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V. Das Christentum und die Gegenwart.

Wenn wir nunmehr das Verhältnis des Christentums zur Gegenwart zu erörtern unternehmen, so muß das unserer Untersuchung einen anderen Charakter geben und neue Schwierigkeiten bereiten. Denn durften wir bis dahin vornehmlich nach einer Verständigung mit allen streben, welche die Bedeutung des religiösen Problems anerkennen, so betreten wir nunmehr ein Gebiet, wo ein Auseinandergehen nicht zu vermeiden ist, und wo auch viele von denen, welche die Hauptrichtung mit uns teilen, sich von uns trennen werden. Trotzdem läßt sich auf seine Behandlung nicht verzichten. Zu einer Untersuchung des Wahrheitsgehalts der Religion gehört notwendig eine offne Aussprache über die Lage der Zeit; an der Zeit hat sich auch das zu bewähren, was der bloßen Zeit zu dienen verschmäht. Mögen unsere Freunde bei aller Abweichung dabei festhalten, was uns im Ganzen der Überzeugung verbindet.

Einleitende Erwägungen über geschichtliche und absolute Religion.

Wie wir das Verhältnis der geschichtlichen Religionen und mit ihnen des Christentums zur absoluten Religion verstehen, hat der Gesamtverlauf der Untersuchung gezeigt. So gewiß es nur eine einzige Wahrheit gibt, kann nur eine absolute Religion bestehen, und diese Religion deckt sich keineswegs gänzlich mit einer der geschichtlichen Religionen. Denn sie alle fassen das Göttliche unter den Bedingungen der menschlichen Lage, sie alle müssen, in einer besonderen Zeit entsprungen und festgelegt, der Eigentümlichkeit dieser Zeit ihren Zoll entrichten. Aber was diese Besonderheit an Problematischem und Vergänglichem enthält, das braucht das Wirken einer zeitüberlegenen Wahrheit nicht zu hindern. Erkannten wir doch als das Wesentliche der Religionen das von ihnen eröffnete und vertretene göttliche Leben; so gewiß dies Leben in seinem innersten Grunde der Gestaltung und Betätigung nach außen überlegen ist, so gewiß kann es allem Wandel der Zeiten widerstehen und durch alle Verkümmerung der menschlichen Lage hindurch eine ewige Wahrheit behaupten. Es gilt dann nur solche Substanz von der Existenzform deutlich zu scheiden, es gilt zu prüfen, wie weit die besondere Religion jenes Grundleben aufnimmt und entfaltet, das durch alle Völker und Zeiten wirkt. Sich zu einer geschichtlichen Religion bekennen, heißt alsdann nicht, sie als letzte und fertige Wahrheit annehmen, sondern sie als den Standort ergreifen, wo der engste Zusammenhang mit der Wahrheit besteht, und wir uns ihrer am ehesten bemächtigen können. Die geschichtlichen Religionen sind nicht die Wahrheit selbst, sondern Erscheinungen der Wahrheit und Wege zur Wahrheit; nur wo Göttliches und Menschliches vermengt wird, läßt sich diese Schranke verkennen.

Wenn so gerade vom Standpunkt der Religion aus eine kritische Behandlung der geschichtlichen Religionen erforderlich wird, so hat eine solche freilich besondere Schwierigkeiten. Widerstreitende Erwägungen wirken hier gegeneinander. Einmal dürfen die geschichtlichen Religionen ihrer Leistungen halber einen tiefen Respekt verlangen. Denn sie sind nicht bloße Lehrgebäude, sondern Lebenskonzentrationen und Lebensentwicklungen, sie haben Ideale nicht bloß in kühnem Gedankenfluge entworfen, sondern sie haben diese auf dem steinichten Boden des Menschheitslebens tiefe Wurzel schlagen lassen, sie haben nicht für Augenblicke und zu auserlesenen Geistern, sondern sie haben durch den Lauf der Zeiten zur Breite der Menschheit gewirkt; sie tragen bei solcher engeren Berührung mit der menschlichen Wirklichkeit große Erfahrungen in sich, sie haben mit dem allen eine Tatsächlichkeit gewonnen, die sich durch ihr eignes Schwergewicht behauptet, und die um so weniger vor theoretischen Erwägungen verschwinden kann, als von vornherein die Religion nicht sowohl die Welt erkennen als dem Leben einen Inhalt geben, uns ein geistiges Dasein sichern will. So passen HEGELs Worte gegen ein vorwiegend krittelndes Verhalten zum Staat wohl auch für die Religion: »der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums, übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der häßlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch: das Affirmative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun.« Wo die Behandlung der Religion nicht diesen Zug zur Bejahung erlangt, wo an dem Stande der Religion nur von draußen her herumgemäkelt, nicht ein Verständnis aus dem Ganzen und Innern gesucht wird, da mag das Räsonnement eine breite Popularität erlangen, für die Sache ist es ohne Wert.

Das ist die eine Seite, aber daneben verbleibt eine andere und besteht auf ihrem Recht. Die geschichtliche Religion kann und darf sich nicht mit der bloßen Tatsächlichkeit begnügen, sie erhebt den Anspruch, Wahrheit, letzte und allem anderen überlegene Wahrheit zu sein. Nun kann aber keine, auch nicht die großartigste Leistung geschichtlicher Art den Beweis solcher Wahrheit erbringen, er ist nur von einem zeitüberlegenen Standort aus dem Wesen des Geisteslebens und seinem Grundverhältnis zur Wirklichkeit zu führen; von hier aus wird aller geschichtlichen Leistung ein unmittelbares Leben entgegentreten, sowie sie messen und prüfen. Zu allen Zeiten, auch in solchen, wo die geschichtliche Religion in unbestrittener Herrschaft war, besteht eine innere Spannung zwischen Tradition und unmittelbarem Leben, und ist die Aneignung des Dargebotenen immer auch eine Umbildung und Ausgleichung. Aber solange diese Ausgleichung sich mühelos vollzog und keine Kluft empfunden wurde, konnte die geschichtliche Religion als im vollen Besitz der Wahrheit erscheinen. Wenn aber eingreifende Wandlungen des weltgeschichtlichen Lebens die Spannung steigern und steigern, so wird schließlich ein Punkt erreicht, wo an der Religion vornehmlich der Abstand vom eignen Denken und Streben empfunden wird, wo sich damit das Verhältnis zu ihr vorwiegend kritisch und leicht auch verneinend gestaltet. Die Differenz, die dabei entsteht, kann aber zwiefacher Art sein: entweder entfernt das Leben sich ganz und gar von der Religion, – dann werden große Revolutionen innerer Art unvermeidlich –, oder aber es läßt alle Wandlung der Daseinsform von der Substanz soviel unangetastet, daß hier auch fernerhin ein Zusammenhang möglich bleibt, hier inmitten aller Wandlung eine Kontinuität gewahrt werden kann. Ja es mag die Veränderung der Daseinsform der Substanz zu noch reinerer und kräftigerer Wirkung verhelfen, so daß die scheinbare Erschütterung und Zerstörung sich schließlich als eine Vertiefung und Kräftigung herausstellt.

Dies alles sei nun auf unser Verhältnis zum Christentum angewandt; die Fragen sind zu erörtern, wie tief es von den unleugbaren Wandlungen der Kultur und des Menschenlebens getroffen wird, ob es sich ihnen gegenüber siegreich zu behaupten vermag, und was eine solche Behauptung an neuer Arbeit verlangt.

a. Das Ewige im Christentum.

1. Der unverlierbare Kern.

Über unsere Stellung zum Christentum hat das Ganze der Untersuchung keinerlei Zweifel gelassen. Denn es hat ein Zwiefaches mit voller Deutlichkeit herausgestellt: daß uns das Christentum seiner Substanz nach als die am meisten entsprechende Verkörperung der absoluten Religion gilt, und daß uns eine gründliche Revision seiner überkommenen Existenzform schlechterdings unerläßlich dünkt. Konnten wir doch das, was sich uns als absolute Religion erwies, gar nicht entwickeln ohne immerfort auf das Christentum Bezug zu nehmen; es erschien uns bei solcher Betrachtung aus seinem innersten Grunde als die Religion der Religionen und zugleich als eines bleibenden Bestandes gewiß. Aber das Unverlierbare findet sich nicht nur umsäumt und durchwoben, sondern bis zu scheinbarer Untrennbarkeit verschmolzen mit Elementen, die einer besonderen Zeit angehören, und die uns selbst dann nicht binden dürften, wenn diese Zeit nicht als weit entfernt und mannigfach überholt hinter uns läge. Es gilt nun in zusammenfassendem Überblick deutlicher die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen zu ziehen und damit nach bestem Vermögen einer Stagnation des religiösen Problems entgegenzuwirken. Bringen wir also jetzt das Ergebnis der prinzipiellen Erörterung und den geschichtlichen Befund des Christentums zusammen, sehen wir, wie sie sich gegenseitig beleuchten, wie weit sie einander verstärken, aber auch, wo sie auseinandergehen. Das wird zugleich ersehen lassen, wo in jenem Befunde die Grenze zwischen Zeitlichem und Ewigem liegt, und es wird zu deutlicher Herausarbeitung der Forderungen für die Gestaltung der Religion in der Zukunft treiben.

Das Christentum ist Erlösungsreligion, nicht Gesetzesreligion. Darin liegt die Anerkennung eines schroffen Kontrastes zwischen dem wirklichen und einem notwendigen Stande, es liegt darin die Behauptung des Unvermögens, aus eigner Kraft, etwa durch eine allmähliche Verbesserung der vorgefundenen Lage, die ersehnte Höhe zu erreichen, es liegt darin die Forderung einer Umwandlung und Erhöhung durch göttliche Kraft. Bestätigt die allgemeine Erfahrung des Geisteslebens diese Behauptung? Sie tut es. Denn mit voller Deutlichkeit erhellte, daß das Geistesleben die ihm notwendige Selbständigkeit aus der Welt der Erfahrung nicht finden kann, daß alle echte Geistigkeit einen Bruch mit dieser Welt, sowie die Erweisung einer neuen Welt in sich trägt. In geistigen Dingen geht für den Menschen aller Weg zum Ja durch ein Nein, und ist ohne ein Eintreten göttlichen Lebens alle Mühe verloren. Das gilt schon von dem Ganzen des Geisteslebens, sobald es von einer bloßen Menschenkultur zu echter Wahrheit aufstrebt; es verstärkt sich weiter durch die innere Verwicklung eben dieses Strebens; nur die Eröffnung einer neuen Stufe kann hier ein Scheitern aller unsäglichen Arbeit verhüten; diese neue Stufe stellt die Umwälzung des menschlichen Daseins, die Ohnmacht des bloßen Menschen, die Gegenwart einer überlegenen Welt noch weit anschaulicher und eindringlicher vor Augen. So bringt die Erlösungsreligion nur zur vollen Aussprache und greifbaren Gestalt, was als eine Forderung und als eine Tatsache durch das ganze Leben geht.

Erlösungsreligionen sind neben dem Christentum auch die indischen Religionen, namentlich der esoterische Brahmanismus und der Buddhismus. Aber der Unterschied, der uns schon zu Anfang beschäftigte, muß nach dem Verlauf unserer Untersuchung noch größer erscheinen. Denn nun erst wird völlig klar, wie weit der Abstand zwischen einer vorwiegend intellektuellen und einer vorwiegend ethischen Erlösungsreligion ist, wie verschieden das Leben hier und dort ausfällt. Dort gilt es eine Befreiung vom Schein, hier eine Überwindung des Bösen, dort dünkt der Grundbestand der Welt, hier nur seine Verkehrung schlecht, dort ist der Lebensdrang völlig auszurotten, hier dagegen ist er zu veredeln oder vielmehr umzubilden. Da sich dort keine höhere Welt positiven Gehalts eröffnet, so muß das Leben auf einen endgültigen Ruhestand kommen, während es auf christlichem Boden immer neu über sich hinaustreibt.

Im Christentum hat das Leid seine Bitterkeit vornehmlich als Verkehrung eines ursprünglich Guten; so kann ein Ja inmitten aller Unvernunft wirken, und sich die Hoffnung auf einen endgültigen Sieg auch inmitten aller Nöte erhalten. Aber auch bei der Erhebung in eine neue Welt wird hier die alte nicht völlig abgeschüttelt. Denn jene Erhöhung gelingt zunächst nur für eine innerste Tiefe, für das Zentrum des Lebens; in der Breite des Daseins beharrt die alte Welt mit ihrem Dunkel und ihrem Leid, ihrer Sorge und ihrer Irrung. So entsteht eine merkwürdige Dialektik des Lebens: was der Mensch hier besitzt, das muß er dort erst erkämpfen, ja entbehren; so trifft überquellende Freude und tiefer Schmerz, sicheres Geborgensein des inneren Wesens und Umhertreiben des Daseins in wilden Stürmen, felsenfeste Überzeugung und grübelnder Zweifel, ja ein Teilhaben an der Vollkommenheit des göttlichen Lebens und ein Beharren der menschlichen Kleinheit, alle diese Gegensätze treffen in einem einzigen Leben zusammen, erhalten es in unablässiger Bewegung, treiben es zu immer weiterer Selbstvertiefung, lassen die Erfahrungen des menschlichen Daseins in vollstem Umfange aufnehmen und durchleben. So entsteht Kraft ohne Trotz, Weichheit ohne Schwäche; tiefste Empfindung und freudigste Aktivität können sich hier vertragen und verbinden. Solche innere Spannung und Bewegung ist, wie wir sahen, für den Aufstieg des Geisteslebens unter menschlichen Verhältnissen unentbehrlich; das Christentum entwickelt hier nur, was aus dem Ganzen des Lebens aufstrebt und nach fester Gestaltung drängt.

Alle Religionen verkünden Moral und verlangen Moral. Aber das besagt noch keineswegs, daß Freiheit und Tat den Quellpunkt ihrer Gedankenwelt bilden, daß der Kern des Geisteslebens ihnen ethischer Art ist. Daß dies beim Christentum geschieht, daß es die ganze Welt in Freiheit wurzeln läßt und die Hauptwendungen in ihr auf freie Tat zurückführt, daß alle Verwandlung des Geisteslebens in einen natürlichen oder geistigen Prozeß mit größter Entschiedenheit abgelehnt wird, das gibt ihm eine durchaus einzigartige Eigentümlichkeit. Zugleich freilich gerät es in ungeheure Verwicklungen, in Verwicklungen nach draußen wie nach drinnen. Dort widersteht einer Umsetzung in Freiheit und zugleich in Seele und Liebe ein starres Reich des Mechanismus, das auch in die Seele reicht und sich selbst der geistigen Arbeit bemächtigt; so überwältigend ist hier der Eindruck der blinden, gegen alle inneren Größen und Güter gleichgültigen Tatsächlichkeit, daß bei äußerem Anblick aller Widerstand dagegen aussichtslos scheint. Zugleich aber drohen Verwicklungen innerer Art, indem die Bewegung zur Freiheit und Persönlichkeit unter die Macht des Kleinmenschlichen zu geraten und damit ihren Weltcharakter einzubüßen, sowie bei aller subjektiven Erregung einem allgewaltigen Schicksal zu erliegen droht. So wird es ein ungeheures Wagnis, den Kampf gegen solche Widerstände drinnen und draußen aufzunehmen; das Christentum hat den Mut und den Glauben zu diesem Riesenkampfe gefunden, der das alleinige Mittel bildet, das menschliche Leben geistig aufrechtzuhalten und ihm einen Sinn und Wert zu erringen. Zugleich aber muß sein innerster Kern auf rationale Ableitung verzichten, und das hier entwickelte Leben voller Gegensätze bleiben. Das Christentum ist die irrationalste aller großen Religionen, weil es die reichste und die tiefste ist.

Es war ein Hauptpunkt unserer Untersuchung, daß das Geistesleben nicht eine Betätigung des bloßen Menschen, sondern daß es eine selbständige Wirklichkeit ist, und daß erst die Mitteilung dieser Wirklichkeit dem Menschen ein neues, ein kosmisches Wesen zuführt. Welche Religion kommt solcher Forderung mehr entgegen als diejenige, welche das Reich Gottes zu ihrer Zentralidee macht, welche nicht bloß die Individuen in einem gegebenen Dasein fördern, sondern einen neuen Weltstand herbeiführen will? Diese neue Welt berührt den Menschen nicht nur von außen her, sie läßt sich von innen her als Ganzes zu eigen gewinnen; indem damit jede einzelne Stelle über das Ganze zu entscheiden, ja das Ganze mitzutragen hat, erhält das Leben ein hohes Ziel und eine weltüberlegene Größe.

Den Kern aller Religion bildet die Einigung von Menschlichem und Göttlichem, ihre nähere Gestaltung bestimmt am meisten die Eigentümlichkeit der Religionen. Das Christentum hat dies Problem in die letzte Tiefe verfolgt, indem es nicht nur einzelne Beziehungen herstellt, sondern eine volle Einigung von Wesen zu Wesen vertritt und die Unzerstörbarkeit des Göttlichen durch alle Verkehrung des menschlichen Standes tapfer behauptet. Alle Verkümmerung dieser Idee durch unglückliche dogmatische Fassungen kann nicht verdunkeln, daß hier die religiöse Gestaltung einer Wahrheit vorliegt, welche die unerläßliche Voraussetzung alles und jedes Wahrheitsstrebens bildet und allein unserem Leben einen festen Halt gewährt.

Durch das Christentum geht eine warme Liebe zur Menschheit, es will jeden Einzelnen retten, es gibt dem Menschen einen Wert jenseit aller besonderen Leistung, auch jenseit aller geistigen Leistung, es hat der reinen Innerlichkeit der Seele erst zu voller Anerkennung verholfen. Aber es hat zugleich durch die Anknüpfung des Menschlichen an eine göttliche und ewige Ordnung über alles Bloßmenschliche mit seiner bürgerlichen Ordnung und seinen sozialen Zwecken sicher und weit hinausgehoben. Wer das Christentum, wenn auch in bester Absicht, zu einem bloßen Mittel zur Verbesserung gesellschaftlicher Zustände macht, der zieht es von der Höhe seines Wesens herab, der nimmt ihm das, was ein Hauptstück seiner Größe bildet: die Befreiung vom Bloßmenschlichen in der Tiefe des Menschlichen selbst. Wesentlich ist dem Christentum die Versetzung des Menschen in eine neue Welt gegenüber der nächstvorhandenen, es hat die Grundüberzeugung des Platonismus von dem Bestehen einer ewigen Ordnung gegenüber der zeitlichen Welt einem großen Teile der Menschheit eingepflanzt und dem Streben einen kräftigen Antrieb dahin gegeben. Aber es hat das Ewige nicht bloß von der Zeit geschieden, sondern es wieder in sie eintreten lassen und durch seine Gegenwart allererst wie die ganze Menschheit, so auch jede einzelne Seele zu gründlichster Wandlung aufgerufen, ihnen damit eine wahrhaftige Geschichte eröffnend.

Durchgängig trifft zweierlei zusammen, um das christliche Leben eigentümlich und groß zu machen: eine Fassung des Geisteslebens und eine Würdigung des vorliegenden Weltbefundes. Das Zusammentreffen beider erzeugt einen harten Widerspruch und eine unermeßliche Bewegung: was von innen her wirksam und notwendig ist, das findet sich vom umgebenden Dasein zurückgesetzt und verworfen; so entsteht ein gewaltiges Ringen, und eine Entscheidung wird unabweisbar; soll die Welt, die von innen aufsteigt, die uns von innen her das Allergewisseste ist, trotz des Widerspruches der ganzen übrigen Welt unsere Kraft und Gesinnung gewinnen, oder sollen wir der Welt, die auf uns von außen her mit unermeßlicher Fülle eindringt, jene Innerlichkeit zum Opfer bringen? Denn ein Mittelding gibt es hier nicht. Das Christentum hat sich für das erstere entschieden; damit aber stellt es sich nicht als einen fertigen Abschluß, sondern als eine fortlaufende Aufgabe dar. Es ist vor allem darin groß, die Erfahrungen und die Gegensätze des Lebens im weitesten Umfange aufzunehmen und aus der Zerstreutheit in ein Ganzes zu fassen, es ist groß im Aufrütteln, Kämpfen und Umwandeln, es erscheint vor allem als ein gewaltiger Lebensstrom, der gegenüber allen Versuchen der Ablenkung eine feste Hauptrichtung einhält. Nach eben dieser Richtung aber wies uns das Ganze des Geisteslebens, wies uns die Gesamterwägung menschlicher Dinge; so ist das Christentum nicht eine besondere Erscheinung neben anderen, sondern es ist der Hauptkampf um eine Seele des Menschenlebens; es hat auf dem Gebiet der Religion, und damit in innerster Tiefe, zu einer geschichtlichen Verwirklichung gebracht, was echtes Geistesleben nach seiner Gesamtart fordern muß.

So bedarf es keines Bruches mit dem Christentum; es kann uns sein, was eine geschichtliche Religion überhaupt sein kann: ein Weg zur Wahrheit, ein Erwecker unmittelbaren Lebens, eine Vergegenwärtigung einer ewigen Ordnung, die allem Wandel der Zeit entzogen ist.

2. Die Behauptung dieses Kernes gegenüber den Wandlungen der Zeit.

Daß dieser christliche Grundtypus des Lebens auch gegenüber der Kultur seine Wahrheit behält, das sei im folgenden etwas näher erörtert; wir beschränken uns dabei auf die wesentlichsten Verschiebungen der Gedankenwelt. Unsere Behauptung geht dahin, daß diese Verschiebungen allerdings die überkommene Daseinsform des Christentums mit vernichtender Schärfe treffen, daß sich aber seine Substanz, wenn auch nicht leicht und mühelos, von der veralteten Form zu befreien und eine reinere wie kräftigere Entfaltung anzustreben vermag; die gewaltige Erweiterung, welche das Ganze der Neuzeit dem Leben gebracht hat, braucht sich nicht wider das Christentum zu kehren; sie läßt sich von ihm aneignen und zu seiner Verstärkung verwenden, wenn es sich nur auf die Tiefe seines eignen Wesens besinnt, in ihr befestigt und zugleich den Mut zu neuem Schaffen findet.

α. Die Weiterbildung gegenüber der Natur.

Das greifbarste Ergebnis der neueren Forschung war die unermeßliche Ausdehnung des Naturbildes, das Zusammenschrumpfen des irdischen Kreises zu winziger Kleinheit. Das kehrt seine Spitze unzweifelhaft gegen die kirchliche Form des Christentums, sofern diese die Erde als den Mittelpunkt des Weltalls behandelt und unser Tun über das Schicksal des Alls entscheiden läßt. Der Erde eine solche Bedeutung trotz aller Wandlungen zu erhalten, hat eine Apologetik um jeden Preis nicht unversucht gelassen; aber alles Ersinnen von Möglichkeiten und Ausflüchten vermag nichts gegen den natürlichen Eindruck einer veränderten Stellung unseres irdischen Kreises; es bleibt dabei, daß die geozentrische und anthropozentrische Denkweise der Vergangenheit angehört. Aber wenn das tief in überkommene Vorstellungen und Empfindungen eingreift, zerstört es die geistige Substanz des Christentums, widerlegt es seine Überzeugung von der Überlegenheit des Geistes? Keineswegs. Denn warum sollte sich die Erweiterung auf die Natur beschränken, warum sollte nicht auch das Geistige die Welt durchdringen und umspannen? Ja es muß das, wenn anders jenes Gewebe der Beziehungen von Einzelkräften, als welches die Natur sich wissenschaftlich darstellt, nicht die letzte Tiefe der Wirklichkeit bilden kann, sondern diese nur in einem Beisichselbstsein der Dinge zu suchen ist, wie es lediglich das Geistesleben bietet. Mögen wir auf Erden nur einen kleinen Ausschnitt davon erfassen, auch dieser zeigt deutlich genug den Weltcharakter des Geisteslebens. Auch sei nicht übersehen, daß der äußeren Ausdehnung der Natur innere Umwandlungen die Wage halten. Denn eine wachsende Verinnerlichung des Lebensprozesses hat immer klarer gemacht, daß die Natur nicht, wie es der älteren Denkweise scheinen mochte, die letzte Wirklichkeit selbst, sondern nur eine besondere Stufe bedeutet, deren Bild durch unsere Organisation wesentlich mitbedingt ist. Mehr und mehr ist die Natur, die zu Anfang den Menschen gänzlich umfing und einnahm, ihm zur bloßen Umgebung geworden. Hat der Mensch in solcher Innerlichkeit des Lebensprozesses den archimedischen Punkt gewonnen, so kann ihm alle Handgreiflichkeit des sinnlichen Eindrucks nicht die Überlegenheit des Geistes gefährden; der irdische Kreis aber verliert in aller Einengung nicht seine Bedeutung, wenn er nunmehr als eine Stätte erscheint, wo um Weltprobleme gekämpft und an der Erhebung dieses Stückes der Wirklichkeit auf eine höhere Stufe gearbeitet wird. Äußerlich klein gegenüber der unermeßlichen Ausdehnung wird er groß durch die innere Unendlichkeit, die sich auch bei ihm durch die Wendung zum Geist entfaltet.

Die Natur hat sich aber nicht bloß äußerlich erweitert, sondern auch innerlich verändert, sie hat sich als ein zusammenhängendes Kausalgewebe unter einfachen Gesetzen erwiesen, sie hat damit eine Selbständigkeit erlangt, aus der sie jede Wirkung von draußen als ein ungebührliches Eingreifen abweist. Damit scheint alle Abhängigkeit der Natur vom Geistesleben aufgehoben, damit wird namentlich alles sinnliche Wunder als eine Durchbrechung der Naturordnung abgelehnt.

Solche Abweisung der Wunder trifft alle Religionen, denn überall ist das Wunder »des Glaubens liebstes Kind«; keine aber trifft sie so sehr wie das Christentum, das mit der Lehre von der leiblichen Auferstehung Jesu jenes in den Kern des religiösen Glaubens gepflanzt hat; auf diese Lehre haben nicht nur die Apostel ihre Überzeugung gegründet, sie ist bis zur Gegenwart ein Hauptstück des kirchlichen Christentums geblieben. Sie anzutasten mag selbst dem bedenklich scheinen, der sonst der neueren Denkweise folgt. Denn muß es nicht unser Gefühl befremden, ja verletzen, einen Vorgang in bloßen Schein aufzulösen, der dem Glauben von Jahrtausenden zugrunde lag und unzähligen Gemütern Trost gewährte? Auch läßt alles Unzulängliche und Widersprechende der historischen Berichte die Tatsache unangetastet, daß die Apostel von jener leiblichen Auferstehung felsenfest überzeugt waren; nur diese Überzeugung erklärt den schroffen Umschwung von völliger Verzagtheit zu freudiger Sicherheit, der sich bei ihnen in jenen kritischen Tagen vollzogen hat.

Andererseits behalten die Gegengründe eine gewaltige Wucht nachdem die exakte Naturbegreifung aufgekommen ist, und sich mit ihr die historische Kritik verbündet. Das Wunder an jenem einen Punkt wäre nunmehr nicht bloß eine gelegentliche Ausnahme, es wäre eine Erschütterung der gesamten Naturordnung, wie sie sich der modernen Forschung durch gewissenhafte Arbeit herausgestellt und durch eine unermeßliche Fülle von Erfahrungen bestätigt hat; mit überwältigender, mit unwidersprechlicher Klarheit müßte uns entgegenscheinen, was einen solchen Bruch mit dem Gesamtbefunde der Natur rechtfertigen sollte. Hat die überlieferte Tatsache einen derartigen Grad der Gewißheit, und läßt sie sich in keiner Weise anders deuten? Wer möchte das mit voller Sicherheit behaupten? Sollte einmal an dieser besonderen Stelle die Überlegenheit des Göttlichen handgreiflich bekundet werden, warum geschah es nur für den kleinen Kreis der Vertrauten, warum geschah es nicht darüber hinaus auch für die anderen? Es scheint doch eine entgegenkommende Seelenlage dazu gehört zu haben, damit die Jünger sahen, was sie zu sehen glaubten; damit aber tritt ein seelischer und subjektiver Faktor in Wirkung, dessen Vermögen schwer zu begrenzen ist. Auch das wäre eine Tatsache wunderbarer Art, wenn von innen her plötzlich und unvermittelt die Seelen der Jünger von der vollen Gewißheit des Fortlebens und der Gegenwart ihres Meisters ergriffen worden wären, nur wäre es kein sinnliches Wunder, keine Durchbrechung des Naturlaufs. Sodann bleibt zu erwägen, wie wenig günstig Zeiten starker religiöser Erregung einem objektiven Beobachten sind, wie leicht sich hier seelische Bewegungen zu vermeintlichen Wahrnehmungen verdichten. Sowohl außerhalb als innerhalb des Christentums gibt es zahlreiche Beispiele dafür, daß ein sinnliches Erscheinen Verstorbener einem engeren Kreise als völlig sicher beglaubigt galt. SAVONAROLA ist wie ein Auferstandener mehr als hundertmal erschienen, immer solchen, deren Herz an ihm hing, und er hat fünfzehn Nonnen des Klosters Santa Lucia durchs Gitterfenster die geweihte Hostie gereicht (s. Hase, SAVONAROLA, 2. Aufl., S. 99 ff.).

Allen solchen Analogien gegenüber mag der Gläubige die Einzigartigkeit wie Unerklärbarkeit der Vorgänge bei dem Tode Jesu behaupten. Bei dem Dunkel der Sache sei hier keine Deutung aufgedrängt. Darüber aber muß volle Klarheit walten, was diese Vorgänge unserem eignen Leben und Glauben sein können und sein dürfen. Die leibliche Auferstehung ist. ein geschichtliches oder doch als geschichtlich behauptetes Faktum; ein solches ist entweder streng zu erweisen oder nicht zu erweisen; ist es zu erweisen, so läßt es sich jedem, auch dem Ungläubigen, dartun, und seine Anerkennung bedarf keiner persönlichen Gesinnung; ist es aber nicht oder wenigstens nicht zwingend zu erweisen, so kann nun und nimmer die Religion als Pflicht auferlegen, eben bei einem solchen Hauptpunkte minder kritisch, minder gewissenhaft zu verfahren als sonst, hier, wo besonders viel in Frage steht, als bewiesen gelten zu lassen, was in Wahrheit nicht bewiesen ist. Anders ausgedrückt: die Anerkennung eines einzelnen geschichtlichen Faktums ist Sache des Wissens, nicht des Glaubens; der Glaube kann nur auf solches gehen, was zeitloser Art ist, was jedem unmittelbar gegenwärtig werden und seine erhöhende Kraft erweisen kann, was als solches Erlebnis zugleich eine innere Bewegung, ein mutiges Aufklimmen des Geistes enthält. Wer an Stelle dessen ein geschichtliches Faktum einschiebt, der veräußerlicht den Glauben und bindet die Religion an eine Stufe, über welche die weltgeschichtliche Bewegung hinausgegangen ist, er verwickelt die Religion in einen unlösbaren Widerspruch mit allem übrigen Leben. Wir fragen die, denen das ganze Christentum mit der Erschütterung des Glaubens an die leibliche Auferstehung zusammenzubrechen droht, worauf sich ihnen letzthin der Glaube an die Wahrheit des Christentums gründet. Überzeugen euch davon nicht die neuen Inhalte, nicht das Durchbrechen einer allem bloßmenschlichen Vermögen weit überlegenen neuen Welt der Liebe und Gnade, würdet ihr diese Welt für ein bloßsubjektives Gewebe, für eine Einbildung erklären, wenn nicht das handgreifliche Unterpfand einer leiblichen Auferstehung sie euch beglaubigte? Wäre das euer Ernst, und wolltet ihr in der Tat nach mittelalterlicher Denkart die Realität des Geistigen von einer sinnlichen Verkörperung abhängig machen, so hättet ihr in der Hartnäckigkeit dessen, was ihr historischen Glauben nennt, nur euren Unglauben an die Allgegenwart des geistigen und göttlichen Lebens bekannt, so hättet ihr euch von einer Religion des Geistes und der Persönlichkeit geschieden und wäret in eine Religion der Zeichen und Wunder zurückgesunken. Das wollt ihr nicht, gewiß nicht; so laßt denn die Unklarheit, die aus der Vermengung von Geschichte und Glauben entsteht, und die so unsägliche Verwirrung über die Menschheit gebracht hat! Denn mit Recht meint FICHTE: »Man sage nicht, was schadet's, wenn auch auf dieses Historische gehalten wird? Es schadet, wenn Nebensachen in gleichen Rang mit der Hauptsache gestellt, oder wohl gar für die Hauptsache ausgegeben, und diese dadurch unterdrückt und die Gewissen geängstigt werden.«

Die Religion, die schon so viel Kraft gezeigt hat, wird schließlich ohne sinnliche Wunder und Zeichen auszukommen vermögen. Sie hat das wahre Wunder im Geistesleben selbst zu erblicken, das mit seinem weltbildenden Schaffen und seiner Insichselbstvertiefung die unmittelbare Gegenwart des göttlichen Lebens ebenso entschieden verlangt wie sicher erweist. Aber auch die Natur wird mit der Preisgebung der sinnlichen Wunder keineswegs dem bloßen Mechanismus überliefert, und es ist mit der Ablehnung eines Durchbrechens ihrer Ordnung keineswegs alle Beziehung zum Geistesleben abgebrochen. Der Mechanismus selbst hat Voraussetzungen, die er nicht zu erklären vermag und die über ihn hinausweisen: so die durchgängige Gesetzlichkeit, die Wechselwirkung, das Aufsteigen der Formen und Lebewesen aus dem scheinbar zerstreuten und seelenlosen Getriebe; so gewiß es verkehrt ist, das alles ohne weiteres religiös zu deuten, eine Tiefe der Wirklichkeit wird unverkennbar; auch daß das Ganze der Natur schließlich dem Ganzen des Geistes diene, daran wird die Religion trotz aller Unmöglichkeit einer näheren Durchführung unerschütterlich festhalten müssen. Die Hauptsache aber bleibt ihr das Wunder des Geistes und das Wunder im Geiste; sie kann nur entschieden verwerfen, was die Bedeutung dieses Wunders und seine befestigende wie erhöhende Kraft verringert.

Nicht minder hart stößt die neuere Naturwissenschaft mit dem überkommenen Christentum in der Entwicklungslehre zusammen. Daß jetzt der wissenschaftlichen Forschung die Welt in Fluß gekommen, und daß aus dem Nebeneinander der Gestalten ein Nacheinander geworden ist, daß namentlich die organische Bildung von verschwindenden Anfängen her in langsamem Aufsteigen die Höhe erklommen hat, auf der wir sie finden, das widerspricht allerdings der herkömmlichen Schöpfungslehre und der gesamten Vorstellung eines Bereitens der Dinge durch einen jenseitigen Willen nicht minder unversöhnlich, wie die neuere Astronomie der älteren geozentrischen Denkart. Eine Gefährdung der Substanz der Religion besagt aber nicht alle und jede, sondern nur eine besondere Fassung der Entwicklungslehre. Wenn ein Verstehen der Welt als einer Entwicklung soviel bedeutet, daß der ganze Weltinhalt ohne alles innere Gesetz lediglich aus dem zufälligen Zusammentreffen der Elemente hervorgegangen sei, daß alles Höhere lediglich ein Erzeugnis des Niederen bilde und daher aller Selbständigkeit, alles eignen Wertes entbehre, so wäre das allerdings ein Sieg des Mechanismus und Materialismus, der alle und jede Religion aufhebt. Besagt aber die Entwicklung vielmehr dieses, daß die Erreichung der höheren Stufen erst nach Durchlaufung der niederen möglich wird, daß in jenen das Ganze eine neue Eröffnung vollzieht, daß dabei alle Bewegung die Grundlage einer zeitlosen Ordnung hat, und der Fortgang wohl in der Zeit, aber nicht aus der Zeit geschieht, so sieht man nicht, wie das der Substanz der Religion irgendwie schaden könnte. Wächst doch damit sowohl die Tiefe der Wirklichkeit als die lebendige Gegenwart einer höheren Ordnung.

Den bloßen Mechanismus eines Werdens durch äußere Anpassung, den regellosen Fluß der Formen, das Überwiegen einer dem blinden Chaos vertrauenden Selektionstheorie sehen wir auch in der Naturwissenschaft zugunsten einer inneren Gesetzlichkeit zeitloser Art mehr und mehr zurückgedrängt. Die Religion aber kann ihre Überzeugung nicht von den Strömungen der Naturforschung abhängig machen, ihr erweist das Erscheinen des Geisteslebens selbst, als einer neuen Stufe gegenüber aller Natur, sowie die Bildung einer neuen Stufe innerhalb des Geisteslebens unwidersprechlich, daß das Höhere nicht ein bloßes Mehr und eine mechanische Konsequenz des Niederen bedeutet, sondern daß in ihm eine unmittelbare Eröffnung eines weltdurchdringenden und weltüberlegenen Lebens vorliegt. Eine so verstandene Entwicklung zeugt nicht gegen, sondern für die Religion.

Das Werden in Natur und Seele kann kein Unbefangener leugnen; uns wird die Geistigkeit nicht fertig dargeboten, sondern sie hat sich in unserem Kreise erst aufzuringen. Das aber ist die Frage, bei der eine Scheidung eintritt, ob die Geistigkeit ein bloßes Ergebnis des Werdens ist, oder ob sie kein Ergebnis sein kann ohne auch Ursprung zu sein, ob die Welt nicht auf Geistigkeit gegründet sein muß, um Geistesleben erzeugen zu können. Wer das Erstere behauptet, der bindet die Wirklichkeit an die niedere Stufe und kann in allem Fortgang nur eine Zusammenfügung jenes Niederen sehen; wo immer dem Höheren eine Eigentümlichkeit und Selbständigkeit zuerkannt wird, da wird das Geistesleben inmitten alles Werdens auch als Ursprung gelten, da können Entwicklungslehre und Religion friedlich und freundlich zusammengehen.

β. Die Weiterbildung gegenüber der Geschichte und Kultur.

Unmittelbarer noch als die Veränderungen des Naturbildes bedrohen das Christentum Wandlungen im menschlichen Leben und Tun. Auch hier aber entsteht ein unversöhnlicher Zusammenstoß nicht sowohl mit dem Tatbestande jener Bewegung als mit problematischen Tendenzen, welche diesen Tatbestand umranken und sich oft bis zu scheinbarer Untrennbarkeit mit ihm verquicken. Was immer in jener Bewegung wahr und echt ist, das kann das Christentum aufnehmen, aber es kann es nur, wenn es schärfer bei sich selbst zwischen der bleibenden Substanz und der vergänglichen Existenzform scheidet und eine neue Existenzform erstrebt, die den Forderungen der weltgeschichtlichen Lage entspricht.

Ein Gegensatz entsteht schon durch das Aufkommen einer geschichtlichen Betrachtung des Daseins. Sie bringt die Dinge in Fluß und enthüllt eine unablässige Veränderung; die Religion dagegen, das Werk Gottes, in den Strom der Zeit hineinziehen und ihren Bestand dem Wechsel der menschlichen Lagen anpassen, das heißt sie von Grund aus zerstören. Eine Religion auf bloße Zeit, auf beliebige Kündigung, ist keine Religion. Das Christentum aber hat mit besonderer Energie einen Grundstock von Lehren und Einrichtungen nicht nur, sondern auch einen charakteristischen Lebensinhalt festgelegt, der allem Wandel der Zeiten trotzen soll.

So der erste Anblick des Gegensatzes; wir werden sehen, daß er nicht in seiner ganzen Schroffheit bestehen bleibt. Zunächst kann auch jenseit der Religion das menschliche Leben sich unmöglich ganz der Veränderung ergeben. Der frische Eindruck der Beweglichkeit der Dinge ließ die Neuzeit zunächst nur die Lichtseite der Wendung, die größere Freiheit, Mannigfaltigkeit usw. sehen; wir dagegen beginnen auch schwere Nachteile der Sache zu empfinden: die Unbeständigkeit aller Erfolge, das rasche Umschlagen aller Größen und Werte, die Auflösung des Lebens in bloße Augenblicke, die einander drängen und verdrängen. Immer mehr verlieren wir einen inneren Zusammenhang des Lebens, werden wir ein Spielball kaleidoskopisch wechselnder Lagen, droht unserem ganzen Dasein ein Versinken in den Abgrund des Nichts. Bei solcher Zerstreuung und Verflüchtigung kann von einer Geschichte, wenigstens einer Geschichte geistiger Art, nicht mehr die Rede sein. Denn zu aller Geschichte gehört irgendwelcher beharrende Faktor, zu einer Geschichte geistiger Art aber gehört ein inneres Vergegenwärtigen der Vergangenheit, ein Überblicken des gesamten Laufes, und zugleich ein Heraustreten aus dem Strome der Zeit, eine Versetzung in eine zeitlose Betrachtung » sub specie aeterni«. Drängt aber das Leben nach irgendwelcher Ewigkeit, so drängt es damit notwendig auch zur Religion, die mit ihrem Beleben der letzten Tiefe, ihrer Aufhellung des Grundverhältnisses des Menschen zum All, ihrer Herausstellung der bleibenden Aufgaben und Erfahrungen, ihrer Verbindung unseres Lebens mit dem göttlichen Leben vor allem die Ewigkeit zu vertreten hat. Wenn irgend etwas, so muß sie dem Menschen einen festen Halt gewähren und sein Unternehmen an bleibenden Normen messen. Gerade wenn jetzt ein Verlangen nach Ewigkeit aus frischer Erfahrung und eigner Empfindung der Nichtigkeit alles bloßzeitlichen Lebens aufsteigt, wird die Wendung zur Religion volle Kraft und Wahrheit gewinnen.

Aber kann die Religion jenes Verlangen nach Ewigkeit befriedigen ohne alle Bewegung aufzuheben und mit starrem Verbot den Strom des Lebens zu hemmen? Sie kann es nicht, wenn die überkommene Existenzform ihr letztes Wesen bedeutet. Die Art, wie jene Form die ewige Wahrheit nicht nur als in der Zeit gegenwärtig – solche Gegenwart ist eine unerläßliche Forderung aller Religion –, sondern auch als vom Menschen rasch und in Einem Aufstieg erreichbar dachte, ist uns unhaltbar geworden; sie entsprach einer Vorstellung von der Wahrheit, die durchgängig einem anderen Bilde hat weichen müssen. Überall dünkte dort die Wahrheit dem Menschen so verwandt und nahe, daß eine mutige Anspannung der Kraft sie sofort schien erreichen zu können, rasch glaubte man auf einen Beharrungsstand zu kommen, der nur treu und tapfer zu wahren sei. So glaubte die Höhe des griechischen Geisteslebens die wissenschaftliche Erkenntnis ein für allemal abschließen, so glaubte sie Staatsverfassungen für alle Ewigkeit entwerfen zu können. Dem entsprach es, auch die Religion auf einen unantastbaren Beharrungsstand zu bringen. Der Neuzeit hingegen sind der Grundgehalt des Geisteslebens und die unmittelbare Lage des Menschen weiter auseinandergetreten; mag ein Ewiges dabei fortfahren, im Grunde unseres Lebens zu wirken, es will zu vollem Besitz erst mühsam erkämpft und gewonnen sein; sicher und fest in sich selbst, bleibt es uns eine Aufgabe, die sich stets erneuert. Das Christentum kann die Bewegung ganz wohl in sich aufnehmen und dem Ewigen wie der Zeit volles Recht gewähren, wenn es den ihm eigentümlichen Lebensprozeß, seine neue in Gott gegründete Wirklichkeit kräftiger herausarbeitet und sie von aller bloßmenschlichen Gestaltung in Lehren und Werken, in Einrichtungen und Gefühlen deutlicher abhebt. Der notwendige Zusammenhang braucht dann nicht zu einer starren Bindung zu werden.

Die Wendung zur Geschichte und Kultur brachte nicht nur mehr Beweglichkeit, sie erweckte auch den Menschen zu größerer Selbsttätigkeit und zur Aufbietung aller in ihm schlummernden Kraft; in Ausführung dessen ist das Leben unermeßlich gesteigert, hat der Mensch Macht nicht nur über die Natur, sondern auch über die eignen Verhältnisse und über die eigne Seele gewonnen, ist der Aufbau eines Reiches des Geistes in großem Zuge unternommen. Alles zusammen hat dies Leben und diese Wirklichkeit ungleich gehaltreicher gemacht als zu der Zeit, wo der Mensch dem Dunkel der Welt wehrlos gegenüberstand und in gläubigem Harren und Hoffen alles Heil von der Hilfe überlegener Macht erwartete. Enthält nun jenes Selbstbewußtsein menschlichen Vermögens nicht eine schroffe Abweisung wie aller Religion, so namentlich des Christentums, das die Nichtigkeit des bloßen Menschen mit besonderem Nachdruck verkündigt? Ein Zusammenstoß ist unverkennbar; es fragt sich nur, ob nicht die eigne Notwendigkeit des Lebens zu einer Ausgleichung drängt, und ob nicht die Religion solchem Verlangen entgegenkommen kann.

Augenscheinlich ist durch die Entwicklung der Kultur, namentlich der modernen Kultur, weit mehr aus dem Menschen geworden; zweifelhaft aber ist, ob das die eigne Kraft des bloßen Menschen vollbrachte, ob er nicht in dem Größerwerden selbst über die bloße Menschlichkeit hinausgehoben ward. Wir überzeugten uns, daß echtes Geistesleben nicht aus dem geschichtlichgesellschaftlichen Zusammensein hervorgehen kann; soweit die Kultur nicht mehr ist als ein Erzeugnis dieses Zusammenseins, ist sie, bei ihrem Anspruch eine höhere Stufe zu bilden, von vornherein mit dem Fluch der Scheinhaftigkeit und Unwahrheit behaftet; je weiter sie fortschreitet, desto mehr gibt sie ihre Grundlage auf und verfällt sie in Künstelei und Schein.

Was immer an der Kultur echt ist, das beruht darauf, daß in ihr ein übermenschliches Geistesleben und ein weltbildendes Schaffen wirkt; hier ist alle Größe des Menschen nicht naturgegeben, sondern sie stammt aus tieferem Grunde und muß ihm verbunden bleiben; dann wird das Kraftgefühl selbst ein Bewußtsein einer Abhängigkeit in sich tragen, dann wird die Kultur die Religion nicht verschmähen und verwerfen, sondern sie zu ihrer eignen Befestigung und Veredlung zur Hilfe rufen. Alle bloß säkulare Kultur wird um so deutlicher als eine Kulturkomödie durchschaut, als zur Anerkennung gelangt, daß eine echte Kultur nicht bloß Kräfte zu entwickeln, sondern ein neues Wesen zu bilden hat, daß dabei ein Vordringen von aller bloßen Zeit zu einer zeitlosen Ordnung, vom bloßen Menschen zu weltumspannender Geistigkeit in Frage steht.

Solchem Rufe der Kultur kann aber die Religion nur entsprechen, wenn sie die eigne Aufgabe im großen und freien Sinne faßt. Sie darf die Empfänglichkeit für das Göttliche nicht dadurch erzeugen wollen, daß sie das menschliche Leben herabdrückt und möglichst passiv gestaltet; sie muß es vielmehr in höchste Aktivität versetzen, die freilich, als durch völlige Umwandlung erzeugt, grundverschieden von aller bloßnatürlichen Kraftentfaltung bleibt. Auch muß die Religion der Kultur gegenüber das Recht der Prüfung und Sichtung behaupten; sie, welche aus den tiefsten Quellen des Lebens schöpft und sich am meisten des ganzen Menschen annimmt, bietet am ehesten einen festen Maßstab für alles Unternehmen des Menschen. Statt mit den wechselnden Strömungen der Kultur dahinzutreiben, muß die Religion mit ihrer zeitlosen Wahrheit dem übrigen Leben einen sicheren Halt gewähren, sie muß weniger Einzelnes an der Kultur bemäkeln als das Ganze der Kultur auf seinen Wert untersuchen, sie hat gegenwärtig zu halten, daß alle Kultur nur eine Entfaltung des Geisteslebens, nicht das Geistesleben selbst bedeutet, und daß die jeweilige Kultur nur eine von verschiedenen Möglichkeiten ist, die sich verändert haben und weiter verändern werden. Die Religion kann nicht in dieser Weise prüfen und messen, ohne bestimmte Forderungen an die Kultur zu stellen; sie wird dabei aber auf jene weniger unmittelbar als mittelbar durch die Weiterbildung des Gesamtlebens wirken, das beide umspannt; so allein kann in der gegenseitigen Beziehung auch die Kultur ihre Selbständigkeit und die Freiheit ihrer Bewegung behaupten.

In jener Wechselwirkung mit der Kultur hat aber die Religion nicht bloß zu geben, sondern auch zu empfangen. Denn der Grundbestand, in dem sie eine sichere Überlegenheit hat, kann zum Menschen erst vollauf wirken, wenn er eine angemessene Existenzform findet, diese findet er aber nicht ohne die Hilfe der Kultur. Dabei läßt sich hoffen, daß auch die Wandlung, die ein etwaiger Widerspruch der Kultur bewirkt, schließlich der Religion sich dienlich zeige, wenn anders eine gemeinsame Geisteswelt Religion und Kultur umspannt.

Diese innere Zusammengehörigkeit beider ist gegenüber der herkömmlichen Fassung nicht nur der Kultur, sondern auch der Religion weit mehr herauszuarbeiten; diese darf nicht etwas bringen wollen, das neben dem übrigen Leben hergeht, sich ihm gegenüberstellt und alle Beschäftigung mit ihm als etwas, wenn nicht Ungehöriges, so doch Gleichgültiges behandelt, sie ist nicht als ein Sondergebiet, sondern als die eigne Tiefe des gesamten Lebens zu verstehen, worin es erst seine volle Kraft und Bewußtheit erreicht. So gefaßt wird die Religion nicht bloß darum bemüht sein, die einzelnen Seelen der Wahrheit zu gewinnen, den Individuen eine schon vorhandene Geisteswelt zuzuführen, sondern mehr noch darum, ein Ganzes des Geisteslebens innerhalb des menschlichen Bereiches gegenüber den unermeßlichen Hemmungen und Verkehrungen einer gleichgültigen oder feindlichen Welt aufzubauen und aufrechtzuhalten. Wir bedürfen einer Religion des gesamten Geisteslebens, nicht der bloßen Individuen oder auch ihrer Summierung, wie das keine Religion nachdrücklicher verlangt als die, welche das Reich Gottes zu ihrem Zentralbegriff macht. Auch hier aber gilt es eine Weiterbildung der überkommenen Form, wenn das, was von alters her als Ideal und Forderung wirkte, eine kräftigere Durchführung finden und zu vollem Besitz des Menschen werden soll.

γ. Die Weiterbildung gegenüber den Wandlungen des Geisteslebens.

Die eingreifendsten Wandlungen vollzog die weltgeschichtliche Bewegung auf dem eignen Gebiete des Geisteslebens. Aber nirgends ist klarer als hier, daß die Wandlungen allerdings gegen die überkommene Existenzform des Christentums gehen, daß sie aber, richtig verstanden und mit voller Energie durchgeführt, sein innerstes Wesen weiter zu entwickeln und für das weltgeschichtliche Leben erst recht zu erschließen versprechen. Es handelt sich aber vornehmlich um drei Scheidungen und Befreiungen des Geisteslebens, um sein Überlegenwerden über die Sinnlichkeit, über die bloße Geschichte, über die kleinmenschliche Lebensform. Diese Befreiungen und Erweiterungen sind nicht fertige Ergebnisse, die jedem Einzelnen zu bequemem Besitz zufallen, aber sie sind Bewegungen und Aufforderungen geistiger Art, denen sich niemand entziehen kann, der das Wirken und Schaffen auf der Höhe der weltgeschichtlichen Lage halten möchte, sie geben einen aller Willkür der Individuen und allen Schwankungen der Augenblicke überlegenen Maßstab.

1. Das Geistesleben hat auf dem Boden der Neuzeit eine Selbständigkeit gegenüber allem sinnlichen Dasein erlangt, es hat sie erlangt durch eine stärkere Aufbietung und Anspannung der Selbsttätigkeit, die keine passive Hingebung an die Umgebung duldet, sondern allem Empfangen ein Wirken vorangehen läßt und danach bemißt, die auch das Grundgefüge der Welt von innen aus entwerfen will. Nach solcher Wandlung kann das Sinnliche nicht mehr einen wesentlichen Bestandteil geistiger Gebilde, sondern nur noch eine, wenn auch wertvolle Hilfe und ein, wenn auch unentbehrliches Darstellungsmittel bedeuten. Das muß sich auch auf die Religion erstrecken; das Sinnliche in ihr, das die greisenhafte Stimmung des ausgehenden Altertums wie der kindliche Sinn des Mittelalters als zur vollen Realität religiöser Erlebnisse unentbehrlich fand, wird der zu größerer Selbsttätigkeit erweckten Neuzeit magisch und zugleich, mit seiner Bindung inneren Lebens an äußere Zeichen, zu einer unerträglichen Hemmung der Freiheit. Was daraus an Widerspruch gegen die überkommene Ordnung erwächst, das trifft vornehmlich den römischen Katholizismus, der in der engen Verschmelzung von Geistigem und Sinnlichem seine Eigentümlichkeit hat und für frühere Zeitlagen seine Stärke hatte, der aber nach Aufkommen jener Bewegung zu größerer Selbsttätigkeit und reinerer Geistigkeit die Menschheit auf einer innerlich überwundenen Lebensstufe festhält. Aber auch der Protestantismus, dessen innerster Zug gegen jenes Magische geht, hat es keineswegs rein ausgeschieden; es erhält sich bei ihm in der Hochschätzung der sinnlichen Wunder, es erhält sich in allen Einrichtungen sakramentaler Art, es wirkt fort auch in der Lehre von der Erlösung durch das »Blut« Christi. Die Sakramente sind das Kind einer Zeit tiefer Ermattung und geistiger Dämmerung; göttliche Kräfte sollten dem Menschen zugehen, aber sie bedurften dafür eines sinnlichen Zeichens, das zugleich als notwendiges Unterpfand ihrer Wahrheit, ein Mehralssinnliches wurde. Es gehört ein trübes Dämmerlicht und eine traumhafte Lebensstimmung dazu, um darin keinen Widerspruch zu gewahren, das als einen notwendigen Halt für Leben und Überzeugung zu fordern. Das frischere Leben und das hellere Licht der Neuzeit hat das vermeintlich Religiöse zu einem Magischen herabgesetzt; was von Resten dieses Magischen im Protestantismus verblieben ist, das wirkt um so fremdartiger, als ihm hier die entsprechende Umgebung fehlt.

Wohl fanden und finden noch heute viele in jenem Magischen einen subjektiven Halt und scheuen seine Entfernung als eine schwere Erschütterung. Aber sie ist nicht nur eine zwingende Notwendigkeit für den modernen Menschen, sie entspricht auch der innersten Art des Christentums, das als Religion des Geistes auftrat und die Welt sich unterwarf, das sich in dem Wirken zur Menschheit wohl zeitweise des Magischen bedienen, aber nicht endgültig mit ihm verbinden kann. Freilich muß für den Verlust des Magischen ein Ersatz geboten werden; das aber kann nur durch eine Verstärkung des Geisteslebens selbst geschehen, es kann nur in der Weise geschehen, daß ein Ganzes die einzelnen Lebensäußerungen durchdringt und sich in ihnen erweist, daß damit ein sicheres Beisichselbstsein gewonnen wird, das auch ohne sinnliche Handgreiflichkeit eine volle Wirklichkeit hat. Auch macht die Entfernung des Sinnlichen aus dem Zentrum der Religion es keineswegs überflüssig und nebensächlich für ihre Belebung beim Menschen. Je mehr die Religion einen reingeistigen Charakter entwickelt, desto weniger vermag unsere Vorstellung sie zu fassen, desto notwendiger wird ihr ein Bild und Gleichnis, desto mehr bedarf sie der Hilfe von Phantasie und Kunst. Aber diese unentbehrliche Hilfe bedeutet nicht die Sache selbst und bestimmt nicht ihren Gehalt.

2. Das Überlegenwerden des Geisteslebens über die bloße Geschichte hat uns so viel beschäftigt, daß es hier nur einer kurzen Erinnerung bedarf. Daß wir als Kinder der Neuzeit alle Darbietung der Geschichte auf den Boden eines unmittelbaren Lebens versetzen und sie von hier aus bemessen müssen, das verwickelt in manche Konflikte mit der überkommenen kirchlichen Form des Christentums. Der Katholizismus wird von diesen Verwicklungen weniger betroffen, da ihm noch nach Art des Mittelalters Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar zusammengehen und zugleich die Unterschiede der Zeiten verblassen. Dem Protestantismus hingegen ist ihre Scheidung und das Zurückgehen auf die ersten, vermeintlich ungetrübten Anfänge wesentlich, seiner Art entspricht es, das Leben immer von neuem zu dieser besonderen Epoche zurückzulenken und ihr gemäß zu gestalten. Aber noch wesentlicher ist für ihn, die Religion auf eignes Leben und persönliche Erfahrung zu stellen; beides aber zugleich zu erweisen, das Leben persönlich zu gestalten und es an ein geschichtliches Faktum zu binden, das doch nicht unmittelbar erlebt werden kann, das ist ein innerer Widerspruch, der, anfangs verborgen, schließlich zur Empfindung kommen und dann unerträglich werden muß. Der Katholizismus hat hier entschieden die Logik für sich, wenn er die Kirche die Wahrheit jener Tatsache verbürgen läßt, während der Protestantismus in Gefahr gerät, die gelehrte Forschung, das historische Wissen, über den Sinn des Lebens und das Heil der Seele entscheiden zu lassen. Der Protestantismus kann seiner Hauptidee nicht treu bleiben, ohne die Geschichte dem persönlichen Leben unterzuordnen, damit aber eingreifende Wandlungen gegen die überkommene Gestaltung zu vollziehen.

Die Gegenwart zeigt oft ein unsicheres Schwanken des religiösen Lebens zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Autorität und eignem Leben; man will der Unsicherheit der eignen Überzeugung abhelfen durch eine Flucht zur Geschichte, deren reiche Tatsächlichkeit der Religion einen festen Halt und einen anschaulichen Inhalt geben soll. Im besonderen überlassen wir uns dem Eindruck hervorragender Wendepunkte und Persönlichkeiten, wir versetzen und versenken uns in sie, bis wir uns schließlich selbst vergessen, wir suchen sie bei sich selbst zu verstehen und aus ihren Zusammenhängen zu rechtfertigen, die lebendige Vergegenwärtigung ihr Art dünkt uns ein großer Gewinn an Wahrheit. Aber diese historische, diese relative Wahrheit ist nicht die ewige und absolute Wahrheit, worauf die Religion bestehen muß; das Zusammenwerfen von beiden, was namentlich der deutschen Art nahe liegt, enthält die Gefahr, für echtes Empfinden bloßes Nachempfinden, für die eine Wahrheit viele Wahrheiten, für Leben bloßes Wissen einzusetzen. Höchste Achtung vor der Geschichte an ihrem Platz, aber energischen Widerstand gegen einen entnervenden Historismus!

Mit solcher Ablehnung des Historismus und solcher Verweisung der Geschichte an den zweiten Platz wissen wir uns in vollem Einklang mit dem Geist des Christentums. Denn wohl hat das von ihm verkündigte Eingehen des Ewigen in die Zeit die Bedeutung der Geschichte gewaltig gesteigert, ja eine Geschichte im geistigen Sinne überhaupt erst möglich gemacht. Aber nun und nimmer hat das Christentum damit das zeitliche Leben zur Hauptsache und den Menschen zu einem vorwiegend geschichtlichen Wesen gemacht. Denn das Geschehen in der Zeit hat hier einen Wert nur durch das, was es an Ewigem entfaltet, und was es für das Ewige leistet; es wird hier nicht die Ewigkeit von der Zeit, sondern die Zeit von der Ewigkeit aus betrachtet und bemessen, und es ist das Große in der Geschichte groß vor allem als eine Befreiung von der bloßen Geschichte, als Vergegenwärtigung einer ewigen Ordnung. Daher muß die Ewigkeitsbetrachtung stets überlegen bleiben, und es bildet das Christentum zum Evolutionismus aller und jeder Art, wie auch zu allem Historismus einen unversöhnlichen Gegensatz. Die kräftigere Herausarbeitung des Ewigkeitscharakters, das Verlangen einer zeitüberlegenen Gegenwart ist also durchaus kein Abfall vom Christentum. Daß es keinen Rückfall in die Aufklärung bedeutet, und daß die Geschichte an zweiter Stelle einen großen Wert behält, davon haben wir uns überzeugt. Nur muß den Hauptstandort des Lebens wenn irgend so bei der Religion eine zeitüberlegene Gegenwart bilden.

3. Die letzte Befreiung des Geisteslebens ist die von der Bindung an die bloßmenschliche Daseinsform. Wir sahen die moderne Kulturarbeit mit ihrer Richtung auf das All diese durchbrechen, wir sahen einen energischen Kampf zur Austreibung des Bloßmenschlichen aufgenommen. Durch die Gesamtentfaltung der neuen Kultur hat sich das Geistesleben von der subjektiven Zuständlichkeit und von der Zurückbeziehung auf das menschliche Befinden abgelöst, hat es eigne Inhalte und Notwendigkeiten, Gesetze und Methoden erzeugt, hat es sich zu einer selbständigen Welt zusammengeschlossen und den Menschen zu einem bloßen Mittel und Werkzeug seiner Entfaltung gemacht. Seinen greifbarsten Ausdruck fand das in dem Zusammenschießen des Geisteslebens zu einem einzigen, scheinbar freischwebenden Denkprozeß. Wir sahen das sich nicht nur aufs schroffste gegen Religion und Christentum wenden, sondern auch alle Moral zu einer Nebenerscheinung herabsetzen, wir sahen es alles persönliche Leben, alles selbständige Fürsichsein zugunsten eines Ideales bloßer Kraft zerstören.

Bei solcher Zuspitzung der Emanzipation des Geisteslebens ist allerdings der Zusammenstoß unvermeidlich und die Gegnerschaft unversöhnlich. Aber diese Zuspitzung ist selbst im höchsten Maße problematisch, sie ist eine, wenn auch großartige Verirrung. Sahen wir doch und haben es in anderen Werken näher entwickelt, daß die Verwandlung des Geisteslebens in einen unpersönlichen Denkprozeß es selbst bis zum Grunde zerstört, daß die hier verkündigte Entwicklung zu einer Selbstverzehrung wird, indem sich mehr und mehr das ganze Leben in ein Reich abstrakter Größen verflüchtigt, die unter den Händen entweichen, sobald man sie festhält und zu näherem Ausweise zwingt. Wenn sich aber, der Gedanke einer Emanzipation des Geisteslebens von dieser besonderen Art befreit, und wenn sich weiter herausstellt, daß das Geistesleben, um eine volle Wirklichkeit zu sein, ein Beisichselbstsein werden und mit einer beharrenden Selbstentfaltung alle Tätigkeit umspannen muß, so braucht die Bewegung nicht gegen das Christentum zu gehen, sondern sie kann ganz wohl zu seiner Förderung dienen, indem sie Geistesleben und Menschheit in ein sicheres Verhältnis bringt. Wohl geht durch das Christentum eine hohe Schätzung des Menschen und eine starke Liebe zum Menschen. Aber sie gehen nicht auf den Menschen als bloßes Naturwesen, sie wollen ihn nicht in seiner bloßmenschlichen Selbstbehauptung bestärken, sondern sie sehen ihn im Licht einer neuen Welt und eröffnen ihm ein neues, in Gott gegründetes Leben; es ist, wenn nicht die Wirklichkeit, so doch die Möglichkeit einer Wesenswandlung, worauf jene Schätzung und Liebe beruht. Durch alles echte Christentum geht eine Sehnsucht nach einem neuen Menschen, nach einem neuen Reiche des Friedens und der Liebe. Die nähere Durchführung aber, welche dies Verlangen in der älteren Zeit fand, kann die neuere nicht voll befriedigen. Bei allem Emporstreben ist dort das Leben zu sehr bei der Form der bloßen Menschlichkeit verblieben, und es sind die neuen geistigen Inhalte, welche das Verhältnis zu Gott entwickelt, nicht genügend von der menschlichen Aneignungsform geschieden; der modernen Denkweise erscheint die Gottesidee selbst zu sehr als eine bloße Idealisierung des Menschen, und das religiöse Leben zu sehr als ein Verkehren von Subjekt zu Subjekt, damit aber als zu affektiv und anthropomorph. Daß dagegen der Pantheismus auf Weltbegriffen bestand, daß er die Einspinnung in den menschlichen Empfindungskreis mit aller Energie bekämpfte, das hat nicht wenig dazu beigetragen, ihm die Sympathie der Neuzeit zu gewinnen; in die früheren, bei aller Wärme engen Begriffe können wir ebensowenig zurück wie in das Weltbild des Ptolemäus.

Aber entsteht, so hören wir fragen, mit solcher Wendung nicht eine ernstliche Gefahr für die Religion, ist nicht eine gewisse Bejahung und Bestärkung des Menschen für sie wesentlich, gehört nicht zu ihr ein gewisser Anthropomorphismus? Jedenfalls ist wie das Gottesbild so die Religion des Pantheismus um so schattenhafter geworden, je mehr er mit der Austreibung alles Menschlichen Ernst gemacht hat, Wir geraten in das Dilemma, daß uns das Menschliche zu klein wird, daß aber mit seiner Preisgebung die Religion zusammenzubrechen droht.

Solchem Dilemma ist nur zu entgehen durch eine innere Zerlegung des Menschlichen, durch eine schärfere Scheidung der geistigen Inhalte von der subjektiven Aneignungsform. Unsere ganze Untersuchung war auf den Nachweis gerichtet, daß eine solche Zerlegung nicht nur möglich, sondern schlechterdings notwendig ist, daß es ohne sie nicht nur in der Religion, sondern überhaupt keine Wahrheit gibt, Auch suchte sie das zu zeigen, daß sich nicht nur einzelne Inhalte nebeneinander entwickeln, sondern daß sie sich zum Ganzen eines Lebens zusammenschließen und eine Wesensbildung bewirken, deren seelischer Ausdruck das Persönlichsein ist. Gewinnt damit der Mensch im eignen Bereich ein kosmisches Selbst, so kann er wie überall so auch in der Religion getrost einen Kampf gegen das Kleinmenschliche wagen, so läßt sich eine gründliche Auseinandersetzung erstreben, so liegt das Problem nicht mehr im Verhältnis des Menschen zu einer Außenwelt, sondern in seinem eignen Lebenskreise.

Damit entstehen schwere Aufgaben. Wie die moderne Forschung das unmittelbare Bild der Natur, das der älteren Denkweise die Tatsache selbst schien, in eine bloße Erscheinung verwandelt, aus der es die Tatsache erst herauszuarbeiten gilt, so müssen wir auch aus dem unmittelbaren Befunde des menschlichen Daseins die geistige Substanz erst herausarbeiten; die vermeintlichen Tatsachen haben sich in Aufgaben umgewandelt, aber in den Aufgaben selbst stecken Tatsachen, die uns der Wahrheit näher zu bringen versprechen. Von hier aus kann die Religion zugleich am Menschen nach seinem geistigen Wesen festhalten und den Anthropomorphismus nachdrücklich bekämpfen. Aber alle ihre Größen bedürfen alsdann eine Umwandlung, es müssen z. B. die Begriffe der Persönlichkeit, der Moral usw. die nächste menschliche Erscheinung hinter sich lassen, es muß die bloßsubjektive Innerlichkeit einer substantiellen weichen, es gilt überall eine Umbildung ins Große, Volltätige, Kosmische. Damit wird manches zu einem bloßen Weg, was vorher das Ziel selber dünkte, aber was wir an unmittelbarem Besitz verlieren, das gewinnt unser Wesen an Tiefe. Je mehr wir uns aber in einer geistigen Substanz befestigen und im Kern des Lebens über das Kleinmenschliche erheben, desto unbefangener können wir die unmittelbare Gestalt des Menschen als ein Bild und Symbol des Göttlichen verwenden und schätzen. Denn nun wissen wir, daß wir uns in ihm nur eines Mittels bedienen, das zur Wirkung auf die Seele unentbehrlich ist, das aber nicht die Sache selbst, sondern nur ihr Gleichnis bedeutet.

 

Erwägen wir, wie viel in solcher veränderten Stellung des Geisteslebens zum Menschen liegt, und wie sie den Grundbestand der Religion verändern muß, vergegenwärtigen wir uns zugleich, welche Wandlungen die Verschiebungen in Kultur und Geschichte wie die neue Naturwissenschaft mit sich bringen, so kann über die kritische Lage der Religion kein Zweifel sein; denn die nächste Wirkung jener Wandlungen ist für sie verneinender Art. In den gewaltigen Erweiterungen und Ablösungen, die sich vollzogen, ist die überkommene Unmittelbarkeit und seelische Nähe verloren gegangen, die Religion scheint uns in die Ferne gerückt und droht uns ganz zu entschwinden. Dazu kehren die Verschiebungen sich nicht nur Punkt für Punkt gegen die überkommene Form, sondern die sie durchwaltende Gesinnung mit ihrem trotzigen Selbstgefühl des Menschen widerspricht aller und jeder Religion. Aber so ernst wir die durch das alles erzeugte Krise nehmen, sie scheint uns nicht sowohl einen Bruch mit dem Christentum als eine gründliche Erneuerung zu verlangen. Denn, über die nächsten Motive und die Stimmungen der Menschen hinaus auf ihren geistigen Kern zurückverfolgt, scheinen jene Wandlungen nicht nur vereinbar mit dem, was dem Christentum wesentlich ist, sondern sie versprechen jenes Wesen freier und kräftiger zu entwickeln. Nur fällt uns das nicht in den Schoß, sondern es fordert unsägliche Mühe und Arbeit; es gilt das Verlorne voll zu ersetzen, das Gefährdete neu zu befestigen; das aber kann nicht anders geschehen als durch eine energische Konzentration des Geisteslebens, durch einen rücksichtslosen Kampf mit der Oberfläche der Zeit, durch eine gründliche Scheidung des Wahren und des Falschen in der modernen Kultur, durch ein Beleben und Zusammenfassen alles dessen, was nach dem rechten Ziele weist.

b. Das Zeitliche im Christentum und die Notwendigkeit einer Erneuerung.

1. Die Verschiebung gegen die ältere Art.

Die Substanz des Christentums konnten wir nicht als zeitüberlegen verfechten, ohne den zeitlichen Charakter der überkommenen Daseinsform stark zu betonen. Diese Daseinsform hat sich abgeschlossen unter dem Einfluß einer höchst eigentümlichen Zeit, und seit jener Zeit haben sich tiefgehende Wandlungen im menschlichen Leben vollzogen. Das 4. und das 5. Jahrhundert, in die vornehmlich jener Abschluß fällt, waren im Ganzen ihrer Art eine Epoche geistiger Stagnation, sie konnten das Christentum gestalten nur mit Hilfe eben des Altertums, gegen das es sich aufringen mußte. So hat sich die Gedankenwelt und der Kultus des alten Christentums unter stärkstem Einfluß des griechischen, die Organisation der Kirche unter dem des römischen Geistes entwickelt. Dann kam die Übertragung des Christentums aufs neue, geistig erst werdende Völker und damit unvermeidlich eine Vergröberung, dann das Mündigwerden dieser Völker und das Aufsteigen einer neuen Kultur, die eine neue Stellung zur Welt und eine neue Art des Lebens brachte; wie hätte das alles wirken können ohne mit dem Ganzen des Menschen auch das Christentum zu verändern, ohne alte Werte zu entwerten und mit neuen Lagen neue Forderungen zu bringen. Wir haben uns zur Genüge dagegen verwahrt, die Religion der Kultur zu unterwerfen und sie ihren Schwankungen preiszugeben. Aber wo die Wandlungen der Kultur in das Ganze des Lebens zurückgreifen, wo sie die Seele anders empfinden und anderes erstreben heißen, da kann sich ihnen auch die Religion ohne schweren Schaden, ohne die Gefahr einer Verdrängung aus dem Zentrum des Lebens nicht entziehen. Solche Wandlungen sind gegen das 4. und 5. Jahrhundert in Wahrheit erfolgt; so muß zum neuen Menschen auch die Religion in neuer Weise wirken, und es darf das Neue sich nicht nur versteckt einschleichen und bescheiden anschmiegen, sondern es muß sich mit voller Offenheit aussprechen und auf voller Selbständigkeit bestehen, wenn nicht das religiöse Leben an seiner Kraft und Wahrhaftigkeit Schaden leiden soll.

Die Größe der Veränderung und der Zwang einer Umbildung wird vielleicht am ersichtlichsten, wenn wir die Gestaltung der religiösen Gedankenwelt auf der geistigen Höhe des alten Christentums, also bei AUGUSTIN, mit der vergleichen, welche nach den Erfahrungen der Jahrtausende gefordert wird, gefordert wird nicht durch eine flüchtige Laune der Zeitgenossen sondern durch den weltgeschichtlichen Stand des Geisteslebens, dem für die Dauer sich niemand entziehen kann. In drei Hauptpunkten hält uns AUGUSTIN eine charakteristische Gestalt der Religion entgegen. Die Erweisung des Göttlichen stand hier in schroffem Gegensatz zur Entfaltung der menschlichen Kraft, und es schien das Göttliche um so würdiger gefaßt, um so höher geehrt, je mehr das Menschliche herabgesetzt und aller Selbsttätigkeit entkleidet wurde; es schien ferner die Religion für den Menschen nur soweit wirklich und wahr, als sie eine sichtbare Verkörperung gewann, wie das Reich Gottes in der Kirche, so alle Betätigung religiöser Art in greifbaren Leistungen, als einem wesentlichen Bestandteil der Sache; endlich wurde hier alle Kultur in den unmittelbaren Dienst der Religion gestellt, alle wissenschaftliche, künstlerische, politische Tätigkeit war nur soweit wertvoll, ja zulässig, als sie in die Religion einmündete und ihre Wahrheit bekräftigte; so ein durchaus religiöses, kein universales Lebenssystem.

Von diesen drei Punkten ist das Verhältnis von Geistigem und Sinnlichem eben erörtert, und es hat sich dabei gezeigt, wie tief die Forderungen der erhöhten Selbsttätigkeit des Geisteslebens in die Gestaltung der Religion eingreifen. Nur das sei noch hinzugefügt, daß der schroffe Konflikt zwischen der älteren und der neueren Denkart schlechterdings keinen Kompromiß zuläßt, sondern zwingend eine Entscheidung verlangt. Denn die Gedankenrichtungen widersprechen einander schnurstracks: die untrennbare Verschmelzung des Sinnlichen mit dem Geistigen, die dem einen ein unbedingtes Erfordernis zur vollen Realität des Geistigen bedeutet, dünkt dem anderen eine Herabziehung des Geistigen in eine niedere Sphäre; er muß ebenso entschieden seine Entfernung aus dem Zentrum des Lebens verlangen, als der andere es hier festzuhalten verpflichtet ist. Was dem einen ein schwerer Anstoß, das ist dem anderen eine unerläßliche Forderung.

Auch beim Verhältnis des Göttlichen und des Menschlichen verbietet sich uns eine einfache Fortführung der älteren Art. AUGUSTIN behält das Verdienst, den christlichen Grundgedanken der Nichtigkeit des bloßen Menschen mit voller Schärfe formuliert und alles Große im Menschen als ein Werk der göttlichen Gnade verstanden zu haben. Aber über dieser Seite hat er, der Sohn einer matten und mutlosen Zeit, die andere arg verkümmern lassen: das Wiedererstarken des Menschen aus der Verbindung mit Gott, die Verwandlung seines Lebens in Selbsttätigkeit aus den neuen Zusammenhängen. Gnade und Freiheit erschienen bei AUGUSTIN, gemäß jener Fassung des Verhältnisses von Menschlichem und Göttlichem, als unvereinbare Gegensätze; ein Hervorgehen der Freiheit aus Gnade blieb seiner dualistischen Denkweise fremd. Daß AUGUSTIN den Menschen im kirchlichpraktischen Leben zu eigner Tätigkeit berufen hat, und daß diese oft sogar die Hauptentscheidung des Lebens zu enthalten scheint, das wissen wir; aber wir wissen auch, daß das ohne Ausgleichung, ja im Widerspruch mit jener Grundrichtung geschah, und daß es mehr eine Akkommodation an die Forderungen der Praxis als eine vertiefte Fassung des Christentums ist.

Jene AUGUSTIN eigentümliche Fassung mußte aber dahin wirken, der Religion den Charakter der Passivität, der kritiklosen Devotion, des blinden Gehorsams zu geben; sie erzeugte eine Lust, ja eine Sucht zu verehren auch ohne Sicherung der Verehrungswürdigkeit, sie drohte dem Leben das Rückgrat zu nehmen und es ins Empfindsame, Weichliche, Gedrückte zu gestalten. Das Greisenhafte jener Zeit ist hier tief auch in die Religion eingedrungen. An Widerspruch dagegen hat es später nicht gefehlt, besonders geht durch die Anfänge der Reformation ein glühendes Verlangen nach einem männlichen, tatfreudigen, welterneuernden Christentum. Aber diese Anfänge sind auf dem Boden der Kirchen nicht zur vollen Entwicklung gelangt, unendlich viel bleibt der Zukunft zu tun, wenn im Christentum weltverneinendes und welterneuerndes Wirken das volle Gleichgewicht finden, wenn Freiheit und Gnade die alte Verfeindung überwinden und miteinander eine neue Wirklichkeit aufbauen sollen.

Zugleich bedarf das Verhältnis der Religion zur Kultur einer Umgestaltung. Indem bei AUGUSTIN alle Lebensgebiete lediglich der Religion zu dienen hatten, verlor alles, was sie bei sich selber waren und wirkten, seinen Wert, die Preisgebung aller Gegenständlichkeit zugunsten eines subjektiven Seelenstandes drohte alle Kultur zu zerstören. Das Mittelalter mit seiner Scholastik verlieh der Kulturarbeit einen höheren Wert, indem es ihr eine gewisse Selbständigkeit beließ und der Religion nur die Leitung des Ganzen gewährte; aber auch das war eine Beengung der Kultur, und zugleich ist in der Ausführung die Religion selbst stark unter den Einfluß fremder Gedankenmassen geraten. Die Reformation vollzog zugunsten der Selbständigkeit der Religion eine schärfere Scheidung, aber daraus entstand die andere Gefahr, daß jene sich zu sehr in ein Sonderreich abschloß und ihren Weltcharakter, wenn nicht preisgab, so doch minderte, daß dagegen die Kultur mehr und mehr den Zusammenhang mit den letzten Lebenstiefen verlor und einen bloß säkularen Charakter annahm. So gewiß die Religion und die Kultur verschiedene Ausgangspunkte, ja entgegengesetzte Pole im Gesamtleben bilden, ihre völlige Scheidung würde das Leben in unerträglicher Weise zerreißen.

So stehen wir auch hier vor neuen Aufgaben. Eine bloß religiöse Lebensführung ist uns zu eng geworden, die Flachheit einer religionslosen Kultur aber wird immer stärker empfunden. So gilt es eine Verständigung innerhalb eines weiteren Ganzen des Lebens; wir sahen, wie das Geistesleben in dem Sinne, wie wir es fassen, einen Boden für eine solche Verständigung bietet. Aber diese kann nicht ein ruhiges Sichzusammenschließen, nicht die Herstellung eines endgültigen Gleichgewichtsstandes sein. Denn es sind die Ausgangspunkte wie die Bewegungsrichtungen hier und da grundverschieden, und es droht alle Abschwächung dieser Verschiedenheit die Kraft wie die Wahrheit des Lebens zu schädigen; dieses muß für uns in steter Spannung bleiben, wenn es gesund und frisch bleiben soll.

So erscheint durchgängig ein großer Gegensatz zwischen dem überkommenen alten und dem erstrebten neuen Lebenstypus. Und es frommt in keiner Weise, diesen Gegensatz zwischen altem und neuem Christentum zu verschleiern und zugunsten einer doch nur scheinbaren Kontinuität nach einem Mitteldinge zu streben, das Altes und Neues ineinander verlaufen läßt. Auch genügt es nun und nimmer, für das Neue nur eine gnädige Duldung zu erbitten, eine Erlaubnis, das Alte möglichst in seinem Sinne umzudeuten. Wer bei solchem Streit es zugleich beiden Seiten recht machen will, der gerät in Gefahr, beiden Unrecht zu tun, dem Alten, das den Anspruch erheben darf, sich in der durch Jahrtausende befestigten und für die Überzeugung Unzähliger geheiligten Gestalt unverfälscht zu erhalten, dem Neuen, das durch eine Verquickung mit dem Alten an der vollen Entfaltung seiner eignen Art gehemmt und mit schädlichem Ballast beschwert wird, wo es doch der Einsetzung aller Kraft bedarf, um die gegenwärtige Krise zu überwinden.

Wie groß und unversöhnlich die Gegensätze sind, das erscheint am deutlichsten in der verschiedenen Stellung, welche hier und dort der Begründer des geschichtlichen Christentums einnimmt. Diese Frage ist insofern der Kernpunkt des Ganzen, als hier über die Gestaltung des Verhältnisses von Menschlichem und Göttlichem entschieden wird, das die Grundwahrheit des Christentums bildet. Denn nichts unterscheidet diese Religion mehr von den übrigen, als daß hier die von allen Religionen erstrebte Einigung von Menschheit und Gott nicht von außen her, nicht durch Gebote und Leistungen, sondern daß sie von innen heraus, durch die Bildung eines neuen, in Gott gegründeten Lebens und allein echten Wesens erfolgt, daß hier inmitten einer widerstrebenden Welt der Mensch zur Teilnahme an der Vollkommenheit und Seligkeit, an der Unendlichkeit und Ewigkeit des göttlichen Seins berufen wird. Nun aber gibt die ältere Fassung dieser Wesenseinigung von Göttlichem und Menschlichem eine supranaturale, ontologisch-metaphysische Gestalt. Der Begründer des Christentums soll zugleich wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch sein; lediglich an dieser einen Stelle scheint das Wunder des Eingehens des Göttlichen in das Menschliche vollbracht, allein durch die Vermittlung dieser Stelle und nur in Beziehung auf sie wird auch der übrigen Menschheit eine Verbindung mit Gott eröffnet. So schien alle Wahrheit und Gewißheit dieser Verbindung daran zu liegen, daß in jener Persönlichkeit nicht bloß die Kraft der Gottheit wirke, sondern daß sie selbst göttlichen Wesens, selbst Gottheit in vollstem Sinne sei; in diesem Zusammenhange wurde jede Abschwächung der Gottheit Christi zu einer Minderung der Substanz der Religion, und war der Sieg der Wesensgleichheit über alle bloße Wesensähnlichkeit von vornherein entschieden; je metaphysischer, je gottgleicher Christus gefaßt ward, desto größer schien seine Religion, desto sicherer die Begründung ihrer göttlichen Wahrheit. Nun aber ist die volle Einigung von Gottheit und Menschheit in einer Person mit der dogmatischen Dekretierung keineswegs schon eine lebendige Macht für das religiöse Leben geworden, sondern es zeigt die Geschichte des Christentums hier einen starken Dualismus: man hat in Christus nicht sowohl zugleich den Gott und den Menschen verehrt als vielmehr ihn bald als Gott bald als Menschen verehrt, wobei die dogmatische Gedankenrichtung mehr der einen, die praktisch-ethische mehr der anderen Schätzung folgte. In der Tat ist der Widerspruch unversöhnlich. Ein Mensch, der zugleich Gott ist, der als Gott die vollste Sicherheit absoluter Wahrheit besitzt und aus solcher Überlegenheit das menschliche Dasein führt, der seine Herrscherwürde nur zeitweilig niederlegt, der teilt nicht das Sorgen und Suchen, das Kämpfen und Zweifeln, welches das Schwerste, aber auch das Größte im menschlichen Leben bildet. Auch einem Leiden, das nach göttlichem Ratschluß die heilsamsten Folgen hat, ja in die Geschicke der Welt eine Wendung bringt, fehlt der Stachel, der das Leiden erst zu wahrhaftigem Leiden macht: die scheinbare Sinnlosigkeit, der Zweifel, ob nicht aller harte Kampf, aller bittre Schmerz vergeblich und verloren sei. Wer in seinem Leid nicht auch diesen Zweifel mit zu überwinden hatte, dem war nicht mehr, dem war weniger auferlegt als uns anderen. Und wenn das überkommene Christentum keinen Widerspruch darin empfindet, dieselbe Persönlichkeit mit tiefster Erregung des Gemütes als einen leidenden Menschen zu beklagen und zugleich als eine aller menschlichen Sorge und Not überlegene Gottheit zu verehren, so sei, bei allem Abstand der Welten, an ein Wort des vornehmlich um die Einheit und die Ewigkeit des göttlichen Wesens besorgten XENOPHANES erinnert. Als ihn die Eleaten fragten, ob sie der Leukothea opfern und sie beweinen sollten, meinte er: »Beweint sie nicht, wenn ihr sie für eine Gottheit, opfert ihr nicht, wenn ihr sie für einen Menschen haltet.«

Auf eine Einigung von Menschlichem und Göttlichem kann auch die neue Fassung unmöglich verzichten; der Verzicht wäre eine Preisgebung nicht nur der Religion, sondern aller und jeder Wahrheit. Aber sie kann jene Einigung nicht auf einen einzelnen Punkt beschränken und sie den anderen von da aus erst zweiterhand zugehen lassen, ihr muß sie die ganze Geschichte durchdringen, zusammenhalten und erhöhen, ihr gilt sie als eine weltumspannende und fortlaufende Tat, die sich an jeder Stelle unmittelbar zu erweisen vermag.

Das besagt zugleich einen harten Zusammenstoß mit der überkommenen Vermittlungsidee, woran das kirchliche Christentum die Hauptidee der Erlösung bindet. Denn nicht unmittelbar soll vom göttlichen Leben die geistige Umwandlung ausgehen, die über der Kraft des Menschen liegt, sondern es wird zwischen das Göttliche und das Menschliche ein Zwischenglied eingeschoben, das, sowohl dorthin als hierher gehörig, beide in eine enge Verbindung bringt, die sie sonst nicht finden könnten. Was diesem Gedanken der Vermittlung Macht über die Seele gibt, das zeigt schon sein Ursprung und seine Geschichte. Es ist vornehmlich das spätgriechische Altertum, das sich zu ihm flüchtete und an ihn klammerte. Seine Voraussetzungen liegen hier deutlich zutage. Tief durchdrungen von den Gegensätzen unseres Daseins, namentlich dem des Geistes und Stoffes, sucht man das Göttliche möglichst weit über das unlautere Weltgetriebe hinauszuheben, es möglichst jenseitig zu fassen; so scheint es den Menschen keineswegs direkt berühren zu können. Beseelt diesen aber zugleich ein starkes Verlangen nach Befreiung von Not und Schuld, wie nur die Verbindung mit der Gottheit sie bringen kann, was bleibt da übrig als die Hoffnung auf vermittelnde Mächte? Mit der Zusammenfassung in Eine Persönlichkeit hat das Christentum diesem Gedanken den großartigsten Ausdruck gegeben, und soweit er, freier verstanden, das Angewiesensein des Menschen auf Liebe und Gnade verkörpert, kann er allem Angriff trotzen. Aber in der dogmatischen Vermittlungslehre liegt neben sonstigen Verwicklungen die Gefahr, das direkte Verhältnis des Menschen zu Gott zu schädigen. Wie alles Leben und Sein, so kann auch das der Religion nur einen einzigen Mittelpunkt haben; entweder steht Gott oder es steht Christus im Mittelpunkt und wird damit zur Hauptsache für die Seele. Kann dabei nun über die Entscheidung kein Zweifel sein, so zeigt auch aller Einblick in die Seelenkämpfe großer religiöser Persönlichkeiten, daß an entscheidender Stelle die Vermittlung gänzlich zurücktrat und das Verhältnis zu Gott eine völlige Unmittelbarkeit erhielt. Auch führt die Vermittlung leicht zu weiterer und weiterer Vermittlung. Ist nicht im Katholizismus oft das Bild Christi so in die Ferne gerückt, daß Maria oder gar ein Heiliger den Mittelpunkt des religiösen Gefühlslebens bildet?

Solche Überzeugung schließt nicht aus, daß die menschliche Persönlichkeit, welche die ewige Wahrheit allererst zu geschichtlichem Durchbruch brachte und damit eine neue Epoche begann, dauernd den Seelen gegenwärtig bleibt, dauernd auf sie eine gewaltige Wirkung zu üben vermag. Eine Persönlichkeit wie die Jesu ist nicht ein bloßer Träger von Lehren oder Stimmungen, sondern ein überzeugender Durchbruch göttlichen Lebens, an dem sich immerfort neues Leben entzünden kann. Die Tatsache ist hier zugleich der Beginn einer unermeßlichen Bewegung, es ist von hier der Menschheit eine große Sehnsucht eingepflanzt, ein Verlangen nach einem neuen Leben der Liebe und Friedfertigkeit, der Reinheit und Kindlichkeit. Ein solches Leben mit seiner unvergleichlichen Art und seiner geheimnisvollen Tiefe lebt sich nicht in geschichtlichen Wirkungen aus, immer neu kann sich die Menschheit von hier zu ihrem innersten Wesen finden, immer neu hier eine Hilfe in dem harten Lebenskampfe suchen, immer neu sich bestärken in der Gewißheit einer neuen göttlichen Welt gegenüber der Sinnlosigkeit der Natur und der Scheinhaftigkeit der bloßen Menschenkultur.

Aber das alles besagt keine Annäherung an den Vermittlungsgedanken, nicht die Erhebung einer menschlichen Persönlichkeit zu göttlicher Würde und Verehrung. Müssen wir damit der Stellung widersprechen, die Jesus in der überkommenen Form des Christentums einnimmt, so müssen wir noch entschiedener eine jesuzentrische Gestaltung der Religion verwerfen, die sich, gewissermaßen zum Ersatz für einen wesenhaften Gehalt und eine metaphysische Tiefe, an das menschliche Bild Jesu klammert, darauf alles Empfinden bezieht, danach alles religiöse Leben bemißt. Eine derartige Verehrung hatte so lange guten Grund, als Jesus Christus in seiner Menschlichkeit zugleich als wahrer Gott, als die zweite Person der Dreieinigkeit galt; wo aber diese Überzeugung verlassen wurde, da wird jene ausschließliche Bindung des Lebens an Jesus zu einer unstatthaften Minderung der Religion. Jenes bloß mit dem Menschen Jesus befaßte Christentum, das heute vielen ein Ausweg aus der Verwicklung dünkt, ist den gewaltigen Problemen der Gegenwart nicht gewachsen, es ist nicht kräftig genug, eine feindliche Welt zu überwinden.

So bestehen schroffste Gegensätze zwischen dem überkommenen und einem neu aufstrebenden Christentum. Dabei erscheinen die beiden Fassungen nicht als ein Mehr oder Minder, zwischen denen sich eine versöhnende Mitte finden ließe, sondern in wesentlichen Punkten als Gegensätze: die Weite, die der eine verlangt, gilt dem anderen als eine Verflüchtigung, und die Befestigung, worauf dieser besteht, dünkt jenem eine Versinnlichung und Vermenschlichung; die Vermittlungsidee, dem einen ein unentbehrlicher Zugang zur Gottheit, erscheint dem anderen als eine Schmälerung ihrer und als eine Schwächung des Grundprozesses der Religion.

Was soll nun bei solcher Gegensätzlichkeit, bei solcher tatsächlichen Spaltung die Festhaltung eines Scheines der Einheit? Das Alte hat recht mit der Klage, daß den überkommenen Größen ein neuer und fremder Sinn untergelegt wird, es befürchtet von solcher Umdeutung eine Schädigung innersten Wesens, es beruft sich auf eine Tradition von Jahrhunderten und Jahrtausenden und besteht darauf, in der dadurch gewonnenen Gestalt rein und unverändert erhalten zu bleiben. Noch mehr sollte die neue Art eine deutliche Scheidung wünschen, wenn anders sie sich als Vertreterin einer Wahrheit fühlt und diese vollauf durchzusetzen die Pflicht hat. Denn nur bei voller Selbständigkeit kann sie die bisherige Unfertigkeit überwinden, kann sie aus einem mehr negativen Verhalten zu positivem Aufbau kommen, kann sie das eigne Vermögen an der Erfahrung der Menschheit erproben und im Ringen mit den Widerständen auch innerlich weiter wachsen. So wie die Dinge jetzt liegen, verzehren die Gegner ihre beste Kraft in gegenseitiger Fehde; im Streit über Recht und Unrecht der Parteien kommt die Sache selbst nicht weiter; vor allem aber hemmt jene Verworrenheit die volle Wahrhaftigkeit, ohne die sich die gegenwärtige Krise der Religion nicht wohl überwinden läßt.

Der keineswegs neue Zwiespalt ließ sich so lange ruhig ertragen, als die Religion in den Hintergrund des Lebens gedrängt war. Aber das wird jetzt zusehends anders, die religiösen Fragen beschäftigen, ja beherrschen mehr und mehr die Gemüter, sie entzünden die Leidenschaften und rufen eifrig zum Kampf, alte, scheinbar längst erledigte Fragen erwachen von neuem und zeigen, daß alle Wandlungen des Lebens ihre Macht nicht gebrochen haben. Solches Aufsteigen einer neuen Bewegung zur Religion vertreibt mit zwingender Gewalt jenes trübe Zwielicht, das nur den Halben gefallen kann, es bringt den bis dahin verschleierten Widerspruch zu deutlichstem Bewußtsein und macht ihn damit unerträglich. Aus einer ehrlichen Auseinandersetzung von Altem und Neuem aber muß notwendig ein Streben nach einer Gestaltung der christlichen Wahrheit hervorgehen, die sowohl der weltgeschichtlichen Lage des Geisteslebens als einem immer mächtiger anschwellenden Verlangen vieler entspricht, deren Durst nach Wahrheit und Ewigkeit die alte Form nicht mehr befriedigt. Wie lange noch sollen der Religion diejenigen als bloße Stiefkinder gelten, denen ihr Gewissen und ihre Überzeugung verbietet, auf dem alten, für sie veralteten Wege die ewige Wahrheit zu suchen? Daß der neue Weg kein bequemer ist, ist leicht zu ersehen und sei nun in Kürze erörtert.

2. Die Notwendigkeit einer neuen Form des Christentums.

Wenn wir eine neue Form des Christentums verlangen, so verkennen wir in keiner Weise die Gefahr und die Schwierigkeit eines solches Bruches mit der Tradition. Die überkommene Form hat Jahrtausende hindurch einen großen Teil der Menschheit zusammengehalten, sie hat der Überzeugung und dem Leben eine feste Richtung gegeben, Unzähligen Halt und Trost gewährt, weiteste Kreise für geistige Ziele gewonnen; das alles wird jedem als etwas überaus Großes gelten, dem die geringe geistige Regsamkeit des menschlichen Durchschnitts und die Unsicherheit des Geisteslebens im menschlichen Kreise deutlich vor Augen steht. Bei Erwägung dessen mag der Bruch mit der überkommenen Form der Religion als eine Erschütterung sowohl der moralischen als der intellektuellen Zusammenhänge erscheinen, als eine Gefährdung alles dessen, was den Menschen über das kleine Ich und die bloße Natur hinaushebt. Angesichts solcher Gefahren hat jener Bruch nur dann ein gutes Recht, wenn ihn eine allen menschlichen Erwägungen überlegene geistige Notwendigkeit fordert; das aber wird auf dem Gebiet der Religion namentlich dann der Fall sein, wenn die ältere Form der Religion die eignen Aufgaben der Religion nicht mehr voll zu lösen vermag, wenn somit die Aufrechterhaltung der Religion nicht möglich ist ohne eine Erneuerung. Daß dies in Wahrheit heute der Fall ist, ging als ein leitender Gedanke durch unsere ganze Untersuchung, so daß es hier nur einer knappen Zusammenfassung bedarf.

Die Religion hat ihren Kern in ewigen Wahrheiten, in Wahrheiten, die, einmal eröffnet, kein Wandel der Weltarbeit erschüttern kann. Aber sie wollen zum Menschen wirken und müssen dafür in seinen Bereich eingehen, ihre Existenzform hat dem weltgeschichtlichen Stande der geistigen Bewegung zu entsprechen. In diesem Stande sind aber, wie wir sahen, gegen die ältere Art eingreifende Umwandlungen erfolgt, die nicht bloß die Peripherie berühren, sondern auch das Zentrum des Lebens treffen. Eine bloße Veränderung der Ansichten von der Außenwelt möchte die Religion nicht stark erregen, ein anderes ist es, wenn sich zugleich der Lebensprozeß und die gesamte Denkart verwandelt, wenn der Mensch ein anderer wird, sich sein Grundverhältnis zur Wirklichkeit verschiebt, sein Lebenskreis sich umgestaltet. Denn so gewiß die Religion nicht neben dem Leben, sondern in ihm steht, so gewiß wird auch sie von solchen Wandlungen betroffen. Die Gedankenwelt ihrer älteren Art ist als viel zu eng und anthropomorph zersprengt, der Widerstand gegen die Geistigkeit, der früher eine Schuld des Menschen dünkte, scheint sich nun über eine ganze Welt auszudehnen, und es wächst damit unermeßlich das Dunkel der Wirklichkeit, weit mehr eigne Anspannung, weit mehr Kampf wird damit dem Menschen auferlegt. Zugleich aber ist seine eigne Stellung weit unsicherer geworden. Gab früher sein unmittelbares Dasein das Vorbild für die Größen des Alls, und dünkte die Religion ein Verhältnis des Menschen zu einem wohl unvergleichlich höheren, aber doch ihm verwandten Wesen, so hat jetzt mehr und mehr die Welt als Natur den Menschen an sich gezogen und ist seiner Herr geworden; er wird zu einem bloßen Tropfen am Eimer, es sei denn, es werde in seinem geistigen Wesen ein Durchbruchspunkt einer neuen, wesenhafteren Welt erkannt. Damit aber verwandelt sich das, was ein sicherer Besitz schien, in ein schweres Problem, und es wird zur Aufgabe, vom unmittelbaren Befund zur Tiefe des Lebens erst durchzudringen; weit schärfer hat sich eine Religion des Geisteslebens von der des bloßen Menschen abzuheben, die nunmehr zur bloßen Mythologie zu werden droht. Damit werden alle Begriffe von göttlichen Dingen unzulänglich, vieles, was bisher als volle Wahrheit galt, wird nunmehr ein bloßes Symbol, das nur den Ausgangspunkt zu weiterem Vordringen bildet. Aber zugleich erlangen die geistigen Inhalte eine Selbständigkeit und bilden den Menschen um, das Leben erhebt sich auch in der Religion deutlicher vom Subjektiven ins Substantielle und muß dabei weit mehr innere Wandlung vollziehen. Überall stehen wir hier vor neuen Aufgaben, zu deren Lösung es unumgänglich nötig ist, die veränderte Lage vollauf anzuerkennen und von ihr aus den Kampf zu führen.

Die ältere Art der Religion entzieht sich aber solcher Anerkennung, sie nimmt nur einzelne Ergebnisse hin, die völlig unleugbar wurden, wie z. B. das kopernikanische Weltbild, aber zu jedem solchen Zugeständnis wird sie mühsam gedrängt, dem Ganzen jener Bewegung setzt sie Mißtrauen und Abwehr entgegen; so aber kann sie sich nicht gründlich mit ihm in Ja und Nein auseinandersetzen und sich dessen bemächtigen, was an Fruchtbarem auch für die Religion in ihm liegt.

Die Folge dessen ist eine für die Dauer unerträgliche Spaltung des Lebens. Die Kultur schiebt die Religion immer weiter zurück und gerät damit immer mehr in eine säkulare und schließlich seelenlose Art, die Religion aber wird immer mehr ein Sondergebiet, das sich mehr und mehr verengt und dem Menschen immer weiter in die Ferne rückt, bis es schließlich völlig gleichgültig wird. Dies Gleichgültigwerden aber ist der gefährlichste Gegner der Religion, gefährlicher als alle Kämpfe und Zweifel. Jene Ablösung der Religion vom Ganzen des Lebens bringt es aber unvermeidlich mit sich; es wird noch immer weiter um sich greifen, wenn sich die Religion nicht wieder mit dem Ganzen des Lebens enger verbindet und in ihm eine große Aufgabe findet.

Wohl fährt inmitten aller Hemmung die ältere Art der Religion fort eine bedeutende Wirkung zu üben, und sie ist in praktischem Wirken dem Neuen bis jetzt noch weit voran. Aber dieses Wirken beschränkt sich auf einzelne Gebiete, das Ganze der geistigen Arbeit und den Hauptzug des Lebens beherrscht die ältere Art nicht mehr, dafür ist sie zu partikular, wie sich denn allem, was sich heute mit besonderem Nachdruck »christlich« nennt, der Charakter der Partikularität anhaftet. Wenn ferner große Massen noch fest am alten Glauben hangen, so geschieht das nicht, weil sie in Abwägung des Alten und des Neuen sich für jenes entschieden haben, sondern weil die Bewegungen und Zweifel sie noch nicht berührten, weil ihnen das Problem noch ferne blieb. So aber sind sie der Religion eine höchst unsichere Stütze. Denn früher oder später wird jene Berührung kommen, und ob sie dann noch beim Alten verbleiben werden, das ist zweifelhaft genug.

In Wahrheit kann die Religion die ihr gebührende Stellung nur behaupten, wenn sie die volle Höhe des Geisteslebens wahrt, sich hier als notwendig und fruchtbar erweist, zugleich aber von den Lebensbewegungen das Befreundete an sich zieht und stärkt, das Feindliche angreift und austreibt. Da nun das Alte dieser Aufgabe sich entzieht, so bedarf es einer neuen Existenzform der Religion, es bedarf ihrer vor allem zur Befreiung des Ewigen in ihr von zeitlichen Formen, der geistigen Substanz von menschlicher Fassung. An dem Alten empfinden wir vieles als veraltet und fremd geworden, eine Ermüdung an seiner Art, ja an seiner Sprache ist über die Menschheit gekommen, es quillt nicht mehr mit der hinreißenden Kraft und der jugendlichen Frische aus dem Ganzen unseres eignen Lebens hervor, wie das zur vollen Wirkung der Religion gehört. Nun haben wir unser eignes Leben zu führen und unser eignes Geschick zu tragen; wer darf uns verwehren, unser Heil auf unserem eignen Wege zu suchen?

Aber so gewiß das Streben nach einer neuen Existenzform der Religion unerläßlich ist, über die ungeheure Schwierigkeit der Aufgabe kann kein Zweifel sein, wenn anders sie nicht von vornherein verkehrt und niedrig gefaßt wird. Vor allem darf der Religion in aller Wandlung der Existenzform nichts von echter Substanz verloren gehen, diese muß vielmehr zu noch reinerer, kräftigerer, universalerer Wirkung gelangen. Das aber ist nur möglich, wenn das Problem der Ausgleichung der Religion mit der Kultur nicht so verstanden wird, daß jene dieser lediglich nachzugeben und sich ihr dienstwillig anzupassen habe, sondern so, daß sie als eine selbständige Macht und mit selbständigem Inhalt in jenes Verhältnis eintritt, daß sie dabei nicht bloß gemessen wird, sondern auch ihrerseits mißt, anerkennt und verwirft. Namentlich gilt das gegenüber der modernen Art der Kultur, denn die moderne Kultur ist selbst nicht einfach und eindeutig; wohl enthält sie Bewegungen, Erfahrungen, Entfaltungen des Geisteslebens, denen sich auf die Dauer auch die Religion nicht entziehen kann, aber zugleich trägt sie in sich zeitliche und menschliche Tendenzen höchst bestreitbarer Art, die dem Hauptzuge der Religion und des Christentums schroff widersprechen. Die moderne Kultur, wie sie in der menschlichen Fassung sich ausnimmt, mit ihrer Weltfreudigkeit und ihrer unmittelbaren Lebensbejahung, ihrem Schwanken zwischen Naturalismus und Intellektualismus, ihrer Zurückdrängung, ja Verdrängung der ethischen Größen, ihrer Preisgebung aller Ewigkeit an den Evolutionsgedanken ist nicht nur mit dieser oder jener Existenzform, sondern sie ist mit der Religion überhaupt schlechterdings unverträglich. Wer sie daher in jener Fassung zum Maßstabe der Religion macht, der hat diese schon verurteilt; der echte Freund der Religion kann sich einem Kampfe gegen jene Tendenzen nicht entziehen, er muß auch bei der Kultur auf eine gründliche Scheidung von geistiger Wahrheit und menschlicher Irrung dringen.

So hat sich denn alle echte Bewegung zur Erneuerung der Religion scharf von allem zu scheiden, was nicht sowohl Religion als Kultur will, was aber irgend etwas von Religion festhalten möchte und sich damit einer Verflachung unmöglich erwehren kann. In Zeiten einer geistigen Krise, wie wir sie heute erleben, führt das Flache leicht das Wort, es deckt mit der Flagge der Freiheit die eigne Dürftigkeit, es hat für sich die Neigung der Halbgebildeten und mehr noch der Übergebildeten, denen jede Verneinung ein Zeugnis der Größe dünkt. Derartige Strömungen möchten namentlich die Religion »zeitgemäß« gestalten, sie fliehen und verschreien alles entschiedene Nein, allen schroffen Zusammenstoß mit dem, was die Zeit behauptet. Heute kann keine noch so verkehrte, noch so religionsfeindliche Bewegung aufkommen, ohne daß sich alsbald »freisinnige« Leute finden, welche als Schleppenträger der Zeit nachzuweisen bemüht sind, daß das alles sich mit der Religion und dem Christentum ausgezeichnet vertrage, ja daß es dessen wahren Sinn erst recht erschließe. Solcher unwürdigen Anpassung an die Zeit gegenüber gilt es, die Kraft, die Schärfe, die Überlegenheit der zeitüberlegenen Wahrheit ohne Abzug zu behaupten, gilt es, der Religion ihre volle Selbständigkeit zu wahren und von ihr aus auch eine Sichtung und Siebung an der Kultur zu üben. Diejenigen, denen das Alte nicht mehr genügt, bilden nicht eine einzige, sondern zwei Hauptgruppen: die einen sehen in der Religion ein bloßes Stück der Kultur, und sie pflegen diese zugleich als ein bloßes Mittel zur Hebung menschlicher Wohlfahrt zu behandeln; so können sie dem Leben unmöglich irgendwelche Tiefe geben und eine Umkehrung in ihm vollziehen, es aufrütteln und erhöhen; sie müssen sich darauf beschränken, den gegebenen Stand nur weiter auszubauen und ihn möglichst angenehm einzurichten. Die anderen dagegen verlangen einen neuen Ausgangspunkt und eine neue Art des Lebens, sie bestehen dafür auf einer Umkehrung und einer Wendung zur Metaphysik, einer Metaphysik des Lebens freilich, nicht formaler Begriffe. Wenn damit gegenüber der Natur und dem menschlichen Zusammensein sich eine neue Welt erhebt, so kann die Religion als ihre Vertreterin eine Selbständigkeit erlangen und ein eigentümliches Wirken erweisen. Auch der Freiheitsbegriff erhält dort und hier eine ganz verschiedene Stellung: den einen scheint es, als ob die Befreiung vom Druck der Autorität und Tradition vollauf genüge, um die Bewegung in rechte Wege zu leiten; den anderen dagegen ist die Freiheit eine bloße Bedingung, nach deren Erfüllung das Problem erst recht beginnt. Für die Wiederbelebung der Religion ist es wesentlich, daß beide Arten sich schärfer scheiden, und daß aus dem Streben nach ihrer Verjüngung gründlich entfernt wird, was sich in ihm noch an bloßer Aufklärung, an Optimismus und an Kulturenthusiasmus forterhält. Das Ja der Religion, so sahen wir, ist kräftig nur, wenn es ein entschiedenes Nein in sich trägt; eine Religion, die nicht abzustoßen und zu verneinen vermag, wird nur eine Nebenrolle im Leben spielen.

Unleugbar verliert die Religion mit der Erschütterung der älteren Form viele wertvolle Stützen, deren Wegfall irgendwie ersetzt werden muß. Dafür aber hat verschiedenes zusammenzuwirken. Vor allem bedarf es eines Zurückgehens auf die Grundtatsache der Religion, wie sie die Weltgeschichte durchdringt und zusammenhält, es bedarf einer energischen Selbstbesinnung des Geisteslebens auf sein eignes Wesen und die Möglichkeit einer Behauptung dieses Wesens unter den Hemmungen des menschlichen Bereichs. Hier ist darauf zu bestehen, daß das religiöse Problem nicht isoliert, sondern innerhalb des Ganzen des Lebens behandelt werde, daß die Bewegung zur Religion den Mittelpunkt einer durchgehenden Bewegung zur Geistigkeit bilde; nur das Geistesleben gibt die Möglichkeit, die Größen der Religion von der bloßmenschlichen Fassung zu befreien und ihnen einen selbständigen Gehalt zu geben; ferner erscheint nur von hier aus die Religion nicht als eine bloße Rettung der Individuen, sondern auch als die Herstellung eines Gesamtstands der Menschheit und damit erst als eine Erhöhung und Erneuerung des Menschen im Ganzen seines Wesens. Hier gilt es einfache Grundzüge deutlich herauszuarbeiten und möglichst eine einzige große Hauptlinie durchzuführen, die das vorhandene Chaos in ein Für oder Wider scheidet.

Sodann aber gilt es, die Religion zu den Aufgaben unserer eignen Zeit in engere Beziehung zu setzen als es gewöhnlich geschieht; indem sie diese Aufgaben ergreift, vertieft und auf ihren Kern zurückführt, muß und wird sie sich selbst als unentbehrlich erweisen. Je entschiedener wir es verwerfen, die Religion den Lagen und Launen des Menschen anzupassen, desto entschiedener müssen wir darauf bestehen, daß die Geschichte nicht in den Wechsel solcher Lagen und Launen aufgeht, sondern daß sich in ihrer Bewegung Fortbildungen des Geisteslebens vollziehen, die zeitüberlegener Art sind, und die alles Wirken anzuerkennen und in sich aufzunehmen hat, welches der weltgeschichtlichen Lage entsprechen und dauernde Förderung bringen will. Diese Weiterbildungen vollziehen sich aber nicht in ruhiger und sicherer Entwicklung, sie werden insofern zu schweren Problemen und entzünden unsägliche Leidenschaft, als der Mensch die weltgeschichtliche Forderung sich nach seinen Interessen zurechtzulegen und in den Dienst seiner Zwecke zu ziehen pflegt. So erlebt es mit besonderer Stärke unsere eigne Zeit. Nach zwiefacher Richtung vollziehen sich eingreifende Wandlungen im Menschenleben: einmal empfinden wir die überkommene Art des Lebens, im besonderen der Gedankenwelt, als zu eng und anthropomorph, und es drängt uns mit zwingender Gewalt zu einer Erweiterung, zu einem Verstehen und Gestalten unseres Daseins vom Ganzen der Wirklichkeit her, der Mensch führt hier einen harten Kampf gegen seine eigne Enge und Kleinheit. Zugleich aber geht durch die Menschheit ein Verlangen nach einer neuen Gliederung ihres Zusammenseins: der überkommenen aristokratischen Art, welche die Kultur zunächst in einem engeren Kreise befestigte und sie erst von da aus an das Ganze der Menschheit brachte, wird eine neue, demokratische entgegengesetzt, welche jene Abstufung verwirft, eine unmittelbare Teilnahme aller an allem verlangt und damit hofft das Leben unermeßlich steigern zu können.

Sowohl die Bewegung zur inneren Erweiterung als die zur gleichmäßigen Ausbreitung des Lebens ist voll großer Aussichten und Hoffnungen, aber zugleich voll großer Verwicklungen und Gefahren. Das Streben nach Erweiterung kann mit dem, was am Menschen klein, auch alles, was in ihm an Neuem und Großem aufsteigt, verwerfen und niederdrücken, das Ganze der Wirklichkeit entweder in bloße Natur oder in abstrakte, unpersönliche Weltbegriffe verwandeln und damit dort in Naturalismus und Materialismus, hier in Intellektualismus und Formalismus verfallen, die beide, konsequent durchdacht, allen Sinn und Wert des Menschenlebens zerstören. Die Bewegung zur gleichmäßigen Ausbreitung aber enthält die Gefahr, das geistige Schaffen auf das Niveau der großen Massen herabzuziehen, dabei den Menschen nicht als ein schweres Problem, sondern als eine fertige Größe zu behandeln, das menschliche Wohlsein zum höchsten Ziel zu erheben und der Geisteskultur eine bloße Menschenkultur entgegenzustellen. Beide Bewegungen widersprechen einander insofern, als der Mensch dort ungebührlich herabgesetzt, hier dagegen ungebührlich erhoben wird; insofern aber gehen sie zusammen, als hier wie dort die Selbständigkeit des Geisteslebens verkümmert, ja völlig geleugnet wird. So steht die moderne Menschheit eben bei dem, worin sie etwas Neues und Großes sucht, in starker Gefahr eines Sinkens; dieser Gefahr entgegenwirken und in jenen Bewegungen Recht und Unrecht, geistige Notwendigkeit und menschliche Irrung voneinander zu scheiden, ist niemand mehr berufen als die Religion mit ihrem Zurückgehen auf die letzten Tiefen unseres Wesens und ihrer Eröffnung größerer innerer Zusammenhänge.

In solcher Weise erfolgreich wirken kann die Religion aber nicht genügend von den bloßen Individuen her, es bedarf dazu eines festen Zusammenschlusses, es bedarf einer religiösen Gemeinschaft, um inmitten einer verworrenen Welt ein Reich selbständiger Geistigkeit aufrechtzuhalten und kräftig zu entwickeln; ein solcher Zusammenschluß kann aber die Seelen nur voll gewinnen, wenn er der weltgeschichtlichen Lage des Geisteslebens entspricht, wenn er uns in unseren eignen Nöten hilft, uns in unserem eignen Streben fördert, uns nicht immerfort auf vergangene Zeiten zurückweist und bei ihnen festhält. Der überkommene Stand der Kirchen scheint uns nicht nur deshalb unzulänglich, weil er manches fortführt, was uns veraltet ist, sondern mehr noch, weil er uns nicht gewährt, was wir aus der heutigen Lage verlangen müssen. Wie anders müßte bei der Umbildung aller Größen und unter der drohenden Gefahr einer naturalistischen Lebensgestaltung wie einer geistlosen Menschen- und Massenkultur die Bildung der jungen Theologen, namentlich der protestantischen, beschaffen sein, wenn sie die geistige Bewegung der Menschheit führen und nicht bloß ein Nebenreich ausbauen sollen. Den ungeheuren Wandlungen des Lebens gegenüber, die uns einen Kampf um die letzten Grundlagen auferlegen, reichen kleine Verbesserungen und Milderungen nicht aus; schmerzlich vermissen wir oft die Kraft und den freudigen Glauben, derer es bedarf, um die Religion zu den Bedürfnissen des gegenwärtigen Lebens in enge Beziehung zu setzen und die Kraft der Gesamtbewegungen in sie überzuleiten.

Das Verlangen nach einer Erneuerung der religiösen Gemeinschaft begegnet dabei einem allgemeineren Verlangen der modernen Menschheit. Die überkommenen gesellschaftlichen Zusammenhänge haben sich aufgelöst oder sind doch in Auflösung begriffen, auch hält nicht mehr wie früher die Scholle, auf der er erwuchs, den Menschen fest, mehr und mehr wird der Einzelne allein auf sich selbst gestellt, mehr und mehr droht bei aller Überfülle äußerer Berührungen eine innere Vereinsamung. Das wird schon heute mit wachsender Stärke empfunden, und das ruft schon heute manches Streben nach einem Wiederzusammenschluß der Individuen hervor. Auch bei der sozialen Bewegung spielt dies Verlangen nach mehr Gemeinschaft eine große Rolle. Aber alle Verbindung der Menschen bleibt entweder an der Oberfläche, wie in den zahlreichen Vereinsbildungen der Gegenwart, oder sie wird bei Umspannung des ganzen Lebens zu einem schweren Druck und zur Vernichtung der Freiheit, wenn nicht vom tiefsten Innern her der Mensch einer alle umfassenden Geisteswelt angehört, und wenn hier das Erlebnis des Ganzen unmittelbar auch ein Erlebnis jedes Einzelnen zu werden vermag. Das aber kann allein bei der religiösen Gemeinschaft geschehen, die damit auch einen eigentümlichen Charakter gegenüber der staatlichen wahrt, aber es kann nur geschehen, wenn Ewigkeit und Zeit in ihr das rechte Verhältnis finden, was heute nicht der Fall ist. – Kommen nach all diesen Richtungen Bewegungen kräftig in Fluß, so läßt sich wohl ein genügender Ersatz für das hoffen, was unwiederbringlich verloren ging, und es kann zugleich die neue Art sich der Einwendungen erwehren, welche die alte gegen sie zu erheben pflegt.

Die alte Art vermißt an der neuen oft einen sicheren Tatbestand, sie wirft ihr vor, sich zu sehr auf bloße Begriffe und Lehren zu stellen und damit mehr Gedankengebäude zu bieten als Wirklichkeiten, die den Menschen mit der überlegenen Kraft einer neuen Welt umfangen könnten. Aber dieser Einwand trifft nur so lange zu, als das Geistesleben als ein bloßes Gedankengebilde der einzelnen Individuen gilt, nicht als ein bei sich selbst befindliches, wirklichkeitbildendes Schaffen; als solches verstanden, trägt es in sich selbst eine Tatsächlichkeit, eine Tatsächlichkeit in viel höherem Sinn als handgreifliche Daten sie liefern können. Wiederholt überzeugten wir uns, daß der Gesamtverlauf der Geschichte die Tatsächlichkeit immer mehr aus dem Sinnlichen ins Geistige, aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare zurückverlegt hat, daß den Anhängern des Alten diese Zurückverlegung aber leicht eine Verflüchtigung und Auflösung dünkte und sie daher zu schroffer Ablehnung reizte. So erschien der altchristliche Gottesbegriff den Verehrern der alten Götter als matt und schattenhaft, so daß die Christen des Atheismus bezichtigt wurden, und heute noch sträubt sich mancher Katholik dagegen, dem Gehalt der protestantischen Überzeugung eine volle Realität beizulegen. So entspricht es dem Zuge der weltgeschichtlichen Bewegung, wenn sich uns Tatsächlichkeit und Sinnfälligkeit noch weiter scheiden als zuvor. Das freilich muß uns dabei stets mit voller Klarheit gegenwärtig sein, daß die neue Art mit aller Gedankenarbeit der Eröffnung und Aneignung einer neuen Wirklichkeit dient, sowie daß ihr Subjektivität und Geistigkeit grundverschiedene Dinge bedeuten.

Auch das wird eingewandt, daß eine Religion des Geisteslebens überaus schwer zu verstehen sei, daß sie sich unmöglich für alle faßlich darstellen lasse. Dem ist verschiedenes entgegenzuhalten. Zunächst dies, daß die Fassungskraft der Individuen und der Massen wie überhaupt so auch bei der Religion unmöglich den entscheidenden Maßstab für die Wahrheit liefern kann; ein solches Verfahren müßte rasch alle Höhe und Festigkeit verlieren, es wäre schließlich solche Anpassung nichts anderes als ein Messen des Göttlichen am Vermögen des Menschen. Weiter aber ist keineswegs ausgemacht, daß eine religiöse Überzeugung, weil sie auf die tiefsten Wurzeln unseres Geisteslebens zurückgeht, dem schlichten und ungelehrten Menschen unverständlich sein müsse. Denn so gewiß das Teilnehmen an diesen Fragen eine Vertiefung des Seelenlebens fordert, eine solche ist nicht gebunden an den Grad der Gelehrsamkeit, jenseit aller Unterschiede der Bildung und der gesellschaftlichen Stellung können die Menschen sich hier in den großen und einfachen Grundzügen des Lebens zusammenfinden, mögen diese nur kräftig und klar herausgearbeitet werden. Endlich aber sei nicht vergessen, daß die Heranbringung der Religion an die einzelnen Individuen und die verschiedenen Schichten eine praktische Aufgabe ist, welche in erster Linie nicht der Philosophie, sondern der kirchlichen Gemeinschaft zufällt. Sie ist vornehmlich eine Sache der Lebenserfahrung und Seelenkunde. Dabei hat die Religionspsychologie wichtige Dienste zu leisten, so wenig sie sich vermessen darf, die Wahrheit der Religion zu begründen.

Am schwersten fällt ins Gewicht das Bedenken, ob eine Weiterbildung des Christentums, wie sie hier vom Geistesleben aus erstrebt wird, nicht den Boden des Christentums verlasse und den Zusammenhang mit ihm verliere. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, was unter Christentum verstanden wird. Ist es nichts anderes als die Gestaltung, welche in der Verkörperung zur Kirche vorliegt, und gelten hier Körper und Seele als voneinander untrennbar, so ist allerdings ein Bruch nicht zu leugnen. Uns aber galt als das Wesentliche wie jeder Religion so auch des Christentums die ihm eigentümliche Wirklichkeit, das ihm eigentümliche Leben, wie es von einem Ganzen her alle einzelnen Gebiete umfaßt und durchdringt; daß eine Religion selbständiger Geistigkeit die eigentümlich christliche Lebensgestaltung nicht aufgibt, sondern vielmehr sie zu voller Kraft und universaler Geltung erst zu führen sucht, das verfocht der Gesamtverlauf unserer Arbeit. Daß Christentum und Kirche nicht zusammenfallen, und daß es notwendig werden kann, die Sache des Christentums von der der Kirche zu trennen, das sollte wenigstens ein Protestant nicht leugnen, er könnte es leugnen ja nur, indem er das Recht seines eignen Standorts verleugnete; nicht minder wäre es eine Preisgebung der eignen Stellung, wenn er die Idee der Kontinuität zu alleiniger Herrschaft beriefe. Mag diese Idee für die Religion besonders viel bedeuten, nicht minder wichtig ist die Sorge für Ursprünglichkeit und volle Lebensfrische; da einmal das Leben des Menschen sich in Fluß befindet und der Lauf der Geschichte ihm eingreifende Wandlungen bringt, so kann die ausschließliche Behauptung der Kontinuität Erstarrung und Bedrückung erzeugen, so können Zeitlagen kommen, wo das Bestehen auf voller Wahrheit und selbständiger Lebensführung zwingend einen neuen Ausgangspunkt fordert. Ob wir uns heute in einer solchen Lage befinden, das hängt davon ab, wie schwer wir die jetzige Krise nehmen und zugleich die Erschütterung der Religion. Wir möchten meinen, daß die, welche einer ruhigen Weiterentwicklung der gegebenen Lage vertrauen, die Größe der Spannung unterschätzen, die zwischen dem Christentum und der modernen Kultur besteht. Gerade wer groß von der Religion und ihrer Aufgabe denkt, muß anderes und mehr von ihr fordern, als sie uns heute gewährt. Wie sich aber in Zukunft der Lauf der Dinge gestalten wird, das verbirgt uns ein tiefes Dunkel. Wirken dabei doch mannigfache Faktoren zusammen, die sich aller Berechnung entziehen, im besonderen gemeinsame Schicksale der Menschheit und das Erscheinen führender Geister. Vielleicht wird es erst schwerer Katastrophen bedürfen, damit die Menschheit sich wieder auf die Tiefe ihres Wesens besinne und zugleich der Religion ihr volles Recht gewähre. Aber diese Fragen der Zukunft brauchen uns heute nicht aufzuregen, gibt doch die Gegenwart uns wahrlich genug zu tun. Namentlich die wissenschaftliche Arbeit findet darin eine Aufgabe vollgenügender Art, gegenüber einer andersgerichteten Zeit und inmitten unsäglicher Verworrenheit die Umrisse einer neuen Gedankenwelt zu entwerfen, Hauptlinien deutlich herauszuarbeiten, auf die sich die Strebenden einigen können, mit möglichster Kraft zunächst zur Scheidung und dann zur Sammlung der Geister zu wirken. Mag das alles nur Vorbereitung sein, auch eine solche gehört zum Werk, und schließlich kann niemand wissen, wo Vorarbeit in Hauptarbeit übergeht.

c. Die Forderung der Gegenwart.

Wie immer es mit dem Verhältnis von Altem und Neuem stehen mag, darüber kann kein Zweifel sein, daß unsere Zeit dringendste Antriebe zur Wiederbelebung der Religion enthält. Niemand schelte diese Zeit als klein oder greisenhaft, die so viel glühenden Lebensdrang, so viel Arbeitstüchtigkeit, ein so unablässiges Vordringen zeigt. Aber daß diese Zeit eines inneren Gleichgewichts entbehrt, ja einen starken Widerspruch in sich trägt, das erhellt schon aus der Tatsache, daß der Rührigkeit des Lebens und den großen Erfolgen keineswegs die seelische Stimmung, das Glücksgefühl der Menschheit entspricht. Wir fühlen uns nicht bloß unbefriedigt in überströmender Fülle von Genüssen, wir pflegen auch von der inneren Beschaffenheit des Menschen, der so sicher und zielbewußt sich die Außenwelt unterwirft, gering zu denken, wir haben kein Vertrauen zu seiner moralischen Art, zu seinem Vermögen einer Selbstüberwindung; wenn wir heute vom Menschen sprechen, so steht uns zunächst das Kleinmenschliche, das »Allzumenschliche« vor Augen, in geradem Gegensatz zur Aufklärung und zur Zeit unserer Klassiker, wo die Gemüter trunken der Größe und Würde des Menschen waren.

Dieser merkwürdige Umschlag steht sicherlich in engem Zusammenhang mit der großen Wendung von einer unsichtbaren zur sichtbaren Welt, von einer durch Philosophie, Kunst und Literatur zu einer durch Naturwissenschaft, Technik und soziale Probleme beherrschten Lebensführung, wie der Lauf des 19. Jahrhunderts sie vollzogen hat. Diese Wendung zur sichtbaren Welt war eine Rettung aus gefährlicher Einseitigkeit, wie auch ein Goethe ihren Beginn mit lebhafter Freude begrüßte. Auch glaubte man zunächst durch sie vom überkommenen geistigen Besitz nicht das Mindeste einzubüßen, sondern mit Einem Leben ganz wohl beide Seiten umspannen zu können. Aber immer stärker und immer ausschließlicher zog das Neue das Sinnen und Streben an sich, zugleich aber verblaßte mehr und mehr die unsichtbare Welt, bis sie schließlich in mattem Hintergrund ein nur schattenhaftes Dasein führte. Damit verlor jedoch der Mensch ein genügendes Gegengewicht und das Vermögen einer genügenden Gegenwirkung gegen die Welt, die sinnfällig auf ihn eindringt und seine Kraft in Anspruch nimmt; es entschwindet eine innere Einheit, welche die Mannigfaltigkeit umspannen und umbilden könnte, wehrlos gegenüber dem ungeheuren Getriebe scheint der Mensch eine selbständige Bedeutung nirgends behaupten zu können.

Wir empfinden das in allen Hauptrichtungen des Lebens stark bei einem Vergleich der jetzigen Lage mit früheren. Die Natur war bei aller äußeren Fremdheit dem Menschen innerlich nahe, so lange sie mit der religiösen Überzeugung als ein Werk weltüberlegener Macht und Weisheit oder mit der künstlerischen eines immanenten Idealismus als ein harmonisches Kunstwerk und ein Reich stillen Friedens galt. Wird jetzt unsere Stellung zu ihr ganz und gar durch die exakte Forschung beherrscht, welche sie in ein Nebeneinander einzelner Kräfte zerlegt und in Beziehungen dieser Kräfte aufgehen läßt, so entfällt alle Seele des Ganzen, und kein inneres Band hält mehr die endlose Fülle zusammen; bei dieser Wandlung des Bildes erscheint der Mensch mit seinem ganzen Bereich als winzig klein gegenüber dem unermeßlichen All, die Gleichgültigkeit, mit der die Natur sein Tun und Ergehen behandelt, findet nicht die geringste Milderung, und der gewaltige Kampf der Lebewesen, den die neuere Forschung in der Natur entdeckt, scheint auch in das menschliche Leben zu reichen und den Menschen in ein bloßes Stück eines Getriebes zu verwandeln, das dunklen Notwendigkeiten folgt und keinerlei Sinn erkennen läßt.

Flüchtet aber der Mensch von der Natur zur menschlichen Gesellschaft, um hier seinem Leben einen Wert zu geben, so findet er sich hier, nach dem Wegfall aller inneren Zusammenhänge, in keiner besseren Lage. Denn nicht mehr bildet die Menschheit nun ein inneres Ganzes, wie sie es der Religion und auch dem immanenten Idealismus war, sondern sie zerfällt in ein bloßes Nebeneinander einzelner Elemente, die wohl in mannigfache Berührung treten und eine gewisse Teilnahme für einander gewinnen mögen, die aber vor allem dem Triebe der Selbsterhaltung folgen, daher bei der Begrenztheit des Lebensraumes als Konkurrenten feindlich zusammenstoßen und sich gegenseitig den Platz bestreiten. Das aber bei der gesteigerten Technik der modernen Arbeit in immer wachsendem Maße. Auch hier bleibt der Sinn des Ganzen dunkel. Denn mögen wir der sichtbaren Welt gegenüber immer weiter kommen: daß wir dadurch innerlich größer, fester und edler werden, das läßt sich schwerlich behaupten; so wird die Frage unabweisbar, ob alle Mühe und Arbeit nicht schließlich ins Leere verrinnt.

Nun bleibt als letzte Zuflucht noch die Wendung zum Individuum selbst im Gegensatz zur Gesellschaft; so konnte in der Religion der Mensch dem ruhelosen Weltgetriebe die Ruhe in Gott entgegensetzen, so auch eine stoische Denkart den Menschen zu unnahbarer Höhe über alle Weltgeschicke erheben. Beides aber verlangte eine unsichtbare Welt; nachdem sie gefallen ist, wird der Mensch ganz und gar ein Erzeugnis des ihn umgebenden Milieu, eine Zusammensetzung aus Vererbung, Erziehung, Lebenslage; wie er keine innere Einheit besitzt, so kann auch von eigner Wahl und von Erhöhung im Ganzen keine Rede sein. Ganz und gar bleibt er hier gebunden an den Stand der Umgebung, der er angehört. Das Schicksal weist ihm demnach seine Rolle zu, er hat sie zu spielen und dann von der Bühne abzutreten, ohne daß sein Scheiden einen merklichen Verlust bedeutet.

Überblicken wir diese verschiedenen Seiten, so finden wir überall das Leben nach außen gekehrt und alles Beisichselbstseins beraubt, streng genommen kann von einem Innern überhaupt nicht mehr die Rede sein, zugleich aber auch nicht von einem Gehalt des Lebens. Wen nicht die Aufregung und die Erfolge der nach außen gerichteten Arbeit blenden, der gewahrt überall eine innere Leere: Leere im All, Leere in der menschlichen Gesellschaft, Leere in der eignen Seele. Diese Leere würde viel stärker und unerträglicher empfunden werden, wenn nicht in der Gedankenwelt der Zeitgenossen vielfach eine Idealisierung der seelenlosen Größen erfolgte. So finden wir oft eine materialistische Denkart die Natur künstlerisch verklären und wie ein lebendiges Ganzes behandeln, obwohl in Wahrheit dafür eine ausschließlich mechanische Fassung nicht das mindeste Recht gewährt; so wird oft auch die Menschheit idealisiert und als ein innerer Zusammenhang verehrt, obwohl das den hier waltenden Begriffen vom All direkt widerspricht, man findet keinen Widerspruch darin, theoretisch den Menschen ganz und gar als ein bloßes Naturwesen zu behandeln und ihn den Tieren möglichst nahe zu rücken, praktisch aber ihm eine unvergleichliche Größe und Würde zuzuerkennen und ihn zum Träger eines neuen Lebens zu machen; so wird endlich auch das Individuum als eine innere Einheit und ein selbständiger Lebensquell behandelt, auch für es die höchste Schätzung und freieste Entfaltung verlangt, obschon unbegreiflich ist, wie ein bloßes Erzeugnis seines Milieu Einheit und Freiheit besitzen, auch irgendwelchen besonderen Wert in Anspruch nehmen kann. So verwendet man unbedenklich Überzeugungen und Schätzungen, deren Grundlagen aufgegeben sind; nur eine solche Erschleichung, die vom Gegner Gut erborgt, verdeckt leidlich die eigne Leere. Das aber behaftet die spezifisch moderne Lebensführung mit innerer Unwahrhaftigkeit; eine kräftigere und klarere Denkart muß diese durchschauen und auf eine Entfernung des Fremdartigen aus dem Lebensbestande dringen; aber zugleich muß sie die völlige Seelenlosigkeit dessen, was übrig bleibt, zur deutlichen Empfindung bringen.

Ein leeres Leben kann keine Kraft erzeugen; so finden wir unsere Zeit auf allen Gebieten, wo der ganze und innere Mensch in Frage kommt, in peinlicher Schwäche und Unsicherheit. Wir haben einen ausgedehnten – naturwissenschaftlichen und historischen, gelehrten und reflektierenden – Betrieb der Philosophie, aber wir haben kein philosophisches Schaffen selbständiger Art, sondern zehren als Epigonen von den Gedanken früherer Zeiten; wir befassen uns unablässig mit der Geschichte und haben die Technik der Forschung zu staunenswerter Höhe geführt, aber wir haben kein klares Verhältnis zum Ganzen der Geschichte und vermögen nicht die Vergangenheit in das Leben der Gegenwart überzuleiten; unsere Literatur bewegt mit höchstem Geschick alle einzelnen Saiten der Seele, aber sie faßt und fördert nicht den Menschen als Ganzes, sie greift nicht durch bis zur Tiefe des Wesens; unsere bildende Kunst ringt ernst und eifrig nach Wahrheit, aber das Gewirr der Zeit läßt sie nicht in sichere Bahnen gelangen; wir verhandeln mehr als irgendwelche andere Zeit über Fragen der Erziehung, aber wir besitzen kein gemeinsames und einfaches Erziehungsideal; wir suchen mit regstem Eifer die politischen und sozialen Zustände zu verbessern, aber wir geraten sofort ins Unsichere, wo es letzte Ziele und das Wohl des ganzen Menschen gilt. Durchgängig fehlt ein einheitlicher Lebenszusammenhang, welcher der Fülle der widerstreitenden Eindrücke und Anregungen überlegen wäre und die weltgeschichtliche Lage der Gegenwart zu einem einfachen und seelenbezwingenden Ausdruck brächte. Nirgends aber erscheint der Mangel an Kraft und an Konzentration stärker als bei der Moral. Unsere Zeit entbehrt keineswegs bedeutender Antriebe ethischer Art; einen solchen zeigt die soziale Idee mit ihrer Anerkennung eines Rechtes der erst Aufstrebenden und Schwächeren und einer dementsprechenden Verpflichtung der anderen; es zeigt ihn auch die moderne Humanität, welche mit hilfreicher Fürsorge alle Verzweigung des Lebens umspinnt. Aber alle in diesen Richtungen erwiesene Leistung bietet keinen Ersatz dafür, daß das Ganze unseres Lebens kein moralisches Prinzip und kein moralisches Ziel besitzt; es kann sie aber nicht haben, weil der Mensch nicht im Ganzen seines Wesens eine Aufgabe und eine Bewegung findet, die ihn über die physische und die soziale Selbsterhaltung hinaushebt; fehlt eine selbständige geistige Welt und ein Wurzeln des Menschen in ihr, so wird die Moral zu einer Sache der bloßen Konvention, und als eine solche wird sie der Gewalt der Naturtriebe und der Leidenschaften, wird sie vornehmlich dem Niederen und Gemeinen in der Menschennatur nun und nimmer gewachsen werden. So verfallen wir einer moralischen Verweichlichung, wenn nicht gar einer Verwilderung und Auflösung, der Mensch verliert in aller Ausdehnung seiner Macht nach außen hin die Herrschaft über sich selbst, immer schwächer und unsicherer wird, was ihn der anfänglichen Kleinheit entwindet und ihn im eignen Wesen einen Halt und einen Wert finden läßt. Und solche Abschwächung der Moral, solches innere Sinken des Menschen wird in der allgemeinen Verwirrung der Begriffe wohl gar als ein Fortschritt gepriesen, als ein Fortschritt an Freiheit und Größe. Bei solcher Verwischung der Grenzen zwischen Wahrheit und Irrung scheinen eben für unsere Zeit die Worte PESTALOZZIS gesprochen: »Es war immer Licht und Finsternis in der Welt, aber beide, das Licht und die Finsternis, standen in den meisten Tagen der Vorzeit, selber in dunklen Zeiten, reiner und wahrhafter vor den Augen des Menschen. Die Finsternis war in ihrem vollen Dunkel dem sehenden Manne leicht erkennbar. Jetzt scheint die Finsternis Licht, und das Licht ist Finsternis geworden.«

Einer näheren Schilderung der Lage, die aus solcher Verflüchtigung der Innenwelt hervorgeht, bedarf es nicht; steht doch diese Lage jedem deutlich vor Augen, der nicht an einzelnen Punkten haftet, sondern den Anblick der Zeit ins Ganze faßt. Völlig begreiflich wird damit die Neigung der Zeit, überall von außen nach innen zu erklären, ihre Lust am Verneinen und Verflachen; denn wer nichts in eigner Seele erfährt, der kann nirgends etwas Wesenhaftes finden und anerkennen; begreiflich die Wehrlosigkeit, mit der die Zeit von wechselnden Eindrücken bald hierher, bald dorthin gezogen wird und jedem Starken, unbekümmert um Vernunft oder Unvernunft, zum Raube fällt; begreiflich auch das Auseinandergehen der Menschen in allen prinzipiellen Fragen, die Zerklüftung in Sekten und Parteien bis zu babylonischer Sprachverwirrung. Daß wir geistig in einer schweren Krise stehen, ist nach dem allen nicht zu bestreiten.

Aber wir stehen nicht nur in einer Krise, wir beginnen auch sie zu empfinden und uns ihrer zu erwehren. Für jeden, der mit uns im Menschen das Aufsteigen einer neuen Lebensstufe anerkennt, kann nicht der mindeste Zweifel darüber sein, daß jene Verlegung des Schwerpunkts des Lebens in das Verhältnis zur Außenwelt eine vorübergehende Episode bildet, daß sicher ein Rückschlag dagegen kommen, die drohende Entseelung überwinden, der Innerlichkeit ihr Recht zurückgeben wird. Ein Unterstrom, der nach dieser Richtung geht, ist bei allen Kulturvölkern heute schon deutlich genug vorhanden, er wird stärker und stärker werden und immer mehr die Gestaltung des Lebens bestimmen. Immer dringender wird das Verlangen nach einem Beisichselbstsein des Lebens, nach einer inneren Erhöhung des Menschenwesens, die es bei sich selbst eine durchgehende und allen gemeinsame Aufgabe finden lasse, damit die Fremdheit im eignen Wesen überwinde und die Menschen wie einander so auch jeden sich selbst innerlich wieder näher bringe, auch ihrem Streben und Tun die Freudigkeit gewähre, die inmitten aller Erfolge und Genüsse an der Außenseite verloren ging.

Wenn aber aus solcher Bewegung ein neuer Idealismus aufsteigt, so wird er zur Religion eine weit engere Beziehung haben als der immanente Kulturidealismus der klassischen Zeit mit seinem Unternehmen, die Wirklichkeit als ein Reich lauterer Vernunft darzustellen. Daß sie kein solches, sondern ein Schauplatz eines harten Kampfes zwischen Vernunft und Unvernunft ist, das hat der Gesamtverlauf unserer Untersuchung gezeigt, und das stellen eben die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart jedem Unbefangenen klar vor Augen. Sind in Wahrheit so schroffe Gegensätze und schwere Verwicklungen vorhanden, so steht und fällt das Unternehmen einer Wiederbefestigung der Innenwelt, einer geistigen Reformation des gesamten Lebens, mit der Möglichkeit, einen dem unmittelbaren Dasein überlegenen Standort zu gewinnen, den Menschen größeren Zusammenhängen einzufügen und ursprüngliche Kräfte höherer Art in ihm zu beleben. Dies aber kann auf keinem anderen Wege geschehen als auf dem der Religion: nur sie vermag die Tiefe des Dunkels und die Schwere der Widerstände vollauf anzuerkennen und zugleich die Kraft und den Mut des Lebens voll zu bewahren. Daß der Mensch aus einer dunklen Natur hervorgeht und an sie gebunden bleibt, und daß er zugleich in der Kultur eine neue Welt ihr gegenüber aufbauen möchte, daß er einen verschwindenden Einzelpunkt bildet und doch an der ganzen Unendlichkeit teilhaben will, daß er inmitten des Flusses der Zeit steht und zugleich auf ewige Wahrheit unmöglich verzichten kann, daß er vom Mechanismus der Kausalität umfangen ist und zugleich Freiheit und Selbständigkeit verlangt, daß er um sein physisches Dasein unablässig zu kämpfen hat und durch alle Erfolge dieses Kampfes nun und nimmer befriedigt wird, das alles sind Widersprüche, die das unmittelbare Dasein in keiner Weise zu lösen vermag, denen das Leben entweder erliegen oder über die es sich erheben muß. Dürfen wir also eine Zurückkehr des Lebens zu seiner Tiefe sicher erwarten, und ist die Kräftigung der Religion unentbehrlich für solche Wendung, so kann über ihr Wiederaufsteigen – mag ihre Form sich noch so verändern – nicht der mindeste Zweifel sein. Denn was zur geistigen Selbsterhaltung der Menschheit notwendig ist, das wird sich schließlich als das Allerstärkste erweisen, das wird mit Sicherheit seinen Weg durch alles Zweifeln und Irren des Menschen finden.

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