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Hanns Heinz Ewers

Intermezzo

Hier brechen die Papiere des Grafen von Osten-Sacken ab.

*

Im Frühjahr 1914 brachte die Londoner »Daily News« eine Notiz, daß Mr. Henry Yates Thompson, der bekannte Handschriften- und Büchersammler, bei dem Verkauf einer Privatbibliothek in Venedig eine ganze Reihe sehr wertvoller Funde gemacht habe. Unter anderen wurde erwähnt: eine aus dem Jahre 1520 stammende Kopie des Logbuches des Columbus; eine Handschrift des Lancelot vom See, für Jehan de Crosse, verschiedene Verträge des Lionardo von Vinci und des Tintoretto mit dem Venediger Senat, acht Liebesbriefe Casanovas an die Gräfin Guendalina Folicaldi und manches noch. Endlich war aufgeführt: eine Handschrift des Grafen Osten-Sacken über die Tätigkeit des Grafen Cagliostro in Venedig. Diese Notiz, die von einer Reihe deutscher Blätter übernommen wurde, wurde auch von dem Lehramtskandidaten Wilhelm Straubing in Berlin gelesen, der gerade mit seiner Doktorarbeit »Fragmente deutscher Klassiker« beschäftigt war. Er wußte natürlich, daß mit dem »Sizilianer« in Schillers »Geisterseher« kein anderer gemeint sei als eben Josef Balsamo aus Palermo, alias Graf Alexander Cagliostro, wußte auch, daß der Schreiber »der Papiere des Grafen von Osten« ein Graf Karl Friedrich von Osten-Sacken aus Kurland war. Er hoffte, aus der aufgefundenen Handschrift ein paar Aufschlüsse zu erhalten, mittelst deren er einige erfreuliche Lichter in seiner Doktordissertation aufstecken konnte. Er verfaßte also einen schönen Schreibebrief an den englischen Sammler, in dem er ihn bat, ihm die Handschrift für einige Zeit zur Untersuchung zu überlassen. Um Mr. Thompson über seine Person zu vergewissern, fügte er bei: seinen Konfirmationsschein, sein Maturazeugnis, ein polizeiliches Führungsattest, sowie mehrere Briefe seiner Professoren, die einstimmig seinen Fleiß, sein anständiges Betragen und seine Ehrlichkeit rühmten.

Alle diese schönen Papiere hätte er, zugleich mit einem Bündel vergilbter Papiere, sechs Jahre später zurückerhalten, wenn er selbst nicht schon längst an der Marne gefallen wäre. Da die Sendung »per Adresse Frau Eva Kathreiner« geschickt war, so trug der Postbote kein Bedenken, sie dieser Dame, der würdigen Zimmervermieterin Herrn Straubings, auszuliefern. Diese nahm die uneröffnete Postsendung zu ihrem jetzigen Mietsherrn Ewald Recke, der wie Wilhelm Straubing Student und Lehramtskandidat war. Die beiden stellten zunächst fest, daß die Sendung bereits im Juli 1914 von London abgesandt, dann aber all die Zeit über von der englischen Zensur, zurückbehalten worden war. Sie beschlossen also die Rücksendung; packten den großen, stark ramponierten Umschlag ein und fügten einen kurzen Brief bei, in dem sie den Tod des Empfängers meldeten. Die Portokosten fühlte sich Herr Recke verpflichtet zu tragen, da er gewissermaßen die Erbschaft Straubings angetreten hatte. Denn da Lehramtskandidat Straubing ohne jede Verwandtschaft war, so blieb seine Zimmerwirtin in dem Besitz der wenigen Sachen, die er zurückließ, als er nach Frankreich zog. Student Recke nun war nicht zufällig in den Besitz der geistigen Erbschaft Straubings gekommen. Vielmehr hatte ihn, als er mit einem seiner Professoren verschiedene Themata für seine Doktorarbeit besprach, dieser auf die angefangene Arbeit aufmerksam gemacht und angeregt, sie zu Ende zu führen. Der Gedanke, die halbe Arbeit schon getan zu finden, war Recke begreiflicherweise sehr sympathisch. Mit einiger Mühe gelang es ihm, die frühere Wohnung Straubings festzustellen; er begab sich sofort dorthin. Frau Kathreiner hatte durch diese Jahre eine Reihe sehr übler Mieter gehabt; der letzte war ihr gerade ohne zu zahlen durchgegangen. Sie erinnerte sich gut des braven Straubing, der für sie seit seinem glorreichen Tode in allen denkbaren Tugenden eines vollendeten Mietsherrn strahlte – ein kleines Teilchen dieses Glanzes fiel auch auf Herrn Recke, der Student und Lehramtskandidat war wie jener und ihr dazu gewissermaßen von ihrem alten Mieter ins Haus geschickt wurde. Sie erklärte sich sofort bereit, ihm die Arbeitshefte Straubings zu geben – falls Herr Recke dafür bei ihr mieten würde. Hierauf ging Student Recke ein.

Es ist wahr, daß er nicht nur eine halbe, sondern eine vollendete Arbeit vorfand, die lediglich einer schärferen Zusammenfassung bedurfte. Das Unglück war nur, daß diese Arbeit eine streng philologische war – ganz herausgeschrieben aus der Lehramtskandidatenseele Wilhelm Straubings. Der war Germanist mit Leib und Seele, hatte aus innerstem Drang seinen Beruf ergriffen und war durch die Studienjahre sehr getreu der mildleitenden Hand seiner Professoren gefolgt. Er begriff sehr bald, daß es auf das eigentliche Werk des Dichters überhaupt nicht ankomme, sondern daß dies vielmehr ein an und für sich vollkommen gleichgültiges Objekt sei für philologischen Scharfsinn. Das wirklich Wichtige waren die Quellen, die dem Werke zugrunde lagen; die Originale der Figuren, die eventuellen Fehler, die sich der Verfasser hatte zuschulden kommen lassen. Dann die Entstehungsjahre des Werkes und das Datum der Veröffentlichung, die Korrekturen während des Druckes, die Verschiedenheiten der einzelnen Ausgaben, die Druckfehler, Varianten und vor allem die Kommentare anderer Gelehrter über das Werk. Das war wissenschaftliches Denken, und Wilhelm Straubing fühlte sich so wohl darin wie die Kröte im Krautgarten. Es ist keine Frage, daß aus ihm eine Zierde der Germanistik an jeder deutschen Universität geworden wäre, ein Professor, wie er sein soll, wenn nicht eine dumme Kugel diese blühende Hoffnung der Wissenschaft vernichtet hätte.

Ewald Recke, sein Nachfolger, war leider aus ganz anderm Holze geschnitzt. Er hatte sich freilich auch an der philologischen Fakultät einschreiben lassen, aber nur, weil sein Vater, Gymnasialprofessor Dr. Recke, das so wünschte; ihm persönlich war es ganz gleichgültig. Studiert hatte er herzlich wenig, hatte gelegentlich Kollegien besucht, war aber stets wieder fortgeblieben, weil seinem knabenhaften Unverstand die reine Wissenschaft seiner Professoren kaum faßbar war. Er ging sogar soweit, sich darüber lustig zu machen, und ließ über die Vorträge seiner Meister so häßliche Worte fallen wie »Blech«, »Quatsch« und »Bockmist.« Seine Studien, wenn man es so nennen will, wurden dann ebenfalls durch den Krieg unterbrochen – und das blinde Schicksal, das Wilhelm Straubing untergehn ließ, schonte diesen leichtfertigen Bruder. Als er aus dem Felde zurückkehrte, hatte er nichts vergessen – da er ja nie etwas gelernt hatte. Seine Eltern drängten auf den Abschluß des Studium und Ewald fand zu seiner großen Freude, daß für die Kriegsteilnehmer alles mögliche getan wurde, um die Examina zu erleichtern. So durfte er hoffen, durchzukommen, besonders dank der Erbschaft Wilhelm Straubings. Dazu kam, daß die Eltern, um den Arbeitseifer ihres einzigen Sohnes anzuspornen, ein sehr gutes Mittel gefunden hatten. Sie waren seit kurzer Zeit recht vermögend – seit dem Augenblicke, als Frau Reckes Bruder, der während der Kriegsjahre schwer verdient hatte, das Zeitliche gesegnet hatte –, so versprachen sie dem Sohne als Belohnung für bestandene Examina eine große Reise.

Es war also keineswegs das reine Feuer der Wissenschaft, das Ewald beseelte, sondern vielmehr der heilige Wunsch, diese Wissenschaft als Sprungbrett zu einem halben Jahre vergnüglichen Bummellebens zu benutzen. Er arbeitete mit einem Repetitor und würgte die notwendigen Materien mit Haut und Haaren ein wie eine Schlange ein Kanin. Die Straubingsche Arbeit aber war es, die ihm am meisten Übelkeit verursachte, obwohl er sofort begriff, daß sie in ihrer ganzen Anlage und Durchführung in den Augen seiner Professoren durchaus mustergültig war. Je mehr er sich damit beschäftigte, um so mehr wurde sie ihm zuwider. Er ließ sie dann, um Zeit zu gewinnen, fein säuberlich abtippen und brachte sie zur Begutachtung dem Professor, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Von ihm, Recke, stammte nicht ein einziges Wort. Der Professor hatte seinerzeit die Arbeit gesehn, als sie kaum zu einem Drittel fertig war; er las sie jetzt sehr aufmerksam durch und lobte aus warmem Herzen die außerordentliche Gabe Reckes, sich in das echt philologische Denken Straubings so völlig einzufinden, ja dessen Sprache und vor allem den wirklichen wissenschaftlichen Periodenbau so erstaunlich gut nachzubilden. Diese Arbeit, sagte er, sei eine sehr, sehr gute; lediglich eine straffere Durcharbeitung sei noch notwendig.

Student Recke ging nach Hause mit der festen Absicht, diese Durcharbeitung sofort vorzunehmen. Aber diese Arbeit, die der Professor ein Vergnügen nannte, machte seinen undisziplinierten, leichtfertigen Geist fast seekrank. Er hatte gerade den Entschluß gefaßt, damit seinen Repetitor zu betrauen, als der Postbote das Paketchen aus England zum zweiten Male ins Haus brachte. Es kam diesmal sehr schnell zurück mit dem Postvermerk »Adressat verstorben«.

Ewald Recke, der sich jetzt für durchaus berechtigt ansah, auch diese Erbschaft anzutreten, hatte ein eigentümliches Empfinden, als er die Sendung öffnete. Es war ihm, als ob darin irgend etwas enthalten sei, das ihn im Augenblicke von seiner Sorge befreien könnte – und dieses Gefühl war so stark, daß seine Finger zitterten. Er zerschnitt die Schnüre, riß das Papier auseinander und starrte auf den Inhalt. Dann schellte er seiner Wirtsfrau, bat sie, ihm sofort eine Flasche Rotwein zu holen und trat ans Fenster. Er sah, wie die gute Frau über die Straße lief, sah, wie sie mit dem Wein wieder zurückkam. Er hörte sie die Zimmertüre öffnen, die Flasche aufkorken und ein Glas füllen. Dann erst verließ er seinen Platz am Fenster, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und leerte schnell das Glas.

Diese seltsame Unruhe erschien ihm völlig natürlich. Er schickte die Frau fort und trank ein zweites Glas.– Endlich griff er die Papiere auf.

Da war zunächst ein Brief des verstorbenen Herrn Henry Yates Thompson an den gleichfalls verstorbenen Studenten Wilhelm Straubing. Herr Thompson schrieb, die beifolgenden Manuskripte hätten für ihn nur geringen sammlerischen Wert, er freue sich, sie Herrn Straubing zum Geschenk machen zu dürfen und hoffe, daß sie ihm von einigem Nutzen sein könnten. Beigefügt waren die verschiedensten Papiere und Zeugnisse des Studenten Straubing – die Ewald ohne einen Blick zur Seite schob.

Er fand ferner einen Brief – aber nur einen einzigen und sehr kurzen dazu –, der an den Grafen Karl Friedrich von Osten-Sacken von dem Freiherr Franz von Freihardt geschrieben war. Dieser Brief trug ein paar Randbemerkungen sowie eine Schlußnote, die augenscheinlich von der Hand des Grafen Osten herrührte.

Endlich enthielt die Sendung ein ziemlich starkes, vergilbtes Manuskript, das in französischer Sprache geschrieben war. Die erste Seite trug in roter Tinte folgende Überschrift:

Faits et opinions du prince Alexandre

(d'après les papiers, la correspondance et les documents du comte von Osten) assemblés, publiés et commentés par le docteur Jean-Baptiste Kuhblum de Bâle, médecin aide-major au 18 me Voltigeurs, armée de Macdonald, à Venise.

Dr. Jean-Baptiste Kuhblum erzählte auf den nächsten Seiten etwas umständlich zunächst von seinem eigenen Leben und besonders von seinen Feldzügen. Mit General Macdonald sei er nach Venedig gekommen, hier sei er an der Ruhr erkrankt, aber glücklich wieder genesen. Er sein nun Rekonvaleszent, aber viel zu schwach, seine Wohnung im Palazzo Manfrin am Canareggio zu verlassen. Er wohne in dem Bibliothekraume und verbringe seine Zeit mit Lesen. Die Korrespondenzen und Manuskripte des Grafen Osten seien ihm in die Hand gefallen, er habe sich dafür interessiert. Von der alten Marchesina Manfrin habe er folgendes erfahren. Der Graf Osten habe ihren verstorbenen Mann während seines zweiten Aufenthaltes in Venedig im Jahre 1781 kennengelernt und sich mit ihm befreundet; er habe ihm dann bei seiner Abreise nach Deutschland eine verschlossene Ledermappe zur Aufbewahrung zurückgelassen. Drei Jahre später sei der Graf wieder in Venedig aufgetaucht; diesmal habe der Marchese ihn eingeladen, bei ihm zu wohnen in seinem Palazzo. Er sei etwa drei Monate geblieben und habe in dieser Zeit ziemlich viel in der Bibliothek gesessen und geschrieben. Seine Abreise sei eine sehr plötzliche gewesen; er sei nach St. Petersburg gerufen worden und dort in russische Kriegsdienste getreten. Er habe versprochen, im nächsten Jahre zurückzukommen, doch sei er in Polen gefallen. Sie wisse, daß er den fertigen Teil seines Manuskriptes mitgenommen habe, um es einigen intimen Freunden zu zeigen, dagegen die Ledertasche, gefüllt mit Briefen und anderen Aufzeichnungen, auch diesmal zurückgelassen habe, um alles später zu beendigen.

Mit dieser Arbeit nun beschäftigte sich Dr. Kuhblum während seiner Rekonvaleszenz. Er habe, schrieb er, nach den Briefen und den Anmerkungen des Grafen mit geringer Mühe den Inhalt des Teiles der Aufzeichnungen, den der Graf mitgenommen habe, wiederherstellen können.

Ewald Recke war wenig bewandert im Lesen von Handschriften. Dazu wollte die merkwürdige Unruhe ihn nicht loslassen. Er rückte auf seinem Stuhle hin und her, sprang dann auf, lief durchs Zimmer. Trank ein Glas Wein und noch eins, rauchte eine Zigarette und wieder eine. Zwischendurch las er, flüchtig genug, überschlug ganze Seiten und mußte dann wieder zurückblättern, weil er den Zusammenhang verloren hatte. Er begriff, daß die Geschichte hier nicht mehr von dem Grafen Osten erzählt wurde, sondern vielmehr von Dr. Kuhblum. Der Anfang war ihm natürlich bekannt – soweit hatte er sich doch aufgeschwungen, daß er alle »Fragmente deutscher Klassiker« und besonders die Schillers im Original gelesen hatte. Die Erzählung Kuhblums war weit kürzer gefaßt als die des Grafen Osten; sie erwähnte beispielsweise die eingeschobene Erzählung des Sizilianers, eben des Grafen Cagliostro, mit keinem Wort. Es war Recke sehr sympathisch, daß Dr. Kuhblum sich von sentimentalen Philosophaden, die den Lauf der Geschichte bei dem Grafen Osten so oft unterbrachen, völlig freihielt, doch bemerkte er zu seinem Schrecken, daß dafür der Baseler Doktor, wo es nur anging, eine Rousseausche Sauce anrührte, die ihn, Recke, genauso langweilte.

Entrüstet schob Student Recke das Manuskript beiseite. Freilich, das kribbelnde Gefühl, daß in diesen Blättern etwas stäke, das irgendwo für ihn von Interesse, von Nutzen, von – er wußte nicht wovon – sein würde, verließ ihn auch jetzt nicht. Er fühlte: Mit dem, was da vor ihm lag, kann man irgend etwas anfangen. Was – das wußte er nicht. Aber was immer es war – er mußte zu diesem Zweck das Manuskript durcharbeiten.

Dazu entschloß sich Ewald Recke. In den nächsten Wochen las er die Handschrift Dr. Kuhblums und übersetzte sie. Dann strich er mit großer Genugtuung fast alle Kuhblumschen Betrachtungen aus und sammelte auf besonderen Blättern das, was ihm Ostensisch zu sein schien – meist das rein Tatsächliche. Endlich schrieb er, so gut es gehen wollte, die ganze Geschichte von neuem auf.

*

Die Niederschrift des Studenten Recke begann mit dem Briefe des Freiherrn von Freihardt an den Grafen von Osten-Sacken.

28. Hornung 1781

»Ich habe noch einmal den Prinzen gesprochen. Er dankt Ihnen herzlich für Ihre Liebe und Anhänglichkeit und nimmt Ihr freundliches Anerbieten an, mit uns nach Deutschland zurückzukehren. Indessen bittet er Sie, liebster Osten, vorauszufahren, beifolgende Briefe persönlich zu übergeben und unsere Ankunft in etwa vierzehn Tagen bei Hofe anzumelden. Der Gemütszustand unseres Prinzen ist unverändert. Er spricht wieder sehr wenig; doch macht es den Eindruck, als sei sein ganzes Wesen von einem einzigen Entschluß erfüllt, dessen Durchführung allein ihm sein Leben noch lebenswert erscheinen läßt. Ich hoffe, Sie heute abend bei dem Marchese Civitella zu sehn – dort werde ich Ihnen die Einzelheiten meiner Unterredung mit dem Prinzen mitteilen. Zu Ihrer vorhandenen Reise Glück und Gesundheit.«

Die Bemerkungen des Grafen Osten-Sacken zu diesem Briefe lauteten: »Ich gab den Brief des Prinzen an seine Schwester, die Herzogin Henriette, persönlich in K. ab.«

Die andere: »Den Brief an den Oheim des Prinzen, den regierenden Herzog, konnte ich nicht persönlich abgeben, da S.H. mich nicht zu empfangen geruhte. Ich mußte ihn durch den Hofmarschall überreichen lassen. Es scheint, als ob gegen den Prinzen und seine ganze Umgebung hier am Hofe ein tiefes Mißtrauen herrscht.«

*

Graf Osten, so erzählt das Manuskript des Dr. Kuhblum, reiste zwei Tage nach dem Empfang dieses Briefes seines Freundes ab. Er hatte sich diesmal etwa sechs Wochen in Venedig aufgehalten und während dieser Zeit teils durch die Berichte des Baron von Freihardt und des Kammerjunkers von Zedtwitz, teils durch einige Nachforschungen feststellen können, was inzwischen geschehen war. Den Prinzen selbst bekam er während dieser Zeit nicht ein einziges Mal zu Gesicht, ebensowenig wie den geheimnisvollen Armenier. Noch sah er den Sekretär Biondello; dieser war zwei Wochen vor seiner Ankunft aus dem Dienste des Prinzen ausgeschieden. Er war einfach abgereist und hatte dem Prinzen lediglich einen Brief hinterlassen, in dem er für sein Verschwinden um Verzeihung bat und seine heiße Dankbarkeit für dessen Güte aussprach. Er habe Nachricht erhalten, daß seine alte Mutter schwer erkrankt sei; es sei seine Sohnespflicht, sofort zu ihr ins Friaulische zu fahren.

Daß das lediglich eine Phrase für einen schönen Abgang war, war dem Grafen vollständig klar; Biondello war in den prinzlichen Haushalt als eine bezahlte Kreatur eingeschmuggelt worden, die ihre Rolle nur allzu gut gespielt hatte.

Der Bericht des Baron Freihardt über die Ereignisse der letzten Monate war in den meisten Punkten einfach und aufklärend genug; trotzdem enthielt er hie und da unerklärliche Lücken und Widersprüche, über die der Baron seinem Freunde vorerst keine Rechenschaft geben konnte. In der ersten Unterredung der beiden, die an dem Krankenbette des von einem heftigen Wundfieber befallenen Barons stattfand, versuchte dieser nur in rohen Zügen die Ereignisse des letzten Herbstes wiederzugeben.

Danach wuchs die Leidenschaft des Prinzen zu der jungen Dame von Murano mit jedem einzelnen Tage. Prinz Alexander schien alles andere vergessen zu haben, interessierte sich für nichts mehr und lebte nur in dem Gedanken an die langen Stunden, die er mit der Geliebten lustwandelnd in dem Garten auf der Insel verbrachte. Diese Gleichgültigkeit für alle andern Menschen ging so weit, daß er nicht nur durchaus notwendige Fragen des Barons nicht beantwortete, sondern auch wenn der Marchese Civitella mit ihm sprach, kaum mehr hinhörte. Der Marchese ertrug diese beleidigende Gleichgültigkeit des Prinzen wochenlang mit äußerster Geduld und verlor diese erst, als ihm durch Biondello einige Male an der Tür gesagt worden war, daß der Prinz nicht für ihn zu sprechen wäre. Zunächst nahm er das gutmütig auf, dann aber riß ihn einmal sein Temperament so sehr mit sich fort, daß er an der Tür einen Skandal verursachte, auf die Mohren des Prinzen mit dem Degen einhieb und nur mit äußerster Mühe von dem herbeieilenden Baron v. Freihardt zu beruhigen war. Der faßte ihn schließlich unter den Arm, brachte ihn in seine Gondel und fuhr mit dem aufs tiefste beleidigten Marchese nach Hause. Während der ganzen Fahrt sprach der Marchese kein Wort, hatte aber bei seinem Palazzo die Ruhe bereits so sehr wiedergefunden, daß er den Baron einlud, bei ihm einzutreten und mit ihm zu Abend zu speisen. Der Baron nahm diese Einladung um so lieber an, als sie ihm reichlich Gelegenheit gab, das Benehmen des Prinzen Alexander nach Möglichkeit zu entschuldigen. Er erzählte dem Marchese wie sehr sie selbst, er und der Junker von Zedtwitz unter der verliebten Besessenheit des Prinzen zu leiden hätten, wie es schiene, als ob für seinen Herrn nur noch ein Ding in der Welt existiere: eben der Garten von Murano. Als ob alles andere ihn weder eines Wortes noch eines Blickes wert sei. Er berichtete ihm, der Wahrheit gemäß, daß das Geld, das der Marchese vorgestreckt hatte, völlig aufgebraucht wäre, daß der Prinz es hartnäckig verschmähe, an seinen Hof zu schreiben, und auf jede Frage, über was es auch sei, einfach nicht hören wolle.

Der Marchese ließ sich rasch überzeugen. Er ging dann schweigend eine Zeitlang im Zimmer umher, endlich trat er zu seinem Schrank, öffnete ihn und nahm eine Schatulle heraus. Er schloß sie auf, suchte zwischen einer Anzahl von Papieren und griff schließlich einen Zettel, den er hochhielt.

»Sie erinnern sich, Baron«, sagte er, »meines Abenteuers, das ich selbst in Murano hatte. Hier ist die Kopie des Briefes an die Unbekannte und darunter die Dechiffrierung. Es ist keine Frage, daß diese Dame keine andere ist als die Angebetete des Prinzen. Aus dem Briefe aber geht eines mit Sicherheit hervor: daß er nicht der einzige Cicisbeo ist. Ich weiß nicht, ob Sie den kurzen Brief nach meiner Erzählung im Gedächtnis behalten haben – bitte lesen Sie also!«

Der Baron nahm das Blatt und las: »Entscheiden Sie selber! – Zwei Wege sind offen – wählen Sie, welchen Sie gehn wollen. Als ich Sie herbrachte, tat ich es nicht, um einen Liebesfrühling zu träumen. Entweder Sie tun, was ich Ihnen sagte: helfen mir, mein Spiel zu spielen. Oder aber Sie weigern sich. Dann mögen Sie zurückkehren, wann Sie wollen, die nötigen Summen stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung. In diesem Falle aber werden Sie mich nicht wieder sehn.« E.

Civitella nahm das Blatt zurück und verschloß es sorgfältig in seine Schatulle. »Wer immer dieser »E« sein mag«, sagte er, »ob er Ihr geheimnisvoller Armenier ist oder nicht – das eine ist gewiß, daß er in sehr naher Beziehung zu der Dame von Murano steht. Und glauben Sie mir, Baron, ich werde die Natur dieser Beziehungen herausfinden!«

*

Der Marchese machte sich noch am selben Tage an die Arbeit. Leider aber fand man ihn schneller aus, als er etwas herausfand: schon nach einer Woche machte Biondello seinem Herrn die Mitteilung, daß er sowohl wie die Dame von Murano von Kreaturen beobachtet würde, die im Dienste des Marcheses von Civitella ständen. Der Prinz, ohnehin gedrückt durch seine Schuld an dem Marchese, war über dieses Vorgehen aufs äußerste entrüstet. Die ehrlichen Einwände Freihardts, daß die Absichten des Marchese gewiß nur lautere seien, wollte er nicht hören. Er nahm am selben Tage bei einem der bekanntesten Wucherer der Stadt eine sehr hohe Summe auf und bezahlte seine Schuld dem Marchese – dann gab er Befehl, diesen nicht mehr vorzulassen.

Um so hartnäckiger setzte Civitella seine Bemühungen fort; es war ihm nun zur Ehrensache geworden, dem Prinzen Alexander zu beweisen, daß er in die Hände von Schwindlern gefallen sei. Er machte in der nächsten Zeit einige Feststellungen, von denen er dem Baron Freihardt sofort vertrauliche Mitteilung gab.

Die von ihm, beziehungsweise seinen Leuten, ermittelten Tatsachen waren folgende:

Zunächst war das Madonnenbild des florentinischen Malers, das dem Prinzen zum Kauf angeboten wurden, nichts anderes als ein sehr wohlgelungenes Bildnis der Dame von Murano – auf der Terrasse ihres Gartens gemalt. Der Maler erklärte, daß sein Auftraggeber ein Fremder gewesen sei, der russische Uniform getragen habe – nach seiner Beschreibung konnte es sich um niemand anders als eben den »Armenier« handeln. Als er das Bild vollendet hatte, habe dieser Herr allerlei daran auszusetzen gehabt, habe ihm den Vorschlag gemacht, es irgendeinem Kunstverständigen zu zeigen, dessen Urteil er sich unterwerfen wollte. Der Maler, sicher seiner Kunst, ging lächelnd auf diesen Vorschlag ein. Darauf habe ihn der Russe zu dem Prinzen geschickt, ihn aber gebeten, noch einige andere Bilder mitzunehmen und sie alle ihm zum Kaufe anzubieten – auf diese Weise würde man am ehesten ein völlig unbefangenes Urteil erhalten. – Das Bild machte dann auf den Prinzen einen sehr starken Eindruck – es hatte, erklärte der Marchese, weiter keinen Zweck, als den Prinzen auf das Original vorzubereiten.

Die nächste Nachricht, die der Marchese seinem Freunde brachte, war die, daß seine Aufpasser die Begleiterin der Dame verfolgt hätten, als sie während eines Besuches des Prinzen das Haus verließ. Sie war tief verschleiert zu einer übelbeleumdeten Schenke gegangen, habe dort einen Mann in spanischer Tracht getroffen, der zweifellos eben wieder der »Armenier« gewesen sei. Der Armenier habe mit ihr in einer Sprache gesprochen, die den Spähern unbekannt gewesen sei. Dann habe er ihr einen Brief gegeben, mit dem sie, auf allerlei Umwegen, wieder zurückgekehrt sei.

Die dritte unzweifelhafte Feststellung Civitellas war die, daß Biondello eine bezahlte Kreatur war, bezahlt wieder von dem geheimnisvollen Armenier. Jedes einzelne der Vorkommnisse, die ihm das vollständige Vertrauen des Prinzen gewannen, war nichts anderes als ein abgekartetes Spiel. Die eigentümliche Erbschaftsgeschichte des Prokurators, in der Biondello eine so edle uneigennützige Rolle spielte, war dem Prinzen von ein paar Gaunern vorgetäuscht worden, wie man sie in Venedig für wenige Goldstücke zu Dutzenden finden konnte. Dieser Prokurator, der frühere Herr Biondellos, existierte ebensowenig wie seine Erben. Noch auch existierten die Advokaten, die die Ehrlichkeit Biondellos in dem öffentlichen Hause in St. Giorgio Maggiore auf die Probe stellen wollten. Diese ganze Erzählung war von dem abgefeimten Burschen nur erfunden worden, um sich noch mehr das völlige Vertrauen des Prinzen zu erwerben. Ferner hatten die Späher des Marchese Biondello zweimal beobachtet, wie er eine kleine Schatulle auf der Straße, unweit der Wohnung des Prinzen, einem Gondoliere übergeben hatte; sie waren diesem Gondoliere unauffällig gefolgt und hatten festgestellt, daß er seinerseits die Schatulle einige Straßen weiter einer Persönlichkeit übergab, die wieder dem »Armenier« in allen Einzelheiten entsprach. Der Marchese vermutete, daß diese Schatulle nicht nur Nachrichten Biondellos enthalten habe, sondern auch neben andern Briefe des Barons an seinen Freund, den Grafen von Osten.

War Civitella soweit in seinen Nachforschungen vom Glück begünstigt, so erlebte er nun plötzlich einen kräftigen Gegenschlag. Er hatte dreien seiner besten Leute den Auftrag gegeben, die Persönlichkeit des »Armeniers«, den sie nun schon zu den verschiedenen Malen gesehen hatten, endlich einwandfrei festzustellen. Eines Abends kamen diese drei Männer, verwegene Kerle, die so leicht vor nichts zurückschreckten, in den Palazzo des Marchese und begehrten diesen zu sprechen. Sie zitterten, waren bleicher wie Leintücher, konnten kaum Worte finden, sich zu erklären. Endlich stammelte einer von Ihnen, daß sie den »Armenier« gesehen und gesprochen hätten. Sie müßten sofort nicht nur den Dienst des Marchese verlassen, sondern auch die Stadt – wenn sie hoffen wollten, den nächsten Morgen noch zu erleben. Der Marchese sprach ihnen Mut zu, bot ihnen immer höhere Summen – umsonst, es war keine Silbe aus ihnen herauszubringen. Civitella drohte ihnen mit der Inquisition – mit nicht mehr Erfolg –, die Furcht vor dem, was sie erlebt hatten, überwog ihre Scheu vor dem geheimen Tribunal. Sie gingen – und wurden nicht mehr in Venedig gesehen.

Um diese Zeit erkrankte Veronika – so nannte der Prinz seine Angebetete. Trotz der eifrigsten Bemühungen hatte der Marchese über ihre Person herzlich wenig in Erfahrung bringen können. Ihren Vornamen und die Tatsache, daß sie eine Deutsche war, hatte der Prinz selbst bereits vor längerer Zeit dem Baron mitgeteilt. Dessen Annahme, daß Prinz Alexander in ihr Geheimnis eingeweiht war, schien jedoch eine irrige zu sein – die schöne Frau hatte ihm, wie er gelegentlich äußerte, keine näheren Angaben gemacht, ihm vielmehr das Versprechen abgenommen, sie weder danach zu fragen, noch auch seinerseits Nachforschungen anstellen zu lassen.

Während der Krankheit Veronikas überstürzten sich die Ereignisse. Der Bericht, den Baron Freihardt in seinem Krankenbette dem Grafen Osten darüber machte, war nicht allzu erschöpfend. Sehr bald schien die Krankheit der Dame einen gefährlichen Charakter anzunehmen. Während der ersten Tage freilich wußte hiervon der Prinz nichts. Er erhielt vielmehr nur Nachricht von Murano, daß Veronika ihn nicht empfangen könne, da sie unpäßlich sei. Der Prinz blieb also zu Hause, sandte aber alle paar Stunden einen Brief sowie Blumen und auserlesene Früchte der Geliebten. Am fünften Tage entschloß er sich frühmorgens, selbst hinzufahren – nachdem er in den vorhergehenden Nächten auch nicht ein Auge zugetan hatte. Von diesem Augenblicke an blieb er in Murano. Das Befinden Veronikas verschlechterte sich mit jeder Stunde, sie schien entsetzlich unter Vergiftungserscheinungen zu leiden. Der Prinz fand zwei Ärzte an ihrem Bett vor; er ließ noch drei weitere holen. Aber ihre Kunst war vergeblich. Die Kranke weigerte sich schließlich, Nahrung zu sich zu nehmen. Alles, was man ihr mit Gewalt einflößte, erbrach sie sofort. Sie lag in stundenlangen Agonien; der Prinz wich während dieser Zeit nicht von ihrem Bett. Sowohl Baron von Freihardt wie Junker von Zedtwitz waren während dieser Tage auf manche Stunden in Murano; sie gingen meist im Garten spazieren oder warteten im Vorzimmer. In der Nacht des neunten Tages verlangte die Kranke noch nach einem Priester, der ihr die Sterbesakramente reichen sollte. Ein Benediktinermönch erschien in Begleitung zweier Brüder – die Sterbende blieb während mehrerer Stunden mit ihm allein. Nach dieser Tröstung fühlte sie sich sehr erleichtert; sie schlief einige Stunden lang ruhig. Am andern Morgen stand der Prinz vor einem Sterbebette. Hatte Veronika schon während ihrer Krankheit – und vermutlich auch vorher schon – immer wieder versucht, den Prinzen zu bewegen, den Weg zur ewigen Seligkeit zu schreiten, den sie für den einzig möglichen hielt, nämlich den der katholischen Religion, so zeigte sie in der letzten Stunde eine wahrhaft aufopfernde Beredsamkeit. Ihre rührende Liebe zerschnitt des Prinzen Herz, dennoch blieb er standhaft. Immer versuchte er sie von diesem Gebiet abzubringen, aber Veronika hatte nur noch diesen einzigen Gedanken. Ihre Tränen näßten die Kissen, man sah, wie sie unter der Weigerung des Prinzen litt. Bei einem letzten »Nein« des Prinzen stieß sie einen kurzen, verzweifelten Seufzer aus, wandte sich um und vergrub den Kopf in die Kissen. Eine Weile standen der Prinz, der Baron und die übrigen abwartend da; dann beugte sich einer der Ärzte lange über sie.

»Sie ist tot!« flüsterte er. Dabei warf er ihr ein Tuch über den Kopf.

Dieses Wort griff die völlig zerrütteten Nerven des Prinzen so stark an, und so plötzlich, daß er zusammenbrach. Den Bewußtlosen trugen Freihardt und Zedtwitz aus dem Zimmer.

Die Ohnmacht des Prinzen dauerte manche Stunde an, während deren er gelegentlich wieder zu sich kam, aber nur, um nach wenigen Minuten wieder bewußtlos zu werden. Erst gegen Abend gelang es den Bemühungen der Ärzte, ihn wieder einigermaßen aufzurichten. Seine erste Frage war nach Veronika; man sagte ihm, daß die Ärzte beschlossen hätten, die Leiche zu obduzieren, um die Ursache ihres Todes festzustellen. Trotz aller Einwände erklärte der Prinz seinen festen Entschluß, bei der Leichenöffnung zugegen zu sein. In diesem Augenblick trat ein Bote ein, der dem Prinzen seine deutsche Post überbrachte. Prinz Alexander griff danach; dann ließ er, von einer bangen Hoffnung befallen, die Hand wieder sinken. Endlich entschloß er sich doch. Gleich der erste Brief, den er öffnete, war der seiner Schwester Henriette, die ihn einen Unwürdigen nannte und ihm jede Hilfe und alle Wohltaten für immer versagte. Der Prinz starrte mit weit offenen Augen auf diesen Brief – mißtraute seinem eigenen Blick, gab das Schreiben dem Baron und bat ihn, laut vorzulesen.

Baron Freihardt las:

»Die alleinseligmachende Kirche, die an dem Prinzen Alexander eine so glänzende Eroberung gemacht hat –«

Der Prinz griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Halt, halt!« rief er. »Sie waren dabei, Freihardt, als die heilige Frau drinnen starb! Sie auch Zedtwitz! – Sie bat mich, sie beschwor mich, bei meiner Liebe, meinem Glauben abzuschwören, katholisch zu werden – was antwortete ich?«

»Gnädigster Herr«, erwiderte der Baron, »Sie antworteten ein über das andere Mal, daß Sie das niemals tun könnten! Sie sagten der Sterbenden –«

»Vielleicht irren Sie, Baron – wie ich selbst irre! – Zedtwitz – wie war es?«

»Sie sagten: »Nein! Nein! und immer wieder: Nein!« gnädigster Prinz!« rief Zedtwitz.

Der Prinz lachte gell auf: »Ihr seid von Sinnen, alle beide – wie ich es bin! Hier steht es – hier – – daß ich abtrünnig wurde!« Er riß den Brief dem Baron aus der Hand, zerknüllte ihn in der Hand und warf ihn zu Boden. Dann griff er mit beiden Händen ans Herz, wie von einem plötzlichen, heftigen Schmerze erfaßt, schrie auf und sank aufs neue in tiefe Ohnmacht.

Da die Ärzte darauf bestanden, daß die Leichenöffnung noch am selben Tage vorgenommen wurde, so entschloß sich Baron Freihardt, die Stelle des Prinzen zu vertreten; er ging also mit den Ärzten in die offene Halle, in deren Mitte auf einem großen Tische die Leiche lag. Da es sich nur um eine Erkrankung der inneren Organe handeln konnte, so sahen die Ärzte von einer Öffnung des Kopfes ab und beschränkten sich auf den Leib und auf die Brust; der Baron fand also das Gesicht der Toten mit einem schweren Tuch bedeckt. Er stand abseits, während die Ärzte arbeiteten; sie kamen zu keinem schlüssigen Entscheid. Irgendeine organischen Krankheit sei nicht festzustellen, erklärten sie, auch sei die eigentliche Todesursache nicht mit Bestimmtheit zu ermitteln. Vermutlich liege eine Vergiftung vor. Aber während zwei der Ärzte auf eine Austern Vergiftung rieten, wies der dritte diesen Gedanken mit Entschiedenheit ab, ohne jedoch seinerseits eine andere Erklärung geben zu können.

Die Leiche selbst wurde noch in derselben Nacht, gleich nach der Autopsie, nach der nahegelegenen Insel St. Michele, dem Begräbnisplatz Venedigs, gebracht und dort in früher Morgenstunde in aller Stille beerdigt. Alle diese schnellen Vorbereitungen hatte Biondello getroffen; der Baron, der vollauf mit dem Prinzen zu tun hatte, hatte sich nicht darum bekümmern können.

Die Ohnmacht des Prinzen war während der Nacht einem tiefen Schlafe gewichen – die Natur forderte eben ihr Recht. Bis weit in den Mittag schlief Prinz Alexander. Als er aufwachte, machte ihm der Baron Mitteilung von der Leichenöffnung und von dem Begräbnis. Sofort befahl der Prinz eine Gondel und ließ sich in Begleitung von Freihardt und Zedtwitz übersetzen. Er ließ sich das frische Grab zeigen und gab dem alten Friedhofsgärtner seine Befehle für dessen Ausschmückung.

Nur auf die inständigen Bitten seiner Begleitung hin ließ sich endlich der Prinz überreden, nach Hause zurückzukehren. Er war kaum aus seiner Gondel ausgestiegen, hatte eben die ersten Stufen seines Palazzo erklommen, als die Prunkgondel des Marchese vor den Lagunenpfählen anlegte. Civitella sprang eilends auf die Marmorstufen, lief dem Prinzen nach. »Prinz Alexander«, rief er, »Sie sind in den Händen einer Schwindlerbande! Ihr Armenier, Ihre Dulcinea von Murano –«

Der Prinz fuhr auf – beherrschte sich aber im selben Augenblicke. Er wandte sich an den Baron und sagte kühl: »Sagen Sie dem Marquis, wo diese Dame ist, die er meine Dulcinea zu nennen beliebt!«

Baron Freihardt sagte: »Signora Veronika starb gestern morgen in Murano vor unsern Augen. Sie wurde am Abende obduziert und heute früh auf St. Michele beerdigt. Jetzt, Marchese – ist sie im Himmel!«

Der Marchese war für einen Augenblick sprachlos; der Prinz wandte sich zum Gehn. Civitella rief ihm zu: »Ihr Wort, Prinz, und das dieses Herrn in allen Ehren! Aber ich kann nicht streiten über Dinge, die meine eigenen Augen sahen. Wer immer in Murano starb und in St. Michele beerdigt wurde, weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß die Dame Ihres Herzens, die Sie Veronika nennen, vor einigen Stunden mit ihrer Duenna abreiste von Murano. Sie ließen sich nach dem Stadtteil Madonna del Orto mit vielem Gepäck übersetzen. Meine Agenten benachrichtigten mich hiervon; ich beeilte mich und kam gerade zur Zeit, um zu sehn, wie die beiden Damen das nach Fusima fahrende Schiff bestiegen. Sie werden von dort mit der Post nach Padua weiterfahren! Ich erkannte alle zwei Frauen recht gut – und bei der Madonna, Prinz, es ist kein Irrtum möglich!«

Der Prinz wandte sich wieder an die Herren seines Gefolges: »Sagen Sie mir, Zedtwitz, ist dieser Mensch ein abgefeimter Lügner oder ein wahnsinniger Narr?«

»Keines von beiden!« schrie der Marchese, der sich mit äußerster Willensstärke beherrschte, »aber Ihre Liebste, Prinz, ist eine elende Betrügerin!«

Im Augenblick zog Prinz Alexander seinen Degen; der Marchese tat das gleiche. Baron Freihardt stürzte sich zwischen die beiden rasenden Menschen, mit seinem Leibe fing er den ersten Stich des Marchese auf, der ihn in die Schulter traf. Gleich darauf traf ein Stich des Prinzen Civitellas Brust. Das Gefolge stürzte sich dazwischen, man trug den schwerverwundeten Marchese in seine Gondel; der Prinz führte selber den stark blutenden Freihardt die Treppen hinauf.

Noch in derselben Nacht klopfte ein Gondoliere immer lauter an das große bronzene Tor. Als ihm endlich geöffnet wurden, verlangte der den Prinzen zu sprechen und übergab diesem ein unterschriftloses Schreiben folgenden Inhalts:

»Kardinal Agliardi weiß alles. Die Wunde seines Neffen soll tödlich sein – er hat geschworen, ihn zu rächen. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, eilen Sie in das Kloster der Carità. Dort finden Sie sicheres Asyl.«

Der Prinz zeigte dieses Schreiben dem Baron, dessen Wunde, nachdem der erste Blutverlust gestillt und ein regelrechter Verband angelegt war, sich als durchaus harmloser Natur herausgestellt hatte. Er selbst hatte wenig Lust, diese anonyme Einladung anzunehmen, zeigte sich völlig gleichgültig gegen jede drohende Gefahr, gab aber schließlich den Bitten seiner Umgebung nach. Er bestand darauf, daß der Baron und der Junker ihn begleiteten. Da das Kloster St. Maria della Carità westlich des großen Kanals lag, beschloß man, um die Fahrt durch die vielen kleinen Kanäle, in denen ein Entkommen bei einem möglichen Angriff sehr schwer war, zu vermeiden, weit aus der Stadt hinauszufahren und außerhalb entlang der Fondamente Nuove herumzufahren, dann in den Canareggio einzubiegen.

So ging die Fahrt an St. Michele vorbei. Als der Prinz der Gräberinsel ansichtig wurde, befahl er, dorthin zu lenken. Er sprang an Land, bat aber den Baron, mit Zedtwitz weiterzufahren nach Murano. Er überreichte ihm die Schlüssel zum Garten und zum Hause und gab ihm den Auftrag, unter allen Umständen, selbst unter Anwendung von Gewalt, die Duenna der Verstorbenen herzubringen. Freihardt verstand die Absicht des Prinzen sofort: Diesem ließen die erstaunlichen Behauptungen Civitellas keine Ruhe, er wollte sich nun selbst von deren Nichtigkeit überzeugen. Der Baron fuhr also mit der Gondel nach Murano und drang, begleitet von zweien der prinzlichen Mohren, erst in den Garten, dann in das Haus. Man fand mit Ausnahme eines taubstummen alten Gärtners auch nicht einen der Dienerschaft vor; man durchsuchte jedes einzelne Zimmer, mußte aber feststellen, daß die alte Begleiterin verschwunden war.

Inzwischen war der Prinz zum Tore der hochgemauerten Gräberstadt gegangen. Nach sehr langem Klopfen öffnete ihm ein verschlafener Wächter, dessen Unmut er mit einigen Goldstücken rasch besänftigte. Er nahm ihn zu dem frischen Grabe mit und befahl ihm, den Sarg auszugraben, während der Prinz selbst die brennende Fackel hielt. Da der Prinz keine andere Hilfe wollte, so ging die Arbeit ziemlich langsam vonstatten; der Wächter hatte eben erst den Sarg freigelegt, als Baron Freihardt mit seinen Leuten anlangte. Man öffnete mit einiger Mühe den Sargdeckel, sah eine in weiße Tücher eng eingewickelte Gestalt. Der Prinz war so ergriffen, daß ihm die Fackel aus der Hand fiel. Dennoch befahl er Zedtwitz, die Tücher wegzunehmen. Man sah zunächst den aufgeschnittenen Leib, dann die Brust der Toten, ein Anblick, der den Prinzen Alexander aufs tiefste erschütterte. Seine Knie wankten, er drohte umzusinken, von seiner Stirne brachen helle Schweißtropfen. Der Kopf der Toten war mit einem besonders großen Seidentuche bedeckt und mehrmals umwickelt, es dauerte ein wenig, bis der Junker dieses lösen konnte. Der Prinz krampfte seine Finger in den Arm des neben ihm stehenden Barons, starrte hinab –

Endlich riß Zedtwitz das Tuch auf, man sah das bleiche Gesicht der Toten –

Es war nicht Veronika.

Der Prinz wankte, nicht mehr Herr seiner selbst. Seine Herren brachten ihn zurück in die Gondel, langsam fuhr man um die Mauern Venedigs.

Im Kloster schien man die Gesellschaft zu erwarten. Man schickte das Gefolge zurück, während man den Prinzen und den Baron in einen mäßig großen Raum führte, der ein paar harte Lagerstätten enthielt. Man brachte ihnen einen Schlummertrank, den sie beide gierig leerten; dann ließ man sie allein. Der Prinz, aufs äußerste erschöpft, sank sofort in tiefen Schlaf, während Freihardt zunächst sein Schreibzeug herausnahm, um einen Brief an den Grafen Osten zu schreiben, der diesen nach Venedig rief.

Die Wunde des Baron Freihardt schien im Anfang normal zu heilen, dann aber stellte sich ein heftiges Wundfieber ein, das ihn noch ans Bett fesselte, als Graf Osten in Venedig eintraf. Über die weiteren Ereignisse also, die während des Aufenthaltes der beiden im Kloster St. Maria della Carità stattfanden, vermochte Graf Osten wenig genug zu erfahren.

Was er von dem jungen Kammerjunker von Zedtwitz erfuhr war folgendes:

Es war abgemacht worden, daß Zedtwitz am andern Mittag wieder zum Kloster kommen sollte. Er traf den Prinzen – wie übrigens auch den Baron – in tiefem Schlafe an, der bei beiden bis in den nächsten Tag hinein dauerte. Augenscheinlich hatte man dem Schlummertrank ein schweres Schlafmittel beigemischt. Als Prinz Alexander endlich erwachte, war sein erstes, den Junker zu dem Palaste des Kardinals zu senden, um sich nach dem Befinden des Marchese zu erkundigen; man erfuhr, daß dessen Wunde gefährlich, aber keineswegs tödlich sei. Wenige Tage darauf schrieb Prinz Alexander persönlich einen langen Brief an Civitella, in dem er ihm von seinem nächtlichen Besuche auf der Gräberinsel Mitteilung machte. Er fügte hinzu, daß er seine Tat aufs tiefste bedaure, jedoch überzeugt sei, daß der Marchese unter gegebenen Umständen genau so gehandelt haben würde. Den Degenstich könne er leider nicht ungeschehen machen, er stelle sich aber ihm völlig zur Verfügung und sei bereit, ihm in jeder Beziehung, wie immer der Marchese das verlange, Genugtuung zu geben.

Die Antwort war ein überaus herzliches Schreiben des Marchese. Er werde, schrieb er, nie vergessen, daß der Prinz ihm das Leben gerettet habe. Was er getan, habe er nur in reinstem Interesse für seinen Lebensretter getan, und er sei dankbar, daß das Schicksal ihm Gelegenheit gegeben habe, seine unerschütterliche Anhänglichkeit mit seinem Blute zu beweisen. Er hoffe, bald wieder so weit hergestellt zu sein, um dem Prinzen von Nutzen sein zu können. Wenn er eine Bitte aussprechen dürfe, so sei es die, daß Prinz Alexander ihm den Degen, mit dem er ihn verwundete, zum Andenken schenken möge.

Es war natürlich, daß diese Haltung des Marchese sowie dessen augenscheinliche Besserung die Versöhnung des Kardinals zur unmittelbaren Folge hatte. Infolgedessen war das Asyl des Klosters nicht mehr notwendig; dennoch verblieb der Prinz noch einige Zeit in seinen Mauern. –

Der Grund war zum Teil gewiß der, in der Nähe des Barons zu sein, dessen Zustand wenigstens eine Zeitlang einen gefährlichen Charakter anzunehmen drohte. Dann aber war es auch der Einfluß eines Besuches, den der Prinz während dieser Zeit erhielt.

Prinz Alexander fand nämlich, als er eines Morgens aufwachte, in seiner Hand ein Billet, das die Worte enthielt: »Der Schreiber dieser Zeilen möchte Sie heute nachmittag gegen drei Uhr im Klostergarten sprechen.«

Wie dieses Billet dorthin gekommen war, war nicht zu ermitteln; die dienenden Brüder schworen darauf, daß sie keinen Menschen weder ein- noch ausgehen gesehen hätten. Die Schriftzüge waren dieselben wie die des Briefes, der dem Prinzen das Kloster als Asyl angeboten hatte.

Diese Unterhaltung im Klostergarten war eine recht lange. Als der Prinz an das Krankenbett des Barons zurückkehrte, schien er sehr nachdenklich. Die erste Frage Freihardts, wer der Unbekannte gewesen sei, beantwortete er sofort: Es sei der »Armenier« gewesen, diesmal freilich in der Tracht eines holländischen Kaufmanns. Auf alle anderen Fragen aber hatte er nur ein Kopfschütteln zur Antwort. In den folgenden Tagen war er dann sehr schweigsam, sprach kaum ein Wort, saß stundenlang grübelnd auf seinem Bett.

Freilich war es gerade jetzt für den Baron, der in diesen Tagen seine schlimmste Krisis zu überwinden hatte, völlig unmöglich, auf den Gemütszustand des Prinzen einzuwirken, ja ihn auch nur einigermaßen zu beobachten. So vermochte er nicht einmal mit Gewißheit anzugeben, ob Prinz Alexander noch weitere Besuche des Armeniers erhalten habe oder nicht.

Nicht aus des Prinzen Munde, sondern aus dem eines der Mönche, erhielt Freihardt die überraschende Mitteilung, daß Prinz Alexander dem Prior gegenüber den Wunsch geäußert habe, zur katholischen Religion überzutreten – wenige Tage darauf hörte er dann seine erste Messe.

Freihardt wagte es nicht, den Prinzen nach seinen Beweggründen zu fragen; er wartete darauf, daß der Prinz von selber Gelegenheit nehmen würde, mit ihm davon zu sprechen.

Die Schulden des Prinzen wurden noch am selben Tage bezahlt, doch vermochte weder der Baron noch Civitella, der inzwischen das Krankenzimmer wieder verlassen konnte, festzustellen, von welcher Seite dies geschehen war; auch in dieser Beziehung wagte es Baron Freihardt nicht geradewegs zu fragen – eine gelegentliche Anspielung schien der Prinz nicht zu verstehn.

So standen die Angelegenheiten, als Graf Osten im Januar 1781 in Venedig eintraf. Während seines Aufenthaltes, der sich nur auf wenige Wochen erstreckte, sah er den Prinzen Alexander, der wieder in seine Wohnung zurückgekehrt war, nicht ein einziges Mal; in der Tat verließ der Prinz seine Räume nicht und empfing überhaupt niemanden. Graf Osten benutzte seine Zeit, um seine Erlebnisse oder vielmehr die des Prinzen niederzuschreiben. Er verkehrte dabei viel mit dem Baron von Freihardt, dem Junker von Zedtwitz und mit dem Marchese von Civitella, die ihm bei dieser Arbeit nach Möglichkeit behilflich waren.

Aus diesen Wochen ist eigentlich nichts Besonderes mitzuteilen. Etwa vierzehn Tage darauf tauchte plötzlich der seinerzeit verschwundene Jäger des Grafen, Wilhelm Hagemeister aus Bremen, wieder auf. Er erzählte, daß er in der Nacht, in der er vermißt wurde, von vermummten Männern aufgegriffen, gebunden und geknebelt worden sei. Man habe ihn in eine Gondel geworfen und fortgeführt. Nach langer Fahrt habe man ihn seiner Fesseln entledigt und ans Land gesetzt. Er befand sich auf einer kleinen Insel; wie er später feststellte, war es die Insel Poveglia, bei Malamocco gelegen. Er fand in seinem Rocke eine starke Rolle von Goldflorinen – von diesem Geld lebte er die ganze Zeit über. Die armen Bewohner der Insel nahmen sich seiner freundlich genug an, nur weigerten sie sich standhaft, ihn, auch gegen hohe Bezahlung, in einem Boote fortzuschaffen. Es sei das Befehl der Staatsinquisition, sagten sie, vor der sie einen heillosen Respekt zu haben schienen. Alle die Monate über lebte Hagemeister frei und doch als Gefangener auf der Insel. Endlich gelang es ihm, nach manchen vergeblichen Versuchen, da die Fischer ihre Boote sehr streng hüteten, mit einem Ragusaner Trabakel das ein Zufall nach Proveglia geführt hatte, zunächst nach Chioggia und von dort nach Venedig zu kommen. Dem Baron fiel ein, daß nach dem Verschwinden Hagemeisters seine Kameraden erzählt hatten, daß er sehr schwermütig gewesen sei und oft das Minoritenkloster der Giudecca aufgesucht habe. Der Jäger gab das lachend zu. Schwermütig sei er allerdings gewesen – er habe sich nämlich sterblich in ein Mädel verliebt, das seinem stürmischen Liebeswerben nur ein nichtsnutziges Lachen entgegengesetzt habe. Das Minoritenkloster habe er auch aufgesucht – aber nur die Klosterkirche, eben zu dem Zwecke, seine Angebetete zu sehen, die dort täglich zu beten pflegte.

Graf Osten nahm den biedern Bremer sogleich in seine Dienste. Civitella, dessen spürenden Eifer der prinzliche Degenstich wenig abgekühlt hatte, begann auch hier sofort seine Nachforschungen. Durch seinen Onkel, den Kardinal, hatte er ausgezeichnete Beziehungen zur Staatsinquisition; es gelang ihm leicht, festzustellen, daß nie ein solcher Befehl an die Fischer von Poveglia gegeben worden war. Bei dieser Gelegenheit zog dann Civitella auch genaue Erkundigungen über die andern Fälle ein, bei denen der Prinz mit dieser Einrichtung der venetianischen Republik zu tun hatte. In der Tat hatte die Inquisition in einem Falle eingegriffen: Es hatte sich da um einen übelbeleumdeten Menschen gehandelt, von dem man bestimmt wußte, daß er der bezahlte Spion einer Venedig feindlichen Macht war. Sein Tod war eine beim Obersten Rat der Republik längst beschlossene Sache, doch wartete man, aus diplomatischen Gründen, auf eine passende Gelegenheit. Diese willkommene Gelegenheit bot sich, als der Spion in dem Spielklub den Prinzen öffentlich beleidigte, dann aber, nachdem der Prinz ihn niedergeschlagen hatte, Mörder dang, um sich seiner zu entledigen. Dagegen war in dem andern Falle, als es sich um Verhaftung des Sizilianers Cagliostro handelte, die Behörde nur zum Teile beteiligt. In der Tat waren die Häscher, die Cagliostro und seine Helfershelfer verhafteten und einsperrten, Beamte der Republik – der Unbekannte aber, der sie hierzu veranlaßte und der sich ihnen gegenüber als ein hoher Beamter der Staatsinquisition ausgab – keineswegs ein solcher. Dies wurde freilich erst nach einigen Tagen aufgedeckt; man entließ dann die Gefangenen sofort aus dem Gefängnis.

Es lag auf der Hand, daß Graf Osten und Baron Freihardt, denen der Marchese von seinen ehrlichen Erkundigungen Mitteilung machte, auch in diesem Falle wieder auf das geheimnisvolle Eingreifen des Armeniers schlossen. Man einigte sich dahin, daß Freihardt, der der einzige war, den Prinz Alexander gelegentlich kurze Zeit bei sich duldete, dem Prinzen hiervon sowie von den andern Ermittlungen Civitellas Mitteilung machen sollte. Das geschah am nächsten Tage schon.

Prinz Alexander bat den Baron zu sich und trug ihm auf, den Haushalt aufzulösen, da er in der nächsten Zeit nach Deutschland zurückzukehren beabsichtigte. Er zeigte ihm einen Brief, ohne Unterschrift –, worin ihm der Tod seines alten kranken Oheims, des Bruders des regierenden Herzogs, gemeldet wurde.

»Einen Schritt näher zum Throne!« sagte der Prinz nachdenklich.

Baron Freihardt bat nun um die Erlaubnis, offen sprechen zu dürfen. Der Prinz nickte und Freihardt begann mit ihm das Ergebnis all der Nachforschungen des Marchese mitzuteilen. Prinz Alexander hörte ihm eine Zeitlang schweigend, aber lächelnd zu, dann unterbrach er ihn. »Ich glaube, lieber Freihardt«, sagte er, »daß Sie sich Ihre Auslassungen sparen können. Sie können mir kaum etwas mitteilen, das mir nicht bekannt wäre. Der Marchese hatte recht, ich weiß das: Ich habe all diese Zeit über in einem Gaukelspiel gelebt. Ich meine aber, Baron, daß ich noch ein gut Teil mehr weiß als Sie, daß ich zum Teil wenigstens die Beweggründe des Menschen kenne, der all diese Puppen tanzen ließ. Mein Jäger wurde entfernt, um Biondello bei mir einzuschmuggeln, der mich dann mit Haut und Haaren verkaufte. Ich weiß, wer das anstellte – und Sie ahnen es wenigstens. Ich weiß auch, daß ein Gaukelspiel mit mir getrieben wurde in Murano, weiß, daß Veronika noch heute lebt und daß Sie, wie ich, sich völlig blenden ließen. Baron, all dies wie auch das Abenteuer an der Brenta, bei dem uns der Palermitaner Cagliostro seine Geisterkomödie vorführte, wurde nur in Szene gesetzt, um mich auf eine ganz bestimmte Linie zu führen. Sie wissen, lieber Freihardt, daß meine Vernunft mich in diesem Falle ebenso bewahrte, wie es meine Empfindung in Murano tat. Mein Geist kapitulierte so wenig von der erstaunlichen Geistergeschichte in jenem Landhause und vor der gewiß geschickten Erzählung Cagliostros, wie er es an dem – wie soll ich sagen? – Sterbebette Veronikas tat. Sie standen ja dabei, Baron, wie ich den glühenden Bitten der geliebten Frau – die ich für ihre letzten hielt – dennoch ein standhaftes »Nein« entgegensetzte. Ich will Ihnen das alles nicht in allen Einzelheiten auseinandersetzen – manches ist auch heute noch mir selbst unerklärlich genug. Aber soviel muß ich Ihnen sagen, Freihardt: Was der Angriff auf meine Vernunft, was der Angriff auf mein Gefühl nicht vermochte, was weder einer phantastischen Mystik noch auch einer romantischen Liebe gelang – das gelang einem andern: der Wahrheit! Erinnern Sie den Besuch, den ich im Kloster der Carità erhielt? Der Mann, der mich dort aufsuchte, war die Kraft, die hinter all diesem Himmel- und Höllenspuk stand. Er kam zu mir, um mir zu sagen, daß er bislang sein Spiel verloren habe. Aber gerade darum, weil ich da zu widerstehn vermochte, wo so mancher andere hoffnungslos besiegt worden wäre, gerade darum glaubte er an mich. Und er sei hergekommen, um einen letzten Angriff auf mich zu machen – mit einer frischen Waffe: der Waffe der Wahrheit. Alles das, was Sie mir heute erklären wollen, Freihardt, sagte er mir – und manches mehr. Er setzte mir auseinander, das alles dies geschehen sei, um mich als ein willenloses Werkzeug in seine Hände zu bekommen – das sei unmöglich gewesen. Nun verschmähe er jedes weitere Spiel – er sei gekommen, mir den Weg zu zeigen, den ich gehen müsse, zu meinem Wohle und zu dem der Menschheit! Sie wissen, Baron, daß ich in all diesen Jahren nie an den Thron dachte – nun denke ich daran! Mein Oheim starb –«

»Gnädigster Prinz«, unterbrach ihn Baron Freihardt, »Sie vergessen die Nachricht, die wir im September von unserm Hofe erhielten. Selbst nach dem Tode des Erbprinzen, nach dem Tode Ihres Oheims, sind Sie immer noch nicht der Nächste zum Throne! Das Kind des Erbprinzen –«

Das Gesicht des Prinzen Alexander wurde sehr ernst. »Ich weiß, ich weiß!« rief er. »Dieses Kind – dieser Sohn – steht zwischen mir und dem Throne! Aber glauben Sie mir, Baron – ich werde über dieses Hindernis hinwegschreiten. Der Fremde, der Unbekannte – oh, für Sie, nicht mehr für mich! – gab mir in jener Stunde im Klostergarten etwas, was ich bisher nicht kannte: ein Ziel und zu diesem Ziel einen Willen! Das Ziel ist sehr hoch – Höher als nur dieser Thron! Er ist einen hohen Einsatz wert – und ich bin bereit, ihn zu wagen. Und daß Sie es wissen, Baron, ich bin auf meinem Weg seit jener Stunde, und ich habe schon einen Teil des Einsatzes gezahlt. Zu einem »willenlosen Werkzeuge« konnte mich keine Macht der Erde machen – zu einem selbstwollenden Menschen machte mich dieser Mann in einer halben Stunde, als er mir die Wahrheit sagte! Erinnern Sie das Wort des Hugenotten Heinrich, der als vierter seines Namens sich die Krone Frankreichs aus Haupt setzte! Paris vaut bien une messe! Das erschien mir stets, wie gewiß Ihnen und jedem guten Protestanten, als der zynische, frivole Ausspruch eines gewissenlosen Abtrünnigen! Heute, Freihardt, begreife ich die ganze Größe dieses Wortes, heute fühle ich, was es bedeutet, Herr zu sein und Macht zu haben. Er – der Unbekannte – lehrte es mich! – Darum kehren wir zurück nach Deutschland – es ist ein Kampf mit allen Mitteln – aber nur so scheint mir das Leben noch lebenswert!«

Der Prinz war aufgesprungen, schritt ein paarmal durch das Zimmer. Seine Augen leuchteten. Dann blieb er vor dem Baron stehn, sagte freundlich: »Seit nahezu siebzehn Jahren sind Sie in meinen Diensten, Baron! Sie sind Protestant, sind aus strenggläubiger Familie. Ich bin ein Abtrünniger, wie Heinrich IV! Es steht Ihnen frei zu gehn; meines Dankes und meiner Hilfe können Sie jederzeit gewiß sein – und Sie kennen mich gut genug, Freihardt, um zu wissen, daß ich mein Wort halte. – Wie ist es – wollen Sie dennoch bleiben?«

Baron Freihardt versicherte dem Prinzen, daß er immer und unter allen Umständen zu ihm halten würde. Sein eigener Glaube und seine Überzeugung seien ihm heilig – aber gerade darum achte er auch jede andere Überzeugung.

Prinz Alexander lachte auf. »Überzeugung? – Was ist Überzeugung? Nur was aus uns selbst herausgewachsen ist, nur das kann heiligster Glauben und innerste Überzeugung werden. Aber lassen wir das, Baron, ich nehme Ihr Anerbieten an und behalte Sie in meinen Diensten. Doch nun lassen Sie mich erzählen, was ich über das Geheimnis meines verstorbenen Vetters, des Erbprinzen, weiß – es ist nötig, daß Sie eingeweiht sind in die Familienverhältnisse unseres Hofes.«

Das Geheimnis des Erbprinzen

»Sie erinnern sich, Baron«, fuhr Prinz Alexander fort, »der Tage in Basel vor drei Jahren, als wir zum letzten Male meinen Vetter sahen? Wir waren gerade im Begriff, abzureisen, als ein reitender Bote vor den »Drei Mohren« vorritt und mir Nachricht brachte, daß die Kutsche des Erbprinzen ihm folge und daß ich meine Abreise verschieben möchte. Mein Vetter kam in mein Schlafzimmer und sperrte die Tür hinter sich ab.

Er verlangte damals von mir Geldsummen in beträchtlicher Höhe. Er sagte mir nicht, wozu er das Geld benötige; doch zeigte sein ganzes Gebaren, daß er dringend diese Hilfe gebrauche. Ich bot ihm an, was ich hatte – aber das reichte bei weitem nicht aus. Sie kennen ja die lächerlich geringe Apanage, die mir seit vielen Jahren unser Hof sendet – meinem Vetter war diese Ziffer natürlich auch bekannt, wurde er doch selber ebenso knapp gehalten wie ich. Er war es, der mich damals darauf aufmerksam machte, daß meine Schwester Henriette als regierende Herzogin eines außerordentlich reichen Hauses ja fast unbegrenzte Mittel zur Verfügung habe. Ich schlug ihm also vor, sich an Henriette zu wenden, aber mein Vetter zuckte die Achseln. Mir würde sie gewiß geben, erklärte er, ihm keinen Pfennig. Er bat mich, es ihm zu erlassen, seine Gründe für diese Annahme zu erklären. Kurz und gut, der Erbprinz veranlaßte mich, an meine Schwester zu schreiben und um eine Unterstützung zu bitten. Ich tat das und erhielt umgehend das verlangte Geld. Nun wissen Sie auch, lieber Baron, wohin das Geld ging, das mir durch diese Jahre von meiner Schwester gesandt wurde – bis auf den letzten Gulden hat es stets der Erbprinz bekommen. Das erstemal, als ich vor zwei Monaten im eigenem Interesse Herzogin Henriette um Geldunterstützung bat – erhielt ich die bekannte schroffe Ablehnung.

Ich habe niemals gefragt, wozu mein Vetter all dieses Geld gebrauchte, es war mir, offen gestanden, auch völlig gleichgültig. Ich wußte, daß er es wirklich nötig hatte – und es war mir eine Freude, als – verstehn Sie, Baron! – als loyaler Untertan meinem zukünftigen Herrn dienlich sein zu können – ich betrachtete es als völlig selbstverständlich, meinem Vetter beizustehn ohne eine Frage zu stellen.

Erst nach seinem Tode kam das Geheimnis heraus; erst jetzt habe ich einigermaßen genaue Kenntnis darüber erhalten.

Während einer Reise in Franken vor nunmehr sechs Jahren lernte der Erbprinz auf einem Landsitz eine junge Dame kennen, in die er sich hoffnungslos verliebte. Dieses Mädchen war aus fürstlichem Hause, ihre Familie eine verarmte, aber alte und anerkannte, die zu verschiedenen Malen in regierende Häuser hineingeheiratet hatte und durchaus als ebenbürtig galt. Aber diese Familie war streng katholisch und in diesem Glauben war auch Elisabeth – dies war ihr Name – erzogen worden; mehr noch, sie hing über alles an ihrem Glauben und war außerordentlich fromm. Da andererseits unser Haus eines der strengsten und zugleich hervorragendsten protestantischen Deutschlands ist, so schien eine Ehe vollkommen ausgeschlossen. Es kam aber noch etwas andres hinzu, das die Empfindungen meines Vetters vollkommen hoffnungslos erscheinen ließ: Das junge Mädchen teilte keineswegs seine glühende Liebe. War sie ihm im Anfang harmlos und mit herzlicher Freundschaft entgegengekommen, so schwand dieses Gefühl, sobald sie die Neigung des Erbprinzen erkannte; ja, es machte bald einer ausgesprochenen Abneigung gegen ihn Platz. Je mehr mein Vetter seine Bewerbungen fortsetzte, je offenbarer seine Gefühle wurden, um so mehr entwickelte sich in Elisabeth ein Gefühl des Widerwillens, ja geradezu des Abscheus gegen diesen beharrlichen Liebhaber.

Dennoch gab der Prinz seine Hoffnungen nicht auf. Zunächst versuchte er bei seinem Vater etwas zu erreichen; aber schon leichte Anspielungen, die er gelegentlich machte, stießen auf einen solchen Widerstand bei dem alten strengen Herzog, daß er sich sehr bald bewußt wurde, daß er von dieser Seite auf keinerlei Hilfe rechnen konnte. Die einzige Folge, die diese Versuche hatten, war die, daß seine Apanage noch mehr beschnitten und daß ihm jede Reise außerhalb des Herzogtums verboten wurde.

Mein Vetter faßte nun den herzhaften Entschluß, die unglückliche Liebe aus seinem Herzen herauszureißen. Schlecht von seinen Höflingen beraten, schien ihm hierzu nichts geeigneter zu sein, als sich in ein recht wildes Leben zu stürzen, und beim Wein, beim Spiel und den Weibern sein Abenteuer zu vergessen. Schwach und kränklich von Kindesbeinen an, ohne viel Widerstandskraft, legte er hierdurch bald den Grund zu der Krankheit, die ihn so früh dahinraffen sollte. Doch schien es, als ob er in diesem heillosen Leben wenigstens den Schmerz seiner unglücklichen Liebe vergessen hätte. Da schickte ihn sein Vater zu den Vermählungsfeierlichkeiten der hessischen Herrschaften nach Darmstadt – dort traf er Fürstin Elisabeth wieder. Er sah sie – und all seine Vorsätze waren im Augenblicke vergessen. Voller Verzweiflung betrank er sich maßlos an diesem Abend – stürmte in den Tanzsaal und führte sich vor allen Leuten derartig auf, daß man ihn mit Gewalt entfernen mußte. In der nächsten Nacht bestach er einige Lakaien des Schlosses und drang, wiederum unter dem starken Einfluß von Wein, in das Schlafzimmer Elisabeths. Er machte ihr eine wilde Szene, drohte mit Selbstmord, wenn sie ihn nicht erhören wollte – kurz, er tat alles, um ihren Widerwillen zu einem ausgesprochnen Ekel zu verstärken. Schließlich schrie sie um Hilfe.

Der Skandal war ein so vollständiger und öffentlicher, daß mein Vetter sofort zurückgerufen wurde; sein Vater bestrafte ihn damit, daß er ihn auf einem kleinen Schlosse, das er nicht verlassen durfte, gefangen setzen ließ.

Und nun geschah etwas Merkwürdiges. Wenige Wochen, nachdem er dieses Schloß bezogen hatte, fand er eines Abends auf seinem Schreibtisch einen Brief, worin ihm die kurze Mitteilung gemacht wurde, daß die Fürstin Elisabeth einwillige, die Seine zu werden, wenn er sich bereit erkläre, auf die Bedingungen, die sie ihm stelle, einzugehn. Diese Bedingungen selbst waren nicht genannt; es war nur noch der Wunsch ausgesprochen, der Erbprinz solle unter diese Zeilen entweder ein »Ja« oder ein »Nein« setzen und den Brief in der rechten Schublade seines Schreibtisches verschließen. Ist es ein Wunder, daß mein Vetter, ohne einen Augenblick zu zaudern, ein großes »Ja« hinschrieb?

Bereits um diese Zeit machten sich die ersten Anzeichen der Krankheit bei ihm bemerkbar, die ihm die Liebesnächte mit einer französischen Tänzerin eingetragen hatten. Doch glaubte er mit Hilfe seines Arztes, der ihm sichere Heilung versprach, hierüber hinwegzukommen.

Als er am nächsten Tage von einem Spaziergange im Schloßgarten zurückkam und das Schubfach öffnete, fand er eine Antwort, die ihm die Bedingungen mitteilte. Es waren dies folgende:

Die Hochzeit sollte im geheimen stattfinden, und zwar nach katholischem Ritus; auch müsse er vorher einen Eid schwören, daß er ein etwaiges Kind sofort katholisch taufen lassen und im katholischen Glauben erziehen lassen wollte. Die Ehe selbst sollte bis zu dem Ableben seines Vaters streng geheim gehalten werden.

Da von ihm persönlich ein Übertritt nicht verlangt wurde, so erschienen diese Bedingungen meinem Vetter durchaus nicht so drückend. Er gab sein zweites »Ja« auf demselben kurzen Wege wie sein erstes.

Die dritte Nachricht, die der Erbprinz erhielt, war die, daß er nun sofort alle diejenigen aus seinem Gefolge und aus seiner Dienerschaft, auf die er sich nicht mit völliger Sicherheit verlassen konnte, wegschicken sollte. Sie kennen ja den Charakter meines Vetters, Baron, er war ein schwacher, aber gewiß gutherziger Mensch, der von seiner Umgebung aufrichtig geliebt wurde. Er hielt genaue Umschau; aber schließlich entließ er nur einen seiner Kavaliere, zwei Jäger und einen Lakaien, die erst kürzlich in seine Dienste getreten waren. Die Folge hat ihm recht gegeben: Nicht einer von den Leuten seiner Umgebung hat ihn verraten, sie haben alle – bis zu seinem Tode – sein Geheimnis bewahrt.

Wenige Tage drauf kam, mitten in der Nacht, die junge Fürstin an, nur begleitet von einer Zofe und ihrem Beichtvater. Dieser nahm meinem Vetter seinen Schwur ab; gleich hinterher fand die Trauung statt.«

»Das Werk der Jesuiten!« rief Baron Freihardt.

Der Prinz lächelte: »Sie irren, Baron! Die Gesellschaft Jesu hatte so wenig ihre Hand dabei im Spiel, wie Sie und ich. Die Jesuiten, glauben Sie mir, hätten ihr Spiel feiner gespielt und hätten vor allem ihren Günstling des Zwanges enthoben, betteln zu gehn; sie hätten ihm gewiß die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt. Statt dessen war ich es, der dank der offenen Hand meiner Schwester für diese Familie sorgte, freilich ohne etwas davon zu wissen. Die Untersuchung, die sofort nach dem Tode meines Vetters einsetzte, hat die ganze Geschichte restlos aufgeklärt. Es scheint, daß der Erbprinz auf dem Sterbebette seine geheime Ehe eingestand und zugleich seinen Vater bat, sich des Kindes anzunehmen. Der Herzog legte die Angelegenheit sogleich in die Hände des Staatsprokurators, der, das muß man zugeben, ganze Arbeit lieferte. Er vernahm zuerst einen nach dem anderen alle Herren des Gefolges und die gesamte Dienerschaft. Er konnte schon nach kurzer Zeit Hand auf den Beichtvater der Erbprinzessin legen – denn das war Fürstin Elisabeth nach der Trauung mit Fug und Recht. Ihr Beichtvater, der dem Orden der Prämonstratenser angehörte, wurde im Anspachischen aufgegriffen und sofort an unsern Hof gebracht. Er zeigte weder Reue noch Furcht, war vielmehr stolz darauf, etwas getan zu haben, was für seine Kirche einen Gewinn bringen konnte. Dagegen gab er die Fürstin Elisabeth völlig auf, deckte sie nirgends, ganz offenbar tief entrüstet über ihre spätere Aufführung. Seine Aussage trug den Stempel reinster Wahrheit. Danach war sie in der Tat sehr fromm erzogen worden und eine gläubige Katholikin. Ihre Eltern starben sehr früh, das Vermögen hatte ihr Vater bis zum letzten Rest aufgebraucht. So wurde das Mädchen bei einer Tante in Franken erzogen – er war ihr Beichtvater seit ihrem vierzehnten Jahre. Das liebliche Mädchen lebte dann bei Verwandten, bald auf diesem, bald auf jenem Schlosse oder Gute und war überall ein sehr gern gesehener Gast. Schon als der Erbprinz bei seinem Besuche in Franken um ihre Hand warb, hielt es der Priester für seine Pflicht, seinem Beichtkinde zu einer geheimen Ehe zuzureden; er stellte ihr vor, wie sie dadurch den Thron und damit das Land für die katholische Kirche zurückgewinnen könne. Fürstin Elisabeth aber wies damals diesen Vorschlag fast mit Entrüstung ab.

Dann kam sie, als sie von den Hochzeitsfeierlichkeiten in Darmstadt zurückkehrte, wieder zu ihm. Sie erzählte ihm genau die skandalöse Aufführung des Erbprinzen an dem dortigen Hofe; bat dann aber um Absolution für die Sünden, die sie während ihrer Abwesenheit begangen hatte, und beichtete ihm diese.

Ehe sie nach Darmstadt reiste, hatte sie mit ihrer leidenden Tante ein rheinisches Bad aufgesucht und dort die Bekanntschaft eines Abenteurers gemacht. Dieser Mann, holländischer oder flamländischer Abkunft, der sich de Hooghe nannte und augenscheinlich über sehr große Mittel verfügte, lernte sie im Hotel kennen. Unter den Augen ihrer nichtahnenden Tante verstand er es, ihr Interesse zu erwecken, und nach wenigen Tagen schon übte er einen unheimlichen Einfluß auf sie aus. Eines Abends stand er, während sie am Klavier saß und ein Lied sang, neben ihr und blätterte ihr die Noten um; bei dieser Gelegenheit verlangte er, daß sie ihm den Schlüssel ihres Zimmers geben sollte, da er sie dringend in dieser Nacht sprechen müsse. Ohne sich recht bewußt zu werden, was sie eigentlich tat, völlig unter einem Einfluß handelnd, über den sie sich keinerlei Rechenschaft geben konnte, gehorchte Elisabeth. Der Abenteurer kam dann zur Nacht in ihr Schlafzimmer – so stark war sein seltsamer Einfluß, daß sie ihm weder mit Worten noch mit Handlungen auch nur den geringsten Widerstand entgegenzusetzen imstande war.

Sie wurde seine Geliebte – glücklich, jeden seiner Wünsche erfüllen zu dürfen. Fragte nichts, verlangte nichts, gab sich völlig dem berauschenden Taumel hin. Diese ganze Schwärmerei dauerte etwa sechs Tage. Als er in der letzten Nacht sich verabschiedete, erklärte er ihr, daß er am nächsten Tage abreisen würde. Plötzlich kam ihr alles, was sie getan, zum Bewußtsein; sie warf sich ihm zu Füßen und beschwor ihn unter Tränen, sie zu seiner Frau zu machen. Sie sagte, daß sie auf Rang und Würden gerne verzichten wolle – nur das eine verlangte sie: daß er ihre Religion annähme. Der Flamländer hörte geduldig zu, dann lachte er. Woher sie denn wisse, ob er katholisch sei oder nicht? Aber das sei gewiß, daß er nie eines Frauenzimmers wegen eine Religion annehmen würde! Übrigens sei diese Frage durchaus überflüssig – da er ja gar nicht daran denken, sie zu heiraten. Sie möge mit ihm kommen, wenn sie wolle – mit oder ohne Segen der Kirche, das sei ganz gleichgültig. Fürstin Elisabeth verdoppelte ihre Bitten und Tränen, jammerte und flehte – erfolglos! Schließlich rief er: »Wo ich bin, kann nur ein Wille herrschen: der meine! Nur dann kann ich dich gebrauchen, wenn du diesen Willen rückhaltlos annimmst!« Mit diesen Worten ging er hinaus.

Elisabeth sah ihn nicht wieder. Doch bekam sie am andern Tage einen Brief von ihm folgenden Inhalts: »Ich reise nach Frankreich, dann nach Spanien. Ich werde zurück sein in anderthalb Jahren; dann werde ich Dich zu finden wissen. Wenn Du dann leben magst, wie ich es will – werde ich Dich mit mir nehmen.«

Soweit die Mitteilungen Elisabeths, die sie auch außerhalb des Beichtstuhles dem Priester wiederholte. Die junge Fürstin war schwer angegriffen, die Ereignisse in Darmstadt waren nicht dazu angetan gewesen, ihre aufgeregte Seele zu beruhigen. Zudem schien der unheimliche Einfluß des Flamländers durchaus nichts von seiner Stärke verloren zu haben.

Ihr Beichtvater glaubte daher nicht nur für seine Kirche etwas Großes zu tun, sondern zugleich auch den seelischen Frieden seines Beichtkindes wiederherzustellen, wenn er sie zu einer Ehe mit unserm Erbprinzen veranlaßte. Sie liebte ihn nicht – nunwohl, gerade dadurch, daß sie einem ungeliebten Manne die Hand zum Ehebunde reichte, konnte sie Buße tun für ihre fleischlichen Verfehlungen. Hin- und hergetrieben von widerstreitenden Empfindungen, ohne einen einzigen Berater außer eben ihrem fanatischen Beichtvater, erklärte Elisabeth schließlich ihr Einverständnis.

Der Priester verlor keine Zeit, er zog die Tante ins Geheimnis und reiste sofort mit seinem Beichtkinde und einer treuen Jungfer in ein dem Schloß des Erbprinzen benachbartes Städtchen. Dort bestach er einen der Lakaien – es war eben der, den mein Vetter dann entließ – und begann sein Spiel, das von so schnellem Erfolge gekrönt war. Er selbst fuhr nach der Trauung wieder nach Franken zurück; besuchte aber alle zwei Monate sein Beichtkind auf dem einsamen Schloß.

Nach den Berichten der Kavaliere war die Ehe, wenigstens was den Erbprinzen anbetraf, eine keineswegs unglückliche.

Völlig blind in seiner grenzenlosen Leidenschaft, nahm er die Almosen, die ihm seine Gattin reichte, als große Geschenke an. Es scheint gewiß, daß sich die Erbprinzessin die allerdankbarste Mühe gab, den Pflichten, die sie nun einmal auf sich genommen hatte, gerecht zu werden. Sie versuchte mit übermenschlicher Anstrengung, ihren körperlichen Widerwillen zu bekämpfen; es gelang ihr immerhin insoweit, als sie es fertig brachte, daß wenigstens mein Vetter nichts oder nur wenig davon bemerkte. Wenn es gar nicht mehr gehen wollte, so nahm sie ihre Zuflucht zu Unpäßlichkeiten und kleinen Krankheiten – die zunächst von ihr vorgeschoben wurden, dann auch in Wirklichkeit sich einstellten. Den baldigen Eintritt ihrer Schwangerschaft begrüßte sie mit sehr geteilten Gefühlen. Einmal schien der Gedanke, von dem ihr so widerwärtigen Manne ein Kind unter dem Herzen zu tragen, ein entsetzlicher, dann aber versöhnte sie damit doch wieder die Tatsache, daß sie nun, nach Besprechung mit einem erfahrenen Arzte, Gelegenheit fand, sich ihren Verpflichtungen als Ehegattin völlig zu entziehn. Je mehr dies der Fall war, um so erträglicher wurde das beiderseitige Verhältnis; es schien beinahe so, als ob die Erbprinzessin sich mit ihrem Schicksal ausgesöhnt habe. Frei von der Pflicht, rohere Liebkosungen erdulden zu müssen, gab sie kleinere freundlich und mit leichtem Herzen. Nach etwa einjähriger Ehe wurde der junge Prinz geboren; mein Vetter hielt sein Wort und ließ ihn durch den Beichtvater der Erbprinzessin taufen.

Auch jetzt hielt Elisabeth, mit der Unterstützung des Arztes, den Vorwand aufrecht, daß ihre Gesundheit ein eheliches Leben vorderhand noch verbiete. Das Verhältnis der Ehegatten blieb in dieser Zeit ein freundschaftliches, ja fast herzliches. Es schien, als ob sich die Abneigung der Erbprinzessin gegen ihren Gatten vermindert habe – oder vielmehr auf das Kind übertragen habe, das sie ganz der Obhut der Frauen überließ und kaum zu sehen wünschte.

Dann traf ein Blitzschlag aus wolkenlosem Himmel das Familienleben meines Vetters. Während sie nach dem Abendessen im Musikzimmer mit einem ihrer Kavaliere plauderte, brachte ihr ein Diener einen Brief. Sie öffnete ihn und starrte auf den Inhalt. Es war, als ob etwas sie in dem Augenblicke in Bann schlage, sie ließ den Arm sinken, dann den Brief zu Boden fallen: der Kammerjunker hob ihn auf. Ohne ein Wort zu sagen, eilte sie aus dem Zimmer hinaus.

Von diesem Augenblicke an war sie verschwunden. Alle Nachforschungen blieben vollkommen erfolglos.

Der Brief, den der Kavalier später dem Staatsprokurator vorlegte, enthielt nur zwei kurze Sätze: »Ich bin zurück. Ich warte im Park.«

Den Rest wissen Sie, Baron! Mein Vetter, dem sein Vater inzwischen vergeben hatte, kehrte zum Hofe zurück; lebte dort recht still und zurückgezogen. Sehr bald trat die tückische Krankheit, die an ihm fraß, offener in Erscheinung, zeigte sich endlich in ihrer ganzen Schrecklichkeit – der Tod war gewiß eine Erlösung.

Sein Tod brachte das Geheimnis ans Tageslicht. Der Herzog hat seinem Sohn an dessen Totenbette vergeben, mehr noch, er hatte den jungen Prinzen als legitimen Erben anerkannt; durch die frommen Absichten des Beichtvaters aber hat er einen dicken Strich gemacht. Das Kind ist noch einmal getauft worden – so lutherisch wie nur möglich, Baron! Und es ist strenge Sorge getragen worden, daß seine Erziehung so orthodox protestantisch vollendet wird, daß von der katholischen Taufe nicht mehr viel übrig bleiben wird. Die unnatürliche Mutter, die mit ihrem Abenteurer in die Welt lief, wird daran, selbst wenn sie das wünschen sollte, kaum je etwas ändern können.«

*

Der Prinz schwieg, saß dann still da, in tiefes Nachdenken versunken.

Endlich begann er wieder. »Wäre es nicht um die Narreteien eines verblendeten Liebhabers, um die Gewissensängste eines unglücklichen Mädchens, um die fanatischen Schrullen eines kleinen Priesters und um das frivole Getue eines leichtfertigen Abenteurers – so wäre ich heute der Thronerbe meines Landes. Zwischen mir und der Krone steht ein schwaches Kind, ohne Liebe, ja mit Elend von seiner Mutter empfangen und geboren. Der Sproß eines bis aufs Mark kranken Vaters – aller Wahrscheinlichkeit nach selbst krank, kaum fähig zu leben und gewiß nicht fähig zu herrschen. Dieses arme Wesen warf ein bizarres Schicksal in meinen Weg – – sagen Sie, Baron, habe ich nicht das Recht, mehr noch: die Pflicht, darüber hinwegzuschreiten7«

Er wartete keine Antwort ab, stand auf, reichte dem Baron beide Hände. »Sie wissen nun, in großen Zügen wenigstens alles lieber Freihardt. Machen Sie dem Grafen Osten und dem Marchese Civitella, Ihren Freunden – auch meinen Freunden, wie ich glaube – Mitteilung; ich weiß, daß ich Ihnen Vertrauen schenken kann. Sagen Sie dem Grafen, daß ich sein Anerbieten, bei mir zu stehn, annehme; daß ich ihn bitte, vorauszufahren und ein paar Briefe mitzunehmen. Wir sind bisher planlos in der Welt herumgefahren, wir zwei, Baron – nun aber hat dies Leben einen Zweck für uns!«


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