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Sechstes Buch

Der Marchese di Civitella war schon manche Wochen zurück in der Residenz, als eines Nachmittags Graf Osten in einiger Aufregung zu ihm in die Reitbahn des Parkes kam, wo er ein Pferd, das er unlängst gekauft hatte, einritt.

»Marquis!« rief er, »Prinz Alexander läßt Sie bitten, sofort zu ihm zu kommen. Eben hat ihn der englische Gesandte verlassen – es scheint sich um etwas recht Wichtiges zu handeln.«

Als die beiden in das Arbeitszimmer des Prinzen kamen, bat sie dieser, Platz zu nehmen, während er selbst aufstand und vorsichtig die Türe verschloß. »Meine Herren«, begann er, »Sie sind die einzigen meiner Freunde, denen ich uneingeschränktes Vertrauen schenken darf. Die Zeit zum Handeln scheint endlich gekommen. Ich bitte Sie, mir geduldig zuzuhören und mir dann Ihre Meinung zu sagen.«

Er setzte sich und griff ein Schreiben vom Tische auf.

»Diesen Brief meines Freundes Lord Seymour«, fuhr er fort, »überbrachte mir soeben der englische Gesandte, der seinen Inhalt kannte und mir im Auftrage seiner Regierung und seines Hofes alles das bestätigte und eine Menge Einzelheiten mit mir erörterte. Meine gesamte Korrespondenz, lieber Graf, ist in den letzten Monaten durch Ihre Hände gegangen. Sie wissen, daß wir an Lord Seymour nichts Politisches schrieben, sondern lediglich um weitere eingehende Nachrichten über den Verlauf der Belagerung von Gibraltar baten und ihm einige andere Privatwünsche für Bücher und Landkarten unterbreiteten. Ich meinerseits gebe Ihnen mein Wort, daß ich nicht etwa hinter Ihrem Rücken an den Lord schrieb, der seit nun sechs Wochen einen wichtigen Posten im Kabinett Shelburne bekleidet. Also sind die Vorschläge, die in meinem Namen durch Lord Seymour der englischen Regierung gemacht wurden, von anderer Seite ausgegangen – Sie erraten wohl beide, von welcher! Welcher Natur diese Vorschläge waren, ersehen Sie leicht aus der Londoner Antwort, die mit ganz geringen Abweichungen und Ergänzungen, alle Punkte meines Anerbietens annimmt. Und nun hören Sie, meine Herren!

Die englische Regierung stellt mir die Regimenter, die sie zur Zeit in den hessischen Landen für ihren amerikanischen Krieg geworben hat und die vollkommen kriegsfertig ausgerüstet und marschbereit sind, auf die Dauer von drei Monaten zur sofortigen Verfügung. Mit diesen Truppen, die gewiß lieber im Lande bleiben und fechten wollen, als über See zu unbekannten Strapazen und Entbehrungen geführt zu werden, kann ich leicht einen Handstreich wagen. Es gilt, meinen Oheim, den Herzog gefangenzunehmen und festzusetzen, ihn dann des Thrones für verlustig zu erklären und selbst die Regierung zu übernehmen. Da, wie Sie wissen, die meisten europäischen Höfe, und besonders die unserer Nachbarländer, mich begünstigen, da eine Reihe von andern einem solchen Regierungswechsel in unserm Lande nur indifferent gegenüberstehen würden, so sind menschlicher Voraussicht nach ernstere Komplikationen in dem Augenblicke ausgeschlossen, wo uns der erste Handstreich gegen den Herzog gelingt.«

»Der Engländer tut nichts umsonst«, bemerkte Civitella, »darf ich fragen, Durchlaucht, was London als Gegenleistung verlangt?«

Der Prinz nickte: »Einen Augenblick Marquis! Zu diesem Plane ist eine starke Summe erforderlich, viel mehr als ich durch die Subventionen von Wien, München, Dresden erhalte. Diese Summe stellt mir die englische Regierung ebenfalls zur Verfügung. Als Gegenleistung muß ich mich verpflichten, das gesamte Heer meines Landes auf die Dauer von fünfzehn Jahren zur Verfügung Englands zu halten.«

»Eine harte Bedingung!« warf Graf Osten ein.

»Gewiß«, antwortete der Prinz, »sie ist nur dadurch etwas gemildert, daß London zugesteht, daß meine zukünftigen Regimenter nur innerhalb Europas verwendet werden dürfen.«

»Das kann England leicht zugestehn«, meinte Osten, »solange es in seinen Kolonien Hessen, Braunschweiger und Hannoveraner zu Verfügung hat. Sie werden Ihren Thron mit dem Leben manches braven Untertanen bezahlen müssen, gnädigster Prinz.«

»Ist je ein Thron ohne Blut erobert worden?« warf der Marquis ein. »Sind dies alle Bedingungen, Durchlaucht?«

»Die wesentlichen«, antwortete Prinz Alexander. »Darüber hinaus handelt es sich in der Hauptsache nur um Einzelheiten – Sie werden diese in Lord Seymours Briefen finden. Ich betone noch einmal, meine Herren, daß es im großen und ganzen meine eigenen von meinem Freunde für mich gemachten Vorschläge sind, die die englische Regierung glatt annimmt. Sie sind Lord Seymour übermittelt worden, der in der Annahme, daß sie von mir persönlich ausgingen, sie sogleich dem Ministerpräsidenten Lord Shelburne vortrug.« Er überreichte dem Grafen den Brief des Lords sowie einen Bogen, der mit Notizen von des Prinzen Hand bedeckt war: das Resultat seiner Besprechung mit dem Gesandten. Er bat die beiden Herrn, spät am Abend, wenn die Gäste, die zum Nachtmahl geladen waren, sich entfernt hätten, wieder zu ihm zu kommen, um die Angelegenheit weiter mit ihm zu besprechen.

Das Abendessen, zu dem außer dem englischen noch einige andere Gesandte geladen waren, verlief still genug. Mit keinem Wort wurde der geheime Plan erwähnt. Der Marchese war nicht erschienen; doch kam er später in des Prinzen Arbeitszimmer, in das sich dieser mit Osten zurückgezogen hatte. Er zog einige große Bogen heraus und erklärte, daß er einen andern Plan ausgearbeitet habe. Er bat, diesen verlesen zu dürfen.

»Sind es Änderungen und Ergänzungen?« fragte Prinz Alexander.

Civitella schüttelte den Kopf. »Nein!« sagte er ruhig. »Ich rate Euer Durchlaucht, das englische Abkommen zurückzuweisen. Was ich hier habe, ist ein neuer Plan, der meinem eigenen Kopf entsprungen ist. Hören sie nur –

Aber der Prinz unterbrach ihn. »Einen Augenblick«, sagte er, »beantworten Sie mir zuvor eine einzige Frage – auf Ehre und Gewissen! Ist der Grund, aus dem Sie den Plan meines Ratgebers ablehnen, lediglich der, daß Sie eine instinktive Abneigung gegen alles das haben, was von dieser Seite kommt? Oder aber haben Sie andere sachliche Gründe?

Er stand dicht vor dem Marchese, sah ihm scharf ins Auge. Aber Civitella hielt seinen Blick aus.

»Prinz«, erwiderte er, »es mögen vielleicht einige sachliche Bedenken mitsprechen. Doch will ich gerne zugeben, daß sie nebensächlicher Natur sind. Das was mich leitete, haben Sie erraten: ich habe in der Tat das tiefste Mißtrauen gegen alles, was von dem Armenier ausgeht!«

»In dem Falle«, sagte der Prinz, »danke ich Ihnen für die Mühe, die Sie sich in meinem Interesse gemacht haben. Aber lesen Sie Ihren Plan nicht vor – es ist zu spät. Ich habe bereits das Abkommen unterzeichnet.«

Civitella biß sich auf die Lippen. Man sah, wir mühsam er seine Worte unterdrückte.

»Dann verstehe ich nicht, gnädigster Prinz«, fiel Osten ein, »warum Sie uns heute nacht herbefahlen, um noch einmal die Vorschläge durchzugehn.«

»Das war allerdings meine Absicht, meine Herrn«, erwiderte Prinz Alexander. »Ehe ich jedoch zum Abendessen ging, fand ich in meiner Tasche einen kleinen Zettel – seine Schrift. Er wünschte, daß ich sofort das Abkommen unterzeichnen solle.«

»Und Sie gehorchten, Durchlaucht!« bemerkte Graf Osten ein wenig bitter.

Civitella machte eine tiefe Verbeugung. »Wenn es so steht, Prinz, so darf ich nur sagen, daß Sie unter den veränderten Umständen genau wie stets über mich verfügen wollen.« Damit zerriß er seine Papiere und warf sie in den Kamin.

Die beiden Kavaliere verabschiedeten sich, gingen schweigend hinaus. An der Treppe trafen sie einige der Lakaien und Jäger, die sich aufgeregt unterhielten. »Was gibt es?« fragte Graf Osten.

Hagemeister antwortete: »In der Stadt geht das Gerücht, daß der alte Herzog abdanken wolle, um der Erbprinzessin die Regierung zu übergeben –«

»Wem?« fragte Osten erstaunt.

»Der Erbprinzessin!« wiederholte der Jäger.

»Kümmert Euch nicht um solch dumme Gerüchte!« rief ihm der Graf zu.

Die beiden gingen durch die Schar der Bedienten zu den Räumen des Marchese. Als sie eintraten, bemerkte Osten einen weißen Zettel, der mit einer Nadel an dem goldgestickten Frackschoß des Marchese angespickt war. Er löste ihn ab und gab ihn dem Freunde. Der las: »Hüten Sie sich, Marquis, Sie werden es bereuen mir entgegenzuarbeiten!«

»Auf Tritt und Schritt läßt uns dieser Mensch belauern!« rief Osten, »Es ist kein Zweifel, daß Ihnen dieser Zettel von einem der Lakaien angesteckt wurde.«

»Wer ihn ansteckte, ist gleichgültig«, erwiderte der Marquis. »Aber sehn Sie, Graf, dies ist die Schrift Ihres Doktors Teufelsdrökh! Vor nicht fünf Minuten endete unsere Unterredung mit dem Prinzen – sogleich hat er Kenntnis davon und findet Zeit, mir seine Meinung zu sagen. Auch das Gerücht in der Stadt ist zweifellos von ihm ausgesprengt worden – es soll den Prinzen zu schnellem Handeln zwingen. Ich sage ihnen, Osten, meine Abneigung gegen diesen Menschen wächst täglich, stündlich – fast – er wird den Prinzen in sicheres Verder –«

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« unterbrach in Graf Osten.

Aber Civitella ließ sich nicht abhalten. »Ich will nicht schweigen!« rief er. »Wenn ich den Armenier jetzt hier hätte, ich würde ihm die Klinge durch den Leib –«

Osten sprang auf ihn zu, hielt ihm mit der Hand den Mund zu.

»Um Jesus Christus willen, schweigen Sie, Marquis!« flüsterte er. »Sind wir hier sicherer, als in des Prinzen Zimmer? Wer sagt Ihnen, daß er nicht jedes Ihrer Worte in wenigen Minuten erfährt?«

Die beiden standen tiefatmend, schweigend einander gegenüber. »Ich habe niemals gewußt, was Furcht ist«, murmelte Civitella, »und jetzt, jetzt –«

Dann unterbrach er sich, lauschte angestrengt. »Es steht jemand vor der Türe!« rief er. Er riß seinen Degen aus der Scheide, eilte zur Tür und öffnete sie. Graf Osten folgte ihm. Durch den halberleuchteten Flur sahen sie eine hohe Frauengestalt dahineilen. Beide stürzten ihr nach. Aber dicht vor ihnen stieß die Frau eine Türe auf, verschwand hinter ihr und warf sie vor ihnen ins Schloß.

Es war eine Geheimtür, die keiner von ihnen kannte. Sie suchten herum, fanden auch bald unter der Tapete den Druckknopf, der sie öffnete. Aber die Frau hatte die Tür von innen verriegelt. Sie mußten einige Bediente zu Hilfe rufen, die mit Stemmeisen die Tür aufbrachen. Sie ging in einen schmalen Gang, der dann eine Treppe hinunter führte und endlich im Garten mündete. Die Frau war längst entschwunden.

»Ich habe ihre hohe Figur erkannt«, sagte Graf Osten. »Es ist dieselbe Frau, die ich in München in dem Hause des Dr. Teufelsdrökh sah.«

Civitella nickte: »Ich zweifle nicht daran. Und es ist niemand anders als das schöne Geschöpf, mit dem der Armenier in Venedig arbeitete: des Prinzen Angebetete von Murano.«

*

Wenige Tage darauf ließ sich der Festungskommandant, derselbe, der die Verhaftung des Prinzen veranlaßt hatte, melden. Prinz Alexander wünschte nicht ihn persönlich zu empfangen, beauftragte daher den Grafen Osten damit. Dieser befahl, den Oberst zu ihm zu führen.

Osten erkannte den Eintretenden kaum wieder; er erschien um Jahre gealtert. Er schwankte, seine Hand zitterte. Schwer ließ er sich auf den ihm angebotenen Stuhl niederfallen.

»Was ist es?« fragte Osten.

»Fragen Sie mich nicht!« erwiderte der Oberst. »Seit dem Tage, an dem ich den Prinzen aus der Zitadelle ließ, seit dem Abende, an dem mir mein Leutnant meinen Siegelring brachte, finde ich nachts keinen Schlaf mehr. Mit der Geschichte mit dem Siegelring fing es an. Seither verfolgen mich geheime Botschaften und unerklärliche Geschehnisse, die mir das Leben zur Hölle machen. Ich bin hierher gekommen, nicht, weil ich will, sondern weil ich muß – ich biete dem Prinzen meine Dienste an.«

»Herr Oberst«, begann der Graf –

Der Kommandant unterbrach ihn. »Ich bitte Sie«, rief er, »machen Sie mir diesen Schritt nicht noch schwerer, als er für mich ist. Zweiunddreißig Jahre lang habe ich dem Herzoge treu gedient – es ist nicht leicht für mich, zum Verräter zu werden. Was ich tue, geschieht gegen mein Gewissen, gegen meinen eigenen Willen – und doch muß ich es tun, was diese geheime Macht, deren Träger ich nicht einmal kenne, mir zu tun befiehlt. Ich bin bereit, von heute ab meine Befehle vom Prinzen zu nehmen – mag er mich gebrauchen, wie er will!«

»Ist der Mann«, fragte Osten, »der Sie zu diesem Schritte veranlaßte, ist der Mann –«

»Es ist kein Mann«, rief der Oberst, »es ist eine Frau.«

Graf Osten stand auf. »Ich danke Ihnen, Oberst, das genügt mir. Ich verstehe Ihre Empfindungen, ich werde Sie nicht quälen. Gehen Sie zurück zur Zitadelle, versehen Sie Ihren Posten genau wie bisher. Prinz Alexander nimmt Ihre Dienste an – er wird Ihnen seine Befehle schicken, sowie das nötig ist. Und glauben Sie mir, Oberst, wenn das Ihr Gewissen in etwa beruhigen kann: Sie werden keinem schlechten Fürsten dienen!«

Der Kommandant schüttelte schweigend den Kopf und ging.

– In diesen Wochen herrschte eine fieberhafte Unruhe im Schlosse des Prinzen. Geheime Kuriere ritten allnächtlich aus und ein im Parke. Der Prinz selbst sowie der Graf Osten arbeiteten fast täglich bis zum frühen Morgen. Der Graf setzte so geheim und unauffällig wie nur möglich das Schloß sowie den ganzen Park in Verteidigungszustand. Man wollte für alle Fälle vorbereitet sein, um die Zeit über, bis die hessischen Regimenter von der Grenze aus die Residenz erreichen konnten, das Schloß zu halten. Diese Verteidigung gegen einen mutmaßlichen Angriff der herzoglichen Truppen sollte der Graf leiten, während der Prinz insgeheim in der Nacht vorher aus der Stadt reiten und sich an die Spitze der Hessen stellen sollte. Civitella war die Aufgabe zugedacht, sich im gegebenen Augenblicke in die Zitadelle zu begeben und dort mit Hilfe des Kommandanten jede Aktion der Gegenseite nach Möglichkeit zu durchkreuzen.

Der englische Gesandte hielt es für ein Gebot diplomatischer Klugheit, während der Putschtage die Stadt zu verlassen. Darum gab ihm der Prinz ein kleines Abschiedsessen, das, um so wenig Aufsehen wie nur möglich zu machen, in dem Landhause des Grafen stattfand. Es waren nur ein Dutzend Gedecke auf dem Tisch, auf dem, dem Engländer zu Ehren, eine mächtige Platte mit einem riesigen blutigroten Rinderbraten aufgebaut war. Man setze sich zu Tisch; nur ein Platz, der zur rechten Seite des Prinzen blieb leer. An seiner Linken saß der Gesandte.

Man hatte eben die Suppe gegessen, als der Jäger Hagemeister die Tür weit aufriß und laut meldete: »Herr von Eördögh!«

Es war ein Mann in der kleidsamen Tracht eines ungarischen Magnaten. Sein Kucsma, das schwarze Samtbarett, das mit Marderfell besetzt war, zierte eine Adlerfeder, unter der ein taubengroßer Rubin leuchtete. Rubine dienten auch als Knöpfe seiner Attila und schmückten die Schlußkette der Mente. An der Seite hing ihm ein krummer Türkensäbel, dessen Griff wieder mit köstlichen Rubinen besetzt war.

Osten erkannte ihn diesmal sofort – es war kein anderer als Dr. Teufelsdrökh.

Der Prinz sprang auf, ging ihm entgegen und reichte ihm die Hand. Dann führte er ihn zu Tisch. Civitella, der ihm gegenüber saß, wurde bleicher wie das Leintuch.

Dr. Teufelsdrökh reichte seine Kucsma, seinen Säbel und seine Mente dem Jäger und setzte sich. Dann zog er eine französische Zeitung aus der Tasche und legte sie vor sich auf den Tisch, ohne sie jedoch aufzufalten.

»Ein seltener Gast hierzulande!« rief ihm der Engländer zu. »Von Seiner Apostolischen Majestät gesandt, dem Kaiser und König von Ungarn?«

Der Angeredete antwortete sofort; aber es war, als wenn er diese Antwort dem Marchese gäbe, den er scharf ansah. »Seine Apostolische Majestät Kaiser Joseph wird kaum irgendwohin den Herrn von Eördögh senden«, sagte er. »Der Marquis, der ein paar ungarische Worte kennt, wird das begreifen.«

Civitella schien noch um einen Schatten bleicher zu werden.

»Nun, Marquis, was bedeutet es?« fragte der Prinz hinüber.

Es schien, als ob der Marchese sein Deutsch vergessen habe. »Diabolo!« flüsterte er durch die Zähne, »Ördök!«

Aber der Ungar fuhr fort, diesmal halb zu dem Gesandten gewandt: »Aus dem Lande der Zigeuner komme ich – und das, nicht wahr, Mylord, ist überall. Ein Zigeuner bin ich, einer der nirgends ein Heim hat und doch überall zu Hause ist.«

Dann hob er sein Glas und trank dem Marchese zu, den er nicht einen Moment aus dem Auge ließ. »Trinken Sie mit mir, Marquis, trinken wir auf das Wohl einer hübschen kleinen Zigeunerin!«

Er hob sein Glas und trank; aber Civitella tat ihm nicht Bescheid.

Dr. Teufelsdrökh lächelte, setzte ruhig sein Glas auf den Tisch. »Aber Marquis«, begann er wieder, »warum beleidigt sein? Warum griesgrämig? Das kann doch jedem passieren, daß ihn ein hübsches Ding zum Narren hält! Er wandte sich wieder den andern zu und fuhr fort: »Er ist nicht gern daran erinnert, scheints, der gute Marquis, der doch so viele Küsse von Frauenlippen pflückte! Da war ein kleines Zigeunermädel in Venedig – eine Straßensängerin, schmutzig und zerlumpt – aber Augen, wie die Hölle so heiß. Und dem Marquis deuchte sie Helena selbst. Er hätte alle Weiber der Lagunenstadt für einen Kuß von ihr gegeben. Sechs Monate stellte er ihr nach und gab für sie mehr Geld aus als je für ein anderes Weib – das fraß ein hübsches Loch in den Sack des Onkelkardinals. Aber sie lachte ihn aus und ging durch mit einem hübschen Gondoliere. Sechs ungarische Worte hat er von ihr gelernt – das war alles, was er je von ihr bekam. Nicht einmal einen kleinen Kuß erhielt er für all die blanken Zechinen. Ach, der arme, unglückselige Liebhaber!«

Eine glühende Röte bedeckte das Gesicht des Marchese. Seine Brust hob sich und senkte sich. Er suchte nach Worten, um zu antworten. Graf Osten, der neben ihm saß und einen Ausbruch zu verhindern suchte, griff seinen Arm und preßte ihn fest.

»Marquis«, flüsterte er, »liebster Freund, beherrschen Sie sich!«

Civitella hörte es wohl, nickte leise, unterdrückte seinen aufwallenden Zorn mit kräftiger Willensanstrengung.

»Herr von Eördögh«, sagte er so ruhig es gehn mochte, »alles, was Sie sagten, ist richtig. Dieses Abenteuer habe ich allerdings erlebt. Ob es nötig war, es hier zu erzählen, weiß ich nicht. Ich bin, wie Sie, der Gast des Prinzen, der Sie schätzt, und darum will ich alles als einen Scherz nehmen. Ich trinke auf das Wohl der kleinen Zigeunerin!«

»So ist es recht!« lachte der Herr von Eördögh. »Aber die kleine Geschichte ist noch nicht zu Ende und sie ist gar nicht so scherzhaft. Der Marquis schickte nämlich die Häscher hinter dem Pärchen her und ließ es aufgreifen, ehe es über die Grenze war. Wenn schon das Mädel verloren war, so wollte er wenigstens das Geld retten. Man peitschte die beiden aus, daß ihnen die Haut in Fetzen herunterhing. Aber sie hatten ihren Schatz vorher versteckt und hüteten sich wohl zu sagen, wo. Am andern Tage entwischten sie aus dem Gefängnis – das Geld war dem Herrn Marquis verloren, doch hatte er wenigstens die große Genugtuung, daß sein kleines Zigeunerliebchen es mit seinem Blut bezahlt hatte! – So, meine Herrn, denken und handeln die Nobili in Venedig!«

Civitella war aufgesprungen; der Stuhl fiel nach hinten. Seine Rechte krampfte sich in das Tafeltuch. Er suchte nach Worten, die doch seine Aufregung erstickte.

»Nun, Marquis«, lächelte Herr von Eördögh, »stimmt es nicht? Habe ich auch nur ein bißchen übertrieben?«

Der Marchese schüttelte den Kopf. »Es stimmt!« stieß er heiser hervor. »Ich tat, was Sie erzählten. Aber nicht Ihnen bin ich dafür Rechenschaft schuldig! Ich fürchte mich nicht – und wenn Sie der Teufel selbst wären – ich fordere Sie vor meine Klinge!« Er riß seinen Degen aus der Scheide und schlug hart damit auf den Tisch. »Sie werden mir Genugtuung geben!« schrie er. »Ich bin der Marchese von Civitella, von der Familie der Herzöge von Civitella –«

In diesem Augenblick erhob sich sein Gegenüber. Seine Augen brannten in die des Marchese, den plötzlich ein Schwindel zu befallen schien. Aller Augen waren auf die beiden gerichtet, ein tiefes Schweigen herrschte im Saale. Man sah, wie der Marchese einen schweren Kampf kämpfte. Es war, als wehre er sich wie ein Verzweifelter gegen die unheimliche Macht dieser brennenden Augen. Er versuchte immer wieder zu sprechen. Seine Hand versuchte einmal ums andere, den Griff seines Degens fester zu fassen – es gelang ihm nicht.

Nach einer Weile erklang die Stimme des Ungarn, halblaut nur, aber in einem sicheren Ton, der keinen kleinsten Widerspruch duldete: »Werfen Sie Ihren Degen fort!«

Wieder kämpfte der Marchese. Endlich faßte seine Rechte den Griff fester und warf mit einer schwachen Bewegung den Degen nach hinten. Einer der Lakaien hob ihn auf.

Und wieder erklang die befehlende Stimme: »Sie sagen, daß Sie der Marquis Civitella sind? Von den Herzögen von Civitella? Von dem edelsten Geschlechte Venedigs? – Sie irren sich! Sie sind das niedrigste und erbärmlichste Wesen, das je die Erde getragen hat. Sie sind: Blaise Ferrage

Man sah, wie der Marchese zusammenfuhr, als ob ein Peitschenhieb sein Gesicht getroffen habe. Alles in ihm bäumte sich auf. Qualvoll versuchte er, auf die neue Beleidigung zu antworten. Seine Zähne klebten aufeinander; mit mühseliger Anstrengung riß er sie auf. Aber aus seinen Lippen kam nur ein klägliches Röcheln.

Mitleidlos fuhr der andere fort: »Ich erbitte Ihre Aufmerksamkeit, meine Herrn! Ein jeder soll bei einem Gastmahl zur Unterhaltung beitragen, was er kann – ich möchte Ihnen ein kleines Schauspiel zeigen, das Sie, denke ich, bisher noch nie sahen. Es heißt –« und seine Stimme hob sich –

 

Der Prozeß des Blaise Ferrage.

Der Marquis wird die Hauptrolle übernehmen, die des Mörders. Er kennt zwar seinen Part noch nicht, aber er wird ihn gleich lernen.«

Mit diesen Worten warf er die Zeitung dem Marchese hinüber. »Da! Lesen Sie!« befahl er.

Wiederstrebend, immer noch kämpfend, nahm Civitella das Blatt auf und entfaltete es. Man sah den Kopf der Zeitung. Es war eine neue Nummer des Blattes »Journal de Paris«.

»Den Prozeß! Lesen Sie den Prozeß!« befahl Dr. Teufelsdrökh. »Und behalten Sie genau jedes einzelne Wort.«

Der Marchese gehorchte. Er hob das Blatt hoch, hielt es in zitternden Händen und las. Manchmal bewegten sich seine Lippen ein wenig, aber es kam kein Wort heraus.

Alle saßen in gespannter Erwartung. Der Eintritt des Ungarn und sein scharfer Angriff auf den Marchese war so plötzlich gekommen, sein Auftreten hatte dabei etwas so außerordentlich Gebietendes, daß keinem der Gäste auch nur der Gedanke kam, einen Einwand zu machen.

Als der Marchese seine schweigende Lektüre beendet hatte und die Hand mit der Zeitung auf den Tisch zurückfiel, rief ihn Dr. Teufelsdrökh wieder an: »Wie heißen Sie?«

Der Marchese begann: »Ci–vi–«

Aber der andere unterbrach ihn sofort. »Reden Sie keinen Unsinn. Sie wissen recht gut, wer Sie sind! Sie sind Blaise Ferrage, der Mörder Blaise Ferrage. Also – wie heißen Sie?«

»Blaise Ferrage«, stammelte der Marchese.

»Ich beginne das Verhör«, sagte Dr. Teufelsdrökh, mit dem Tonfalle eines Richters. »Geben Sie uns Ihre Personalien an. Wo sind Sie geboren?«

»In Céseau«, murmelte Civitella.

»Wo liegt das?«

»In der Grafschaft Commingues.«

»Welches ist Ihr Geburtsjahr? Was war Ihr Beruf?«

Und der Marchese, bei dem jeder Widerstand gebrochen schien, der nun völlig in der ihm aufgezwungenen Rolle lebte, erwiderte: »Ich war Maurer. Mein Geburtsjahr ist 1757.«

Der Herr von Eördögh wandte sich an die Gäste. »Gnädigster Prinz«, begann er, »und Sie, meine verehrten Herrn, es ist nun nicht weiter nötig, daß ich dem Marquis noch Fragen stelle oder ihm gesprochene Anweisungen erteile. Er versteht, was ich denke: aus dem, was er tut, werden Sie deutlich ersehn, was ich ihm zu tun befahl.«

»Mein Freund«, rief Prinz Alexander, »ist es nicht möglich, daß Sie dem Marquis diese schreckliche Strafe ersparen?«

Aber Dr. Teufelsdrökh schüttelte den Kopf. »Strafe? Glauben Sie mir, Prinz, daß mir nichts daran liegt, ihn oder irgend jemanden zu strafen. Es ist eine Laune von mir, dem Marquis eine Lehre zu geben – mehr aber noch Ihnen, Prinz Alexander! Ich lasse Ihnen einen Geist erscheinen, den Geist des entsetzlichsten Mörders aller Zeiten, der vor nun zehn Tagen hingerichtet, gerädert wurde. Sie mögen dann das Nähere darüber in der Zeitung nachlesen, die ich eben aus Paris bekam. Sie werden – wieder einmal! – einen Geist sehn, aber diesmal einen aus Fleisch und Blut, eingebannt in die schlanke Gestalt des Marchese von Civitella. Der Marquis haßt mich – Sie wissen das, Prinz –, und trotzdem muß er alles das tun, was ich ihm zu tun befehle. Meinen Sie nicht, daß es in meiner Macht läge, auch Sie den Weg, Schritt um Schritt, gehn zu lassen, den ich Ihnen vorschreibe? Aber ich will es nicht, mag nicht mehr, bin es leid, nur Puppen tanzen zu sehn. Begreifen Sie doch: ich will Menschen frei handeln sehn – soweit überhaupt von einem freien Willen die Rede sein kann. Es interessiert mich nicht mehr, nur Menschen zu beobachten, die nichts weiter sind als meine eigenen Sklaven oder die anderer. Und ich will dem Schicksal dankbar sein, wenn es mir gelang, auch nur einen Menschen, Sie, Prinz Alexander, herauszuheben aus der Masse des Herdenviehs! Mögen Sie aus dem, was ich Ihnen zeigen werde, erkennen, daß es ebenso gut möglich ist, einen Menschen in die tiefsten Höllen zu werfen, wie ihn auf die höchsten Höhen zu führen. Nur die äußersten Grenzen der Menschheit sind wirklich des Interesses wert.«

Er schwieg. Sein Blick blieb sengend auf den Marchese gerichtet, den er während seiner Worte nicht aus den Augen gelassen hatte.

Langsam knöpfte der Marchese den Rock und die Weste auf, zog sie aus und warf sie mit dem Degenkoppel weit hinter sich. Dann ging er nach hinten. Aber sein Gehen verwandelte sich nach wenigen Schritten in ein vorsichtiges Schleichen. Lauernd sah er sich ringsum, wie um sich zu vergewissern, daß ihn niemand beobachte. Endlich duckte er sich, wie in ein Versteck, hinter das Ecksofa.

Dort schien er zu warten. Es war, als ob er jemanden auflauern wollte. Nach einer Weile wurde er unruhig, horchte angestrengt, hob sich ein wenig und lugte hinaus. Sein Gesicht nahm den Ausdruck einer wilden Freude an. Jemand schien näher zu kommen, und er lauschte auf diese Schritte.

Plötzlich sprang er auf, lief einige Schritte vor und ergriff ein vor ihm stehendes, imaginäres Wesen. Er schlug rasend mit beiden Fäusten darauf zu, warf es zu Boden. Dann grinste er, lachte ein irres Lachen, hob die ohnmächtige Beute auf und lud sie auf seine Schulter. Keuchend, niedergedrückt von der schweren Last, schleppte er sich weiter. Er schien zu steigen, die Berge hinauf. Endlich schien er irgendwo angekommen zu sein – er warf seine Beute ab.

Und nun begann ein grauenvolles Schauspiel. Das Wesen, das er heraufgeschleppt hatte, schien aus der Ohnmacht zu erwachen, ihn anzuflehn um Mitleid und Barmherzigkeit. Er weidete sich an der furchtbaren Angst seines Opfers, griff dann vom Tisch ein Messer und zeigte es ihm. Seine Linke schien sich mit unmenschlicher Kraft, die Kehle des Opfers zu spannen, während er mit der Rechten tief ins Fleisch schnitt.

So deutlich waren die Gesten des Besessenen, daß die Gäste entsetzt den Atem anhielten, es nicht wagten, ein Wort zu sprechen. Man sah ordentlich, wie sich das Opfer unter diesen unerbittlichen Mörderhänden hin und her wand; sah die Qualen dieses Wesens, das lebendig in Stücke geschnitten wurde.

Dann stand er auf, suchte herum. Es war, als ob er Reisig und Holz zusammenhole und hoch aufschichte. Er schleppte den auf der Erde liegenden Stuhl heran, machte Gesten, wie wenn er zwei Gabelstöcke aufrichte, dann mit seinem Messer einen Stock zum Spieß zurechtspitze. Noch ein paar Schnitte an dem toten Leibe seines Opfers – er löste ein mächtiges Stück Fleisch heraus und trieb es auf seinen Spieß, den er über das Holz hing. Er schlug mit den Händen, als ob er mit einem Stein Feuer zünde und warf den entzündeten Scheit in das trockene Reisig. Dann kauerte er sich auf den Boden nieder, beobachtete still das hochschwälende Feuer, das seinen Braten briet.

Plötzlich sprang er auf. Irgendein Geräusch schien an sein Ohr zu schlagen. Er lauschte angestrengt, sah sich überall um – beruhigte sich dann wieder. Mit langen Schritten ging er rund um sein Feuer. Da fiel von ungefähr sein Blick auf den mächtigen, halbaufgeschnittenen Rindsbraten, der rot und blutig in der Mitte der Tafel stand. Er hielt inne, betrachtete ihn mit brünstiger Gier. Dann sprang er vor, drängte sich – als ob sie Luft wären – zwischen zwei der Gäste durch und riß mit beide Händen das gewaltige Prunkstück von der Platte, als wollte er es von dem Spieße abstreifen. Er trug es in die Ecke hinter das Sofa, kauerte sich dort nieder und schlug die Zähne in das halbrohe Fleisch. Mächtige Fetzen schlang er hinunter, seine schwarzen Augen leuchteten in tierischer Lust.

Und jeder im Raum begriff es: der Mensch dort in der Ecke – fraß Menschenfleisch.

Mit einem Seufzer der Erleichterung hörte man jetzt die Stimme des Herrn von Eördögh: »Komm her!«

Gehorsam wie ein Lamm, aber scheu und furchtsam, ließ Civitella das Fleisch fallen und kam zum Tische zurück. Dr. Teufelsdrökh winkte einigen Dienern und befahl ihnen, dem Marquis Wasser und ein Handtuch zu reichen. Der Marchese ergriff das Tuch, tauchte es in das Wasserbecken, das man ihm vorhielt und wusch sich, wie ein artiges Kind, Gesicht und Hände ab. Dann zog er Rock und Weste wieder an, die ihm einer der Jäger reichte und ließ sich den Degen umschnallen. Immer an den Augen seines Bändigers hängend, setzte er sich auf seinen Stuhl nieder; stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in beide Hände. Er schien zu schlafen – aber kaum eine Minute lang. Dann hob er den Kopf, sah sich rechts und links um – sein Gesicht hatte wieder seinen alten, offenen und stolzen Ausdruck angenommen.

Mit völlig veränderter Stimme und gewinnender Liebenswürdigkeit sprach ihn der Ungar an: »Mein Herr Marquis, darf ich um die Ehre bitten, auf Ihr Wohl trinken zu dürfen!«

Civitella verbeugte sich. Es war ganz augenscheinlich, daß ihm jede kleinste Erinnerung an das, was soeben geschehen war, entschwunden war. Er nahm sein Glas und erwiderte: »Ich danke Ihnen! Es ist mir eine hohe Ehre, Herr von Eördögh!« Er lächelte und seine Stimme klang ein wenig spöttisch, als ob er sagen wollte: »Ich weiß recht gut, wer du bist!«

Beide tranken ihr Glas zur Neige und erhoben die leeren Gläser gegeneinander. Dann begann der Ungar wieder: »Herr Marquis, ich unterhielt mich soeben mit dem Prinzen über den ungeheuerlichen Fall des Mörders Blaise Ferrage, über den sich in diesen Tagen die ganze Welt entsetzt. Ich reichte Ihrem Nachbarn, dem Grafen Osten, das Journal de Paris, hinüber, in dem ein kleiner Aufsatz über diese unerhörte Geschichte steht. Darf ich Sie, im Namen des Prinzen und der Gäste, wohl um die Liebenswürdigkeit bitten, uns diesen Aufsatz vorlesen zu wollen?«

Der Marchese blickte auf den Tisch, sah, ein wenig erstaunt, vor sich das Blatt liegen. Er griff es auf, fand gleich auf der ersten Seite den Artikel. »O gewiß«, sagte er leichthin, »sehr gerne.«

Er begann zu lesen:

»Mit der baskischen Bevölkerung unserer Pyrenäen kann heute die gesamte Menschheit wieder frei aufatmen: sie ist von dem widerlichsten Scheusal befreit worden, das sie jemals gesehn hat. Am zwölften dieses Monats stand Blaise Ferrage vor Gericht; am dreizehnten wurde er mittels des Rades hingerichtet. Wenn man die entsetzlichsten Greueltaten in allen Ländern und aller Zeiten nachliest, so wird man doch nichts finden, was man dem furchtbaren Treiben dieses Mörders auch nur einigermaßen vergleichen könnte. Seine Taten sind so grauenvoller Natur, daß es uns das Beste scheint, so kurz und knapp wie nur eben tunlich darüber zu berichten, und damit die in solchen Fällen überaus bittere Pflicht des Chronisten zu erfüllen, die nun einmal gebietet, Notiz zu nehmen. Dann aber wollen wir vergessen, daß dieses wilde Tier ein Franzose war, ja, wir wollen vergessen, daß er je unter uns wandelte!

Blaise Ferrage, geboren in Céseau in der Grafschaft Commingues im Jahre 1757, hat in den letzten drei Jahren über achtzig Menschen, Männer, Frauen und Kinder ermordet und aufgefressen. Er war seines Berufs ein Maurer und Steineklopfer. Die Meister, bei denen er früher arbeitete, wußten nur wenig und kaum etwas Nachteiliges über ihn auszusagen. Wie und weshalb er dazu kam, seine Arbeit aufzugeben und sich in die wildesten Schluchten der Pyrenäen in die Einsamkeit zurückzuziehen, war auch durch die grausamste Folter nicht aus ihm herauszuholen – es scheint, daß er selbst keinen Grund dafür gewußt oder aber diesen vergessen hat. Er hauste in einer sehr hochgelegenen, versteckten und völlig unzugänglichen Höhle. Von dort aus unternahm er seine Raubzüge, die ihn bald zum Schrecken der ganzen Gegend machen sollten. Er war ein kleiner Mann von abschreckender Häßlichkeit mit auffallend langen Armen und einem mächtig entwickelten Unterkiefer, der an die riesigen Waldaffen erinnerte, von denen Reisende von den Inseln des niederländischen Indiens Skelette mitgebracht haben. Man erzählt von diesen Ungeheuern, die die eingeborenen Malaien »Orang-Utang« d. h. Waldmenschen nennen, daß sie zuweilen von der Landstraße Frauen rauben und in ihre Wälder verschleppen. Noch nie aber ist berichtet worden, daß sie ihr Opfer auch auffressen, wie es dieses Scheusal der Pyrenäen tat! Tagsüber hielt er sich in seiner Höhle in einsamer Schlucht versteckt, zur Dämmerzeit brach er auf und stieg zum Tal herunter. Er lauerte irgendwo, hinter einem Busch oder einem Felsen versteckt. Wer immer in der Nacht vorbeikam, der wurde sein Opfer. Männer und ältere Frauen schoß er meist gleich nieder, schleppte dann den Leichnam zu seiner Höhle. Junge Frauen aber, Mädchen und Kinder – und die bildeten die weitaus größte Mehrzahl seiner Opfer – betäubte er mit Faustschlägen und schleppte die Ohnmächtigen auf der Schulter die Berge hinauf. Er mißbrauchte diese Opfer in bestialischer, nicht wiederzugebender Weise und schlachtete sie dann; schnitt oft aus den noch lebenden Wesen Fleischstücke heraus, die er sich über einem Feuer briet. Manchmal zwang er seine blutenden Opfer, selbst das Reisig zusammenzusuchen und das Feuer anzuzünden, an dem sie kurz danach zu Braten zubereitet werden sollten. Auch die Leichen der von ihm erschossenen Männer verzehrte er. Er selbst gestand – und das noch, ehe er gefoltert wurde – hohnlachend und aus freien Stücken, daß er sich während der letzten zwei Jahre in der Hauptsache nur von Menschenfleisch genährt habe.

Wenn wir von dem Baron Gilles de Rais, dem Bannerträger der Jungfrau von Orleans und Marschall von Frankreich lesen, daß er viele Hunderte von Kindern in seinem Schlosse höchsteigenhändig abschlachtete, so schaudern wir zurück vor einer längstvergangenen dunklen Zeit, wo Zauberwesen, Hexenwahn und Teufelskult in hoher Blüte standen. Immerhin können wir die Greueltaten dieses Mannes menschlich verstehn, können begreifen, wie er, von dem Glauben besessen, daß das Blut und die Herzen der Kinder ihm in einem Pakte mit dem Teufel alle Schätze und alle Macht der Erde verschaffen würden, in fast wissenschaftlicher Weise seine Mordtaten beging. Wer aber vermag die Seele dieses Ogirs Blaise Ferrage zu ergründen, der durch drei Jahre durchschnittlich jeden zwölften Tag einen Menschen ermordete, um sein Fleisch zu fressen?

Der Marchese von Civitella faltete die Zeitung zusammen und legte sie nieder. »Santa Madonna«, rief er, »wenn man das liest, kann einem schlecht werden! Ich schwöre Ihnen, meine Herren, daß ich, nur vom Lesen, einen Geschmack auf der Zunge habe, als ob ich selbst halbrohes Menschenfleisch gegessen hätte!«

»Wie schmeckt es?« fragte Herr von Eördögh. Civitella schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht recht«, antwortete er lachend, »ein bißchen süßlich, denke ich!« Dann hielt er sein Glas dem Bedienten hin. »Burgunder!« rief er. »Ich muß den Geschmack herunterspülen!«

Und er leerte sein Glas in kurzen Schlucken.

*

Es war dem Grafen von Osten aufgefallen, daß Muni, der Jäger des Marchese, sich nicht an der Bedienung der Gäste beteiligte. Er stand bei dem Eintreten des Dr. Teufelsdrökh dicht an der Türe. Es schien dem Grafen, als ob der Jäger gleich im ersten Augenblick in ihm den Armenier, dem er einige Male in Venedig gefolgt war, genau so gut erkannt habe wie er selbst, wie der Prinz und Civitella. Bei dem Zusammenstoße dieses Mannes mit dem Marchese war er einen Schritt vorgesprungen, als ob er sich auf den Menschen stürzen wolle, der seinen Herrn in so maßloser Weise beleidigte. Doch hielt ihn der Respekt zurück. Auch war er wohl überzeugt, daß sein Herr Manns genug sei, allein mit dem Gegner fertig zu werden. Die dann folgende Szene hatte ihn ebenso in Atem gehalten, ebenso fest gebannt, wie alle andern im Raume. Er stand da mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen und starrte auf das, was vorging, von dem er augenscheinlich wenig mehr begriff, als das eine, daß sein Herr von einem fremden zum Narren gehalten und gedemütigt wurde. Während der Marchese die Zeitung las, bemerkte Graf Osten, wie der Jäger einen Blick voll glühenden Hasses auf Dr. Teufelsdrökh warf, hinter dem er stand, wie er einen leisen Fluch ausstieß und dann aus dem Zimmer hinausging.

Wenige Minuten darauf erhob sich Dr. Teufelsdrökh und bat den Prinzen, ihn entschuldigen zu wollen.

»Ihr Schicksal, Prinz«, sagte er sehr ernsthaft, »liegt nun allein in Ihren Händen! – Wenn Sie an der Stelle stehn werden, die das Schicksal für Sie bestimmt hat, dann werden Sie mich wiederschaun! Wenn Sie aber Ihren Weg nicht gehn werden, wenn Ihre Rechte es nicht wagt, den hohen Schmuck zu greifen, der für Ihre Stirne bestimmt ist, dann, Prinz, nehmen Sie Abschied von mir – dann werden Sie mich gewiß nie wiedersehn!«

Er verbeugte sich ehrerbietig genug, nickte den übrigen Gästen zu und wandte sich zum Gehn. In dem Augenblick, in dem er sich von einem der Lakaien seine Kucsma, sein Mäntelchen und seinen Säbel reichen ließ, sprang der Jäger durch die Tür auf ihn zu. Ehe es jemand verhindern konnte, riß er aus der Rocktasche ein doppelläufiges Pistol und schoß hintereinander beide Läufe aus nächster Nähe auf ihn ab.

Jeder erwartete, den Ungarn fallen zu sehn. Statt dessen lachte dieser ein herzliches, fast gutmütiges Lachen. Dann warf er zwei Kugeln auf den Tisch, die auf den Marchese zurollten.

»Marquis!« rief er, »verwahren Sie sich zum Andenken diese Kugeln, die Ihr Jäger mir zugedacht hat! Lassen Sie sich vom Prinzen das Kunststück erzählen, wie man Kugeln unschädlich macht – der weiß es! Und bestrafen Sie Ihren Jäger nicht zu hart: Er ist ein braver Bursche und hat es gut gemeint.«

Dann wandte er sich an Muni: »Deine Hand!« rief er ihm zu. »Deine ehrliche Gesinnung verdient, belohnt zu werden!«

Der Jäger, leichenblaß und am ganzen Leib zitternd, ließ das Pistol fallen, öffnete dann seine Hand, wie der Dr. Teufelsdrökh befahl. Der legte ihm ein paar Golddukaten hinein, grüßte noch einmal lächelnd ring herum und schritt hinaus.

Unbeweglich und immer noch an den Armen und Beinen schlotternd stand der Jäger da, das Gold in der ausgestreckten Hand haltend. Er war ein solches Bild von wehrloser Jämmerlichkeit, daß zunächst der englische Gesandte laut an zu lachen fing. Seinem Beispiel folgten alle Gäste und schließlich auch die Bedienten. Sogar der Marchese, der bei dem Angriff seines Jägers, den er ebensowenig verstand, wie die gutmütig lachende Haltung des Angegriffenen, erregt aufgesprungen war, wurde von dem allgemeinen Gelächter angesteckt. Wie ein Dackel, der im Kampf mit einem Kätzchen ganz unerwarteterweise den kürzeren gezogen hat, mit eingekniffenem Schwanze beschämt von dannen schleicht, so zog der Jäger Muni ab, ohne recht zu begreifen, was ihm geschehn war und warum ihm dies geschah.

*

Dr. Teufelsdrökh hielt sein Wort; er blieb unsichtbar für den Prinzen. Dennoch zeigte er ihm gut genug, daß er nach wie vor hinter ihm stehe; gab er ihm doch in diesen aufregenden Wochen des öfteren Gelegenheit, die schöne Frau von Murano zu sehn. Graf Osten stellte fest, daß zur Nachtzeit sie zweimal aus seinem Zimmer herauskam und einmal mit ihm im Park in aufgeregtem Gespräche auf und nieder wandelte; jedesmal tief verschleiert. Osten fragte den Prinzen nicht nach diesen Unterredungen, wartete vielmehr, bis dieser endlich selbst davon anfing. Es war augenscheinlich, daß der Prinz das starke Bedürfnis hatte, sich auszusprechen und froh war, in seinem langjährigen Kriegsgefährten, dem Grafen, einen Freund zu besitzen, dem er vollstes Vertrauen schenken konnte. So erfuhr der Graf, daß Veronika keineswegs dem Prinzen Weisungen und Ratschläge des Armeniers überbracht hatte. Auch in dem Punkte hatte dieser sein Versprechen wahr gemacht, daß der Prinz von nun an auf eigenen Füßen stehen müsse. Jedoch hatte der Prinz alle seine Pläne auf das eingehendste mit der schönen Frau beredet und sprach nun mit ebensolch restloser Begeisterung von ihrer Klugheit, wie von ihrer Schönheit und ihrem bezaubernden Liebreize. Der Prinz gestand mit einem schmerzlichen Seufzer seinem Vertrauten, daß das beiderseitige Verhältnis über eine warme Freundschaft nicht hinausgehe, daß die Schöne ihm nur zum Abschied erlaube, ihre Hand zu nehmen und zu küssen. Dennoch ließ er keinen Zweifel darüber, daß er die feste Absicht habe, diese Frau zu heiraten, sowie er die Krone sich aufs Haupt gesetzt habe.

Prinz Alexander schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß sie aus edelster Familie ist – sonst nichts! Muß mir das nicht genügen? Ob sie im Sinne der Standesvorschriften der herrschenden Häuser ebenbürtig ist oder nicht, das weiß ich nicht; aber ich würde niemals auch nur einen Augenblick danach fragen. Ein Mensch, der sich das Recht nimmt, einen andern vom Thron zu stoßen und sich selbst darauf zu setzen, der mag auch wohl den Platz neben sich der Frau geben, die er für würdig hält – ohne jede Rücksicht auf veraltete Vorurteile.«

»Nicht diese Vorurteile«, erwiderte der Graf, »sind es, die bedenklich erscheinen, vielmehr politische Rücksichten. Der Wiener Hof hofft immer noch, daß die Verbindung zwischen Ihnen und der lothringischen Prinzessin zustande komme. Wir haben, so gut es ging, diese Frage bislang hinausgeschoben. Und es ist gewiß, daß eine solche Heirat Ihren Thron sehr befestigen würde.«

»Zweifellos, zweifellos!« nickte der Prinz. »Aber glauben Sie mir, lieber Graf: sitze ich erst auf diesem Throne, so bin ich allein stark genug, ihn festzuhalten – gegen jeden Gegner! Und es ist nicht zuletzt für diese Frau – wie es mit ihr ist – daß ich um den Platz kämpfe, den sie mit mir teilen soll! Das ist des Armeniers Werk, daß er meine Wünsche, meine Begierde, meine Willen aufgepeitscht hat – aber die Kraft zu dem, was ich tun muß, all meine Stärke, verdanke ich ihr allein! – O Graf«, schloß er in heller Begeisterung, »Sie werden mich begreifen, werden all mein Empfinden verstehn, wenn Sie nur einmal sprechen könnten mit dieser wunderbaren Frau!«

Er griff die Rechte des Freundes und preßte sie in beiden Händen. Seine Augen leuchteten.

Graf Osten erwiderte den Händedruck des Prinzen. Er hatte das plötzliche Gefühl, als ob er in diesem Augenblick dem Prinzen so nahe sei, daß er es wagen könne, ihm etwas zu sagen, das ihn vielleicht tief verletzen konnte – das zu verschweigen aber ihm Freundespflicht verbot.

»Prinz«, begann er, »es ist da noch etwas, das vielleicht viel wichtiger ist als alles andere. Ich sprach mit dem armen Freihardt darüber, auch mit dem Marquis. Keiner von uns wagte es je, Ihnen zu sagen, da wir Ihre tiefen Empfindungen zu dieser seltenen Frau kannten. Dennoch Prinz, in diesem Augenblick –«

Er stockte. »Was ist es?« drängte ihn der Prinz. »Sie sind mein bester Freund heute, mein einziger Vertrauter – wer soll mir die Wahrheit sagen, wenn Sie es nicht tun? Ich beschwöre Sie, Osten, reden Sie!«

»Nun wohl«, antwortete der Graf, »ich will sprechen. Doch glauben Sie mir, Prinz, daß nur meine heiße Verehrung für Sie es ist, die diese Worte von meinen Lippen reißt, von denen ich weiß, wie weh sie tun müssen.«

»Sprechen Sie, sprechen Sie!« flüsterte Prinz Alexander.

»Die Dame von Murano«, sagte Osten, »ist die intime Freundin des Dr. Teufelsdrökh. Mehr noch – sie ist sein Werkzeug, ist eine von vielen Puppen, die nach seinem Willen tanzen. Jeden seiner Befehle führt sie blindlings aus, sie lebt nur –«

»Ich weiß, ich weiß!« unterbrach ihn der Prinz. »Kommen Sie zur Sache. Es ist nicht das, was Sie sagen wollen!«

»Nun denn, Prinz«, rief der Graf, »kam Ihnen nie der Gedanke, der mir und Freihardt sich aufdrängte, der den Marquis und den Junker von Zedtwitz quälte, der Gedanke, der selbst die besten unserer Leute, wie die Jäger Hagemeister und Muni beängstigte, der Gedanke, daß vielleicht, vielleicht –«

Er stockte. »Was vielleicht?« drängte Prinz Alexander. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter! – Was – vielleicht?«

Der Graf holte tief Atem. Dann sagte er mit fester Stimme: »Daß vielleicht die schöne Frau seine Geliebte sein könnte!«

Prinz Alexander lachte jäh auf. Mit langen Schritten lief er ein paarmal durch das Zimmer. Dann ließ er sich in einen Armsessel fallen. »Der Gedanke, Graf«, stieß er hastig hervor, »kam mir sehr oft. Raubte mir den Schlaf mancher Nacht, ließ mich hier auf Erden die Hölle kosten! Aber es ist nicht wahr, weil es nicht wahr sein kann und nicht wahr sein darf!«

»Ist das Ihr einziger Grund?« fragte Osten.

»Nein!« antwortete der Prinz. »Ich habe bessere, logischere! Aber trotz ihnen quält mich wieder und wieder dieser schreckliche Zweifel – und dann ist es schließlich immer nur dies Gefühl gewesen, daß das Schicksal so hart, so grausam nicht sein kann, nur dies Gefühl, das mich bewahrt hat vor dem Zusammenbruch!«

»Verzeihn Sie«, forschte der Graf, »haben Sie einen der beiden jemals offen gefragt?«

Der Prinz schüttelte den Kopf. »Nie, nie!« stöhnte er. »Tausendmal schwebte diese Frage auf meinen Lippen – nie habe ich sie aussprechen können.« Er schlug seine Hände vor das Gesicht, schluchzte auf. Dann fuhr er, ein wenig ruhiger, fort. »Aber Sie lasen meine Frage von den geschlossenen Lippen, er wie sie, mehr als einmal!«

»Und antworteten sie?« fragte Osten.

»Niemals auf meine stumme Frage«, antwortete Prinz Alexander. »Doch gaben sie mir Antwort, alle beide, gelegentlich im Gespräch. So sagte sie einmal: »Er ist mein Bruder!« Nicht wirklich meinte sie das: Wie sie »Bruder« sagte, klang daraus alle tiefste und reinste Hingabe und unbedingte Ergebung. Es lag eine restlose Resignation in ihren Worten. Ich hatte, als ich sie hörte, das ganz sichere Empfinden, daß nur seelische, aber keinerlei körperliche Bande die beiden verknüpften. Die Liebe aber, Graf, verlangt beides –«

»Und er?« fragte der Graf weiter, als der Prinz schwieg, »was sagte er?«

»Nur einmal sprach er zu mir über Veronika«, sagte der Prinz, »damals, als er mich im Kloster der Carità besuchte. Ich erinnere nicht mehr genau den Zusammenhang, aus dem heraus seine Worte kamen, aber diese selbst werde ich nie vergessen. »Prinz«, sagte er, »diese Frau ist nichts anderes als das schöne Bild, das Sie in der Franziskanerkirche sahen. Lieben Sie dieses Bild, wie man ein Bild liebt – mit den Augen nur! So allein darf man sie lieben, und so nur liebe auch ich sie! Fragen Sie nicht weiter! Das Schicksal senkte Gift in den Kelch der schönen Blume. Wehe der armen Biene, die von ihrem Honig nascht!« – Ich begriff nicht, Osten, was er damit sagen wollte und verstehe es noch heute nicht. Aber das verstand ich: daß er sie nur mit den Augen liebt! Und nehmen Sie hinzu, Graf, was uns der Marchese erzählte, der die beiden, lange vor dem ich diese Frau sah, in dem Garten von Murano beobachtete. Freihardt schrieb Ihnen ja darüber. Ihr Benehmen bei dieser Gelegenheit gibt die volle Bestätigung dessen, was er mir sagte und was sie mir sagte: Es war trotz aller inneren Beziehungen ganz und gar nicht das eines Liebhabers zu seiner Geliebten – mehr noch, es mußte einen solchen Verdacht völlig ausschließen! – Und wenn mich trotzdem immer und immer wieder Zweifel quälen, so kommen sie eben aus dem Empfinden eines Menschen, den die glühendste Liebe manchmal blind macht! Sie aber, Graf, sind frei von diesem Gefühl, urteilen Sie klar und kühl – sagen Sie mir, haben Sie, nach dem, was ich Ihnen sagte, immer noch Bedenken?«

»Nein,« sagte Graf Osten fest, »nicht mehr nach dem, was Sie mir mitteilten, Prinz! Und ich würde zufrieden sein, wenn dieser feste Glauben nun auch helfen würde, die bangen Zweifel zu bannen, die Sie dennoch quälen!«

Prinz Alexander atmete auf. Eine Träne blinkte in seinen Augen. »Ich danke Ihnen, Freund«, rief er, »ich danke Ihnen.«

*

Die Arbeitskraft des Prinzen schien mit jeder Stunde zu wachsen. Je näher der Tag zum Losschlagen kam, um so tatkräftiger und willensstärker erschien er. Fast alle Anordnungen traf er persönlich, dabei von dem Grafen eifrig unterstützt, aber nur in sehr lauer Weise von dem Marchese von Civitella. Dieser schien, seit dem Zusammenstoß mit Dr. Teufelsdrökh – obwohl er an diesen nicht die kleinste Erinnerung hatte – in der gleichen Weise zu erlahmen, wie der Prinz erstarkte. Er erfüllte jeden Auftrag, den man ihm gab, gewissenhaft, aber ohne einen persönlichen Eifer und ohne Freude. Die frische Initiative, die ihn bisher auszeichnete, schien von heute auf morgen ausgelöscht zu sein. Dennoch schien alles sich vorschriftsmäßig zu entwickeln und es war gewiß, daß der alte Herzog und seine Anhänger auch nicht den kleinsten Verdacht hegten. An dem Vorabend des Tages, den der Prinz zu seiner Abreise zu den hessischen Regimentern festgesetzt hatte, stand Graf Osten vor der Türe seines Zimmers, das dicht an der Treppe lag und erteilte einigen der Jäger Befehle. Auf ein leises Geräusch hin wandte er sich um – er sah die Frau von Murano, verschleiert wie immer, durch den Flur kommen. Er grüßte sie ehrerbietig, und sie erwiderte seinen Gruß durch ein leichtes Kopfnicken. Es war unmöglich, daß sie die Treppe hinaufgekommen war, die er die ganze Zeit über im Auge hatte. An der Seite aber, von der sie kam, war weder ein Aufgang noch ein Ausgang. Sie schritt zu den Gemächern des Prinzen und trat dort, ohne erst anzuklopfen, ein.

Etwa eine Stunde später wurde er zum Prinzen gerufen. Es war schon dämmrig, aber der Prinz hatte noch kein Licht angesteckt. Dicht am Fenster stand die hohe Frau; sie kehrte dem Eintretenden den Rücken zu und schaute hinaus. Der Prinz war ihm zur Tür entgegengekommen. »Graf«, begann er in heißer Erregung, »ich habe noch einmal alle Einzelheiten mit ihr besprochen, einiges umgeändert auf ihren Rat hin. Ich sage Ihnen, Osten, sie ist ein Staatsmann, wie sie ein Offizier ist. Es gibt nichts, das sie nicht durchdringt mit ihrem scharfen Intellekte. Unser Plan muß gelingen, denn dieser Frau kann nichts fehlschlagen!«

»Das wolle Gott!« bestätigte Osten.

»Ich ließ Sie rufen, Graf«, fuhr Prinz Alexander fort, »auf ihren Wunsch. Sie verlangte, daß ich jemanden als Zeugen herrufen sollte, einen Vertrauten. Wozu weiß ich nicht. Wen sollte ich rufen als Sie, Graf, meinen einzigen Freund?«

In diesem Augenblicke wandte sich die Frau um. Sie hatte die Schleier abgenommen, und Osten starrte geblendet auf diese reine Schönheit. Der Prinz, der neben ihm stand, preßte ihm den Arm, als wolle er seiner Freude Ausdruck geben über die unmittelbare Wirkung, die ihr Anblick auf den Grafen ausübte. Dann stellte er diesen vor. Osten verbeugte sich tief.

»Graf von Osten«, sprach die weiche Stimme der Frau, »ich will, daß der Prinz mir einen Eid ablegen soll. Wollen Sie dabei Zeuge sein?«

Wieder verbeugte sich der Graf. Sie wandte sich an den Prinzen: »Geben Sie mir Ihren Degen!«

Prinz Alexander zog seinen Degen, faßte die Klinge und reichte ihr das Heft. Sie streckte ihm den Degen hin.

»Prinz!« begann sie wieder, »Greifen Sie den Stahl mit der Linken und erheben Sie die Rechte zum Schwur. Auf Ihren reinen Degen sollen Sie mir schwören, bei dem Allmächtigen Gott, bei dem Heiligen Geiste, bei Jesus, unserm Heiland und bei der Madonna, seiner Mutter, daß Sie, was auch immer geschehen möge – den Weg zu Ende gehn werden, den Ihnen das Schicksal bestimmt hat! – Wollen Sie das schwören, Prinz Alexander?«

Der Prinz ergriff die Klinge, die sie ihm hinhielt und hob die rechte Hand zum Eide. »Ich schwöre es!« rief er. »Ich schwöre es, so wahr Gott mir helfe!«

Sie legte den Degen auf einen Sessel. Und nun leben Sie wohl, Prinz«, sagte sie still, »möge die Gottesmutter Sie beschützen!«

Sie wandte sich zum Gehn. Der Prinz warf sich auf die Knie vor ihr. »Nur Ihre Hand«, rief er, »zum Abschied!«

Sie ließ ihm ihre Hand, die er mit heißen Küssen bedeckte. Derweil fuhr sie ihm mit der andern leicht durch die Haare. Dann machte sie sich sanft los, nahm ihre Schleier, ohne sie jedoch umzulegen, nickte dem Grafen zu und schritt aus dem Räume.

Der Prinz folgte ihr nicht. Noch immer kniend lauschte er ihren verhallenden Schritten. Dann sprang er auf, faßte seinen Degen, küßte den Griff, den ihre Finger gepreßt hatten.

»Graf«, flüsterte er, »Graf –« unfähig, ein weiteres Wort zu stammeln. – »Kommen Sie!« sagte er endlich. Er nahm des Grafen Arm und führte ihn durch die Tür ins Schlafzimmer, geradezu vor das Bild, dessen Vorhang er zurückzog. Er steckte die Leuchter an und stellte sich neben den Freund, in stillschweigende Betrachtung versunken.

Endlich unterbrach Osten das Schweigen. »Verlangen Sie nicht von mir«, sagte er, »daß ich sprechen soll! – Ich sah diese Frau – und ich sehe jetzt ihr Bild, Prinz. Ich glaube, daß ich das Empfinden Ihrer Seele verstehe.«

»Dank, Dank!« flüsterte der Prinz, »Sie konnten mir kein besseres Wort sagen!«

Der Marchese von Civitella ließ sich melden. Der Prinz befahl, ihn eintreten zu lassen. Der Marchese bat noch einmal um eingehende Instruktionen, die er, ganz gegen seine Gewohnheit, sich sorgsam aufschrieb.

»Marquis«, rief ihm der Prinz zu, »Sie sind nicht wie sonst! Sie machen ein grüblerisches Gesicht, und das gute Lachen ist geschwunden von Ihren Lippen!«

Civitella nickte. »Es ist wahr, Durchlaucht, und ich müßte lügen, wenn ich Ihnen einen Grund dafür angeben sollte! Aber darum werde ich meine Pflicht nicht weniger erfüllen. Sie können sich auf mich verlassen wie auf ihre eigene Hand. Und glauben Sie mir, Prinz, wenn Sie durchhalten und wenn Ihr Plan gelungen ist, dann werde ich auch meine Ruhe und mein Lachen wieder finden!«

» Wenn – wenn ich durchhalte –« rief Prinz Alexander, »ja wollt Ihr denn alle an mir zweifeln? Hören Sie, Marquis, daß ich durchhalten werde, darauf schwur ich vor wenigen Minuten erst einen heiligen Eid auf meinen Degen – und ich werde ihn halten, Marquis!«

Civitella empfahl sich. Gleich darauf meldete ein Jäger den Major von Hansemann, einen von den zu der Partei des Prinzen übergetretenen Kavalieren, den man bei verschiedenen kleineren, aber nicht ganz unwesentlichen Versuchen als zuverlässig erprobt hatte. Er war einer der Kavaliere des verstorbenen Erbprinzen, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband. Eben diese Freundschaft, die ihn seines Herrn Partei auch gegen den alten Herzog hatte ergreifen lassen, hatte ihm dann dessen Feindschaft zugezogen. Als einen ausgezeichneten Kenner des Landes hatte man ihn dazu auserwählt, den Prinzen Alexander an die Grenze zu begleiten und mit ihm die hessischen Regimenter auf den kürzesten Wegen in Eilmärschen zur Residenz zu führen.

Der Prinz gab ihm seine Befehle, die der Major in stramm militärischer Haltung entgegennahm. Als der Prinz ihn dann verabschiedete, blieb er stehn und bat, ein paar Worte sprechen zu dürfen.

»Was ist es?« fragte der Prinz. »Machen Sie nur rasch, wir haben keine Minute zu verlieren.«

»Ein Gedanke, Durchlaucht«, begann der Major, »der mir in dem Augenblick durch den Kopf schoß, als ich das Schloß betrat. Ich kenne drei außerordentlich tüchtige, ehrliche Offiziere, die Euer Durchlaucht in diesen Tagen von erheblichem Nutzen sein können, da sie auch über einen großen Anhang und starke Beliebtheit verfügen. Sie haben allen Grund, dem Herzog, der sie schimpflich entließ, gram zu sein. Dennoch haben sie sich bisher standhaft geweigert, der Partei Eurer Durchlaucht sich anzuschließen. Unter den veränderten Umständen jedoch bin ich überzeugt, daß sie das sofort tun werden.«

»Ich verstehe Sie nicht recht, Major«, gab der Prinz zurück, »welche veränderten Umstände meinen Sie?«

»Die drei Offiziere«, antwortete der Major, »die mit mir in dem Schlosse des Erbprinzen Dienst taten, sind mit Leib und Seele der Erbprinzessin ergeben. Das war auch der Grund, weshalb sie Seine Hoheit, der Herzog, kassierte. Ich gebe Euer Durchlaucht mein Wort, daß sie für die Sache der Erbprinzessin sich in Stücke schneiden lassen würden!«

»Ich glaub's Ihnen gern«, rief der Prinz, »aber was ums Himmelswillen haben wir mit der Sache der Erbprinzessin zu schaffen?«

»Euer Durchlaucht!« stotterte der Major, »als ich ins Schloß kam – sah – ich – verzeihen Sie, Durchlaucht, vielleicht sah ich etwas, was ich nicht hätte sehn sollen! Wenn es ein Geheimnis ist, glauben Sie mir, Durchlaucht, so ist es gut bewahrt bei mir. Kein Wort soll davon je über meine Lippen kommen!«

Prinz Alexander trat dicht auf ihn zu. »Was für ein Geheimnis, Mann?« rief er. »Was sahen Sie? Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen! Reden Sie drauf los, Major. Was sahen Sie?«

»Als ich ins Schloß trat, Durchlaucht«, erwiderte der Major, »– ich kam von der Landseite her – sah ich aus der kleinen Parktüre eine hohe Frau heraustreten. Sie legte einen dichten Schleier um, als ich herzutrat. Aber ich sah sie gut, ehe das geschah!

Und was das anbetrifft, ich hätte diese Frau, die ich so lange Zeit täglich sah, durch zehn Schleier erkannt! Sie stieg in eine bereitstehende Kalesche –«

Des Prinzen Stimme zitterte. »Wer war es? Wer war die Frau?« drängte er.

»Ihre Durchlaucht, die Erbprinzessin!« erwiderte der Major.

Prinz Alexander drohte umzusinken. Er faßte mit der Rechten die Kante des Bettes und hielt sich fest, mühsam nach Worten ringend. »Es ist nicht wahr«, flüsterte er, »ist ein Irrtum – eine Täuschung in der Dunkelheit!«

»Halten zu Gnaden, Durchlaucht«, beharrte der Major, »an der Kalesche brannte eine helle Laterne. Ich stand nur einen halben Schritt von ihr – ein Blinder hätte sie wiedererkannt!«

Der Prinz richtete sich auf; drohend fuhren seine Blicke auf den Major. »Es ist nicht wahr, sage ich!« schrie er. »Nie war die Erbprinzessin in diesem Hause! Nie im Leben habe ich sie gesehn, weiß nicht einmal, wie sie ausschaut! Sie lügen, Mensch, Sie lügen!«

Der Major verfärbte sich, aschfahl wurde sein Gesicht. Mit einer heftigen Bewegung riß er den Säbel aus der Scheide. »Ich lüge?« brüllte er. »Das hat mir noch kein Mensch gesagt und soll mir keiner sagen dürfen – auch Sie nicht, Prinz! Ich lüge, sagen Sie? Und was tun Sie? Sagen im selben Atem, daß Sie die Erbprinzessin nie gesehn hätten, nicht einmal wüßten, wie sie ausschaue? Und dabei hängt ihr Bild in Ihrem Schlafzimmer – da an der Wand!« Er lachte wild auf und zeigte mit dem schweren Reitersäbel auf das Bild. »Ich rufe den Grafen zum Zeugen auf, wer von uns beiden lügt – Sie, Prinz, oder ich!«

Der Prinz schrie auf, als ob ihn eine Kugel getroffen habe. Dann taumelte er, fiel nach vorne über das Bett. Graf Osten faßte den Arm des Majors. »Kommen Sie, kommen Sie, um Christi willen«, flüsterte er, »Sie können nicht wissen, was Sie angerichtet haben.«

Er führte den immer noch Rasenden mit Gewalt aus dem Schlafzimmer und hinüber in seine Räume; klärte ihn mit wenigen Worten auf. Dann eilte er zurück zu dem Prinzen.

Er richtete ihn auf, versuchte, ihm ein Glas Wasser einzuflößen. Wie ein todkrankes Kind ließ der Prinz ihn gewähren.

Nach einer Weile schien er zur Besinnung zu kommen. »Lassen Sie mich denken, Freund«, sagte er still, »lassen Sie mich nachdenken, was das alles bedeutet.«

»Osten erwiderte nichts, setzte sich auf einen Sessel dem Prinzen gegenüber und beobachtete ihn.

Immer wieder schüttelte der Prinz den Kopf, strich mit der Hand über die Stirne. Es schien, als müsse er sich zwingen, an diese niederschmetternde Wahrheit zu glauben.

Endlich öffneten sich seine Lippen. Er sprach. Sprach zu dem Grafen Osten. Aber es war, als ob er nur seine Gedanken fortsetzte, sie laut ausspräche, um sie so sicherer festzuhalten. Seine Stimme klang weich und unbeholfen, ein wenig trocken und heiser, wie die eines Schwerkranken. Er sagte:

»Veronika ist – die Erbprinzessin. Veronika ist – Elisabeth«

»Wer war Elisabeth? – Ein Fürstenkind. Ein Waisenkind –«

»Und mein Vetter liebte sie – und sie wies ihn ab.«

»Ja so war es – sie wies ihn ab.«

Seine Stimme hob sich ein wenig. Unendlich qualvoll kamen die Worte heraus:

»Sie reiste ins Bad mit ihrer Tante. Sie traf diesen Abenteurer – Wer war das?«

Und er schrie hellachend durch den Raum: » Er! Er! Er war es!! Er machte sie zu seiner Mätresse mit dem Wink seines Augenlids! – Und dann warf er sie weg.«

Und wieder, wie aus der Erinnerung mühsam die Worte zusammensuchend fuhr er fort:

»Was berichtete der Priester? Sie war sein Beichtkind. Und er brachte sie zu meinem Vetter – den sie verabscheute. Und sie gebar ihm – dennoch – ein Kind!«

»Aber das Kind war krank, wie der Vater war. Und sie floh von beiden, als er, er wiederkam. Lief mit ihm in die Welt!«

»Was erzählte er mir? – »Nur wie ein Bild darf man sie lieben! Das Schicksal senkte Gift in den Kelch der schönsten Blume – wehe der armen Biene, die von ihrem Honig nascht!« – Das Schicksal? Mein Vetter tat es. Aus seiner Umarmung empfing sie die gräßlichste Krankheit, die die Menschheit kennt.«

»Darum, darum rührte er sie nicht mehr an, darum! Darum liebte er sie – nur mit den Augen noch, darum!«

»Aber sie war sein Geschöpf, nach wie vor. War es, wie sie dem Geliebten war, so nun dem – Bruder.«

»Lebte, dem Tode geweiht, nur für ihn und nur für seine Launen –«

»Kein Mensch, nur ein Geist – nur ein schönes Bild, das man allein mit den Augen liebt!«

»Keine Lebende liebte ich – einen Schatten nur, dem sein Willen ein falsches Leben einhauchte –«

»Einen Geist sah ich – einen Geist nur liebte ich –«

Immer leiser waren seine Worte geworden. Schließlich bewegten sich nur noch seine Lippen. Dann ergriff wieder ein heftiges Stöhnen seine Brust.

Graf Osten stand auf, trat dicht vor ihn hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Prinz«, rief er laut, »armer, lieber Freund, Sie müssen sich ermannen, Sie dürfen jetzt Ihren trüben Gedanken nicht mehr nachhängen. Es steht so viel auf dem Spiel, der Einsatz ist zu hoch, den Sie gewagt! Prinz, Prinz, stehen Sie auf! Sie dürfen keine Minute mehr verlieren – es ist Zeit zum Handeln.«

Es war, als ob diese Worte dem Prinzen im Augenblicke seine Energie wiedergegeben hätten. Er sprang mit heftiger Bewegung hoch, richtete sich stramm auf.

»Nehmen Sie meine Befehle, Graf Osten!« sprach er mit fester Stimme. »Senden Sie sogleich einen Boten an die hessische Grenze und lassen Sie die Regimenter benachrichtigen, daß ich sie nicht mehr nötig habe. Schicken Sie mit derselben Botschaft einen Reiter an den englischen Gesandten, der sich am Darmstädter Hofe aufhält! Alles übrige überlaß ich Ihnen, Graf. Teilen Sie allen, die mit uns im Bunde waren, mit, daß Prinz Alexander sich entschlossen habe, auf das hübsche Abenteuer zu verzichten!«

»Das kann Ihr Ernst nicht sein, Prinz!« rief der Graf

»Es ist mein Ernst!« betonte der Prinz. »Wollen Sie tun, um was ich Sie bat, Graf? – Oder wollen Sie, daß ich selbst hinauslaufe und es laut durchs ganze Schloß schreie?«

»Ich gehorche«, erwiderte Osten mit kurzer Verbeugung und wandte sich zum Gehn.

Der Prinz rief ihm nach: »Was soll mir die Krone, wenn mir die einzige Perle fehlt, die sie schmücken könnte!«

Graf Osten tat, wie ihm der Prinz geheißen. Er fertigte eine nach dem andern die reitenden Boten ab, sandte nach allen Seiten hin eilige Nachrichten. Es war längst Mitternacht vorbei, ehe er fertig wurde. Er beschloß dann, noch einmal den Prinzen aufzusuchen.

Als er aus seiner Tür hinaustrat, sah er einen kleinen gallonierten Negerjungen eilig die Treppe hinauflaufen. Der Kleine kam auf ihn zu und gab ihm einen Brief in die Hand. Ohne Antwort abzuwarten, stürmte er sogleich wieder fort. Osten las die Aufschrift. Sie galt dem Prinzen. Gewohnt, dessen Korrespondenz zu öffnen und zu lesen, dabei in dem Glauben, daß es sich um die eilige Nachricht eines der Gesandten handle, riß er den Umschlag auf. Er zog einen kleinen Zettel heraus und las:

»Ich habe meine Kraft an einen Unwürdigen verschwendet – dem es nicht lange Zeit nahm, seinen Eid zu vergessen.«

Graf Osten kannte diese Schriftzüge gut genug. Mit einem tiefen Seufzer steckte er den Brief in die Tasche.

Er ging hinüber in des Prinzen Zimmer. Er fand ihn immer noch auf dem Bette sitzend, in die Luft starrend, die Pistole in der Hand –

*

Bei diesem Gedankenstrich brach die Niederschrift des Unterarztes Dr. Jean Baptiste Kuhblum aus Basel ab, wenigstens so weit sie die Geschichte des Prinzen Alexander betraf. Auf den folgenden Blättern gefiel sich Dr. Kuhblum darin, die Art des Denkens des Prinzen vom Standpunkt eines unentwegten Rousseauschülers aus zu beleuchten. Er kam, im Anschluß daran, auf die ethischen Gedanken zu sprechen, die der französischen Revolution zugrunde lagen. Nach diesen Ergüssen befanden sich in dem Manuskripte nur noch die drei Worte:

»Graf Osten trat –«

Der Kandidat der Philologie Ewald Recke hatte anfangs Lust, aus eigener Phantasie einen Schluß zu dieser Geschichte hinzuzudichten. Er sah am Ende doch davon ab. Einmal fühlte er nicht das Bedürfnis, um einer solchen Lappalie willen sich viel Kopfzerbrechen zu machen. Dann meinte er, daß die Geschichte ja ohnehin lang genug wäre und schließlich war er offengestanden auch zu faul dazu. Er tröstete sich also mit dem Gedanken, daß, vielleicht nach hundert Jahren, ein anderer glücklich genug sein könne, den Rest der Papiere des Grafen von Osten-Sacken oder wenigstens der Kuhblumschen Bearbeitung aufzufinden und den Schluß hinzuzufügen.

Cand. phil. Ewald Recke machte dann wirklich auf Grund der Straubingschen Arbeit sein Doktorexamen zur großen Freude seiner lieben Eltern. Er sah davon ab, die Kuhblumschen Papiere der Doktorarbeit als Anhang beizugeben, sondern zog es vor, sie dem Herausgeber zu verkaufen. Mit diesem Gelde fuhr er nach Zoppot.

Das hätte er nicht tun sollen. Man nahm ihm den Sühnenlohn da sehr bald wieder ab.


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