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Fünftes Buch

Die Kavaliere warteten an einem der nächsten Abende im Speisezimmer auf den Prinzen, standen und saßen an der gedeckten Tafel herum und plauderten. Der Prinz sollte jeden Augenblick kommen; ein unvorhergesehener Besuch, der vor einer halben Stunde gekommen war, hielt ihn zurück. Aber eine Viertelstunde verging nach der andern. Prinz Alexander erschien nicht. Die Lakaien seufzten, die Kavaliere fluchten; man verwünschte den späten Besuch nach Herzenslust.

Endlich öffnete sich die Türe; in der Erwartung, daß es der Prinz sei, wandten sich die Herren um. Man hatte sich geirrt; ein Mann in der Uniform eines schwedischen Obersten durchschritt den Saal. Er sprach kein Wort, grüßte lächelnd, ein wenig spöttisch vielleicht, und verließ den Raum aus der andern Tür. Sein Durchschreiten hatte etwas so Feierliches, daß auf einen Augenblick ein Schweigen herrschte.

Der Jäger Hagemeister, der hinter dem Stuhle des Grafen Osten stand, brach die Stille. »Herr Graf«, sagte er, »ich weiß nicht – vielleicht irre ich mich – aber dieser Mann gleicht unserm Reisegefährten, dem Abbé!«

»Nein!« rief der Marchese, »er glich dem Manne, den ich im Garten von Murano sah. Nicht daß ich glaube, daß er es war – aber er sah aus wie sein Bruder.«

»Wenn's nicht die Haarfarbe gewesen wäre,« fiel Zedtwitz ein, »ich hätte ihn für den sächsischen Dragoner gehalten, den ich in München aus dem Gasthaus abfahren sah.«

»Junker«, rief Graf Osten, »meinen Sie nicht vielmehr, daß sein Blick der des Dr. Teufelsdrökh war?«

»Sein Gang – das ist gewiß – war der des russischen Offiziers bei unserm Brentaausflug«, sagte Baron Freihardt. »Wenn der Russe nicht einen Bart getragen hätte –«

»Bart oder nicht – es war der Russe, Baron!« rief der Prinz, der eben eintrat. »Aber es war nicht weniger Ihr Gelehrter, Graf, und zugleich der Spaßvogel von St. Johann am Mangfall, Marquis. Es war der Abbé, war der Dragoner und der geheimnisvolle Besucher der Gärten von Murano. Es war auch der Franziskanermönch in der Erzählung des Cagliostro – es war der Mann, der meinen Jäger nach Poveglia entführte, der meinen Neffen unter unsern Augen uns raubte und wiederbrachte und noch manches andre tat! Kurz und gut, meine Herren – es war mein Freund, der Armenier!«

Der Prinz setzte sich zur Tafel und die übrigen folgten seinem Beispiel. »Sie wollen sagen, Durchlaucht«, begann Osten, »daß ein einziger Mensch alle diese Rollen gespielt hätte? Ich stand dicht neben dem Russen, als er den Grafen Cagliostro verhaften ließ, habe ihn während des ganzen Abends und durch die Nacht mehr als einmal genau beobachtet. Sie, gnädigster Herr, glaubten damals in dem Augenblicke der Entlarvung Cagliostros in dem Russen die Züge des Armeniers wiederzuerkennen, obgleich dieser, als er uns auf dem Markusplatz die Botschaft des Todes des Erbprinzen brachte, nur für einen kleinen Moment seine Maske gelüftet hatte. Sie waren in diesem Wiedererkennen so gewiß, daß sie auch Freihardt und mich überzeugten, obwohl ich mich später oft gefragt habe, ob nicht doch ein Irrtum möglich gewesen wäre. Dann aber, gnädigster Prinz, bin ich mit Zedtwitz drei Tage lang in Gesellschaft des Abbé gereist, und wir haben beide später lange mit dem Dr. Teufelsdrökh bei hellem Tage gesprochen. Ich gebe zu, daß ich stets eine gewisse Ähnlichkeit sah – und die sah auch Hagemeister, als er am Fenster des Hauses den Abbé zu sehen glaubte –, dennoch aber waren so viele Unterschiede da, daß ich durchaus gewiß war, es stets mit andern Persönlichkeiten zu tun zu haben.«

»Graf Osten«, erwiderte der Prinz, »Sie sind gewiß nicht der einzige, der über diese Metamorphosen erstaunt. Mein Freund hat die Gabe, das zu scheinen, was er gerade sein will, und die äußern Mittel, die er dazu anwendet, eine Tracht, ein Bart, eine Perücke – sind gewiß das geringste, das ihn so oft als einen andern erscheinen läßt.«

Freihardt schüttelte den Kopf. »Es ist unbegreiflich«, begann er –

Prinz Alexander lachte: »Aber gerade Sie sollten es doch am allerersten begreifen, Sie und ich, lieber Baron! Sind wir nicht genau so auf die Travestie des Junkers hereingefallen? Als kleiner Page kam er in unsere Dienste, und seit über acht Jahren sehen wir ihn fast täglich für lange Stunden. Dabei braucht der Bengel nur Weibskleider anzuziehn, um uns alle beide zum Narren zu halten! Nein, Baron, wenn mein Ratgeber nichts andres könnte, als ein paar Rollen mit Anstand zu schauspielern, ich würde gewiß nicht an ihn glauben!«

Man erwartete, daß der Prinz mehr sagen sollte, aber er schwieg. Wurde nachdenklich, hörte kaum auf das halblaute Gespräch der andern. Nach der Mahlzeit wandte er sich an Zedtwitz.

»Junker Egon«, sagte er, »mein Freund will Sie sprechen; er erwartet Sie um diese Stunde im Garten.«

Zedtwitz erhob sich sofort, aber er zitterte. Seine Hand krampfte sich um die Stuhllehne. Der Marchese sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf. Dann wandte er sich an den Prinzen.

»Durchlaucht«, begann er, »lassen Sie den Junker nicht gehn.«

Prinz Alexander sah ihn scharf an. »Immer noch mißtrauisch, Marquis! Als wir uns stritten, war es, weil Sie mir zuriefen, daß ich in die Hände von Schwindlern gefallen sei – sind Sie immer noch dieser Ansicht?«

»Halten zu Gnaden«, erwiderte Civitella, »ich bin kein Hofmann und habe nicht gelernt, meine Worte auf die Waagschale zu legen. Es ist richtig, daß unsere sogenannte venetianische Republik in bezug auf bürgerliche Freiheit der letzte Staat dieser Erde ist, aber darum bleibt doch wahr, daß die paar Dutzend Familien, die sie regieren, wahrhaft Herren sind. Mein Haus gehört zu diesen, dazu bin ich auferzogen worden in dem Gedanken, nichts über mir anzuerkennen, als was ich selbst über mich stelle. Gerade Sie, Prinz, müßten das verstehn –«

»Warum gerade ich?« unterbrach ihn Prinz Alexander.

»Erinnern Sie sich«, fuhr Civitella fort, »des Tages in Venedig, als Ihr Herzog Ihnen die weiteren Zuschüsse in einem höchst ungnädigen Ton kündigte! Baron Freihardt las diesen Brief, als ich eintrat – sie rissen ihn ihm aus der Hand und gaben ihn mir. An diesem Abend machten Sie die Bemerkung: »Oh, es ist unerträglich hart, einen Herrn über sich zu haben! Der Elendste unter dem Volk oder der nächste Prinz am Throne – das ist ganz dasselbe! Es gibt nur einen Unterschied unter den Menschen – gehorchen oder herrschen!«

Damals begriff ich nicht ganz Ihren Schmerz, Prinz! – Auch wir in Venedig haben einen Herrscher über uns, den wir Dogen nennen – aber diesen Dogen und seinen Rat wählen wir aus unserer Mitte, es ist unser Fleisch und Blut – wir sind es selbst. Wir gehorchen also nur uns selbst. Und wir herrschen selber – ein jedes Mitglied der paar Dutzend Familien unserer Republik ist also ein wenig Mitherrscher. Oh, nicht, daß ich besonders stolz darauf wäre, ein hundertstel von einem Souverän zu sein! Ich sage es nur, um Ihnen verständlich zu machen, Durchlaucht, daß ich die Kunst nicht gelernt habe, das was ich denke, zu verschlucken. Ich mag mich vergriffen haben in den Worten, Prinz, aber ich glaubte fest, was ich sagte. Ich fühlte als Ihr Freund und sprach und handelte als Ihr Freund – ich glaube Ihnen bewiesen zu haben, daß ich's ehrlich meinte.«

Prinz Alexander ergriff seine Hand und drückte sie kräftig. »Ich weiß es, Marquis! Und darum offen – was macht sie mißtrauisch!«

Civitella schüttelte den Kopf. »Wenn ich's nur wüßte, würde ich's gewiß heraussagen. Aber es ist nur ein Empfinden, irgendein unklares Gefühl, für das ich den Grund nicht kenne! – Und jetzt war es das, Prinz: Ich habe den Junker lieb gewonnen – und ich fürchte, daß ihm Unheil droht. Darum bat ich Sie: Lassen Sie ihn nicht gehn! Schicken Sie mich selbst, Prinz, ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich jeden Auftrag des Doktors getreulich erfüllen werde!«

Der Prinz wandte sich an Zedtwitz: »Wie ist es Junker, soll der Marchese statt Ihrer gehn!«

Zedtwitz antwortete: »Nein, gnädigster Herr! Ich muß selbst gehn.« Er verbeugte sich und schritt aus dem Saale.

Civitella seufzte, dann wandte er sich wieder an den Prinzen: »Gnädigster Herr, gestatten Sie mir abzureisen!«

»Warum wollen Sie reisen, Marquis?« fragte der Prinz. »Sie kennen meine Pläne, und Sie wissen, wie sehr ich meine Freunde brauche.«

»Ich bin Ihr Freund, und ich will nicht desertieren, Prinz – mein Gut wie mein Leben steht zu Ihrer Verfügung. Mit jedem Atemzug bin ich bereit, Ihnen zu helfen – aber ich kann es nur tun auf meine Weise. Geben Sie mir Erlaubnis, Prinz, in Ihrem Interesse zu denken, zu sprechen und zu handeln, wie ich es kann und mag – so will ich gerne bleiben!«

»Sie haben meine Erlaubnis, Marquis«, erwiderte Prinz Alexander, »ein für allemal.«

»Auch wenn das, was ich tun sollte, in Widerspruch steht mit den Gedanken des Ratgebers!« fragte Civitella.

Der Prinz lächelte: »Auch dann! – Aber glauben Sie mir, Marquis, Sie haben nur kleine Chancen gegen seinen Willen. – Denken Sie daran, wie sehr ich gegen ihn ankämpfte – und am Ende eroberte er mich dennoch! Eroberte mich – nicht für sich, sondern für mich! Ich weiß, daß der Tag kommen wird, wo Sie ebenso denken werden wie ich!«

Der Marchese verbeugte sich: »Wenn das der Fall sein wird, gnädigster Herr, werde ich offen bekennen, wie Saulus, als ein Paulus aus ihm ward.« Er verbeugte sich tief und ging.

Draußen traf er den Junker von Zedtwitz. Er nahm ihn unter den Arm und führte ihn in sein Zimmer. Zedtwitz war bleich wie ein Leilach; der Marchese stützte ihn und schob ihm einen Sessel hin. »Was ist es, Junker«, fragte er. »Was hat er Ihnen gesagt?«

Zedtwitz war kaum fähig zu sprechen. Civitella reichte ihm Wasser, das er in großen Zügen hinuntergoß. Endlich rief er: »Er hat mir gesagt, wer der Mörder meines Vaters war.« Er schlug beide Hände vors Gesicht und schluchzte. Civitella redete ihm zu und streichelte sein Haar; allmählich wurde er ruhiger. »Erzählen Sie, Junge!« bat er.

Der Junker ermannte sich und begann: »Damals war ich elf Jahre alt, ich war hier in der Residenz mit meinen Eltern. Mein Vater war Hauptmann und Kammerherr bei unserm Hof – meine Mutter galt als die schönste Frau der Stadt.« Wieder schluchzte er; die Erinnerung an seine Mutter trieb ihm aufs neue Tränen in die Augen.

Der Marchese sprach sanft: »Gewiß ist sie schön gewesen – und hat Ihnen dies Erbteil vermacht, Junker!«

»O, ich wollte, ich wäre häßlich wie die Nacht«, rief der Junker, »und ich hätte diese Häßlichkeit von ihr geerbt, statt aller Schönheit! Denn ihre Schönheit allein war schuld an allem Unglück. Eines Tages trugen sie meinen Vater ins Haus – blutüberströmt. Er war im Duell gefallen. Meine Mutter stürzte sich über ihn – ich lief die Treppe hinab – das erste, was ich sah, war das Loch in seiner linken Schläfe. Ich drängte mich dicht neben die Mutter – sie, wie mich, näßte des Vaters rotes Blut. – Später, obgleich ich noch sehr jung war, erzählte mir die Mutter. Ein Mann, ein guter Freund meines Vaters, hatte ihr nachgestellt, hinter seinem Rücken, durch lange Zeit. Sie hatte alles getan, ihn abzuwehren, aber meinem Vater, dessen aufbrausendes Temperament sie kannte, nie etwas mitgeteilt. Sie fühlte sich stark genug, allein mit dem Verfolger fertig zu werden, hatte seiner gelacht, aber stets geschwiegen, um einen Skandal zu vermeiden, der ihrem geliebten Manne Rang und Würden kosten konnte. Dann war das Schreckliche geschehen. Für einen Kopfschmerz, der sie von Zeit zu Zeit befiel, pflegte sie Pulver zu nehmen – in dieses Pulver hatte ein von dem Verführer bestochener Diener ein betäubendes Schlafmittel gemischt. Mein Vater war im Auftrage des Hofes über Land – während der Nacht ließ der halunkische Diener den elenden Verführer ins Haus und in meiner Mutter Schlafzimmer. Am andern Morgen wachte sie auf, wie nach schweren Träumen – aber wußte nichts von dem, was geschehn war. Wochen später fühlte sie, daß sie guter Hoffnung war; auch jetzt noch stellte ihr der Verführer auf Schritt und Tritt nach. Als sie ihn wieder einmal in schärfster Weise abwies, lachte er höhnisch auf und erzählte ihr mit zynischer Frechheit, was geschehen war. Vor Entsetzen sank meine Mutter in eine schwere Ohnmacht – noch in dieser fand sie mein Vater. Als sie erwachte, berichtete sie ihm alles; er vernahm sofort den untreuen Diener, der nach anfänglichem Leugnen alles gestand. Mein Vater ergriff die Reitpeitsche und stürmte aus dem Hause – im Schlosse traf er den Feind. Am nächsten Morgen focht er den Zweikampf aus gegen den besten Pistolenschützen des Landes.

Das alles erzählte mir meine Mutter – obgleich ich nur die Hälfte davon verstand – erst in späteren Jahren kam es mir zum Bewußtsein. Nur den Namen des Verführers sagte sie nicht. Es faßte sie ein wilder Ekel an, wenn sie nur an ihn dachte, es schien, als versage ihre Zunge den Dienst, diesen verhaßten Namen auszusprechen. Nach kurzer Zeit starb meine Mutter. Mir wurde erzählt, daß ein heftiges Nervenfieber ihren Tod verursacht habe – heute bin ich gewiß, daß sie selbst Hand an sich legte; sie wollte das Kind des verhaßten Schuftes, des Mörders ihres geliebten Mannes, nicht auf die Welt bringen.

Den Rest wissen Sie, Marquis; der Prinz nahm sich meiner an, er ließ mich erziehn und nahm mich als Page zu sich.

Heute aber erfuhr ich den Namen des Mörders meiner Eltern – –«

»Lebt er noch?« unterbrach ihn der Marchese.

Der Junker nickte. »Er lebt! Er wohnt in dieser Stadt.«

»Was wollen Sie tun?« fragte Civitella.

Zedtwitz gab ihm als Antwort die Frage zurück: »Nun, was würden Sie tun, Marquis? Würden Sie diese Schmach ungerächt durchs Leben schleppen?« Er sprang auf – seine Brust hob und senkte sich in mächtigen Atemzügen. Civitella betrachtete ihn; dieser Jüngling, den er als süßes hübsches Mädel gesehn hatte, stand nun vor ihm wie ein todbringender Racheengel.

Er reichte ihm die Hand: »Sie wissen, Egon daß Sie auf mich zählen können – in allen Stücken.«

Zedtwitz drückte die ihm dargereichte Rechte: »Ich danke Ihnen, Marquis, aber in dieser Sache darf mir keiner helfen – ich muß es allein tun.«

»Noch eine Frage, Egon«, drängte Civitella, »können Sie mir den Namen nennen?«

Der Junker zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Ich will es tun, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben, diesen Namen nicht weiterzugeben, bis alles zu Ende ist. Und auch darauf, daß Sie nicht versuchen wollen, mich von meinem Vorhaben abzubringen.«

»Mein Ehrenwort, Junker!« rief Civitella.

»So hören Sie«, flüsterte Zedtwitz und beugte den Kopf vor, »es war – der Herzog!«

»Was?« rief der Marchese, »Was sagen Sie? Bei der Madonna, Junker, begreifen Sie, was das heißen will? Wenn der Herz–« Zedtwitz unterbrach ihn: »Sie gaben mir Ihr Ehrenwort, Civitella.«

Marchese rief: »Ich war ein Narr! – Ich –« Aber wieder mahnte des Junkers Stimme: »Sie gaben mir Ihr Ehrenwort.«

Fast verzweifelt erwiderte Civitella: »Ich weiß es, Egon, ich weiß es!« Er griff mit beiden Händen den Kopf des Junkers, küßte ihn auf die Stirn und beide Wangen. »Möge Gott dir beistehn und alle lieben Heiligen!«

Dann ging er, tief seufzend.

*

Civitella gab seinen Leuten strengste Anweisung, jede Bewegung des Junker zu beobachten; sie verfolgten ihn auf jedem kleinsten Wege in die Stadt, belauerten seine Gänge im Park und im Schloß.

Einige Tage später gab der alte Herzog ein offizielles Gastmahl zu Ehren des spanischen Gesandten; diesen Tag hatte Graf Osten gewählt, um den Prinzen und seine Freunde, die natürlich nicht geladen waren, zum Abendessen in sein Landhaus zu bitten. Er hatte aus Kurland russischen Kaviar geschickt bekommen, die einzige Delikatesse, für die der sonst anspruchslose Prinz Alexander eine kleine Schwäche hatte; nach baltischer Art wurde sie mit Buchweizenkuchen serviert. Man setzte sich zu Tisch.

»Wo bleibt Zedtwitz?« fragte der Graf. »Er hat noch nie Störeier gekostet und hat mich oft gefragt, wann die erwartete Sendung eintreffen könne. Und nun ist er es, der am längsten auf sich warten läßt.«

Der Prinz lachte: »Ich vergaß, Graf Osten, ihn zu entschuldigen; er hat mich um Urlaub gebeten für diesen Abend. Er ist in die Stadt gegangen – vermutlich hat er ein Schätzchen gefunden, das ihn tröstet über den Verlust des Wirtstöchterleins. Ich kann nicht sagen, daß ich diese Spielereien gern sehe – aber vielleicht ist's gut, daß er sich austobt und ein wenig andere Gedanken in seinen Kopf bekommt als unsere Politik. Dazu hat er sich so brav benommen, daß ich ihm schon ein wenig durchgehen lassen muß.«

»Durchlaucht tun dem Junker unrecht«, bemerkte Civitella ernst, »sein Sinn steht nicht auf Mädchenfang in diesen Tagen.«

»Nun – was sonst ist so wichtig, daß es ihn fortjagt von den lukullischen Leckereien des Grafen?« fragte Prinz Alexander.

Der Marchese antwortete: »Sie glauben nicht, gnädigster Prinz, wie gern ich's Ihnen sagen möchte! Aber ich darf nicht – kann nicht – ich hab ihm mein Wort verpfändet, nicht darüber zu sprechen. Es raubt mir den Appetit, wie es mir den Schlaf raubt.«

»So ernst ist es?« fragte der Prinz teilnehmend.

Civitella nickte: »Sehr ernst, Durchlaucht, ernster als alles, was ich je erlebte. Und das Schlimme ist: Wie meine Zunge, so ist meine Hand gebunden. Ich darf nicht eingreifen – mein Ehrenwort bindet mich.«

Es fiel eine Wolke über die kleine Gesellschaft. Dann lenkte Baron Freihardt das Gespräch auf die Kriegsjahre, die der Prinz gemeinsam mit dem Grafen durchgemacht hatte, man tauschte allerhand Erinnerungen aus. Civitella hörte kaum zu; jedesmal, wenn einer der Diener die Tür öffnete, fuhr er fast erschreckt auf; es war augenscheinlich, daß er irgend etwas erwartete. Der Prinz bemerkte es gleich, aber winkte den andern, keine Notiz davon zu nehmen.

Plötzlich kam, völlig hinter Atem, einer der Jäger des Marchese in das Zimmer. Civitella sprang sofort auf und bat den Prinzen, mit ihm sprechen zu dürfen, er zog ihn in eine Ecke des Zimmers und hörte den Bericht des Mannes an. Man sah, wie ihn dieser erregte. »Santa Maria! Santa Maria!« rief er ein über das andere Mal. Endlich gab er seinem Jäger einen weiteren Befehl und sandte ihn fort. Langsam kam er zur Tafel zurück.

»Schenken Sie mir ein, Graf!« rief er. »Sie wissen, ich bin ein schlechter Zecher, aber heute will ich zwanzigmal Ihre Gesundheit ausbringen, gnädigster Prinz!«

Der Graf goß ihm das Glas voll, das Civitella mit einem Zug leerte.

»Lieber Marquis«, begann Freihardt, »wenn –«

»Wenn – ja, wenn ich nur sprechen könnte!« unterbrach ihn der Marchese. »Das ist's eben! Sprechen Sie für mich, meine Herren – erzählen Sie mir von unserm armen Junker Egon!«

»Sie tun ja fast, als ob er schon tot wäre!« fiel Osten ein. »So schlimm wirds nicht sein – der Junker ist gewandt genug und hat sich mehr als einmal aus gefährlicher Lage gerettet!«

»Erinnern Sie sich, Freihardt«, sagte der Prinz, »des ersten Tages, als wir ihn aufnahmen! Der Junge war völlig verstört über den tragischen Tod seiner Eltern, saß, von einer alten Kinderfrau bewacht, in seinem Zimmer, weinte und schluchzte und wollte kaum mit jemandem sprechen. Wir konnten buchstäblich nichts mit ihm anfangen, tagelang, Da hatten Sie den gescheiten Einfall, Baron, ihm mein altes Pony vorführen zu lassen – das schenkte ich dem Buben. Der bekümmerte sich zunächst nicht darum; sah es kaum an, ließ es ruhig auf dem Rasen stehn, wo es stand, und setzte sich auf eine Bank. Aber nach einer Weile wurde er doch aufmerksam – schaute sich um, und als er sah, daß wir ihn allein gelassen hatten, ging er vorsichtig auf das Tier zu. Sie, Freihardt, und ich, wir schauten aus dem Fenster zu – erinnern Sie sich!«

»Freilich, Prinz«, nickte der Baron, »der Junge umfaßte den Kopf des Tieres und küßte es, redete ihm dann zu, als ob er ihm all sein Unglück erzählen wollte. Er riß Gras ab und Blätter und gab sie dem Pony zu fressen. Endlich kam ihm der Gedanke, sich aufzusetzen. Aber das war dem Tier doch eine zu starke Zumutung. Es hatte so viele Jahre im Stall gestanden und das Gnadenbrot gegessen, war alt und bissig geworden und hatte durchaus keine Lust, noch einmal jemanden auf seinem Rücken zu dulden. Die ungewohnten Zärtlichkeiten des Kindes ließ es sich stillschweigend gefallen, aber damit glaubte es auch genug getan zu haben. Egon aber hatte den Glauben, daß Pferde zum Reiten da seien und meinte, daß das alte Pony genauso zahm sei wie das Schaukelpferd seiner Kinderjahre. Er versuchte also auf den breiten Rücken zu steigen – dabei hatte das Tier weder Sattel noch Trense. Es war über diesen Wagemut so erstaunt, daß es ihn zunächst gewähren ließ, kaum aber war er oben, so machte es einen Satz und warf ihn ab.«

»Und wie!« rief der Prinz. »In einem Bogen, der den Jungen zehn Fuß weit auf den Rasen warf! Aber der ließ sich nicht abhalten; er sprang sofort wieder auf die Beine und versuchte von neuem sein Glück. Diesmal war das Pony auf seiner Hut, es trat aus und biß, daß es eine Lust war. Wir liefen sogleich in den Garten, um den Jungen zu retten. Aber wir fanden wenig Gegenliebe. Er fragte mich trotzig, ob ihm gleich die Tränen über die Wangen rollten, ob ich ihm das Pferdchen geschenkt habe oder nicht? Und wozu ein Pferd gut sei, wenn man nicht darauf reiten dürfe! Dann lief er wieder auf das Tier zu, griff es am Schwanz und begann noch einmal sein Spiel. Er bekam einen tüchtigen Stoß und rollte ins Gras – aber gleich darauf griff er dennoch wieder in die Mähne. Er war nun vorsichtiger, wich den Bissen und Tritten aus, wo es ging, was nicht hinderte, daß er noch genug abbekam. Sein Anzug wurde zu Fetzen zerrissen, überall sah man blutige Streifen, ein paarmal fürchteten wir, daß ihm einige Rippen zerbrochen seien. Dennoch – der Junge gab nicht nach. Plötzlich griff er mit beiden Armen den Kopf des Tiere und biß es mit aller Kraft in die weiche Oberlippe. Dieser heftige Schmerz machte das Pony seinen Kopf so hoch aufwerfen, es versuchte gar, sich auf die Hinterbeine zu heben; der Bengel ließ nicht los, hing wie eine Klette, sich an der Mähne festklammernd. Und nun schien es, als ob das alte eigensinnige Tier ganz plötzlich ihn als Herrn anerkennen wollte – es blieb zitternd, mit den Flanken schlagend, auf dem Fleck stehn und rührte sich nicht mehr. Mit seiner letzten Kraft kletterte der Junge auf den Rücken, griff die Mähne wie einen Zügel und schlug ihm die Hacken in die Weichen – mein störrisches Pony ging sanft wie ein Lämmchen. Seit dem Tage, Marquis, habe ich einiges Vertrauen zu Egon Zedtwitz!«

»Und so hat er manches Stücklein geliefert«, fuhr Freihardt fort, »bis zu denen, die Sie kennen, Civitella. Wir hatten eine heillose Mühe, ihn glücklich zu bewegen, mit uns zu kommen – damals spukte in seinem Jungenkopfe nichts als der Gedanke, seinen Vater und seine Mutter zu rächen. Es hat mich manche Stunden gekostet, ihn zu überreden, daß er zunächst damit warten müsse, bis er größer geworden sei. Noch durch Jahre verfolgte ihn dieser Gedanke, immer wieder fing er bei Gelegenheit davon an, bis ich ihm schließlich erzählte, daß das Objekt seiner Rache gestorben sei – erst von dem Tage an schien er diesen unheimlichen Traum zu vergessen.«

»Haben Sie ihm nie den Namen dieses Mannes genannt, Baron?«

»Gewiß nicht!« antwortete der Baron. »Unser Junker wäre fähig gewesen, noch nach Jahren einen Skandal zu begehen.«

»Es war der beste Pistolenschütze des Landes, nicht?« fragte der Marchese.

Freihardt nickte: »Ein sehr guter Schütze – gewiß! Der beste kaum – der alte Herzog, dessen Auge noch heute so scharf ist wie das eines Falken, hat ihn stets auf dem Stande um ein paar Punkte geschlagen.« Civitella sprang auf, seine Stimme zitterte vor Erregung. »Freihardt«, rief er, »was sagen Sie? der Herzog schoß besser – als der Mann, der des Junkers Vater im Duell erschoß?«

Der Baron sah ihn erstaunt an. »Was ist dabei so verwunderlich?« antwortete er, »jeder Offizier und jeder Hofmann wird es Ihnen bestätigen.«

»Dann – dann –« keuchte der Marchese, »dann – Baron! Beim Herzen Jesu – wer war dieser Mann?«

»Aber Marquis!« fiel Prinz Alexander ein. »Was ist Ihnen denn? Es war Graf Haacke, ein hannoverscher Edelmann. Er hat sich später sehr ausgezeichnet in englischen Diensten; vor zwei Jahren, gerade zu Beginn der Belagerung von Gibraltar, deren Ende wir immer noch nicht erlebt haben, fiel er an der Spitze seines Regiments bei einem von General Elliot befohlenen Ausfall.«

»Ist das ganz sicher«, schrie der Marchese, »können Sie sich nicht irren?«

Der Prinz schüttelte den Kopf. »Irren? Aber Marquis, ich selbst war des Kammerherrn von Zedtwitz Sekundant! Ich stand dabei, als ihm die Kugel in die Schläfe schlug.«

»Dann, bei San Marco, dann ist der Junker betrogen worden!« brüllte der Marchese. In zwei Sprüngen war er an der Tür, riß dem eben eintretenden Hagemeister das Tablett aus der Hand und warf es zu Boden. »Ein Pferd, Mann!« schrie er, »ein Pferd! Sofort das beste Pferd des Grafen aus dem Stalle!« Er griff den Jäger am Arme und stürmte mit ihm die Treppe hinunter.

»Was ist geschehn, beim Himmel?« rief der Prinz.

Sie sprangen auf und eilten ans Fenster; zwei Minuten später sahen sie den Marchese wie einen Rasenden über die Straßen galoppieren. Langsam kehrten sie an den Tisch zurück.

»Ich bitte um Verzeihung, gnädigster Herr«, begann Graf Osten, »daß mein kleines Mahl einen solch stürmischen Verlauf nimmt! Es ist sicherlich etwas sehr Wichtiges, das den Marchese wegtrieb.«

»Und etwas«, fuhr der Prinz fort, »das unsern Junker mehr betrifft als ihn. Ich nehme an, der Marchese wird zurückkehren, sowie ihm das möglich ist – das beste wird sein, zu warten und uns derweil die Zeit so gut wie möglich zu vertreiben.«

»Ich habe eine Büchersendung aus Paris erhalten«, sagte Osten, »die neuesten Werke der Enzyklopädisten. Vielleicht interessiert es Durchlaucht, einen Blick hineinzuwerfen?«

Sie gingen hinüber in die kleine Bibliothek des Grafen, vertieften sich bald in ein gelehrtes Gespräch. Jeder einzelne gab sich die beste Mühe – und doch bemerkte ein jeder, daß keiner der beiden andern recht bei der Sache war.

Zwei Stunden vergingen – dann machte ein scharfes Huftrappeln sie aufhorchen. Es kam rasch näher – hörte auf vor dem Hause. Und sie hörten des Marchese atemlose Stimme: »Wo ist der Prinz?« Gleich darauf kam er durch die Türe.

»Es ist geschehn!« rief er. »Ich konnte es nicht mehr hindern.« Er warf sich in einen Stuhl, riß den Rock weit auf, jappte nach Atem, Baron Freihardt reichte ihm einen Becher Weines, den er sofort hinuntergoß.

»Erzählen Sie, Marquis!« drängte Prinz Alexander.

»Santa Madonna!« rief Civitella. »Jetzt darf ich erzählen, jetzt, wo alles vorbei ist, wo nichts mehr zu retten ist! Bei allen Heiligen schwöre ich, ich gebe nie wieder mein Wort, etwas zu verschweigen! Lieber will ich nichts wissen, gar nichts!« Er stieß den Silberbecher krachend auf den Tisch. »Hören Sie, Prinz! Egon Zedtwitz erfuhr den Namen des Mörders seines Vaters – aber es war ein anderer Name als der, den Sie mir nannten! Er beschloß, seine Rache zu nehmen an – –«

»An wem?« rief der Prinz, »sprechen Sie, sprechen Sie!«

»An Ihrem Oheim, dem alten Herzog!« antwortete der Marchese. »Der war ihm genannt worden! Er teilte mir den Namen mit, nachdem er mir mein Wort abgenommen hatte, daß ich ihn nicht nennen würde, ehe nicht alles vorbei sei! Und daß ich mich nicht einmischen dürfe in sein Vorhaben! Ich hielt mein Wort; großer Gott, ich wollte, ich hätte es gebrochen. Ich pfeife auf meine Kavaliersehre, wenn ich dafür den Junker retten könnte!«

»Was ist geschehn mit ihm?« drängte Prinz Alexander.

»Auf Schritt und Tritt ließ ich den Junker beobachten«, fuhr Civitella fort. »Heute abend berichtete mir mein Jäger, daß er heimlich in das Residenzschloß eingedrungen sei, wo der Herzog großen Empfang hielt. Ich wußte, was er da wollte: Rache nehmen an dem vermeintlichen Mörder. Dann hörte ich den wahren Namen aus Ihrem Munde, Prinz – ich jagte zum Schlosse. Einen meiner Leute traf ich am Portal – durch verabredete Pfiffe holte er einen andern meiner Jäger aus dem Schlosse, der dem Junker nachgeschlichen war. Dieser kam; er wußte, wo sich der Junker versteckt hielt. Ich atmete auf – noch war nichts geschehn, noch war es möglich, ihn zu retten. Mein Jäger führte mich durch manche Gänge – die Wachen und Lakaien hielten mich augenscheinlich für einen verspäteten Gast. Aber auf dem Balkon, auf dem der Junker gelauert hatte, war er nicht mehr. Wir suchten herum – allen Bedienten, die wir trafen, steckte ich Geld in die Hand, beschrieb ihnen den Junker und versprach ihnen eine große Belohnung, wenn sie ihn greifen würden. Aber keiner fand ihn, keiner. Endlich fand mein Jäger die Spur wieder – er hatte ihn auf einer Galerie gesehn, die zum Festsaale führte – freilich nur aus guter Entfernung über den breiten Hof hin. Augenscheinlich war es des Junkers Absicht gewesen, zu warten, bis das Festmahl vorbei wäre, um dann den alten Herzog womöglich allein zu stellen; doch diesen Zeitpunkt konnte er in seiner heißen Aufregung nicht mehr abwarten – so beschloß er, in den Festsaal zu dringen. Wir stürzten also über die Galerie, rund um den Hof – ich sah den Junker, wie er hinten an einem andern Portal in den Saal eilte. Ich versuchte, durch die nächstgelegene Tür einzudringen, sah mich aber plötzlich von vier baumlagernden Grenadieren zurückgedrängt. Ich griff in die Tasche, bot ihnen Gold an – aber gerade das und meine schreckliche Aufregung machte sie mißtrauisch. Ich wollte mit Gewalt durch – sie faßten mich fest, und ich raufte verzweifelt mit ihnen. Durch diese Szene waren die Festteilnehmer wohl aufmerksam geworden, alles wandte sich um nach mir – es trat ein beklemmendes Schweigen an Stelle des Lärms. Und in dieses Schweigen klang plötzlich die Stimme des Junkers: ›Ich bin Egon Zedtwitz! Ich bin hier, um den Mann zu strafen, der meinen Vater und meine Mutter mordete – den Herzog!‹ Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung riß ich mich los, stieß die Grenadiere zur Seite, sprang in den Saal. Ich schrie: ›Halt ein, Egon! Der Herzog ist nicht der –‹

Aber in diesem Augenblick krachte der Schuß. Die Gäste sprangen auf – aber so überraschend kam der Knall, daß sie wie versteinert dastanden, sich kaum rührten – man hätte eine Maus niesen hören können. Ich schrie wieder ›Junker! Junker! – Der Herzog ist unschuldig an dem Mord deiner Eltern – ich schwör dir's bei der Madonna!‹

Zedtwitz sah mich, erkannte mich, seine Lippen bewegten sich. Dann ließ er das doppelläufige Pistol sinken, das er schon zum zweiten Schuß angeschlagen hatte. Warf es krachend auf den Boden. Im nächsten Augenblick war er umringt, zu Boden geworfen, gebunden – genau wie ich.

Die Kugel war dem alten Herzog durch den Ärmel geschlagen, hatte ein Stückchen der Seitenlehne seines Sessels abgeschlagen und war dann in den Boden gedrungen. Seine Geistesgegenwart war überraschend – die ersten Worte, die er sprach, waren ›Stümper! Schlechter Pistolenschütze!‹ Er war der erste, der mit lauter Stimme Ordnung und Ruhe wiederherstellte. Im Augeblicke verwandelte er das Festmahl in ein Tribunal; ließ sich zunächst den Junker vorführen ...

›Er sagt, daß er Egon Zedtwitz heiße?‹ begann er. ›Ist er der Sohn meines früheren Kammerherrn und Kapitäns unserer Garde, Kurt von Zedtwitz?‹

Der Junker nickte.

›Was wollte er mit dem Pistol?‹ inquirierte der Herzog.

Die Antwort des Junkers kam hell und offen: ›Eure Hoheit erschießen.‹

›Und warum?‹ fragte der Alte.

Zedtwitz antwortete: ›Weil ich annahm, daß Eure Hoheit meinen Vater erschoß und meiner Mutter Tod verursachte.‹

›Halt!‹ rief der Herzog, ›Steht er nicht in den Diensten meines Neffen, des Prinzen Alexander? – Weiß der etwas von dieser Schützenübung?‹

›Nichts, Hoheit!‹ rief der Junker. ›So wahr ein Gott im Himmel lebt, nichts!‹

›Das wird sich ja zeigen!‹ fuhr der Herzog fort. ›Und wem, Junker, hat er die Kenntnis zu verdanken, daß ich seinen Vater erschossen habe?‹

Der Junker senkte die Augen und schwieg.

›Ich darf es nicht sagen‹, flüsterte er. Der Herzog versuchte es, mehr aus ihm herauszubringen, vergebens. Dann ließ er den Junker fortschaffen und befahl, mich vor ihn zu führen. Es war so augenscheinlich, daß meine Anwesenheit im Schlosse nur den Zweck hatte, den Plan des Junkers im letzten Augenblicke zu vereiteln, daß er mir sofort die Fesseln abnehmen ließ. Dutzende von Lakaien bekundeten, daß ich ihnen Geld gab, um den Junker zu greifen; dazu hatte der Herzog mit eigenen Ohren meinen Zuruf gehört, auf den hin Zedtwitz den zweiten Schuß seiner Pistole nicht abfeuerte. ›Wer weiß‹, sagte er zu mir, ›vielleicht hat er mir das Leben gerettet. Auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn – auch ein stümperhafter Anfänger kann zuweilen das As aus der Karte schießen! – Ich laß ihm die Freiheit, Marquis, aber er muß mir versprechen, unsere Residenz nicht zu verlassen.‹

Dies Versprechen gab ich um so bereitwilliger, als ich nur durch meine Anwesenheit dem Junker helfen kann, wenn ihm überhaupt zu helfen ist.

Ich erzählte dem Herzog, wie ich von des Junkers Plan erfuhr und wie mich mein Ehrenwort band, nicht eingreifen zu dürfen – meine Worte wurden durch die Vernehmung meiner Jäger bestätigt. Ich fügte hinzu, daß ich erst heute den Namen des Mannes erfuhr, der wirklich den Vater des Junkers erschoß. ›Wer sagte Ihnen diesen Namen?‹ fragte der Herzog.

›Prinz Alexander!‹ rief ich. Ich berichtete ihm Wort für Wort unserer Unterredung – ich hatte den Eindruck, daß die alte Hoheit endlich die feste Überzeugung gewann, daß Sie, gnädigster Prinz, in keiner Weise die Hand im Spiel hatten. Diesen Verdacht hatte er ganz gewiß, aber es war klar, daß alle Umstände dagegen sprachen. Keinen Augenblick konnte er mich für einen Mitverschworenen des Junkers halten, ich war völlig unbewaffnet, hatte nicht einmal meinen Degen bei mir – und meine Worte, die wenigstens nach dem ersten Schusse dem Junker die Waffe aus der Hand wanden, hatte der ganze Saal gehört.

Der alte Herzog sann eine Weile nach; dann sagte er langsam: ›Wenn das stimmt, dann war es letzten Endes das Wort meines abtrünnigen Neffen, das ihn herjagte, Marquis. Und das dann, durch ihn, diese Kugel da in ihrem Lauf stecken machte!‹ Er nahm die Pistole auf, die man vor ihn auf den Tisch gelegt hatte und betrachtete sie aufmerksam. ›Bei Gott!‹ rief er plötzlich, ›das ist ja eine der beiden Pistolen, die ich meinem Kammerherrn Zedtwitz schenkte! Das hätte ich nie gedacht, daß sie einmal auf mich selbst abgeschossen würde!‹ Er hob die Waffe, zielte und schoß von dem großen Lüster, der in der Mitte des Saales hing, die unterste Kristallkugel herunter. ›Es geht noch, Marquis!‹ rief er. ›Aber ich sage ihm, man muß in täglicher Übung bleiben, wenn Hand und Auge gleich sicher bleiben soll.‹

Damit entließ er mich. Ich eilte aus dem Schloß – sprang aufs Pferd – galoppierte zurück! – Und hier bin ich, Prinz, während Ihr Junker in der festesten Kasematte sitzt, die der Herzog im Schloß hat.«

Graf Osten erhob sich. »Durchlaucht«, sagte er, »hier ist keine Zeit zu verlieren. Alles andere können wir später überlegen – die Hauptsache ist Ihre persönliche Sicherheit! Der Marchese sagte uns zwar, daß es ihm gelang, den alten Herzog von Ihrer völligen Unschuld zu überzeugen – aber wer garantiert uns, daß seine Ratgeber ihn nicht überreden, daß es trotzdem die einzig richtige Politik sei, die Gelegenheit, die sich nie wieder bietet, gegen Sie auszunutzen! Überlegen Sie, Durchlaucht: Der Mordanschlag auf den Herrscher wurde von einem Ihrer treuesten, langjährigen Diener ausgeführt. Dieser gibt an, einen Privatgrund zur Rache zu haben – den nämlich, daß er den Fürsten für seines Vaters Mörder gehalten habe. Aber so vollkommen ich mit Ihnen und den andern Herren dem Junker das glaube, so wenig wird ihm das Gericht Glauben schenken. Der Skandal des Kammerherrn von Zedtwitz war stadtbekannt, ja er wurde weit über das Land und seine Grenzen hinaus erzählt – ich selbst erinnere mich, in Kurland davon gehört zu haben. Und da sollte dem Sohne der Name des Mannes, der seinen Vater erschoß, unbekannt geblieben sein? Wenn ich als Richter dasäße, ich würde das nicht glauben – ich würde es nie glauben, wenn Sie heute abend nicht erzählt hätten, daß man ihm absichtlich diesen Namen verschwiegen habe. Dazu kommt, daß der Junker sich hartnäckig weigern wird, anzugeben, von wem ihm die Kenntnis wurde, daß der Herzog selbst dieser Mann gewesen sei. Im besten Falle wird man ihm Glauben schenken, dann aber sicher annehmen, daß der, der ihm des Herzogs Namen ins Ohr raunte, kein anderer war als Sie, Durchlaucht! Denn Sie allein, Prinz konnten gewinnen, wenn diese Tat glückte – Sie als der nächste zum Throne, seitdem der junge Prinz verschwand! – Darum gibt es nichts anderes als schleunige Flucht – wenn wir über die Grenze sind, können wir uns weiter beraten.«

»Graf«, fiel Baron Freihardt ein, »haben Sie auch bedacht, daß nichts mehr diesen unheilvollen Verdacht stärken kann als eben solche Flucht? Man muß bei Hofe annehmen, daß wir uns schuldig fühlen, daß wir kein andres Mittel wußten, als durch eine schnelle Flucht der gerechten Strafe zu entgehn.«

»Und wer sagt Ihnen, Freihardt«, sprach der Prinz, »daß diese Strafe nicht wirklich eine gerechte sein würde; wer sagt Ihnen, daß der Junker nicht in unserm Interesse handelte?«

»Um Jesu willen«, stammelte der Baron, »wollen Sie sagen, daß Sie, Herr, Sie dem Junker einraunten, daß der Herzog –«

»Nein, Freihardt, ich tat es nicht, sowenig wie Sie und der Graf oder gar der Marquis! Keiner von uns tat es, und keiner wußte darum. Aber Sie sind so stumpf, daß Sie nicht raten können, wer es tat? – Civitella, sprechen Sie: Wer war der Mann?« »Der Armenier war es und kein andrer«, sagte der Marchese fest.

»Er und kein anderer«, wiederholte der Prinz langsam und jedes Wort betonend. »Er ist unser Freund und Ratgeber – der freilich am Hofe völlig unbekannt ist. Er tat es, tat es – für mich! Warum? Weil er lacht über meinen Glauben, weil er verächtlich ausspuckt über die Kraftlosigkeit meines Willens! Weil er Kraft ist und Wille und Tat. Darum! Zwischen mir und dem Throne stehen vier Augen – die des Kindes und die des alten Herzogs. Das Kind ist in unserer Hand – völlig abhängig von unser Gnade. Der Herzog aber wäre tot in diesem Augenblicke, wenn nicht –«

Er unterbrach sich, fuhr mit der Hand über die Stirne. »Laßt mich einen Augenblick überlegen, was geschehen wäre, wenn des Junkers Streich gelungen wäre, wenn seine Kugel nicht den Ärmel und den Stuhl, sondern den Rock und das Herz des Herzogs durchbohrt hätte. Man hätte sich auf ihn gestürzt, hundert Degen wären in seine Brust gefahren, vermutlich hätte man ihn in Stücke gerissen. Vielleicht hätten ihn auch besonnene Elemente für den Augenblick gerettet, man hätte ihn eingesperrt, um ihm den Prozeß zu machen! Dann aber war ich der Thronerbe – hätte in dieser Nacht noch ins Schloß eilen können. Der Prozeß des Junkers – ein wenig Geschrei und Getue, schöne Versprechen, daß die äußerste Schärfe des Gesetzes das Verbrechen treffen würde! Ein fingierter Selbstmord im Gefängnis – dann seine Flucht ins Ausland. Und dann – dann –«

Er seufzte tief, lachte nervös auf. Der Baron rief: »Das ist Ihr Ernst nicht, Durchlaucht!«

»Mein Ernst?« fuhr der Prinz fort. »Wie kann es mein Ernst sein? Nur ein Traum ist es! Nur ein Wenn! Wenn und wenn!«

»Prinz«, rief der Baron mit erstickter Stimme, »Sie dürfen nicht so sprechen – nicht einmal so träumen. Wenn Sie das, was ein anderer in Ihrem Namen für sie tat, wenn Sie das anerkennen, so sind Sie wie jener, ein – ein –«

Er stotterte, unterbrach sich, rang nach Atem. »Gerechter Gott!« rief er.

Aber Prinz Alexander blieb völlig gelassen »Fällt's Ihnen so schwer, es auszusprechen?« fragte er. »Ein – Mörder wollen Sie sagen!! Aber ich sage Ihnen, Baron: Gehn Sie die Geschichte durch, Sie werden unter den Herrschern, und gerade unter den größten und besten, recht viele finden, die diesen Namen verdienen! Nur urteilt man nicht mehr so streng bei Männern, die auf dem Throne sitzen. Die Geschichte nicht – und die Menschen nicht, die Herrscher sind und selbst ihre Gesetze machen!«

Er sprang auf, ging mit raschen Schritten durchs Zimmer. Endlich blieb er stehn, lachte spöttisch: »Oh, ich verliere mich! Ich bin kein Mörder, Baron, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich nie auch nur mit einem Gedanken an die Möglichkeiten gedacht habe, die diese Nacht brachte.«

Freihardt ergriff seine Hand, beugte sich nieder, sie zu küssen. Aber der Prinz entzog sie ihm schnell. »Nicht einmal den Gedanken wagte ich zu denken – und er – er denkt für mich und setzt ihn in die Tat um, als ob es sich um nichts andres handle, als um eine Distel zu köpfen! – Bah – wer ist es wert zu herrschen? – Was tat ich denn? Ja, was träumte ich nur?«

»Sie brachten es zuwege, daß fast alle Höfe auf Ihrer Seite sind!« rief Freihardt.

»Ach, die kamen von selbst, weil sie in mir ein bequemes Werkzeug für ihre Intrigen sahen!« gab der Prinz zurück.

»Sie brachten den jungen Prinzen in Ihre Gewalt!« warf Osten ein.

»Nachdem er es früher gedacht und eingefädelt hatte!« rief der Prinz. »Und die Lektion, die er mir gab, als er das Kind aus meinem Schlosse entführte und wieder zurückbrachte, war deutlich genug, denke ich. Nein, nein – nichts tat ich! Ich saß da, die Hände im Schoß und wartete! Wartete! Gott, ja – vielleicht konnte der Herzog sterben – er ist ja ein alter Mann! Vielleicht auch der junge Prinz – oh, vielleicht konnte irgend etwas geschehen – was weiß ich!! Ich wartete!!«

Er schluchzte auf, ließ sich auf einen Sessel niederfallen.

Graf Osten trat vor ihn hin. »Wie es immer war, Durchlaucht, jetzt dürfen Sie nicht mehr warten. Es ist durchaus notwendig, einen Entschluß zu fassen!«

Der Prinz lachte laut auf. »Seid ihr so weit, ihr auch? Entschließen, tun, handeln – das ist es! Und wozu soll ich mich entschließen?«

»Ich sagte es ja, Prinz«, rief Osten. »Satteln lassen – reiten, in dieser Stunde noch!«

»Tun Sie's nicht!« flehte Freihardt. »Es würde sichern Untergang bedeuten!«

»Tun Sie's nicht! Tun Sie's nicht!« machte Prinz Alexander.

»Und ich weiß nicht, was ich tun soll! – Ihr habt beide recht und unrecht, alle beide! – Und derweil wartet ein Unschuldiger darauf, seinen Kopf auf den Richtblock zu legen!«

Civitella, der diese ganze Zeit über schweigend auf seinem Stuhle gesessen hatte, erhob sich. »Endlich ein Gedanke an den Junker – ich glaubte schon, daß Sie alle ihn vergessen hätten. Ich meine, das müßte unsere erste Sorge sein, ihm zu helfen!«

»Was können wir tun?« sagte Freihardt.

Prinz Alexander wandte sich zu Civitella. »Der Mann, der ihn auf diesen Weg sandte«, sprach er, »der kann ihn retten, wenn er es will. Glauben Sie, es würde schwerer für ihn sein, den Junker aus dem Gewahrsam meines Oheims zu holen, als den jungen Prinzen aus unserm?«

Der Marchese trat dicht vor ihn hin. »Durchlaucht«, sagte er, »wollen mir gütigst verzeihn – aber wollen wir – wollen Sie – wieder: warten? Warten, bis er etwas tut – bis er handelt?? Wenn ich recht gehört habe, Prinz, so machten Sie sich eben noch bittere Vorwürfe darüber, daß Sie immer nur warteten, daß Sie nicht selbst zu einem Entschluß und zu einer Tat sich aufrafften könnten. Und jetzt bei der nächsten Gelegenheit soll es wieder ebenso sein?«

»Sie haben recht, bei Gott!« sagte der Prinz.

»Wir sind Ihre Arme, Ihre Werkzeuge«, fuhr Civitella fort, »jeden Augenblick bereit, für Sie zu arbeiten. Sie gaben mir Erlaubnis, gnädigster Herr, auf meine Weise zu denken und zu handeln – nun wohl: Ich weiß, wie ich den Junker retten kann! Sind Sie bereit, einen hohen Preis zu zahlen? Ich glaube, ich kenne das Lösegeld, gegen das uns der alte Herzog den Junker ausliefern wird – habe ich Ihre Vollmacht?«

Prinz Alexander fragte: »Soll ich sie blind geben, Marquis? Aber lassen Sie nur – ich durchschaue Ihr Spiel: Sie wollen ihm für das Leben des Junkers den jungen Prinzen bieten!«

Civitella verbeugte sich: »Sie haben es erraten, und das beweist, daß Sie den gleichen Gedanken hatten wie ich! Und beweist zugleich, daß Sie ihm zustimmen und daß ich handeln darf! Ich darf keinen Augenblick verlieren – geben Sie mir Urlaub, Prinz.«

»Gehen Sie!« antwortete Prinz Alexander. »Retten Sie den Junker!«

Noch in der Nacht suchte Civitella den napoletanischen Gesandten auf, mit dem ihn von Venedig her eine enge Freundschaft verband. Früh am andern Morgen erbat dieser beim Herzog eine Audienz für sich und den Marchese; man ließ sie nicht lange warten, führte sie auf eine Galerie, wo der Herzog seinen Pistolenstand hatte.

»Hoheit«, begann Civitella, »ich bin gekommen, um für das Leben meines armen Freundes zu bitten.« Er schilderte in beweglichen Worten seine Freundschaft für den Junker; der alte Herzog hörte ihn geduldig an. Civitella erwärmte sich, führte in flammenden Worten alles an, was für den jungen Zedtwitz sprechen konnte. Er berührte die alte Freundschaft des Herzogs mit des Junkers Vater, sprach von dem entsetzlichen Druck, der all die Jahre auf dem Junker lastete. Er schilderte dessen reines, offenes Herz, seinen jungen Mut, seine hingebende Freundschaft.

»Wenn ich ihm glauben soll Marquis«, sagte der alte Herzog, »so ist kein Engel reiner! Und doch ist er ein Abtrünniger geworden an dem Glauben seiner Väter; sein Vater würde sich im Grabe umdrehn, wenn er das wüßte!«

»Sie irren, Sire«, antwortete der Marquis. »Weder Baron von Freihardt noch der Junker von Zedtwitz sind ihrer Religion untreu geworden.

»Ist das wahr?« fragte der Herzog scharf.

»Sie können sich leicht davon überzeugen, Hoheit«, gab Civitella zurück, »lassen Sie nur bei dem Prediger der Heiligengeistkirche nachfragen. – Ich weiß nicht, wie der heißt – aber ich weiß, daß die beiden allsonntäglich in die Kirche gehen; auch dort das Abendmahl einnehmen.«

»Das freut mich, das freut mich aufrichtig«, erwiderte der Herzog, »aber dennoch beißt keine Maus einen Faden von dem ab, was der Junker tat! Ganz offen, Marquis, ich will ihm sagen, daß es mir sehr leid tut um den Junker, der ganz sicher nur ein armer Verführter ist – schon um seines Vaters willen! Wer ihn verführte, das wird der Prozeß lehren – ich habe gute Untersuchungsrichter, Marquis – ich sprach mit ihnen zwei Stunden lang diesen Morgen schon. Mag sein, daß jedes Wort wahr ist, das er gestern abend sprach, Marquis, mag sein, daß es wirklich ein Wort des Prinzen Alexander war, das ihn hertrieb und veranlaßte, den Junker im letzten Augenblick aufzuklären und von seinem Vorhaben abzubringen. Ich will alles das richtig voraussetzen, Marquis. Dann bleibt immer noch nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Wahrscheinlichkeit, daß der Anschlag von meinem katholischen Neffen ausging – wer fähig ist, seinen Glauben zu verraten, der verrät auch sein eigen Fleisch und Blut! Überleg er doch selber, Marquis, wer sollte denn mehr Interesse haben an meinem Tode, als eben mein Neffe, der kaum den Tag abwarten kann? Intrigiert er nicht gegen mich mit allen Höfen Europas? – Daß er im letzten Augenblicke vielleicht Gewissensbisse bekam – das ist gut möglich! Hat er noch nie von einem Verbrecher gehört, Marquis, der dicht vor seiner Tat erschreckte? Keinen in meinem Lande kenne ich, dem ich zutraue, des Junkers Pistole geladen zu haben, als nur meinem Neffen! Mein Enkelkind ist geraubt worden – das weiß er doch, Marquis. Nur durch mich aber hatten dessen Ansprüche wirklichen Wert – nach meinem Tode konnte mein Neffe Alexander sehr leicht mit dem Kinde fertig werden.«

Civitella sah seinen Vorteil. »Sire«, rief er, »Gottes Gnade hat Ihnen das Leben bewahrt! Alle Höfe Europas könnten nichts ausrichten, wenn der junge Prinz sicher in Ihrem Besitz wäre.«

»Ja, wenn!« nickte der Herzog. »Aber wo ist er? Wo steckt die gottverfluchte Erbprinzessin, die ihn geraubt hat? – Das muß ich zugeben, Marquis, daß ich viel Freude an meiner Familie erlebe! – Und den armen Prinzen wird sie zum Papisten erziehn!«

»Sie selbst werden ihn erziehn, Hoheit!« erwiderte der Marchese. »Ich weiß, wo der junge Prinz versteckt gehalten wird. Geben Sie mir den Junker, Sire, meinen irregeleiteten Freund – und ich werde dafür Ihr Enkelkind in Ihre Arme legen.«

Der Herzog fuhr auf. »Was?« rief er. »Das kann er tun?« – Dann wurde er wieder mißtrauisch. »Er ist ein Freund meines Neffen, Marquis! Er hat ihm Geld geliehen in Venedig, ist mir ihm in die Spielhäuser gezogen – Er sieht, Marquis, daß ich gut unterrichtet bin. Wer bürgt mir dafür, daß er hält, was er verspricht?«

»Sire«, antwortete der Marchese ruhig, »man sagt, daß das Wort des alten Herzogs das beste ist in Europa. Man hat mir Geschichten erzählt, daß er nie in seinem Leben ein Lüge gesprochen, nie ein Wort unerfüllt gelassen hat! Und darum vertraue ich auf euer Wort, Hoheit! Fünf Stunden von hier ist die hessische Grenze – dort werde ich Ihnen oder Ihren Vertrauensleuten um Mitternacht den jungen Prinzen übergeben. Versprechen Sie mir, Sire, vor dem Abgesandten des Königs von Neapel, daß Sie am andern Morgen den Junker von Zedtwitz freilassen werden?«

»Das will ich tun!« rief der alte Herzog. »Und er soll mich Hundsfott heißen dürfen, wenn ich mein Wort nicht halte!«

Man besprach die Einzelheiten; bestimmte einen genauen Punkt auf der Landstraße bei einem kleinen Grenzdorfe als Treffpunkt.

*

Wenige Minuten vor Mitternacht jagte eine Schwadron Husaren über die Landstraße, ihr folgten zwei Feldkutschen. Der alte Herzog hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst hinzukommen; er sprang aus der ersten Kutsche heraus. Ganz allein stand Civitella mitten auf der Chaussee, das Kind im Arme – eine schwarze Maske vor dem Gesicht.

»Bringt es her!« rief der Herzog. »Laßt sehn, ob er uns nicht irgendeinen Bastard unterschieben will!« Man brachte ihm das Kind, das der Alte sofort erkannte; es trug unverkennbar seines Sohnes Züge, wie seine eigenen. Dann winkte der Herzog einem Rittmeister, flüsterte ihm ein paar Worte zu und sandte ihn zu der zweiten Kutsche, der gleich darauf der Junker von Zedtwitz entstieg. Zwei Offiziere führten ihn vor den Herzog.

»Junker«, sprach ihn dieser an, »er ist hier an der hessischen Grenze. Ich erwarte, daß er hinüber geht und sich nicht mehr sehn läßt in meinen Landen. Ich weiß, daß er ein armer Verführter ist, aber auch solche kann ich nicht dulden, wenn sie mich als Zielscheibe für ihre Pistolenübungen benutzen. Lerne er besser schießen in Zukunft, Junker, und vor allem, wähle er sich geeignetere Objekte dazu. – Noch etwas – nehme er diese Börse von einem alten Freund seines Vaters – gewissermaßen als ein Erbteil seines Vaters – und versuche er, Junker, ein braver Mann zu werden!«

Er reichte ihm eine perlgestickte, schwergefüllte Börse. Der Junker nahm sie und fiel aufs Knie, unfähig, eine Antwort zu geben.

»Hoheit«, stammelte er, »Hoheit –«

»Dummes Zeug«, brummte der Herzog. »Bedanke er sich bei dem Manne, Junker, der mir seinen Kopf abkaufte!« Er wandte sich, stieg in die Kutsche und gab das Zeichen zur Abfahrt.

Zwei Minuten später standen Zedtwitz und Civitella allein auf der Landstraße –

 

Der Graf von Osten an den Marquis von Citivitella

Erster Brief

7. Julius 1782

Ich las, lieber Freund, dem Prinzen Ihren Brief aus Salzburg vor; er bittet mich, Ihnen zu schreiben, daß er Ihren Entschluß durchaus billigt. Es war gewiß das Beste, was Sie tun konnten, den jungen Zedtwitz gleich mitzunehmen nach Venedig. Hoffentlich behalten Sie recht, daß die Frauen den Junker dort schon auf andere Gedanken bringen würden. Sein Trübsinn ist ja nur zu begreiflich. Die Reue über die unselige Tat, die erzwungene Trennung von dem Prinzen, den er liebte, mußten ihm einen starken Stoß geben. Sie schreiben, Marquis, daß am schwersten eine seltsame Furcht vor dem Armenier auf ihm laste – ich hoffe, daß auch dieses Angstgefühl unter dem blauen Himmel Italiens vergehn möge. Ihre Anwesenheit, lieber Marquis, fehlt uns sehr; wir hoffen, daß Sie möglichst bald zurückkehren werden. Sie wissen ja, daß ich selbst nicht viel mehr als ein Zuschauer dieses Schauspiels bin, gern bereit, irgendeine kleine Rolle dem Prinzen zuliebe zu übernehmen, aber ganz gewiß nicht eine der treibenden Kräfte der Aktion. Obwohl sowohl selbst, als durch die Tradition meiner Familie sattsam gewohnt an abenteuerliche Hof- und Staatsintrigen in Kurland, Rußland, Schweden und Polen, muß ich doch gestehn, daß es meinem persönlichen Empfinden wenig liegt, mich aktiv daran zu beteiligen – ich bin eben viel mehr Soldat als Politiker. Dazu kommt, daß ich zu sehr beide Seiten sehe – eine Tatsache, die stets lähmend wirken muß und gewiß auch die Tatkraft unseres Prinzen beeinträchtigt. Durchaus überzeugt, daß Prinz Alexander einen ausnahmsweise guten Herrscher abgeben würde, einen weit besseren gewiß als der alte Herzog, kann ich dennoch diesem ebensowenig meine Sympathie versagen, wie Sie, Marquis. Es ist gewiß: er ist weit zurück hinter seiner Zeit; Prinz Alexander würde das Volk freier und glücklicher machen. Was den jungen Prinzen betrifft, so glaubt kein Mensch, daß er sehr alt werden wird. Gestern sprach ich mit dem Leibarzt des Herzogs – er sagte mir, daß des Vaters Leiden zweifellos dem Kinde im Blut stäke. Jede kleine Krankheit, die ein anderes Kind mit Leichtigkeit überwindet, würde für den kleinen Prinzen eine große Gefahr bedeuten.

Bei uns im Schlosse ist nichts Erwähnenswertes vorgefallen. Dank der Verschwiegenheit des napolitanischen Gesandten und des alten Herzogs, sowie Ihrer Vorsicht, bei der Übergabe des Kindes verlarvt zu erscheinen, ist nicht bekannt geworden, wer den jungen Prinzen dem Herzog übergab! Nur der Wiener Gesandte scheint einen Verdacht zu haben. Die allgemeine Annahme aber ist nach wie vor, daß die Entführung von der Erbprinzessin in die Wege geleitet wurde, zumal diese selbst kurz vorher von einem der alten Kavaliere ihres verstorbenen Gemahls hier in der Stadt gesehen wurde. Man behauptet, daß Leute des Herzogs im Hessischen der Erbprinzessin ihre Beute wieder abgejagt hätten, und erzählt sogar Einzelheiten dieser abenteuerlichen Entführung. Das Gerücht – es wird nur insofern kommentiert, als man erzählt, daß der alte Herzog, im Andenken an seinen Freund, des Junkers Vater, diese Flucht nicht nur recht gern gesehn, sondern auch darum gewußt habe – in diesem Punkte also kommt Fama der Wahrheit ziemlich nahe.

Der Prinz hat zweimal seinen »Ratgeber« gesehn; beide Male zur Nachtzeit. Freihardt, der während der ersten dieser beiden Unterredungen im Nebenzimmer wartete, erzählte mir, daß sie ziemlich erregt gewesen sei. Der Prinz selbst sprach weder zu ihm, noch zu mir davon – doch scheint es, daß es mehr wie je des Armeniers Absicht ist, ihn zu selbständigem Handeln zu zwingen.

Die fälligen Zuschüsse des Wiener sowie des Dresdner Hofes sind pünktlich bezahlt worden; es ist gewiß, daß diese Regierungen wieder ganz auf der Seite des Prinzen sind, seit das Kind in der Obhut des alten Herzogs zurück ist. Auch hat, wie mir Freihardt erzählt, der Prinz aus der Privatschatulle der französischen Königin eine ansehnliche Summe erhalten.

Ich sende auf Ihren Wunsch diesen Brief über Triest. Ich werde Sie, lieber Freund, dauernd auf dem Laufenden halten und hoffe, bald von Ihnen zu hören. Nehmen Sie für Zedtwitz und sich die besten Wünsche des Prinzen, denen Freihardt und ich uns anschließen.

 

Graf von Osten an den Marchese von Civitella

Zweiter Brief

16. Julius

Noch keine Nachricht von Ihnen, lieber Marquis – doch werden wir vor nächster Woche wohl kaum welche erwarten dürfen. Ich benutze die Gelegenheit, daß ein Mitglied der Kaiserlichen Gesandtschaft morgen nach Venedig abfährt, um dort den Vertreter seines Hofes abzulösen, um Ihnen diesen Brief zu senden. Irgend etwas Aufregendes ist nicht passiert, aber genug, um einen stillen Chroniquer, wie mich, zu interessieren. Ich persönlich hatte vorgestern eine vielstündige Unterredung mit dem Prinzen, die sich aber nur um die Belagerung Gibraltars drehte, die uns beide als alte Militärs natürlich außerordentlich interessiert. Der Prinz hat von seinem Freunde, Lord Seymour, einen eingehenden Bericht erhalten, und wir verglichen diesen Bericht mit den Nachrichten, die uns die Gesandten Spaniens und Frankreichs hier zur Verfügung stellten. Der Prinz hat in seiner Sammlung ganz ausgezeichnete Karten der Festungswerke. Denken Sie nur, Marquis, daß allein während der Monate April und Mai des letzten Jahres die Spanier und Franzosen etwa achtzigtausend Kanonenkugeln und Bomben in die Stadt warfen! Diese ist längst ein Trümmerhaufen, aber die Festungswerke hielten so ausgezeichnet, daß General Elliots Ausfall im November die feindlichen Batterien völlig zerstören konnte. In diesem Monat nun ist der Herzog von Crillon mit neuer Hilfe für die Belagerer angekommen; für ihn baut der berühmte Ingenieur d'Arcon schwimmende Batterien –

Aber ich weiß nicht, lieber Marquis, ob Sie, der Sie nie Soldat waren, das im geringsten interessieren wird – während wir beiden über unsern Karten stundenlang sitzen konnten. Doch wünschte ich, Sie hätten den Prinzen gesehn, wie seine Augen leuchteten, wie jede kleinste Bewegung seine angespannteste Aufmerksamkeit in Anspruch nahm! Wenn er je auf den Thron dieses Landes kommt, so möchte ich darauf wetten, daß er den Ehrgeiz haben wird, das im Süden Deutschlands zu schaffen, was der Potsdamer Philosoph im Norden erreichte. Dann mit ihm zu arbeiten, Marquis, möchte eine Lust sein!

Ich habe den Armenier gesehn – oder den Dr. Teufelsdrökh – wie man ihn nennen soll!! Ich saß nachmittags in meinem Gartenzimmer und las – plötzlich faßte mich eine merkwürdige Unruhe. Ich konnte mir im Augenblick nicht Rechenschaft geben, was es eigentlich war; so schloß ich die Augen, um zu versuchen, mir klar zu werden. Aber das einzige, was ich feststellen konnte, war das Empfinden, als ob irgendetwas Außergewöhnliches mir nahe sei, als ob vielleicht jemand mir eine besondere Nachricht bringen wollte. Ohne es recht zu wollen, ging ich ans Fenster, öffnete es und blickte hinaus – da sah ich im Park den Doktor auf mein Haus zukommen! er war in einfacher schwarzer Bürgerkleidung. Er hatte seinen Blick auf das Fenster gerichtet, als ob er mich dort zu sehn erwartete.

»Ein warmer Tag, Graf Osten«, rief er mir zu. »Eigentlich zu warm zum Studium. Nun, was sagen Sie zu Holbach?«

Ich sage Ihnen, Marquis, dieser Mensch muß seine Spione überall haben. Das Buch, das ich gerade las, war in der Tat von Holbach; ich hatte es erst vor wenigen Tagen aus Paris erhalten. Der Doktor wartete meine Einladung nicht ab, er kam die Treppe hinauf und trat, ohne anzuklopfen in mein Zimmer. Er griff den Band auf und begann sofort ein Gespräch über Holbach und die andern Enzyklopädisten. Er steht keineswegs ganz auf ihrer Seite und wirft ihnen besonders vor, daß sie viel zu wenig sich mit Spinoza beschäftigt hätten. Ganz andere Dinge erwarte er von dem jungen Frankfurter Dichter und Staatsmann, der so eng befreundet mit dem Weimarer Herzog sei. Dieser – er heißt Goethe, Sie erinnern sich vielleicht, Marquis, daß sein Name gelegentlich an unserm Tisch erwähnt wurde – sei ein geistiger Sohn des Linsenschleifers vom Haag; er würde –

Ich bitte um Verzeihung, liebster Freund! Dieses philosophische Gespräch wird ebensowenig Interesse für Sie haben wie das militärische über Gibraltar, das ich mit dem Prinzen führte! Genug also, wenn ich Ihnen mitteile, daß der Doktor etwa dreiviertel Stunden bei mir blieb, und daß sich unsere Unterhaltung nur um solche Dinge drehte. Dann stand er auf; er hatte die Türe schon in der Hand, als er mir zurief: »Ich habe dem Prinzen einige Pillen gegeben; ich möchte, daß Sie unter keinen Umständen ihm abraten sollten, die zu nehmen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er hinaus. Ich hörte, daß er nicht die Treppe nahm, die zum Parke ging, sondern die andre, die zur Landstraße führt. Ich ging also hinüber in meine Bibliothek, stellte mich dort hinter den festverschlossenen schweren Vorhang am Fenster; durch einen Spalt sah ich hinaus. Die Straße war völlig menschenleer. Ich hörte dann die Tür meines Hauses sich öffnen; der Doktor trat hinaus und ging durch den kleinen Vorgarten. Im selben Augenblick vernahm ich rasch näherkommende Pferdehufe; gerade als der Doktor das Straßentor erreicht hatte, ritt ein Jäger vor, der ein zweites Pferd am Zügel führte. Der Doktor sprang auf, winkte lächelnd mit der Hand dem Fenster zu, als ob er wüßte, daß ich hinter dem Vorhang stände und ritt in kurzem Trabe davon.

Gewiß nichts Außerordentliches, lieber Marquis, doch werden Sie mir zugeben, daß gerade solche Einzelheiten erstaunlich sind.

Noch am selben Abende sprach ich mit Baron Freihardt, der mir mitteilte, daß der Prinz schon seit einigen Tagen diese Pillen nähme. Es handelt sich um sogenanntes Meconium, einen getrockneten Milchsaft, der aus den geschnittenen, unreifen Mohnkapseln gewonnen wird. Man sagt, daß die Englisch-Ostindische Kompanie mit dieser Droge, die überall im Orient gebraucht wird, großen Handel treibe, sie soll auch in Europa Eingang gefunden haben. Ich erinnere mich, vor Jahren gehört zu haben, daß der Attentäter Damiens, der den König von Frankreich mit einem Messer verwundete, gewohnheitsmäßig diese Droge genommen habe, und daß es diesem Umstande zuzuschreiben gewesen sei, daß er die entsetzlichen Torturen bei seiner Hinrichtung – er wurde gevierteilt, wie Sie wissen – so lange ausgehalten habe. Übrigens ist das Präparat, das der Doktor dem Prinzen gab, nicht das angloindische, das man in Pfeifen raucht, wie Tabak, sondern vielmehr ein kleinasiatisches, das man schluckt. In dieser Form soll es bei Türken, Persern und Griechen sehr beliebt sein; Freihardt sagte mir, daß man dort die Leute, die es nehmen, Theriakides nenne, obwohl diese Droge ganz und gar nichts mit Theriak zu tun hat. Es wäre mir lieb, Marquis, wenn Sie mir Näheres darüber mitteilen könnten, insbesondere über die Wirkungen. – Da ja die Kaufleute Ihrer Republik die regsten Handelsbeziehungen zur Türkei und auch besonders zu der Stadt Smyrna unterhalten, wird es Ihnen ein leichtes sein, gute Aufschlüsse zu bekommen. – Das Gerücht erhält sich, daß die Erbprinzessin sich in der Residenz aufhält. Verschiedene der Lakaien des verstorbenen Erbprinzen sowie zwei seiner Kavaliere behaupten mit aller Bestimmtheit, sie gesehn und erkannt zu haben. Bei Hofe ist man dieserhalb in begreiflicher Erregung. Der alte Herzog hat sich alle diese Leute kommen lassen und sich ihre Angaben auf die Bibel beschwören lassen. Zugleich ist allen Behörden strengster Befehl gegeben worden, auf sie zu fahnden. Da man auch eine Wiederholung des Entführungsstreiches befürchtet, so sind die Vorsichtsmaßregeln verzehnfacht worden. Das Gardegrenadierregiment, dessen Kompagnien sich regelmäßig abwechseln, ist zu ständigem Wachdienst kommandiert; in dem Schlafzimmer des jungen Prinzen selbst befinden sich stets ein Offizier und zwei Mann; wenn er im Hofgarten spazieren fährt, begleiten ihn rechts und links Husaren. Unser Prinz lacht über diese Vorsichtsmaßregeln, aber der alte Herzog nimmt sie ebenso bitter ernst, wie die ganze Bevölkerung der Stadt; es kommt mir so vor, als ob jeder einzelne Bürger und jede Bürgerin zu einem großen Wachekorps gehörten; so wichtig schauen Sie sich an den Straßenecken um, als ob sie irgendeinen verborgenen Feind suchten.

Das höchste Gericht hat in einer Sitzung vor wenigen Tagen entschieden, daß die beiden Angelegenheiten des Prinzen, die Feststellungsklage und die Anspruchsklage, die der Advokat aus Frankfurt für die Erbprinzessin einbrachte, getrennt zu behandeln seien. In der Sache des Prinzen steht eine neue Tagsatzung für nächste Woche an; man ist allgemein der Ansicht, daß an dem Tage die Klage des Prinzen endgültig abgewiesen würde.

 

Der Graf von Osten an den Marchese di Civitella

Dritter Brief

28. Julius

Soeben brachte die Post den Brief des Junkers an den Prinzen, sowie mir das kurze Billett von Ihrer Hand. Es ist sehr nett von Ihnen, lieber Freund, daß Sie sogleich an den Prinzen dachten, als Ihnen diese Vedute der Gärten von Murano angeboten wurde. Prinz Alexander wird sich über diese Überraschung sehr freuen; ich weiß von Freihardt, daß er selbst vorhatte, sich diese Ansicht malen zu lassen. Dazu kommt, daß er den jüngeren Canaletto sehr schätzt; erst kurz vor dessen Tode hat er ihm verschiedene Bilder abgekauft.

Von hier, Marquis, ein ganzer Sack voll Neuigkeiten. Das Gardegrenadierregiment braucht keinen Wachdienst mehr zu tun – das höchste Gericht braucht seinen Spruch nicht mehr zu fällen. Um es kurz zu machen – der junge Erbprinz Eberhard ist gestorben. An der Bräune, einer ganz gewöhnlichen Kinderkrankheit, die stets sehr gefährlich ist – der Fall des jungen Prinzen war bei dessen geringer Widerstandskraft vom ersten Tage an völlig hoffnungslos. Man versuchte das Menschenmöglichste, ihn zu retten – vergebens. Es scheint so lächerlich nun, wenn man überlegt, welche Kämpfe um dieses schwache, unschuldige Kind geführt wurden, welcher Witz, welche Mittel von allen Seiten aufgewandt wurden, um es in die Hand zu bekommen.

Für den alten Herzog ist dieser Tod ein sehr schwerer Schlag; während der Krankheit hat er sich stündlich Bericht erstatten lassen. Um noch einmal der Bevölkerung und ganz besonders den Vertretern der fremden Höfe gegenüber seinen Standpunkt recht deutlich zu zeigen, hat er befohlen, daß die Leichenfeierlichkeiten mit großem Pomp stattfinden sollten. Die kleine Leiche wurde zunächst in der Schloßkirche aufgestellt, in die Jung und Alt wallfahrteten – jeder kam mit Blumen, die die Gärtner des Hofes dann überall anbrachten – die ganze Kirche schien ein gewaltiges Blumenhaus. Ein kleiner Zwischenfall ist zu berichten: man fand in der kleinen Faust der Kindesleiche ein paar Blümchen mit einer Karte, die die Worte trug »Von deiner Mutter.« Keine der Wachen hatte gesehn, daß irgend jemand so nahe an den hochaufgebahrten Sarg herangetreten war, um diese Blumen dort hingeben zu können; doch glaubte ein Lakai am Ausgang der Kirche die Erbprinzessin gesehn und trotz ihres Schleiers erkannt zu haben. Er war, eingedenk der hohen Belohnung, schreiend auf sie zugesprungen, doch war die Frau in eine bereitstehende Kutsche gestiegen und eilends davongefahren. Die Folge war, daß der alte Herzog sofort den Befehl, auf die Erbprinzessin zu fahnden, aufhob. Nun, nachdem ihr Sohn gestorben ist, hat sie auch nicht mehr das geringste Interesse für ihn – mag sie tun und lassen, was sie will, der Herzog wird nicht einen Finger darum rühren.

Man sollte meinen, lieber Freund, unser Prinz würde den Tod des Kindes, der ihn seinen Wünschen um soviel näher bringt, als eine Befreiung empfunden und mit einer großen Genugtuung aufgenommen haben; das Gegenteil ist der Fall. Sowie er die Nachricht hörte, hat er sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen und das auch die nächsten Tage wiederholt. Endlich sprach er mit seinem Vertrauten, dem Baron von Freihardt. Obwohl es ganz offenbar ist, daß das Kind an der Krankheit, die ich Ihnen nannte, starb, macht sich dennoch unser Prinz die bittersten Gewissensbisse. Nur dafür ist er dem Schicksal dankbar, daß es in dem Schloß des Herzogs starb und nicht während der Zeit, da es in unserer Obhut war. Im übrigen aber quält in der Gedanke, daß er wieder und wieder den Tod des Kindes gewünscht habe, gefällt sich in mystischen Spielereien, daß es letzten Endes eben nur seine Wünsche gewesen seien, die schließlich Gestalt annahmen.

Die Meconiumpillen, die ihm Dr. Teufelsdrökh gab, scheint der Prinz alle paar Tage zu nehmen. Ein hiesiger Arzt teilte mir mit, daß die Droge auch unter dem Namen Laudanum bekannt sei; inzwischen werden Sie meine Anfrage in meinem letzten Briefe gelesen haben und zur Zeit wahrscheinlich schon mehr darüber wissen als ich. Ich selbst sah den Prinzen noch nicht nach dem Genuß dieser Droge; aber Freihardt erzählte mir, daß sie anfänglich ihn etwas zu erregen, dann aber sehr zu beruhigen scheine. Schließlich fällt der Prinz in völlige Ruhe, während der er allerlei zu träumen scheint. Ich sehe nicht viel Harm darin, daß der Prinz gelegentlich diese Pillen nimmt, doch fürchte ich, daß sie auf die Dauer verheerender wirken könnten als Weingenuß.

Ich unterbreche diesen Brief, lieber Freund, den ich sowieso vor dem Abgang der nächsten Post nicht absenden kann; Freihardt kommt eben, um mich zum Nachtmahl zu holen, er bittet mich, Ihnen seine besten Grüße zu übermitteln.

*

4. August

Die Begräbnisfeierlichkeiten sind vorbei; die Beteiligung der Bevölkerung war eine außerordentliche. Der alte Herzog ist am nächsten Tage fortgefahren, er hat sich zur Erholung in sein Jagdschloß im Kottenwalde zurückgezogen. Seinem Beispiele sind die meisten Gesandten gefolgt, einer nach dem andern hat seinen Erholungsurlaub angetreten.

Unser Prinz ist nun Thronfolger; als solcher von allen Höfen ohne Ausnahme anerkannt. Auch der alte Herzog hat sich nun stillschweigend mit dieser Tatsache abgefunden – seine einzige Absicht scheint zu sein, ihn recht lange in dieser Stellung zu lassen. Er wird in wenigen Monaten siebzig Jahre alt. Es ist gewiß, daß er von seinem fünfzigsten Jahre an kränkelte; über Asthma, Herzbeschwerden klagte, an Podagra litt, und nie recht seines Lebens froh werden konnte. In den letzten Jahren aber scheinen diese Beschwerden behoben zu sein, wohl weniger durch die Kunst seiner Leibärzte, als vielmehr kraft seiner eigenen starken Konstitution. Während all dieser Zeit hat er wohl selbst kaum geglaubt, daß er noch mehr als ein paar Jahre zu leben hätte – und diesen Glauben hat auch Prinz Alexander geteilt. Nun aber fühlt sich der alte Herzog so stark und gesund, daß er dem Wiener Gesandten bei der Abschiedsaudienz sagen konnte, daß er ganz gewiß sei, das nächste Jahrhundert noch zu erleben.

Was aber sind dann die Aussichten unseres Prinzen? Er ist Ende der Dreißiger – er mag ein Sechziger sein, ehe er die Krone sich auf das Haupt setzen kann. Es ist sicher, daß der Prinz, dem die Äußerung des Herzogs von dem Wiener Herrn selbst erzählt wurde, dieser Erwägung breiten Raum gegeben hat; er ist in den letzten Tagen seltsam niedergeschlagen, es ist sicher etwas Schönes um eine Krone – aber um eine, auf die man als reifer Mann noch ein Vierteljahrhundert warten soll?!

 

Der Graf von Osten an den Marchese di Civitella

Vierter Brief

10. August

Ihre Sendung traf ein, lieber Marquis; ich war zugegen, als der Prinz und Freihardt das Bild auspackten. Ich muß gestehn, daß ich kein anderes Bild Bernadino Belottos kenne – war das nicht der Name des Canalettoschülers? –, das mir so ausgezeichnet gefiele! Die Freude des Prinzen war natürlich eine noch viel größere, da zu ihm ja diese Vedute noch ganz anders sprechen mußte. Er hat sich sogleich niedergesetzt, Ihnen zu schreiben; Sie werden seinen Brief mit dem meinen zugleich erhalten. So sehr hat die Erinnerung an die Tage in Murano ihn ergriffen, daß er sich entschlossen hat, seinen Freund, den Dr. Teufelsdrökh, zu bitten, ihn mit Veronika, der Dame von Murano, zusammenzubringen. Bei dieser Gelegenheit, Marquis, hat sich herausgestellt, daß der Prinz ebensowenig wie wir beide, Freihardt und ich, die kleinste Ahnung von dem Aufenthaltsort dieses Mannes hat – noch auch kennt er den der Dame, obwohl er weiß, daß beide seit Monaten in unserer Stadt weilen. Ich erklärte mich sofort bereit, Nachforschungen anstellen zu lassen; der Prinz lehnte es ab.

So sehr hat ihn diese Sehnsucht gefaßt, daß er während des Abendessens kaum eine Silbe sprach. Er starrte vor sich hin; schließlich murmelte er: »Wenn ich sie nur sehen könnte – o, nur einmal sehen!«

Ich erwähne folgenden kleinen Umstand, weil aus ihm erhellt, daß wir trotz aller Vorsicht Spione unter unsern Bedienten haben. Zwei Abende drauf saß ich mit Freihardt auf der Terrasse meines Landhauses – der nach dem Parke zu gelegenen. Der Prinz hatte sich früh zurückgezogen; wir beide saßen bei einem Glase Wein vor einer Schachpartie. Wir waren wohl beide sehr vertieft, denn wir hörten niemand kommen, weder auf den Gartenwege noch auf den Steinfliesen der Terrasse.

Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir: »Das Rössel, Graf! Greifen Sie die Dame an – in sechs Zügen ist er matt!« Freihardt schrak auf, ich nicht weniger – hinter mir stand der Dr. Teufelsdrökh. Der Baron sprang sofort auf; er wußte, wie sehnlich ihn der Prinz erwartete. Aber der Doktor machte keine Miene, mitzugehn; er nahm ruhig Freihardts Platz ein und fragte mich, ob ich eine Partie mit ihm spielen wollte? Der Baron bat ihn, mit zum Prinzen zu kommen, und ich vereinte meine Bitten mit den seinen. Aber der merkwürdige Doktor blieb ungerührt: »Nein« erklärte er ruhig, »sagen Sie dem Prinzen er möge warten. Oder besser noch, Baron, sagen Sie ihm, daß ich überhaupt nicht kommen würde.« Dann wandte er sich an mich und fuhr mit einem fast gutmütigen Lachen fort: »Da sehn Sie, Graf, was ein freier Wille bedeutet. Ich kam her in der Absicht, mit dem Prinzen allerlei zu besprechen – nun seh ich Sie beide beim Schachbrett sitzen. Ich habe seit Jahren keine Figur mehr gerückt – aber plötzlich überkommt mich die Lust, Schach zu spielen. Der Prinz ist vergessen – mehr noch, Graf: selbst wenn Sie jetzt ablehnen würden, mit mir zu spielen, ich würde mich heute abend allein mit irgendwelchen Schachproblemen beschäftigen. – Wie kann jemand da von freier Willensbestimmung schwatzen?«

Der Baron stürzte weg, um den Prinzen zu benachrichtigen – aber der Doktor rief ihm nach: »Bringen Sie ihn nicht hierher, hören Sie! Ich will Schach spielen und nicht gestört sein.«

Ich beschloß, mit ihm zu spielen, schon um ihn festzuhalten – am Ende konnte er doch seinen Entschluß ändern und den Prinzen sehn wollen. Er eröffnete Fianchetto, eine schwache Eröffnung, die er aber verblüffend gut behandelte. Ich kam bald ins Gedränge, verteidigte mich, so gut es gehn wollte. Nach einiger Zeit kam Freihardt zurück, augenscheinlich mit einer Botschaft des Prinzen. Diese kleine Störung bewirkte es, daß der Doktor, obwohl Freihardt noch kein Wort gesagt hatte, einen recht groben Schnitzer machte, der ihm die Partie kosten mußte. Er bemerkte es sofort, für das Zehntel einer Sekunde huschte eine Wolke des Unmuts über sein Gesicht. Dann lächelte er, wandte sich an den Baron, und sprach: »Kehren Sie um, Baron. Sagen Sie dem Prinzen, er möge heute nacht gegen elf Uhr aus dem Fenster seines Schlafzimmers schauen – um diese Zeit geht der Mond auf. Dann wird er sehn, was er zu sehn wünscht.« Seine Worte waren so schlicht und einfach, dabei doch so bestimmt und gebieterisch, daß Freihardt ohne ein weiteres Wort sich verbeugte und umkehrte. Der Doktor wandte sich wieder dem Spiel zu. Ich erbot mich sofort, ihm den Zug, der ihm die Dame gegen einen Läufer kosten mußte, zurückzugeben, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Dummheit begangen«, murmelte er, »es ist nur recht, daß ich die Folgen trage!« – Nun war ich der Angreifer, und ich setzte ihm hart genug zu. Ich gab mir jede Mühe, überlegte lange und nahm, wo ich nur konnte, Abtauschchancen vor, um meinen Vorteil zu befestigen. Schließlich glaubte ich meiner Sache ganz sicher zu sein, als ich gerade zwei Türme austauschen konnte; ich empfand ein gewisses Gefühl der Genugtuung, ihn zu besiegen. In diesem Augenblick sagte er: »Matt in neun Zügen!«

Ich konnte mich drehn und wenden wie ich wollte – es gab keinen Ausweg mehr; ich mußte mich geschlagen bekennen. Die Partie hatte ziemlich lange gedauert; der Doktor stand auf, um zu gehn. Ich brachte ihn um das Haus herum zur Landstraße; wie wir durch den Vorgarten gingen, kam sein Diener mit den Pferden. Ich sah ihm nach, aber er war bald im Dunkel verschwunden. Da ich keineswegs müde war, so beschloß ich, den Baron aufzusuchen; ich ging also durch den Park zum Schloß. Ich fand ihn an seinem Schreibtisch, eifrig beschäftigt, einige Korrespondenzen für den Prinzen zu erledigen, die am nächsten Morgen herausgehn sollten. Ich erbot mich, ihm zu helfen, und die Arbeit ging rasch vorwärts. Als ich zufällig von einem Briefe aufsah, bemerkte ich, daß der Mond strahlend ins Zimmer fiel; unwillkürlich stand ich auf und trat ans Fenster. Freihardt folgte mir. »Um diese Zeit«, sagte er, »soll der Prinz sehn – was er zu sehn wünscht. Sie glauben nicht, Graf, wie er sich freute, als ich ihm diese Nachricht brachte! – Was aber wünscht er zu sehn? Ich wollte ihn nicht fragen –«

»Was er zu sehn wünscht?« rief ich »Hat er es nicht beim Nachtmahl selbst gesagt? Sie natürlich – die Frau von Murano.« Wir blickten aus dem Fenster; still lag der Park zu unsern Füßen, kein Hauch, kein Lüftchen in der weichen Nacht. Da trat aus den Ulmen heraus eine Gestalt – langsam ging sie um den runden Rasenplatz vor dem Schlosse herum, in dessen Mitte der kleine Teich mit dem Springbrunnen sich befindet. Sie war tief verschleiert, nahm dann aber den Schleier ab – Freihardt erkannte sie sofort. Sie schritt ruhig und still, blieb zuweilen für einen Augenblick stehen, warf auch wohl, ohne das Haupt zu heben, einen Blick nach oben. Die ganze Erscheinung machte in dem Silberlicht des Mondes einen fast unwirklichen Eindruck. Trotz der tiefsten Stille hörte man ihre Schritte nicht. Ihre Bewegungen schienen die einer Somnambulen, sie hatten etwas Mechanisches, nirgend etwas Willkürliches, aus dem Augenblicke Entstandenes. Sie blieb dann an einem hochstämmigen Rosenstocke stehn, hob den Arm und brach eine weiße Rose. Sie ging weiter, blieb wieder nach einer Weile stehn, schritt auf eine Steinbank zu und setzte sich. Sie fächelte sich mit einem sehr kleinen Fächer; schlug ihn zusammen und legte ihn mit der Rose neben sich hin. Dann stand sie auf, ließ Fächer und Rose liegen – ganz augenscheinlich absichtlich, da sie beiden noch einen Blick nachwarf. Sie schritt mit denselben langsamen, etwas schleppenden Schritten weiter und verschwand endlich zwischen den Ulmen. Bald darauf hörten wir Schritte auf der Gartenterrasse: der Prinz eilte die Treppen hinunter in den Garten. Er ging auf die Bank zu, auf der soeben die Geliebte gesessen, nahm Fächer und Rose auf und drückte beide an die Lippen. Lange starrte er in die Richtung, in der sie verschwunden; es war, als kämpfte er mit dem Wunsche, ihr nachzueilen. Er seufzte, küßte noch einmal die weiße Rose und kam zurück.

Ich muß gestehn, lieber Freund, daß diese ganze Szene etwas sehr Rührendes hatte, etwas ungemein Sentimentalisches, das sich in jeder Weise in den Zauber der Mondscheinnacht einschmiegte. Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß in gleichem Falle Sie zum Beispiel, Marquis, nicht so gehandelt hätten wie der Prinz. Er fiebert, verzehrt sich in Sehnsucht nach der Geliebten – dennoch wagt er nicht, ihr zu nahen. Wenn es noch wäre, weil er nicht einem Befehle des Dr. Teufelsdrökh, auf den er ja schwört, hätte entgegentreten wollen! Aber ich war ja zugegen, hörte mit meinen Ohren, was dieser sagte – der Prinz möge aus dem Fenster schauen, wenn der Mond aufgehe – dann würde er sehn, was er zu sehn wünsche. Kein Wort, keine Andeutung irgendeines Verbotes, daß er sich der Schönen nicht nähern dürfe! Ich wette darauf, Sie, Marquis, oder Egon Zedtwitz wären gewiß im Augenblick hinuntergeeilt, die Geliebte in die Arme zu pressen – ich muß gestehn, daß ich es kaum anders gemacht haben würde, obwohl ich soviel älter und gewiß auch sehr viel kühleren Blutes bin als Sie beide.

So schien mir diese kleine Episode ein Bild zu geben von dem Gesamtzustand des Prinzen. Er wünscht und empfindet sehr stark und kann sich dennoch zu keiner Tat entschließen – immer wieder scheinen ihn Skrupel und Zweifel zu plagen, ob er auch wirklich ein Recht habe, ob er es vor sich selber verantworten könne, diese oder jene Handlung zu wagen. Und gerade dieser Umstand scheint es mir zu sein, der den merkwürdigen Doktor veranlaßt, ihm weniger zu helfen, als er wohl tun könnte. Ich sagte und schrieb Ihnen, Marquis, daß der naturalistische, nichttheologische Determinismus des Doktors Steckenpferd sei. Was aber der Prinz tut, steht, ob es gleich im ersten Augenblick das Gegenteil scheint, im ausgesprochensten Gegensatz zu dieser Theorie des Doktors. Gerade dieses ewige Zweifeln und Zaudern scheint einen Glauben an die Freiheit des Willens vorauszusetzen – scheint die freie Wahl des Handelns zu bedingen – etwas, was der Doktor auf das entschiedenste leugnet. Der, ob er gleich spontan und dann mit erstaunlicher Energie handelt, ist dennoch überzeugt, daß jeder erste Impuls hierzu von allen möglichen Umständen – außerhalb seines Ichbewußtseins – abhängig sei. Der Prinz auf der anderen Seite erweckt den Anschein, als ob er freie Gewalt habe, irgendeine Handlung zu begehn oder nicht zu begehn – das hat der Doktor gewiß weit schärfer erkannt, als ich, dem es erst jetzt recht eigentlich auffällt. Dann aber liegt die Sache gewiß so, daß der Doktor es müde ist, vielleicht gar darüber erbost ist, daß der Prinz sich nicht entschließen kann. Nach seiner Überzeugung müßten alle die Umstände, die er selbst sorgsam einfädelte und vorbereitete, den Prinzen jetzt mit Naturgewalt zum Handeln zwingen – und er sieht nun nur einen halben Erfolg. Gewiß war es gerade der anfängliche sehr hartnäckige Widerstand des Prinzen, der ihn reizte, trotz seinem völligen Mißerfolg weiter an seinem Plane zu arbeiten – nun aber, nachdem er der Seele des Prinzen seine eigenen Gedanken eingegeben hat, nachdem der Prinz fest an seine »Mission« glaubt – die im Hirne des Doktors vielleicht nichts als ein spielerischer Gedanke war –, nun versagt der Prinz beinahe noch mehr als früher. Es gelang dem Doktor, dem Prinzen Alexander eine Traumwelt zu schaffen, in der er lebt, aber es gelang ihm noch nicht, ihn zu veranlassen, diese Wünsche in Wirklichkeiten zu übersetzen. So sehr der Prinz auf der einen Seite auf jedes Wort dieses Mannes schwört, ebenso setzt er, ohne sich dessen bewußt zu sein, ihm einen beharrlichen Widerstand entgegen. Das Seltsame ist dabei, daß sich dieser Widerstand nie gegen irgend etwas richtet, oder richten würde, das ihm sein Ratgeber raten möchte – alles würde der Prinz unweigerlich sofort erfüllen. Aber es richtet sich dieser Widerstand gerade gegen das, worauf es dem Doktor augenscheinlich am meisten ankommt – daß er nämlich selbst denkt und selbst handelt – immer in dem deterministischen Sinne des Doktors. Noch freilich wird dieser sein Spiel nicht verloren geben!

Ich weiß nicht, Marquis, ob ich mich klar genug ausgedrückt habe. Erlauben Sie mir daher, ein Beispiel zu wählen. Der Doktor Teufelsdrökh ist ein leidenschaftlicher Puppenspieler, seine Puppen sind lebendige Menschen. Um diese tanzen zu machen, stehn ihm eine ganze Fülle verschiedener Methoden zur Verfügung, von denen wir eine Reihe kennen gelernt haben. Da haben wir die Methode, die er bei dem Junker von Zedtwitz, den er ja, wenn er will, vollkommen in seiner Hand hat, anwendet. Es ist dies die Methode des Wiener Arztes Dr. Mesmer, der sie zur Zeit in Paris unter großem Zulaufe zeigt – man nennt sie nach ihm: Mesmerisieren. Nehmen Sie weiter die Methoden, die er dem Prinzen gegenüber zur Anwendung brachte. Zunächst versuchte er es mit dem alten Taschenspielerhandwerk, wie alle Abenteurer und Glücksritter, unter denen in unsern Tagen der sizilianische Pseudograf Cagliostro der bedeutendste ist – freilich hat der Doktor diese Methode nach Möglichkeit alles Groben entkleidet und so weit es ging auf das Psychische einzustellen versucht. Schon viel mehr auf den Geist – oder besser auf das Gemüt – gestellt war sein zweiter Angriff auf den Prinzen, wobei er fast wie ein genialer Schachspieler arbeitete. Er verspielte auch hier; aber er hatte während dieser Zeit mit seiner erstaunlichen Menschenkenntnis den Prinzen so genau studiert, daß er seinen dritten Angriff so geschickt anlegte, daß der Prinz ihm nunmehr willenlos zufiel. Von diesem Augenblick an war der Prinz seine Puppe, die ihm gehorchen mußte, genau so wie es der Junker ist und wie es vermutlich noch viele andere Menschen sind.

Und nun wollen Sie beachten, Marquis, daß von dem Moment an, wo dieser seltsame Doktor diese Gewißheit hat, es ihm keinen Spaß mehr macht, die Drähte zu ziehn und die Puppen tanzen zu lassen. Mitten im Spiel möchte er seinen Schnürboden verlassen, möchte sich zwischen das Publikum setzen und ein wenig Zuschauer spielen. Möchte, daß seine Puppen nun allein die Komödie weiterspielen sollten. Sie wissen, wie erstaunlich gut ihm das bei dem Junker gelang. Dieser stand so völlig unter seinem mystischen Einfluß, daß er ihn jederzeit mesmerisieren und in diesem Zustande, wozu er nur immer wollte, gebrauchen konnte. Aber er dachte gar nicht daran, hiervon Gebrauch zu machen, als er ihm den Namen des alten Herzogs als den des Mörders seines Vaters nannte. Die Puppe Zedtwitz sollte diesmal ohne Schnüre agieren – er aber saß im Parkett und schaute zu! Genau dasselbe, denke ich, möchte er nun auch im Falle des Prinzen tun – aber da sieht er zu seinem Ärger, daß dieser weder Arme noch Beine regen will, wenn nicht die Schnüre und Drähte gezogen werden.

Also, lieber Freund, unserm erstaunlichen Doktor genügt es nicht, andere Menschen zu seinen Puppen zu machen; er will dazu noch, daß diese Puppen, wenn es ihm gerade gefällt, eigenes Leben haben und selbsttätig ihm voragieren sollen – natürlich im Sinne der von ihm verfertigten Lebenskomödien oder Tragödien!

Das alles ist meine Spekulation, liebster Marquis, was meinen Sie dazu?

 

Der Graf von Osten an den Marquis di Civitella.

Fünfter Brief

29. August

Ja, Marquis, der Prinz billigt durchaus den Entschluß des Junkers, in holländische Kriegsdienste zu treten. Zedtwitz wird viel sehen von der Welt, und wenn er nach einigen Jahren aus Indien zurückkehrt, wird er schon einen Platz finden, den er auszufüllen vermag. Daß Sie, lieber Freund, so bald schon wieder zu uns kommen, ist sehr erfreulich; sein Sie überzeugt, daß man Ihre Frische und Geschicklichkeit hier brauchet. Freihardt jammert jeden zweiten Tag nach Ihnen.

Ich danke Ihnen für die Mitteilungen, die Sie mir bezüglich des Meconium geben. Dies alles ist ja sehr widersprechend; man kann wirklich, wie Sie schreiben, Marquis, daraus entnehmen, was man will. Aber eines erscheint mir gewiß: Diese Pille bedeutet für den Dr. Teufelsdrökh nichts anderes als eine neue Methode, zu versuchen, eine seiner Puppen von den Drähten zu befreien und zu einem selbständigen Spiel zu veranlassen. Baron Freihardt erzählt mir, daß gestern –

Ich werde unterbrochen; mein Jäger schreit vom Parke her in höchster Aufregung meinen Namen – irgend etwas ist vorgefallen.

*

31. August

O ja, lieber Freund, etwas ist vorgefallen! Der Prinz ist verhaftet, Freihardt – tot!

Ich eilte aus dem Zimmer, dem Jäger entgegen, traf ihn vor dem Hause. Er erzählte mir in abgerissenen Worten – aber alles verwirrte sich so sehr bei ihm, daß ich kaum den Zusammenhang begriff. Ich rannte also mit ihm durch den Park zu dem Schlosse, um dort die gleiche Aufregung und Verwirrung zu finden. Freihardt lag in des Prinzen Zimmer mit einem tiefen Bajonettstich in der Brust – er atmete noch, aber kam nicht mehr zum Bewußtsein; nach einer Viertelstunde verschied er in meinen Armen, noch ehe ärztliche Hilfe zur Stelle war. Von der Dienerschaft erfuhr ich, daß plötzlich eine Kompagnie der Gardegrenadiere unter Führung eines Hauptmannes in das Schloß eingedrungen sei. Dieser zeigte dem Prinzen einen von dem Stadtkommandanten unterzeichneten Arrestbefehl und erklärte ihn für verhaftet, ohne irgendwelche Gründe zu nennen. Prinz Alexander sah sofort ein, daß jeder Widerstand nutzlos sei, erklärte sich bereit, dem Offizier zu folgen und bat nur um einen kurzen Aufschub, um ein paar Briefe zu schreiben und einige Befehle für die Dienerschaft zu geben. Das wurde ihm in brutaler Weise verweigert – jetzt erst verlor der Prinz seine Ruhe. Ein Wort gab das andere; schließlich gab der Hauptmann den Befehl, den Prinzen zu greifen und mit Gewalt abzuführen. In diesem Augenblick stürzte Freihardt herein, der in seinem Zimmer den Tumult gehört hatte; er sah gerade wie die Soldaten auf den Prinzen loseilten, und warf sich ihnen sogleich entgegen, um seinem Herrn zu helfen. Seinem Beispiel folgten zwei oder drei treue Bediente; es entwickelte sich ein kurzer Kampf, in dessen Verlauf der Baron, nachdem er einige der Soldaten nicht unerheblich mit seinem Degen verwundet hatte, in ein ihm unversehens vorgehaltenes Bajonett geradezu hineinrannte. Prinz Alexander, der keine Waffe zur Hand hatte, wurde bald überwältigt, gefesselt und fortgetragen. Der Hauptmann stellte fest, daß der Zustand Freihardts, für den er übrigens auch einen Haftbefehl hatte, völlig hoffnungslos sei und bekümmerte sich nicht weiter um ihn; er zog mit seiner Truppe und seinem Gefangenen ab.

Als die Ärzte anlangten, war es für den Baron längst zu spät; sie konnten nur zweien der Bedienten ihre Wunden verbinden. Das war die Situation, die ich antraf. Ich gestehe, Marquis, daß ich zunächst wie vor den Kopf geschlagen dastand und nicht wußte, was ich tun sollte. Wenn nur Civitella da wäre, dachte ich! – (Ich beschwöre Sie, Marquis, beschleunigen Sie Ihre Abreise und reisen Sie Tag und Nacht, wir bedürfen Ihrer mehr als je!) Ich sprach mit den Bedienten, der Reihe nach, keiner konnte mir etwas Näheres mitteilen – auch von den neuen Kavalieren des Prinzen, die im Kavalierhaus wohnen und die alle erst nach mir auf dem Schauplatz eintrafen, konnte keiner irgendwelchen Aufschluß geben. Ich beauftragte nun die Kavaliere – die meine Befehle bereitwilligst entgegennahmen, da sie ja das besondere Vertrauen, das der Prinz mir schenkt, genau kannten – sofort zur Stadt zu eilen, um Erkundigungen einzuziehen, was mit dem Prinzen geschehn und aus welchen Gründen die plötzliche Verhaftung erfolgt sei. Denselben Auftrag gab ich den fähigsten unserer Jäger und Lakaien. Dies geschah in den Morgenstunden; ich bestimmte, das alle gegen sechs Uhr abends mir Bericht erstatten sollten. Dann traf ich Anweisungen für das Begräbnis des armen Freihardt, schrieb an seine Verwandten – seine Eltern hatte er schon vor langen Jahren verloren. Endlich ließ ich eine geschlossene Kutsche anspannen, da ich es vermeiden wollte, mich selbst öffentlich zu zeigen, und fuhr in die Stadt. Ich sprach bei den Gesandtschaften vor, wo ich nicht genau wußte, ob die Herren schon in die Ferien gereist seien, bekam aber in einem Hause nach dem andern den Bescheid, daß der Herr Gesandte verreist sei. Endlich stellte ich fest, daß Senator Tesdorpf, der Gesandte der Hansestädte, noch in der Residenz sei, da seine Frau erkrankt war; ich fuhr sofort zu ihm hin und ließ mich bei ihm melden. Freilich war gerade dieser Gesandte einer der wenigen, die unbedingt zum alten Herzog hielten; ja, Senator Tesdorpf, selbst ein strenger Lutheraner und seit manchen Jahren Vertreter der Hansestädte an diesem Hofe, war mit dem Herzog persönlich eng befreundet. Trotzdem empfing mich der alte Herr zuvorkommend genug. Er erfuhr erst durch mich von der plötzlichen Verhaftung des Prinzen und wußte so wenig einen Grund dafür, wie ich selbst. Sie kam ihm um so überraschender, als er erst gestern von einem kurzen Besuch auf dem Jagdschloß des Herzogs zurückgekehrt war; obwohl er zwei Tage lang mit dem Herzog zusammengewesen und oft durch Stunden mit ihm spazieren gegangen war, hatte der alte Herzog ihm auch nicht die kleinste Andeutung gemacht, die darauf hätte schließen lassen, daß er einen derartigen Schritt beabsichtigte. »Ich kenne den Herzog gut genug«, sagte er, »um mit Bestimmtheit behaupten zu können, daß er noch gestern nichts Derartiges vorhatte. Wir haben sehr eingehend über den Fall des Prinzen gesprochen; er hat mir vieles gesagt, was nur für die Ohren des Freundes, nicht des Gesandten bestimmt war. Aber nicht eine Silbe über eine bevorstehende Verhaftung!« – Er versprach mir, sich sogleich beim Justizminister, der in der Residenz sei, zu erkundigen und mir zum Abend Bescheid zu senden. Jede Hilfe, soweit sie sich mit seinem Amt als Gesandter vereinigen ließe, sagte er mir gerne zu.

Zurückgekehrt nahm ich einen Bericht nach dem andern entgegen. Der Prinz war auf die Zitadelle gebracht worden und wurde dort in strengem Gewahrsam gehalten; allerdings hatte ihm der Kommandant zwei seiner eigenen Räume angewiesen. Ich sandte sofort zwei Jäger hin und ließ ihm Wein und Essen, Schlafhemden und Bettwäsche schicken, ich schrieb einen Brief an den Prinzen und einen an den Kommandanten. Nach einer Weile aber kamen die Leute zurück mit der Nachricht, daß der Kommandant zwar erlaubt habe, den Brief und die andern Sachen dem Prinzen zu übergeben, dagegen nicht gestatte, daß einer der Jäger zur Bedienung dort bliebe, noch auch, daß der Prinz selber schreibe. – Über die Verhaftungsursache wurden mir die verschiedensten Gerüchte widerbracht; das wahrscheinlichste davon war das, daß eine Hochverratsanzeige gegen ihn eingelaufen sei. Dies wurde mir auch durch einen Brief des Senators bestätigt, der insofern ein Novum enthielt, als er mitteilte, daß der Arrestbefehl nicht vom Herzog selbst ausgegangen, sondern in dessen Abwesenheit nach einer Beratung mit dem Justizminister nur vom Stadtkommandanten ausgefertigt sei.

Noch in der Nacht sandte ich reitende Boten ab an alle uns befreundeten Gesandten, deren Aufenthaltsort in benachbarten Badeorten ich kannte. Ich selbst fuhr in frühester Morgenstunde wieder zu dem hanseatischen Gesandten; er teilte mir mit, daß ursprünglich auch ich hätte verhaftet werden sollen; man habe aber davon, mit Rücksicht darauf, daß ich Ausländer sei, abgesehn – man wolle eben politische Verwicklungen nach Möglichkeit vermeiden. Über den Inhalt der Hochverratsanzeige wußte der Senator nichts – vermutete nach dem Gespräche mit dem Justizminister nur, daß sie sehr ernster Natur sein müsse. Trotz meiner flehentlichen Bitten ließ er sich nicht bereit finden, sogleich zum Herzog zu fahren: er habe seiner kranken Frau versprochen, bei ihr zu bleiben. Doch hätte ihm der Arzt gesagt, daß sie in zwei bis drei Tagen wohl fähig sei, zu reisen, dann würde er mit ihr in das dem Jagdschloß nachbarlich gelegene Bad Ilsungen fahren und natürlich den Herzog aufsuchen, dem übrigens von dem Kommandanten sofort durch Stafette Mitteilung über die Verhaftung gemacht wurde.

Und nun hieß es abwarten. Die Nachricht von der Verhaftung des Prinzen hat in der Stadt einige Aufregung hervorgerufen, weniger freilich, als ich vermutete; das wird in der Abwesenheit des Hofes und der Gesandtschaften, zum Teil wohl auch in dem drückend heißen Wetter seinen Grund haben. Ich lasse dem Prinzen regelmäßig Speise und Trank, auch Lektüre senden, habe ihn von allen meinen Schritten in Kenntnis gesetzt.

Noch einmal, lieber Freund, kommen Sie sofort! Ich bin Ihrer treuen Gesinnung so gewiß, daß ich meinen nächsten Brief nach Trient senden werde, hoffentlich werden Sie ihn dort vorfinden.

 

Der Graf von Osten an den Marchese di Civitella

Sechster Brief

5. September

Nun kenne ich endlich den Grund der Verhaftung des Prinzen! Und wissen Sie, wer es herausfand? Ihr Jäger Muni, den Sie uns zurückließen. Er hat sich an Hagemeister sehr angeschlossen und mit dessen Hilfe sehr schnell deutsch gelernt. Die beiden nun haben einen Plan ausgeheckt, der ihnen überraschend gut gelang. Sie baten mich, sie mit den regelmäßigen Botengängen zur Zitadelle zu betrauen. Da der Kommandant darauf bestand, alles, was ich dem Prinzen schickte, persönlich zu untersuchen, so nahmen sie die Gelegenheit wahr, um sich bei den Wachen bitter über ihren Dienst zu beklagen. Das mußte dem Kommandanten auffallen; er glaubte, von den beiden Gesellen vielleicht etwas Wertvolles erfahren zu können, unterhielt sich mit ihnen und versuchte, sie beide auszuhorchen. Muni erklärte nun, daß sein Herr, der Marquis – eben der, der dem Herzoge das Leben gerettet habe, wie er keck hinzufügte – nur aus dem Grunde abgereist sei, weil er das verräterische Treiben des Prinzen nicht länger habe mitansehen können. Er selber sei im letzten Augenblick zurückgeblieben, eines Liebeshandels wegen, aber jetzt wünsche er nichts sehnlicher, als auch nach Venedig zurückkehren zu können. Befragt, ob er nicht irgendwelche positiven Beweise erbringen könne, sagte Muni, daß er das nur mit Hilfe seines Freundes Hagemeister könne, der das vollste Vertrauen seines Herrn genieße. Hagemeister sei zwar mit seinem Dienst ebenfalls sehr unzufrieden, sei jedoch eine einfache, biedere Haut, die sich nur sehr schwer zu etwas entschließen könne. Obwohl er selbst innerlich von dem falschen Spiele des Prinzen dem Herzog gegenüber fest überzeugt sei, verschließe er dennoch absichtlich Augen und Ohren dagegen – er wolle nichts davon wissen und seinerseits nicht zum Verräter werden. Nun ließ der Kommandant meinen Jäger hinzurufen, den Muni ausgezeichnet eingelernt hatte. Alle lockenden Anerbietungen wies er ab. Es sei zwar wahr, daß er die Verstecke kenne, wo sein Herr sowohl wie der Prinz die geheimen Papiere aufbewahrt hätten; aber er sei ein ehrlicher Mann und würde diese nie verraten. Der Kommandant bat und versuchte seine besten Überredungskünste; dann drohte er mit Gefängnis und Auspeitschen; Hagemeister schüttelte nur stumpf den Kopf. Schließlich legte sich Muni ins Mittel. »Herr«, sagte er, »ich habe es oft mit ihm durchgesprochen – er weiß nicht recht, woran er ist. Er war viele Jahre in des Prinzen Diensten – jetzt zweifelt er wohl, ist aber seine Sache nicht sicher. Wenn Sie ihn durch irgend etwas wirklich überzeugen könnten, so wird er tun, was Sie verlangen!« Das leuchtete dem Kommandanten ein. Er änderte sofort seine Taktik, wurde wieder überaus leutselig und verlangte nur meines Jägers Zeugnis – gegen einen Verbrecher. Er stand auf, schloß einen Schrank auf und entnahm ihm ein Schreiben, das er den beiden vorlas – es war die Anzeige, die bei ihm eingelaufen war. Er las sie mit eindringlicher Betonung vor: dem Prinzen Alexander wurde zum Vorwurf gemacht, zusammen mit dem Baron von Freihardt dem Junker von Zedtwitz, dem Grafen Osten, sowie den Gesandten des Wiener und Pariser Hofes gegen das Leben des Herzogs konspiriert zu haben. Dann zeigte er ihnen die Unterschrift des Schreibens – es war die des kurhessischen Gesandten – neben ihr prangte das rote Gesandtschaftssiegel. Dies Schriftstück machte auf meinen Jäger scheinbar den gewünschten Eindruck; er erklärte sich nunmehr einverstanden, im Interesse des Stadtkommandanten für die Untersuchung zu arbeiten, nach weiteren Beweisen zu suchen und sie ihm zu bringen. Die beiden Gauner nahmen dankend den Judaslohn in Empfang – jeder zehn nagelneue Goldstücke mit dem Bild des Herzogs – freilich lieferten sie mir diese in der nächsten halben Stunde getreulich ab. Ich gab sie ihnen zurück und die dreifache Anzahl dazu: Selbst die treueste Gesinnung sieht goldenen Ansporn nicht ungern.

Ich überlegte mir die Nachricht, die die beiden mir brachten, gründlich. Wir hatten einige Schreiben des kurhessischen Gesandten da; ich holte sie hervor und zeigte sie den Jägern. Sie erkannten sofort das Siegel, erkannten auch die steile, verschnörkelte Schrift des Schreibers, sowie die etwas zittrige Unterschrift des Gesandten wieder. Obwohl also das Schriftstück echt zu sein schien, machte mich dennoch der Gedanke stutzig, daß gerade Kurhessen, mit dem der alte Herzog, wie Sie wissen, in der letzten Zeit so schlecht stand, daß er den Gesandten nicht mehr empfangen wollte, diesen Schritt unternommen haben sollte, zumal die Denunziation sich auch nicht auf einen einzigen wirklich triftigen Grund stützte, sondern lediglich allgemeine Behauptungen wiedergab. Da der kurhessische Gesandte schon vor der Abreise des Herzogs an seinen Hof zurückgekehrt war, so beschloß ich, sofort in seine Residenz zu fahren, um mir Klarheit zu verschaffen. Ich verzichtete auf eine Kutsche und ritt zur Nachtzeit mit Hagemeister fort; Muni beauftragte ich mit den weiteren Gängen zur Zitadelle – er sollte dem Kommandanten erzählen, daß ich krank sei und daß mein Jäger Hagemeister die Zeit benutze, um eifrig nach Beweisen zu fahnden.

Ich will mich kurz fassen, lieber Freund – ich sprach den Gesandten, der über meine Nachricht so entsetzt war, daß er sich in den Stuhl fallen ließ. Es sei ein frecher Schwindel, rief er aus, nie habe er ein derartiges Dokument ausfertigen lassen. Sein Sekretär, fügte er hinzu, sei allerdings im Gesandtschaftshaus zurückgeblieben; doch sei dieser sein langjähriger treuer Begleiter; es sei kaum denkbar, daß er seine Hand hier im Spiele habe!

Noch am selben Tage reist er mit mir zurück; vor einer Stunde sind wir in der Residenz eingetroffen. – Der morgige Tag, denke ich, wird einige Überraschungen bringen.

 

Der Graf von Osten an den Marquis di Civitella

Siebenter Brief

10. September

Ich schreibe nach der »Rose« am Rindermarkt, lieber Freund, da ich hoffe, daß Sie nunmehr in München eingetroffen sind. – Der kurhessische Gesandte fuhr bei seinem Eintreffen in unserer Stadt zunächst bei seinem Hause vor und stellte seinen Sekretär zur Rede – dieser war völlig überrascht und erklärte, nicht das geringste von der Geschichte zu wissen. Doch hat Muni inzwischen durch eifrige Nachforschungen feststellen können, daß dieser Sekretär in der letzten Zeit häufig wie geistesabwesend herumgelaufen sei; auch sich manche Stunden von Hause entfernt habe, ohne bei seiner Rückkehr zu wissen, wo er eigentlich gewesen sei. Irgend etwas stimmt hier also nicht! Am andern Tage begab sich der Gesandte zunächst zum Justizminister, dann in dessen Begleitung in die Zitadelle zu dem Stadtkommandanten. Man konnte ihm das Dokument nicht mehr zeigen, da es dem alten Herzog auf dessen Wunsch übersandt worden war – infolgedessen beschlossen die drei Herren, gemeinschaftlich sich zu der Sommerresidenz im Kottenwalde zu begeben. Der Hesse setzte mich in Kenntnis; ich ritt voraus, wartete auf der Landstraße eine Stunde vor unserer Stadt und schloß mich dann, trotz des Protestes des Kommandanten, an. Wir blieben zur Nacht in Ilsungen, da wir ziemlich spät dort eintrafen – am nächsten Morgen ritten die Herren zum Jagdschlosse, während ich im Gasthofe wartete.

Die Audienz war eine sehr erregte. Der Herzog zeigte dem Gesandten das Dokument; dieser erkannte sowohl Papier und Siegel, wie auch die Handschrift des Sekretärs als durchaus echt an. Seine Unterschrift erklärte er für gefälscht, obwohl sie erstaunlich gut nachgemacht sei. Ein Streit entstand dann dadurch, daß der Herzog verlangte, daß man unverzüglich dem Sekretär als dem augenscheinlichen Urheber dieser Fälschung den Prozeß mache – der Gesandte sagte dies zu, verlangte aber, daß dieser Prozeß gegen einen hessischen Untertan auch in Hessen angestrengt werden müsse. Der Herzog, aufgebracht genug, widersetzte sich dem, erklärte, daß er keinem hessischen Richter Vertrauen schenke, erging sich dann in maßlosen Beschimpfungen gegen den Gesandten, wie gegen dessen Herrn, den Kurfürsten. Er ging schließlich so weit, zu behaupten, daß das Ganze nur ein abgekarteter Gaunerstreich des Gesandten und seines Hofes sei, der den einzigen Zweck habe, ihn und seine Justiz vor der Welt lächerlich zu machen. Er gab Befehl, den Prinzen in Freiheit zu setzen – zugleich aber entlud sich sein ganzer Zorn auf den armen Gesandten, den er höchsteigenhändig hinausgeworfen haben würde, wenn er sich nicht selbst rasch zurückgezogen hätte.

Ich schloß mich auf der Rückfahrt dem Kommandanten an, der jetzt wenigstens äußerlich weit liebenswürdiger war. Wir kamen mitten in der Nacht vor der Zitadelle an; der Kommandant erlaubte mir, einzutreten, um den Prinzen selbst in Empfang zu nehmen. Er machte sogar so sehr gute Miene zum bösen Spiele, daß er mich auf sein Zimmer bat und mir ein Glas Wein vorsetzen ließ, derweil er eine Wache an den diensttuenden Offizier sandte mit dem Befehl, daß dieser den Prinzen sogleich herbringen sollte. Wer beschreibt unser Erstaunen, als dieser Offizier allein kam – ohne den Prinzen!

»Wo ist Ihr Gefangener?« fuhr ihn der Kommandant an.

Der Leutnant schlug die Hacken zusammen. »Heute abend sechs Uhr zweiunddreißig aus der Haft entlassen!« antwortete er.

Der Kommandant brüllte: »Wer gab den Befehl?«

Der Offizier erwiderte ruhig: »Euer Gnaden selbst! Ein reitender Bote kam damit aus Ilsungen. An Stelle eines schriftlichen Befehls übergab er mir Euer Gnaden Siegelring. Da Euer Gnaden schon oft in diskreten Fällen Ihren Siegelring als Zeichen der Sicherheit benutzten, so glaubte ich den Befehl umgehend ausführen zu müssen.«

Der Kommandant hob seine Hand – der Siegelring fehlte. Zu gleicher Zeit reichte ihn ihm der Leutnant.

Ich hatte kein Interesse mehr, das Weitere dieser Unterhaltung anzuhören – ich stürzte hinaus, sprang auf mein Pferd und ritt nach Hause. Ich traf den Prinzen in seinem Schlafzimmer – er stand vor dem Bild Veronikas, dessen Anblick er so lange entbehrt hatte.

– Der arme Freihardt – ich vergaß, Ihnen das zu schreiben, lieber Freund – ist inzwischen beerdigt worden, ich habe einstweilen beim Prinzen seine Funktionen übernommen. Prinz Alexander hat die Haft augenscheinlich gut überstanden; er bedankte sich sehr bei mir für alles, was ich ihm sandte und ganz besonders für die Meconiumpillen – die ich ihm nicht sandte! Diesen allein, fügte er hinzu, habe er es zu danken, daß seine enge Zelle sich in einen Traumpalast verwandelt habe –.

Wer nun, Marquis, sandte ihm, in meinem Namen diese Pillen? Sie werden es mit mir erraten! Derselbe Mann, der des Kommendanten Siegelring schickte – wohl um mir zu beweisen, daß er ein besserer Schachspieler sei als ich, und daß er es jederzeit in seiner Macht hätte, dem Prinzen im Augenblicke die Freiheit zu verschaffen, wozu ich Wochen gebrauchte! – Mehr noch, lieber Freund: ich habe die feste Überzeugung, daß dieselbe Hand es war, die den Prinzen nicht nur aus der Zitadelle heraus, sondern auch in diese hineinbrachte. – Es besteht für mich, obwohl ich nicht den Schatten eines Beweises hierfür habe, kein Zweifel darüber, daß sein Wille es war, der die Hand des Sekretärs der kurhessischen Gesandtschaft bei der Abfassung des Dokuments und bei der Fälschung der Unterschrift des Gesandten lenkte. Stand nicht unser Junker genau so unter seinem mesmeriatischen Einfluß? Wie er diesen zwang, bewußt und unbewußt ihm in allen Stücken, bis zum Verbrechen, gehorsam zu sein, so wird er auch den armen Teufel von Sekretär gezwungen haben – wie unserm Junker so war auch diesem später jede Erinnerung verschwunden!

Und warum tat er das? Nun, um von neuem auf den Prinzen einen Druck auszuüben. Um ihn aufzustacheln gegen den Herzog. Um ihn, endlich, zum Handeln zu zwingen!

Daß dabei, so nebenher, auch das Leben eines Menschen zugrunde ging – das unseres armen lieben Freundes Freihardt – das ist ihm ganz gewiß völlig gleichgültig. Und es scheint, als ob wenigstens in dieser Beziehung sein Einfluß den Prinzen völlig umstrickt hat. – Die Nachricht von Freihardts Tode hatte ich ihm in meinem ersten Briefchen in die Zitadelle gesandt – alle diese Tage über hat also der Prinz darum gewußt. Gewiß erkundigte er sich auch jetzt, forschte nach Einzelheiten, fragte nach dem Begräbnis – all das mit einer stillen freundlichen Liebe zu dem für ihn gefallenen Freund. Aber dennoch mit einer gewissen Apathie, mit einer müden Ruhe, die nirgends einem jähen Schmerz auch nur auf Augenblicke hervorzubrechen erlaubte. Fast achtzehn Jahre war der Baron ständig um ihn – dennoch fehlt er ihm nicht mehr als irgendein gleichgültiger Kavalier oder Bedienter. Es ist gewiß, Marquis: Prinz Alexander sieht die Welt anders an, seitdem er die Pillen des Doktor Teufelsdrökh gekostet hat.

*

Am anderen Morgen.

Die Post nach München geht am Mittag; ich habe also noch Zeit, diesem Brief einiges hinzuzufügen. Ich nachtmahlte allein mit dem Prinzen – die leeren Plätze an der Tafel, die Ihnen, Marquis, dem braven Junker und unserm unglücklichen Freihardt gehörten, starrten mich an und jagten mir unwillkürlich Schrecken ein. Nach dem Essen zog sich der Prinz zurück; ich ging in Freihardts Zimmer, wo ich jetzt öfter zu arbeiten pflege. Ich hatte meinen Schreiber mitgenommen und diktierte eine Anzahl Briefe für den Prinzen. Es war schon ziemlich spät, als ich ein Schreiben Lord Seymours beantwortete; da ich wußte, daß Prinz Alexander einige besondere Wünsche an diesen hatte, deren Einzelheiten ich nicht kannte, so ging ich hinüber in sein Schlafzimmer, nachdem ich durch einen Blick vom Balkon mich vergewissert hatte, daß bei ihm noch Licht brannte. Die Türe stand halb offen; ich klopfte, bekam aber keine Antwort. So trat ich ein.

Der Prinz lag auf einem kleinen Divan mitten im Zimmer, gegenüber dem Madonnenbilde und der Muranovedute. Doch war sein Blick nicht auf diese gerichtet, er schien vielmehr in die Luft zu starren. Auf dem Tische vor ihm stand die kleine Tuladose, in der er seine Pillen aufzubewahren pflegt; sie war geöffnet, augenscheinlich hatte der Prinz einige genommen. Er lag lang ausgestreckt auf der Seite, den linken Ellenbogen auf ein Kissen, den Kopf auf die Hand gestützt. Der rechte Arm hing schlaff herunter.

Ich trat näher; ich hatte das bestimmte Gefühl, daß der Prinz mich trotz seines Rausches erkannte, er nahm aber nicht die geringste Notiz von mir. Ich setzte mich ihm gegenüber in einen Sessel und beobachtete ihn schweigend; für eine Weile schien es mir, als ob ihn meine Gegenwart störe; dann aber schien er mich vollständig zu vergessen – er war wieder allein mit seinen Träumen.

Ich muß gestehen, Marquis, daß dieser stille Zustand des Prinzen wenig den phantastischen Erzählungen entsprach, die Ihr Gewährsmann, der Fregattenkapitän, Ihnen über die Rauschwirkung des Meconieum machte. Vermutlich ist diese Wirkung, ähnlich wie die eines Bier- oder Weinrausches, bei verschiedenen Individuen eine völlig verschieden. Was den Prinzen angeht, so beobachtete ich folgendes: Zunächst lag er ganz still da, unbeweglich für viele Minuten. Dann hob sich sein Auge – aber nicht rasch und plötzlich, sondern ganz allmählich –, sein Blick richtete sich auf das Bild seiner Geliebten, freilich nur für einen ganz kurzen Augenblick. Es schien mir, als sauge er dieses Bild in sich hinein, als riefe er die Gestalt zu sich herab und vor sich hin. Freihardt, dem ja jede Nuance seines Ausdrucks, jede kleinste Bewegung eng vertraut war, hat mir einmal eine Szene beschrieben, die sich in dem Dom von Murano, San Donato, abspielte. Prinz Alexander hatte die angebetete Frau dorthin begleitet; der Baron war beiden gefolgt und betrat gleich nach ihnen die menschenleere Kirche. Veronika verrichtete ihr inbrünstiges Gebet vor Sebastianis Madonna in der Kapelle des linken Seitenschiffes; der Prinz wartete derweil, angelehnt an eine Säule der alten Basilika – er hatte seinen Platz so gewählt, daß er wenigstens die Hälfte des Gesichts der geliebten Frau gut sehn konnte. Versteckt hinter einem anderen Pfeiler stand Freihardt ihm gegenüber – er konnte aufs beste des Prinzen Züge beobachten. Und genau so wie mir Freihardt den Ausdruck des Prinzen in San Donato schilderte – genau so sah ich ihn jetzt vor mir: Es war ein Ausdruck einer reinsten Liebe, die sich weit hinaushob über die Empfindungen, deren der Durchschnittsmensch fähig ist.

In der Tat, Marquis, vor meinem wachschlafenden Prinzen stand nicht ein Traum-, nicht ein Phantasiebild der Geliebten, stand vielmehr diese selbst. Unter dem Genuß seiner Giftpillen sah er einen Geist, der Farbe und Form angenommen hatte, sah ein Gespenst, das Fleisch und Blut hatte! Ganz unmerklich bewegten sich seine Hände, unhörbar murmelten seine Lippen; aber es schien mir, als ob ihm dieses stillste Geflüster zu heißestem Liebesstammeln würde, als ob dieses kleinste Spreizen seiner Finger ihm Umarmung bedeutete. So stark war dieses übermächtige Gefühlsleben des Prinzen, daß sogar ich, ein völlig unbeteiligter und gewiß ein besonders kühler Zuschauer, davon ergriffen wurde; gegen meine bessere Einsicht hatte ich das Empfinden, als ob in der Tat die Frau von Murano zwischen uns stände – unsichtbar freilich für mich, aber für ihn sehr sichtbar und greifbar.

Ich ging hinaus, leise, auf den Zehenspitzen. Ich war so ergriffen, daß ich stundenlang nicht zu schlafen vermochte. – Ich war dabei, lieber Freund, stand mit Lord Seymour dicht neben dem Prinzen, als uns in dem Lusthause an der Brenta der Geist des Sizilianers erschien, der dann dem des Dr. Teufelsdrökh das Feld räumte. Ich war zugegen, als dieser selbe Mann in seinem Hause in München den jungen, von ihm mesmerisierten Zedtwitz die Geister seines Vaters und seiner Mutter sehen ließ. Beides hat nicht entfernt den tiefen Eindruck auf mich gemacht, wie der Geist, der heute nacht vor dem Prinzen stand und den ich – nicht sah!

Das ist ganz gewiß, daß mit diesen Pillen der Doktor unserm Prinzen ein Mittel gegeben hat, mittels dessen er sich seine Wünsche und Träume zu Wirklichkeiten umschaffen kann. Nun schreiben Sie mir, lieber Freund, daß das Gift weiter die Eigenschaft haben soll, nicht nur die Fähigkeiten der Sinne, sondern auch die des Denkens ungemein zu verschärfen – die Beispiele, die Ihr Gewährsmann anführt, sind in der Tat erstaunliche. Und aus dieser überaus intensiven Geistestätigkeit soll dann, selbst bei schwach feigen, stumpfen Menschen zuweilen eine außerordentliche Fülle einer momentanen Erkenntnis, eines entschlußstarken Willens, eine überaus wagenden Mutes hervorquellen – gewiß liegt hier das, was Dr. Teufelsdrökh bei dem Prinzen beabsichtigt hat. Aber es deucht mich, als ob ihm die Wirkung auf sich beschränke, daß ihm die Nebelschwaden unklarer Sehnsüchte zu festen Gestalten werden – daß ihn die Wirklichkeiten seines Rausches die einer realen Zukunft vergessen machen. Ich glaube, daß sein Ehrgeiz nicht dadurch angespornt, sondern vielmehr erstickt wird. Daß das Schwert, das der Doktor scharf und blank schleifen wollte, vielmehr sehr stumpf und rostig wird.

Auf baldiges Wiedersehn, lieber Freund; es verlangt mich sehr, über alles das mit Ihnen bald von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.


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