tí – Tâ, tâ, tâ! Mich überlief eine Gänsehaut; mag der Himmel wissen, woher der Bursche diese Melodie hatte! Man führte ihn die Stufen zum Schafott hinauf; ich begann, wie gewöhnlich, das Urteil zu verlesen: Im Namen des Königs! usw. Das dauerte eine Weile, und während dieser ganzen Zeit hörte ich ihn immer das Guillotineliedchen pfeifen, diese Melodie, die mir selbst im Kopfe herumspukte: Tá, tá, tá – – tí, tí, tí – Tâ, tâ, tâ.

Endlich war ich zu Ende, ich hob den Kopf und richtete an den Verbrecher die übliche Frage, ob er noch etwas zu bemerken habe, eine Frage, auf die man keine Antwort erwartet und auf die man das: ›Dann übergebe ich Sie dem Nachrichter!‹ im Augenblick folgen lässt. Das ist der grauenvolle Moment, diese letzte Sekunde vor dem gewaltsamen Tode, die denen, die diesen Tod geben und ansehen müssen, nicht weniger qualvoll ist, als dem, der ihn zu erdulden hat. Dieser Moment, der die Lungen zusammenpresst und das Blut erstarren macht, der sich wie ein Alp um die Kehle schnürt und einen ekeln Blutgeschmack auf die Zunge streicht.

Da sah ich, wie der Mörder einen letzten Blick umherwarf über die kleine Versammlung, auf den Geistlichen, den Arzt, auf mich und die Leute des Gefängnisses. Er lachte schrill auf, und mit unsagbar verächtlichem Tone rief er:

»Ihr könnt mich alle im – – –«

Die Henkersknechte warfen sich auf ihn, wie gewöhnlich, rissen ihn im Augenblicke herunter, schlangen die Riemen herum und schoben ihn vor. Der Herr Scharfrichter drückte auf den Knopf, das Fallbeil sauste herunter, und der Kopf sprang in den Sack. Das alles geht ja so ungeheuer schnell.

Ich hörte neben mir einen tiefen Seufzer, aus dem es wie Erlösung klang. Es war der Gefängnisgeistliche, ein sensibler, schwachnerviger Mensch, der sonst nach jeder Hinrichtung acht Tage lang krank zu sein pflegte.

»Donnerwetter,« rief der alte Direktor, »seit bald dreissig Jahren leite ich diese Anstalt, aber das ist das erstemal, dass ich nach solch einer Gelegenheit keinen Schnaps zu trinken brauche!«

Als mir am anderen Tage der Arzt sein Protokoll für die Akten brachte, sagte er zu mir:

»Wissen Sie, Herr Staatsanwalt, ich habe darüber nachgedacht: der Kerl war Herr der Situation!«

Ja, meine Herren, das war er! Wir alle waren ihm in dem Augenblicke dankbar wegen dieses befreienden Wortes und sind es, gegen unseren Willen, heute noch, wenn wir daran denken. Das aber ist das Entsetzliche, dass wir diese Befreiung von einer drückenden Seelenqual einem furchtbaren Mörder verdanken mussten und dem gemeinsten, rohesten Pöbelausdruck, den die Sprachen der Völker kennen. Dass wir diese Befreiung der Erkenntnis verdanken, dass der niedrigste, erbärmlichste Verbrecher sich mit diesem widerlichen Schimpfworte noch hoch hinaushob über uns – – seine tugendhaften Richter, die Repräsentanten des Staates, der Kirche, der Wissenschaft, des Rechtes und alles dessen, wofür wir leben und arbeiten!«

* * *


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