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IV. Die charakteristische Religion.

Einleitung.

Alle bisherige Erörterung lief aus in ein starkes Verlangen nach einem neuen Tatbestand, nach einer weiteren Erschließung der Gottheit. Denn so übermächtig hatte sich im Bereich des Menschen das Gegenspiel entfaltet, daß das Leben in ein völliges Stocken geraten war; über die Unzulänglichkeit des bloßen Menschen konnte kein Zweifel sein, das Göttliche aber erschien vornehmlich als Gesetz und Gericht, es brachte unserem Leben neue Ziele und Maße, aber es verlieh ihm nicht die Kraft, ihnen zu entsprechen, es ließ die Unvernunft des Daseins aufs tiefste empfinden, aber es führte nicht eine Vernunft ihr gegenüber zum Siege. So scheint die Verwicklung bei uns nur noch gesteigert; mag, was daraus an Zweifeln erwächst, nicht das Göttliche selbst berühren, das Menschliche scheint tief herabgesetzt, ja aller Bedeutung entkleidet. Was hilft alle Mühe und Arbeit, wenn übermächtige Widerstände nicht zu brechen sind, wenn wir eine neue Welt wohl ahnen, aber keinen Weg zu ihr finden?

Es blieb, so sahen wir, nur eine einzige Hoffnung auf Befreiung von einer so unerträglichen Lage: das göttliche Leben und Wesen müßte sich inmitten der Nöte und Kämpfe unseres Daseins noch weiter erschließen; nur eine solche neue Tatsächlichkeit könnte dem inneren Verfall des Lebens steuern, könnte Zweifel und Verzagen zur Festigkeit und Freudigkeit wenden. Erfolgt in Wahrheit eine Wendung der Art?

Ein Glaube an sie durchdringt die Menschheit, er spricht aus allen Religionen, die eine Selbständigkeit gegenüber der Kultur erlangten und eine eigentümliche Gedankenwelt schufen, aus den sogenannten historischen und positiven Religionen. Denn sie alle gingen nicht sowohl darauf aus, das Ganze des Geisteslebens beim Menschen zum Siege zu führen, als darauf, etwas Neues zu bringen und dafür die Seele zu gewinnen; gegenüber dem chaotischen Dunkel des menschlichen Daseins bildeten sie sich ihr eignes Reich und flüchteten dahin wie in eine schützende Arche die menschlichen Ziele und Hoffnungen; dieses Reich aber fand seine Stärke besonders in dem Unterscheidenden und Unvergleichlichen, was es besaß. Die geschichtliche Religion erscheint demnach als eine Antwort auf die Frage, in die unsere bisherige Untersuchung auslief, als eine Antwort nicht in Begriffen und Lehren, sondern durch Leben und Tat, eine Antwort nicht des Einzelnen, sondern großer Gruppen der Menschheit. Schlimm nur, daß, wo wir untrügliche Sicherheit verlangen, sofort wieder ein Zwist entsteht, daß, wo wir eine Antwort begehren, die geschichtlichen Religionen uns viele und widerstreitende bieten. Wie steht es damit, zerstören sich die gegenseitigen Ansprüche und entschwindet zugleich alle Hoffnung auf Hilfe, oder schimmert durch alle Entzweiung eine gemeinsame Wahrheit hindurch, die uns zu stützen und weiterzuführen verspricht?

a. Die geschichtlichen Religionen.

1. Die Tatsache der Religionen.

Mit den geschichtlichen Religionen befaßte sich in Kürze schon die Einleitung, aber erst jetzt läßt sich das Verlangen nach ihnen vollauf verstehen, ihre Behauptung genauer erfassen, ihr Großes, aber auch ihr Gewagtes würdigen. – Daß jene Religionen gegenüber der gemeinsamen Welt und Vernunft eine eigentümliche Art des Lebens bieten, das zeigt schon die Art ihres Ursprungs. Denn sie gehen nicht in ruhigem Fortgang aus der gemeinsamen Gedankenarbeit hervor, sondern sie erscheinen wie ein völlig neuer Anfang in großen Persönlichkeiten, die, als Vermittler zwischen Gottheit und Welt, Gottes Willen der Menschheit verkünden und eine engere Gemeinschaft zwischen Gottheit und Menschheit begründen. Der nähere Inhalt der Verkündigung und die Art der Gemeinschaft entscheidet über das eigentümliche Wesen der einzelnen Religionen; aber mochte die Religion wie ein gemeinsamer Kampf für das Gute, Lichte, Reine in Abwehr des Bösen verstanden werden, wie im Parsismus, mochte ein Bund geschlossen sein zwischen Gott und seinem auserwählten Volke zu genauer Erfüllung des Gesetzes und zu entsprechender Vergeltung, wie im Judentum, mochte endlich ein Reich Gottes alle Menschen ihrem himmlischen Vater in gegenseitiger Liebe verbinden, ja Göttliches und Menschliches zur Wesenseinigung führen, wie im Christentum, immer begründet die Religion eine eigentümliche Lebensgemeinschaft mit Gott, immer läßt sie solche Gemeinschaft eine neue Wirklichkeit erzeugen, die sich nicht als einen Zusatz zum übrigen Leben, sondern als den Kern des Ganzen gibt. Je nach der Art des neuen Lebens gestalten sich eigentümlich und unterscheidend die Begriffe von Gott, die Aufgaben des Lebens, die geistigen Größen und Güter. So hat jede Religion ihr besonderes Weltbild, auch ihre besondere Moral. Und eben dies Individuelle, Unableitbare ist es, worin sie ihre Stärke sieht und von dem sie das Heil erwartet.

Eine derartige Selbständigkeit und Individualität erlangten aber die Religionen vornehmlich durch die Größe und die Kraft der sie begründenden Persönlichkeiten. Diesen war das neue Reich kein vager Umriß und keine matte Hoffnung, sondern vor ihren Augen stand es so anschaulich, ihrer Seele war es so gegenwärtig und erfüllte sie so ausschließlich, daß es ihnen die ganze sinnliche Welt zu Schein und Schatten herunterdrückte und sie irgendwelchen Wert nur aus jener höheren Ordnung gewinnen ließ. Eine solche Nähe und Eindringlichkeit konnte die neue Welt nur erlangen, indem eine königliche Phantasie dem Gewirr des Lebens ein überlegenes Bild entgegenhielt, indem sie diesem Bilde die kräftigsten Grundlinien, die leuchtendsten Farben verlieh. So trat es vor die Menschheit mit hinreißender Gewalt, sie aufrüttelnd aus der Trägheit des Alltags, sie durch ein gemeinsames Ziel verbindend, durch glänzende Verheißungen und schwere Drohungen stürmische Affekte erzeugend, sonst unmögliche Leistungen bewirkend. Dies Wegebahnen im Reich des Unsichtbaren, dies Schaffen einer neuen Wirklichkeit, nicht zu heiterem Spiel, sondern zu schwerem Ernst, diese Umkehrung der Welten, welche das sinnliche Dasein dem Menschen zur Fremde und ein Reich des Glaubens zur Heimat macht, dies ist das Größte, was überhaupt auf menschlichem Boden unternommen und gewirkt ward. Um solches zu leisten, mußten die Begründer große Denker sein, und weit mehr als Denker, große Künstler, und weit mehr als Künstler, Helden der Tat, und zugleich über alles Tun zu sicherer Ruhe in einer ewigen Ordnung erhoben, von schlichter Einfalt und reinem Kindersinn inmitten aller Verwicklung und Aufregung weltumwälzender Arbeit. So ist es vollauf begreiflich, daß die Schätzung der Anhänger sie über alles menschliche Maß hinaus zur Gottähnlichkeit, ja Göttlichkeit hob. Göttliche Kraft schien ihr Wirken zu tragen, Wunder ihren Weg zu umsäumen, ihr Leben und Wirken die Kluft zwischen Himmel und Erde zu überbrücken.

So galt es vor allem, diese Persönlichkeiten anzuerkennen, um das Leben in eine sichere Bahn zu bringen. Aber die in Gott begründete Tatsache wurde zugleich dem Menschen zu einer großen und spannenden Aufgabe. Das ihm eröffnete Leben war anzueignen, auszubauen, gegen eine feindliche Welt zu verfechten; der Mensch wurde so zum Gehilfen Gottes und gewann seinem Leben damit einen unermeßlichen Wert. Vereinte Arbeit erzeugte einen gemeinsamen Lebenskreis; hohe Ziele und große Hoffnungen hielten hier die Individuen fest zusammen und trieben ihre Kräfte zu äußerster Anspannung; einig in den Überzeugungen, einig in den Grundempfindungen, dabei der Hilfe Gottes völlig gewiß, war man sicher gepanzert gegen Zweifel und Versuchung.

Was eine solche neue Welt an Wahrheit brachte, das schöpfte sein Recht nicht aus der allgemeinen Vernunft. Denn gerade in dem, was es ihr gegenüber an Neuem brachte, lag seine Kraft und Stärke; so mußte es seine eigne Art des Beweises haben, so hielt es aller Vernunft eine Tatsächlichkeit entgegen und forderte für diese eine willige Anerkennung, einen vertrauenden Glauben des Menschen. Der Begriff des Glaubens erhielt damit einen engeren Sinn als in der universalen Fassung der Religion: nicht eine Offenbarung Gottes überhaupt, sondern diese besondere, inmitten der Geschichte befindliche, stand hier in Frage; das Ja verband sich hier enger mit einem Nein, die Anerkennung trug in sich eine Ausschließung. Leicht konnte sich hier der Gedanke der Unableitbarkeit der Wahrheit dahin steigern, daß der Widerspruch der Vernunft zum Zeugnis für den unvergleichlichen und übermenschlichen Charakter der neuen Wahrheit wurde, und ein Credo quia absurdum Anhänger fand. Jedenfalls fühlte man sich hier sicher und froh im Besitz einer allem Grübeln und Zweifeln überlegenen Wahrheit; sie allein schien von dem Stande der intellektuellen Entwicklung unabhängig und daher allen Menschen zugänglich; tiefere Denker aber konnten zu ihrer Verteidigung geltend machen, daß alle vermittelte Erkenntnis auf etwas unmittelbar Gewissem ruhe, und daß die letzte Wurzel der Wirklichkeit eine Tat der Freiheit, damit aber etwas schlechthin Unableitbares bilde.

Solcher Positivität der Begründung entsprach bei den geschichtlichen Religionen eine Positivität des Gehalts. Sahen wir überhaupt die Religion das Leben in ein Für oder Wider zerlegen und zugleich in einen Kampf verwandeln, so wird das in den geschichtlichen Religionen noch weiter gesteigert. Denn wie hier die Behauptung präziser ist und der Lebenskreis sich fester zusammenschließt, so wird hier weit mehr, auch innerhalb des Geisteslebens selbst, auf die Gegenseite gedrängt, so müssen die Spannungen und Kämpfe noch weiter gesteigert werden. Aber das mag vom Standpunkt einer geschichtlichen Religion aus lediglich ein Vorteil dünken, denn es wird dabei kräftiger als irgend sonst das Leben aus der trägen Gleichgültigkeit herausgerissen, dieser schlimmsten Feindin aller geistigen Bewegung, es wird damit eine energische Gegenwirkung gegen das Kleine und Gemeine geübt, welches das menschliche Leben sonst überwuchert, es wird bei solcher Konzentration das Leben sicher in sich selbst befestigt und auf Grundlagen gestellt, die allem Zweifel entzogen scheinen.

Wir sahen den Widerspruch gegen die Religion in den Zweifel münden, ob der Mensch mit all seinem Streben irgendwie echte Wahrheit erreiche, ob die Verbindung von Göttlichem und Menschlichem, dieser Kern der Religion, irgendwie zustande komme. Die geschichtliche Religion überwindet diesen Zweifel durch das Ganze ihres Daseins aufs gründlichste. Denn sie führt das Göttliche unmittelbar in den Kreis des Menschen ein und macht die Gemeinschaft, die daraus entspringt, zur Seele alles Lebens. Solche engere Verbindung von Göttlichem und Menschlichem steigert zugleich das Bild und den Begriff der Gottheit. Wie konnte die Gottheit sich von menschlicher Not bewegen lassen und ihr zu Hilfe kommen, wie konnte sie mit uns eine innige Gemeinschaft schließen, ohne daß sie auch für unser Denken sich der übermenschlichen Hoheit entkleidete und menschliche Züge annahm? Erscheint damit das Menschliche als dem Göttlichen wesensverwandt oder wird es vielmehr durch jene Einsenkung des Göttlichen in sein Wesen über alle Enge und Besonderheit hinausgehoben, so darf es getrost die höchsten Begriffe seines Kreises auf das Göttliche übertragen, so drängt es auch über den farblosen Begriff der Gottheit hinaus zu dem des lebendigen und persönlichen Gottes, welcher der Seele unmittelbar gegenwärtig ist, und mit dem sie verkehren darf, wie das Ich mit einem Du. Schöpft der Mensch seine Größe ganz und gar aus einer Mitteilung Gottes, so ist es nicht mehr ein Anthropomorphismus, sondern eine Rückkehr vom Abbild zum Urbild, wenn er von dem Besten seines Wesens her ein Bild der Gottheit entwirft.

Bei solcher Annäherung Gottes an den Menschen entwickelte die Verbindung weit mehr Innerlichkeit, eine Innerlichkeit, die alle Beziehung zur Welt aufzugeben und erst im Gegensatz zu ihr ihre volle Kraft zu erweisen vermochte. Hier erst wurde der Einzelne wertvoll genug, daß mit ihm sich das höchste Wesen befasse, hier mochte er mit diesem wie mit seinem besten Freunde verkehren und ihm seine Sorgen und Nöte anvertrauen; hier erst entstand ein religiöses Gemütsleben, eine Religiosität in bewußtem Gegensatz zu allen äußeren Formen und Werken. In solchem religiösen Gemütsleben entfaltete sich ein reines Beisichselbstsein des Geistes, hier eröffnete sich ein allen Wirren und Sorgen unangreifbares Asyl, hier floß eine reine Quelle, die immerfort in das Leben neue Kraft ergießen konnte. Mit der Leistung in ihrem eignen Gebiet haben aber die geschichtlichen Religionen zugleich auch stark auf das Ganze des Lebens gewirkt und es in sich selbst vertieft; größere Kreise der Menschheit haben überhaupt nur von einer solchen Religion aus eine Innerlichkeit des Gemütes gefunden und sie allem Widerspruch der Außenwelt gegenüber behauptet.

Eine so unmittelbare und so innige Verbindung mit Gott hätte alle Beziehung zur Welt verdrängen und alle Arbeit an ihr entwerten müssen, hätten nicht die geschichtlichen Religionen neben der Ausbildung solcher Innerlichkeit auch einen sichtbaren Lebenskreis geschaffen und hier die Menschen einander eng verbunden. Auf dieses aber konnten sie nicht verzichten, da ohne das die eröffnete Lebensgemeinschaft leicht eine bloßsubjektive Regung geblieben wäre. So entstanden von der Religion beherrschte Lebensgemeinschaften, Kirchen, und gaben sich als den Kern des gesamten Lebens. In ihnen gewann die Religion eine sichtbare Gegenwart, hier schien das göttliche Leben deutlich in das menschliche einzuströmen; so wurden sie mit ihrer Macht zum Haupterweise für das Vermögen und die Wahrheit der Religion, zum trotzigen Bollwerk gegen allen Zweifel. Hier war das Leben in sichere Bahnen geleitet, hier eine scharfe Scheidung zwischen Freund und Feind vollzogen, hier verbanden sich die Individuen zu einer Gemeinschaft nicht nur der Gesinnung, sondern auch der Arbeit. Bis in sein Innerstes hinein wurde hier der Mensch an die Gemeinschaft gebunden, da nur sie ihm die göttliche Offenbarung zuführte und sie innerhalb des menschlichen Bereiches befestigte. Eine Absonderung von der Gemeinschaft mußte daher als ein Herausfallen aus aller Wahrheit erscheinen.

Gewiß enthält das alles schwere Verwicklungen, vielleicht auch Widersprüche; sie sollen uns gleich beschäftigen. Aber vor allem Zweifel ist in den geschichtlichen Religionen eine große Tatsache und eine unermeßliche Bereicherung des Menschenlebens anzuerkennen. Mit der Konzentration, welche sie vollziehen und vertreten, haben sie der Geschichte weit mehr Gehalt, mehr Kontrast, mehr Bewegung eingeflößt, haben sie zu Fleisch und Blut verkörpert, was sonst ins Unfaßbare zu entschwinden droht, haben sie weitere Kreise der Menschheit allererst für geistige Aufgaben gewonnen, haben sie das Überweltliche zur stärksten Macht innerhalb der Welt erhoben. Wenn demnach alle unbefangene Betrachtung hier ein großes, ja einzigartiges Phänomen anzuerkennen hat, so ist für den Anhänger einer geschichtlichen Religion mit ihrem Eintritt eine entscheidende Wendung für immer vollzogen. Das Leben kann nicht mehr stocken, kein Zweifel mehr schaden, wo Gott selbst gegenüber aller Welt sich dem Menschen erschlossen hat und immer von neuem erschließt.

2. Der Widerspruch gegen die Religionen.

So zeigt die Geschichte eine gewaltige Wirkung der Religionen, aber nicht minder zeigt sie eine unablässige Gegenwirkung; bei aller Machtentfaltung sind die Religionen ein Zeichen, dem stets widersprochen ward. Eine Unterströmung bildete solcher Widerspruch selbst da, wo die Religion äußerlich unangefochten herrschte. Das zeigen die steten Klagen über die Lauheit und den Unglauben der eignen Anhänger; wo immer die Lockerung des sozialen Druckes eine freie Aussprache zuließ, da wuchs der Zweifel rasch zu einer gefährlichen Macht, da sah die Religion sich leicht im Ganzen ihrer Stellung bedroht. Wenn AUGUSTIN mit dem Worte recht hat, daß die Religion, als geschichtlich-kirchliche, nicht ohne eine starke Autorität bestehen kann ( sine quodam gravi autoritatis imperio), so verrät er zugleich, wie wenig fest sie im eignen Innern der Seele wurzelt. Aber es sind nicht bloß die Menschen, deren matte Gesinnung immer von neuem Zweifel erregt, es sind auch Verwicklungen sachlicher Art, Bedenken und Zweifel vom Geistesleben selbst her, welche sich gegen die geschichtlichen Religionen erheben.

Zunächst ist es ihre Mehrheit, welche befremdet und unsicher macht. Die Religionen selbst pflegten sich über jene Tatsache rasch hinwegzusetzen, ja ihr Eifer ist durch sie oft noch weiter gesteigert. Denn der Gegensatz zu anderem, was der erwählten Religion nur als ein Gewebe menschlichen Wahnes, ja als ein Blendwerk des Teufels gelten konnte, erweckte die höchste Kraft und schien die äußerste Leidenschaft nicht nur zu erlauben, sondern zu gebieten. Im Kampf gegeneinander haben die Religionen das Gemüt des Menschen am meisten an sich gefesselt; auch innerhalb der einzelnen Religionen hat jede größere Spaltung Leistung und Eifer gesteigert, während der Friede fast unvermeidlich eine Erschlaffung mit sich brachte. Der Kampf ist das Lebenselement der geschichtlichen Religionen, er erst scheint ihre Wahrheit in das volle Licht zu setzen und ihre Kraft aufs höchste anzuspannen.

Aber die Probleme sind nicht schon gelöst, wenn die Religion sie für gelöst erklärt; Fragen und Zweifel schafft kein Verbot und keine Drohung aus der Welt. Solange der Mensch innerhalb eines geschlossenen Kreises verbleibt und alles draußen Befindliche zu ungeheuerlichem Wahne stempelt, so lange mag er die eigne Religion unbedenklich für die einzig wahre erklären. Der Mensch der Neuzeit aber ist solcher Enge entwachsen, er überschaut die verschiedenen Kulturen und zugleich die verschiedenen Religionen, eine geschichtliche Betrachtungsweise zwingt ihn, auch die anderen aus ihren Zusammenhängen zu würdigen, sich in diese Zusammenhänge hineinzudenken, auch in ihnen ein Recht zu suchen. Je mehr er aber das tut, desto unsicherer wird ihm die ausschließliche Wahrheit der eignen Religion. Die Überzeugungstreue und der Glaubenseifer der übrigen Religionen ist nicht minder stark und echt als die der unsrigen, auch sie stützen sich auf große Persönlichkeiten, auch sie hatten ihre Zeichen und Wunder und, was mehr besagt, ihre Helden und Märtyrer, auch sie haben sowohl die Individuen bis zur Tiefe der Seele bewegt als gewaltige Wirkungen in die Weltgeschichte erstreckt; mit welchem Rechte erklären wir dieselben Erscheinungen draußen für Einbildung und Trug, die bei uns selbst als unabweisbare Tatsachen und sichere Bürgen der Wahrheit gelten? Konnte die Gedankenwelt und die Lebensgestaltung vieler Millionen und ganzer Jahrtausende bloßer Illusion entspringen, was sichert uns dagegen, daß es nicht bei uns ähnlich steht, daß auch unseren Glauben nicht sowohl eine überlegene Höhe geoffenbart als bloßmenschliches Grübeln erzeugt hat? Oder aber wir messen uns und die anderen nach verschiedenem Maß und Gewicht; so tat es der Fanatismus aller Zeiten, aber so gestattet es nicht die Gerechtigkeit.

Aber vielleicht lassen die Religionen sich auf einen Beweis derart ein, daß sie ihre weltgeschichtlichen Leistungen miteinander vergleichen und sich dabei den anderen überlegen zu zeigen versuchen. Sicherlich hat die eine Religion mehr bewegt, tiefer eingegriffen, sich dem Gesamtleben enger verflochten als eine andere. Aber beweist das ihre Wahrheit, ihre absolute und göttliche Wahrheit? Die Leistungen führen in das Gebiet des Relativen; mag die eine Leistung die andere noch so sehr überragen: ob sie die letzte, höchste, abschließende sei, bleibt eine offene Frage. Auch wird der Stand des Menschheitslebens nicht ausschließlich durch die Religion bestimmt, verschiedene Bewegungen durchkreuzen sich in ihm, und es ist schwer zu entscheiden, ob, was innerhalb des Lebenskreises einer Religion geschah, aus der eignen Kraft der Religion geschah, und es nicht vielmehr aus der mehr oder minder begabten Natur der Völker, der eigentümlichen Größe führender Persönlichkeiten, der Gunst äußerer Umstände usw. hervorging. Verdankt z. B. das Christentum seine weltgeschichtliche Stellung allein oder doch vorwiegend seinem religiösen Gehalt oder nicht auch seiner Verbindung mit hochbegabten Völkern, seiner Verschmelzung mit der reichen und schönen antiken Kultur, seiner Belebung und Verjüngung durch die moderne Kultur?

Die Fragen aber, welche die Vielheit der Religionen stellt, führen zurück auf das prinzipielle Problem, wie weit überhaupt eine geschichtliche Religion absolute Wahrheit eröffnen könne, sowie zu dem Zweifel, ob nicht die in ihr vollzogene Konzentration des Lebens unvermeidlich eine Verengung enthalte, deren Schäden den Gewinn reichlich aufwiegen, wenn nicht gar in einen Verlust verwandeln. Die Begründung einer positiven Religion ist dem Wesen nach geschichtlicher Art: gewisse Ereignisse werden aufgezeigt, ein gewisser geistiger Inhalt als Offenbarung verkündet. Nehmen wir an, es sei über das Tatsächliche solcher Ereignisse nicht der mindeste Zweifel, nie kann ein geschichtlicher Befund von sich aus erweisen, daß ein gewisses Faktum göttlichen Ursprungs und sein Inhalt von endgültiger Wahrheit sei, sondern dies kann nur ein Zusammenhang von Ideen und Überzeugungen, dies fordert ein Urteil, das sich dem Menschen nie von außen her zuführen, sondern das sich nur von seinem eignen Innern, ja vom Ganzen seines Lebens her begründen läßt. In dem geschichtlich Gebotenen ist das Göttliche als Göttliches unmöglich zu erkennen ohne vorhergehende Begriffe vom Göttlichen und ein darin liegendes Maß; sonst wären Religion und Zauberei, Glaube und Aberglaube kaum auseinanderzuhalten. Dieser Gedankengang führt notwendig dahin, daß alle Beweisführung durch Geschichte auf einer vom unmittelbaren Leben her ruhen muß, daß der Wahrheitsgehalt aller geschichtlichen Tatsachen sich nur vom Geistesleben selbst her ermitteln und ermessen läßt. Hier begegnet uns LESSINGS bekanntes Wort: »Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden«; mag es in seiner Fassung das vergängliche Gepräge der Aufklärung tragen, sein Kern enthält eine Wahrheit, über die sich nicht so leicht hinwegkommen läßt, wie sich der historische Positivismus des 19. Jahrhunderts einredete. Wohl ist die Geschichte in diesem Jahrhundert uns unvergleichlich mehr geworden, und es dünkt uns jede Gedankenwelt veraltet, welche nicht für sie einen Platz hat; aber wer nicht einem zerstörenden Relativismus verfallen will, dem muß ein unmittelbares und zeitüberlegenes Geistesleben alle Geschichte umspannen und tragen, dem muß die Geschichte bei aller Steigerung sich mit der zweiten Stelle begnügen. Damit rückt auch die geschichtliche Religion an die zweite Stelle, nun und nimmer kann sie unsere religiöse Überzeugung letzthin begründen, nun und nimmer können auch die größten Leistungen innerhalb der Zeit ihre ewige Wahrheit erweisen. Wenn aber irgend etwas, so muß die Religion auf ewiger Wahrheit bestehen.

Die Zweifel beschränken sich aber nicht auf die Art der Begründung, sie ergreifen auch den Inhalt der geschichtlichen Religion und fechten eben das an, worin sie vor allem ihre Stärke suchte: das Ausgeprägte, Individuelle, Irrationale; auch das Einswerden von Göttlichem und Menschlichem, dieser Kern aller Religion, gerät in Unsicherheit und droht die Weite und Hoheit des Göttlichen zu gefährden. Die geschichtlichen Religionen können sich selbst nicht der Gottheit besonders nahe stellen, ohne sie der übrigen Menschheit ferner zu rücken. Noch heute spricht man gelegentlich von einem »Gott der Christen« und sucht darin eine besondere Stärke des Glaubens. Führt das nicht auf die Bahn eines Partikularismus, der den Glauben früherer Kulturstufen an besondere Nationalgötter gar nicht weit überragt? Solchem Partikularismus wird, wie jede andere geschichtliche Religion, so auch alle religiöse Denkweise universalerer Art als nichtig und wertlos erscheinen. Er kann der Höhe des Griechentums, er kann Männern wie &AUML;SCHYLUS, PINDAR, PLATO keine echte Religion zuerkennen, er muß auch die Führer der neueren Kultur, er muß Männer wie LEIBNIZ und KANT, wie SCHILLER und GOETHE verwerfen. Wie nahe legt solche Verengung der Religion ein pharisäisches Selbstgefühl kleiner Geister, die sich selbst nie um die Wahrheit mühten, sondern sich nur das Überlieferte ruhig gefallen ließen. Aber wie ist sie zu vermeiden, wenn die historische, die positive Religion die einzige Quelle der Wahrheit bildet? Man könnte es wahrlich keinem verdenken, der lieber mit jenen Männern zu den Ungläubigen gehören als sich zur Schar der Gläubigen gesellen möchte.

Auch das ist nicht so leicht hinzunehmen, daß eine solche Religion die Gottheit unvermeidlich in die Mitte der Zeit und zugleich in Werden und Wandel hineinzieht. So geschieht es aber, wenn die Gottheit nicht mit ewiger Wahrheit die ganze Zeit durchdringt, sondern erst von einem besonderen Augenblick an ihr innerstes Wesen eröffnet und der Menschheit sich vollauf mitteilt. Mit Setzung einer Veränderung in Gott scheint aber die Absolutheit der Wahrheit preisgegeben und einer blinden Positivität samt einem zerstörenden Relativismus das Feld überlassen. AUGUSTIN, ein Mann, der einen einmal ergriffenen Gedanken auszudenken pflegte, hat in einer Hauptrichtung seiner Überzeugung – in einer anderen denkt er rationaler – behauptet, vor dem Eintritt des Christentums wären nicht etwa nur die menschlichen Meinungen von der Moral, sondern die Moral selbst eine andere gewesen als nachher; damals sei verschiedenes erlaubt gewesen, was später unstatthaft wurde. Das ist von einer bloßpositiven Religion aus konsequent gedacht. Aber es zeigt zugleich, daß eine solche Denkweise sogar die Moral in eine veränderliche Satzung verwandelt und damit innerlich aufhebt.

Auch die innigere Verbindung des Menschen mit der Gottheit und das anschaulichere Bild dieser, wie die geschichtlichen Religionen es erstreben, sind zweiseitiger Art und erzeugen unsägliche Verwicklung. Ja wenn in jener Annäherung stets das Menschliche zur Göttlichkeit erhoben und nicht oft das Göttliche in die Enge und die Leidenschaft des menschlichen Standes herabgezogen würde! Aber schon im Gottesbegriff selbst sind die Schwierigkeiten deutlich genug. Die Idee der Persönlichkeit soll das Unvorstellbare leidlich faßbar machen und dem Menschen das Bild der Gottheit näher rücken, aber wie schrankenlos dringt oft mit ihr ein Anthropomorphismus wieder ein, den eben seine größere Feinheit gefährlicher macht, wie leicht verliert sich hier der Mensch in bloße Abbilder seines eignen Wesens! Und bringt das religiöse Verhältnis selbst, das sich auf diesem Boden entwickelt, immer und mit Sicherheit eine geistige Erhöhung, eine innere Läuterung des Menschen? Wie oft findet sich lediglich ein schrankenloses Wogen subjektiven Gefühles, wie viel selbstisches Glücksverlangen und leidenschaftliche Aufregung glaubt sich gerechtfertigt, ja geheiligt durch eine Versetzung auf den Boden der Religion! Oder aber die positive Religion wird durch das Verlangen nach einer aller grübelnden Reflexion überlegenen Tatsächlichkeit handgreiflicher und unbestreitbarer Art dazu verleitet, eine sinnliche, ja materialistische Vorstellungsweise festzulegen, ja mit besonderem Eifer zu verkünden. So droht es bei der Lehre von den Sakramenten, die leicht zu bloßen Zaubermitteln sinken; so glauben noch heute manche das Christentum in seinem Grundbestande bedroht, wenn nicht mehr der Glaube an die Versöhnung durch Christi Blut seinen Mittelpunkt bildet. Wo immer vor allem eine »Positivität« der Religion verlangt wird, da droht die Gefahr eines Zurücksinkens in eine untergeistige Stufe. PLOTIN warnte mit Recht davor, nicht unter die Vernunft zurückzusinken, indem man über sie hinausstrebt. Gewiß vertreten die geschichtlichen Religionen ein berechtigtes, ja notwendiges Verlangen, wenn sie durch Eröffnung eines neuen Reiches das erschütterte Leben wiederbefestigen, die bedrängte Seele retten möchten. Aber in dem, was sie bieten, scheint Höheres und Niederes, ja Recht und Unrecht ineinander zu verlaufen, und eine sichere Abgrenzung sich nicht finden zu lassen.

Ähnlich ergeht es mit der Wirkung der Religionen auf das Leben und Handeln des Menschen: indem sie ihm deutlichere Ziele und kräftigere Antriebe bringen, bringen sie leicht auch Verengungen und Vergröberungen. Das Leben wird unter dem Einfluß der positiven Religionen befestigt, ein Kreis von Wahrheiten abgesteckt und allem Zweifel enthoben, die Menschen werden damit enger verbunden und zu gegenseitiger Unterstützung aufgerufen, die direkte Beziehung zur Gottheit gibt aller Anforderung einen gewaltigen Nachdruck und dem Leben einen gesteigerten Ernst. Aber jene Befestigung wird leicht zu starrer Festlegung, jene Konzentration zu verengender Ausschließung. Wie oft haben die Religionen etwas Großes darin gefunden, alles jenseit ihres Bereiches Befindliche als minderwertig, gleichgültig, ja gefährlich abzuweisen. Das beschränkt sich nicht auf einzelne Punkte, sondern es greift auch ins Ganze. Den geschichtlichen Religionen pflegt bei der Lebensgestaltung das direkte Verhältnis vom Menschen zum Menschen voranzustehen, die Erweisung von Hilfe und Liebe im gegenseitigen Verkehr, die Pflege des menschlichen Kreises. Das Verhältnis zum Weltall dagegen, die innere Erweiterung des Wesens, wie es Wissenschaft und Kunst, wie es die Kultur als Ganzes anstrebt, liegt ihr wenig am Herzen; so wird das von ihr beherrschte Leben leicht zu subjektiv-menschlich, so spinnt es den Menschen zu rasch im Sonderbereiche ein.

Aber auch auf dem eignen Gebiet des Menschen kann leicht, was zunächst ein reiner Gewinn dünkt, in einen Verlust auslaufen. Die geschichtliche Religion bindet von Gott aus die Menschen fester zusammen, sie erzeugt mehr innere Gemeinschaft, mehr gegenseitiges Verständnis, mehr Gleichartigkeit des Wesens. Aber das kann kaum anders geschehen als auf Kosten der freien Bewegung und der Individualität. Jede Religion hat ihren eignen Lebenstypus und drängt diesen ihren Anhängern von Jugend an mit sanfterem oder stärkerem Zwange auf; wird dadurch nicht das Leben gebunden und schablonenhaft, wird es manchen Individuen, die ihm keine innere Regung entgegenbringen, nicht bloß ein äußerliches Gewand, und droht damit nicht die Gefahr einer Unwahrhaftigkeit, eines bloßkonventionellen Mitmachens einer gebotenen Ordnung? Es gibt eine Heuchelei, die über die bewußte Vorstellung hinaus in das Innere der Seele reicht und mit der subjektiven Meinung wahrhaftig zu sein vereinbar ist, es gibt eine Heuchelei des Wesens, zu der nichts leichter führt als die Religion. Das ist der Pharisäismus, den echt religiöse Naturen mit der ganzen Glut ihrer Überzeugung bekämpften; er ist keine vorübergehende Zeiterscheinung, sondern ein bleibender Parasit der Religion.

Die geschichtliche Religion ist die stärkste Stütze der Moral, aber zugleich erwachsen dieser schwere Gefahren aus ihr. Sie befestigt die Moral durch die Anknüpfung an den göttlichen Willen, sie verinnerlicht sie durch die Beziehung auf eine unsichtbare Welt, sie stärkt ihre Kraft durch die Erweckung eines unerschütterlichen Glaubens an die sittliche Weltordnung. Aber zugleich zieht die Begründung der Moral auf eine positive Religion jene in alle Unsicherheit hinein, welche diese hat; die sittlichen Motive sinken leicht, wenn der Gewinn des göttlichen Wohlgefallens zur Haupttriebkraft des Handelns wird; leicht schädigt ferner die religiöse Moral mit der Richtung der Gedanken auf ein Jenseits ein freudiges Wirken und Schaffen im Diesseits, mit ihrer Voranstellung gläubigen Erwartens und Vertrauens kann sie ein passives Verhalten rechtfertigen, ein mutiges Eintreten für die Veredlung der Wirklichkeit hemmen; endlich spaltet und entzweit sie die Menschheit, sie erzeugt unsägliche Verbitterung, indem sie alle Echtheit auch der moralischen Gesinnung an die Zugehörigkeit zu ihrem besonderen Kreise knüpft.

Alle diese Probleme steigern sich mit der Wendung der Religion zur Kirche. Sie zeigte sich als unerläßlich für die geschichtliche Religion, erst mit der Verkörperung gewann diese für den Menschen eine volle Tatsächlichkeit, erst mit ihr wurde sie eine Macht im weltgeschichtlichen Leben, erst in ihr erlangte sie eine volle Ausprägung ihrer Eigentümlichkeit, erst mit ihr ergriff sie das Ganze der Menschheit, nicht bloß einzelne auserlesene Geister. Aber zugleich steigert sich aufs äußerste die Gefahr der Vermenschlichung, welche das Göttliche mit dem Eintritt in das Reich des Menschen erfährt. Die Kirche kann nicht sein ohne ein menschliches und zeitliches Element; je selbständiger sie wird, desto mehr wird sie für jenes alle Rechte in Anspruch nehmen, die lediglich dem Göttlichen und Ewigen gebühren, wird sie dem mit dem Göttlichen befaßten, vielleicht recht äußerlich befaßten Menschen göttliche Würde verleihen. Das kann zu einer verderblichen Umkehrung wirken. Die Kirche mag, statt einer Einsenkung des Göttlichen in das Menschliche zu dienen, eine besondere Art des Menschlichen mit dem Schein der Göttlichkeit umkleiden, ihr das Selbstgefühl göttlicher Wahrheit und Herrlichkeit geben, ja sie kann, diese Bahn zu Ende gehend, das Priestertum über das Göttliche selbst erheben, ihm eine vermeintliche Macht selbst über die Gottheit zuerkennen. Alsdann wird die Kirche die Hauptverehrung nicht für die Gottheit, sondern für sich selbst in Anspruch nehmen, diese wird ihr ein bloßes Mittel zur Steigerung ihrer eignen Herrlichkeit. Mit solcher Wendung aber, mit solcher frevelhaften Aufbauschung des Menschlichen zur Göttlichkeit, wird die Kirche zu großer Gefahr für die Religion, sie hat in Wahrheit diese oft schwer geschädigt. Aber zugleich schien die Religion keinen festen Bestand und keine rechte Wirkung unter den Menschen erlangen zu können ohne eine Fortbildung zur Kirche. Wie sollen wir uns solchen Widersprüchen entwinden, wie die Grenzlinie zwischen Gut und Böse, zwischen einer wahrhaftigen Erhebung des Menschen durch das Göttliche und einer Herabziehung des Göttlichen durch das Menschliche finden? Wenn wir es aber nicht können, so muß uns ein starker Zweifel am Ganzen der geschichtlichen Religionen befallen, ein besonders starker an der, welche den Charakter der Geschichtlichkeit am meisten ausprägt, also am Christentum. Erscheint hier nicht die geschichtliche Religion als etwas, das sich durch seine eigne Entwicklung und Überspannung mit Notwendigkeit zerstört?

3. Die Unmöglichkeit einer einfachen Verneinung.

Alles das macht begreiflich, daß die geschichtlichen Religionen unablässige Angriffe erfuhren, und zwar nicht nur von den Individuen her, sondern auch im Zusammenstoß mit ganzen Lebensgebieten. Kein Kampf hat mehr Leidenschaft und Zorn entfacht als dieser, keiner hat die Menschheit schroffer untereinander entzweit. In früheren Zeiten pflegte der Angriff rasch und keck zur völligen Leugnung fortzuschreiten, indem er die Religion für ein bloßes Gewebe des Wahns oder gar als ein Erzeugnis bewußten Betruges erklärte. Heute sträuben wir uns gegen eine so radikale Verwerfung; jedenfalls müßten wir dem Leistungsvermögen wie dem Wahrheitssinn der Menschheit völlig mißtrauen, wenn das, was die gewaltigste Kraft der geschichtlichen Bewegung und der sicherste Halt der Völker und Zeiten war, nicht mehr wäre als Trug und Wahn. Es gibt keinen schrofferen Widerspruch, als einmal die Größe der menschlichen Vernunft in höchsten Tönen zu preisen und zugleich die Menschheit in dem, was ihr das Innerlichste und Heiligste war, völliger Irrung zu übergeben.

So ersinnt man, um diesen Abschluß zu vermeiden, einen Mittelweg zwischen Wahrheit und Irrtum. Die geschichtlichen Religionen, so heißt es, waren nicht bloße Wahngebilde, sondern Erzeugnisse der jeweiligen Lage der Völker und Zeiten; in den Religionen haben diese von sich abgelöst und über sich emporgehoben, was ihr Streben an Zielen und Idealen in sich trug; so hatten die Religionen, als Zusammenfassungen der Ideale, eine gewisse Realität, und sie haben unleugbar einer Höherbildung der Menschheit gedient. Aber dies alles, so meint man, geschah nur innerhalb des menschlichen Kreises und für die menschliche Vorstellung; das Leben gewann nichts, was es nicht schon in sich trug und aus sich selbst zu entwickeln vermochte. So scheint das Problem glatt und einfach gelöst: die Religion erhält ein Recht zugebilligt, und zugleich läßt sich, als ein Ausdruck der Eigentümlichkeit der Völker und Zeiten, vollauf anerkennen, was sie an Unterschieden, ja Gegensätzen zeigt. Denn überall begegnen uns nur relative Wahrheiten, die einander nicht ausschließen, sondern sich freundlich vertragen.

Aber bei allen solchen vermeintlichen Vorzügen ist diese Lösung nur einer jener schillernden Kompromisse, mit denen die Gegenwart die Schärfe der Gegensätze abstumpft, ihr Wahrheitsgewissen einlullt, die Kraft des Lebens herabsetzt. Durchgängig waren die Religionen überzeugt, dem Menschen etwas Übermenschliches zuzuführen und ihn damit wesentlich umzubilden, aus dieser Überzeugung vornehmlich schöpften sie ihre Begeisterung und ihr Vermögen zu Helden- und Märtyrertum; bestand ein solches Übermenschliche gar nicht, berauschte der Mensch sich lediglich an seinen eignen Gebilden, und klomm er nur an seinen eignen Vorstellungen empor, so war das Ganze eine große Selbsttäuschung der Menschheit, so waren die Vertreter der Religion freilich nicht einfache Betrüger, aber doch nicht mehr als »betrogene Betrüger«. In der Sache ist damit wenig verändert; so treffen dieselben Bedenken, welche der älteren radikalen Verwerfung der Religion widerstanden, auch die neue. Unzweifelhaft haben die geschichtlichen Religionen stark auf das geistige Leben gewirkt, es in eigentümliche Bahnen getrieben, ihm eine innere Erhöhung gebracht. Sie haben das meist weniger direkt als indirekt, durch eine Wandlung des gesamten Lebens, getan; wir brauchen nur die Fäden des Schaffens in Kunst und Weltüberzeugung, in Moral und Gemeinschaftsbildung etwas zurückzuverfolgen, um überall einen Zusammenhang mit dem Wirken und Walten der Religion zu erkennen. So muß die Herabsetzung der Religion zur Illusion sich auch auf das Ganze des Geisteslebens erstrecken, die Verfolgung dieses Weges führt uns bald zu demselben Punkte wie vorher, zu einem völligen Zusammenbruch alles menschlichen Vermögens, zu einem Scheitern aller Hoffnung auf Wahrheit. Aus der versuchten Verschleierung des Problems tritt immer wieder das unbarmherzige Entweder – Oder hervor und fordert eine klare Entscheidung: entweder ist der Mensch nichts anderes als Mensch, ein abgeschlossenes Sonderwesen neben unzähligen anderen, – dann fällt allerdings alle Religion, aber es fällt zugleich alle Wahrheit, auch die wissenschaftliche, denn zur Wahrheit gehört notwendig ein Begründetsein gegenüber aller menschlichen Meinung und Schwankung; – oder aber es steckt im Menschen mehr als eine Sondernatur, und er ist eines Kampfs gegen das Kleinmenschliche fähig, – dann ist auch die Religion unmöglich von vornherein als bloße Einbildung abzuweisen, dann gilt es auch bei ihr den Punkt der Wahrheit zu suchen.

Verbietet sich so eine einfache Verwerfung der geschichtlichen Religionen, können wir aber zugleich weder verschiedene Wahrheiten nebeneinander dulden, noch einer einzigen der geschichtlichen Religionen alle Wahrheit, den übrigen dagegen lediglich Irrung zuerkennen, so verbleibt nur noch eine einzige Möglichkeit: es müßte sich durch alle geschichtlichen Religionen hindurch eine gemeinsame Weitererschließung des Geisteslebens vollziehen, es müßte sich durch alle Entzweiung und allen Streit eine gemeinsame Grundtatsache erweisen. Diese Grundtatsache wäre mit möglichster Klarheit herauszustellen, von ihr aus eine Würdigung der einzelnen Religionen zu unternehmen und bei ihnen eine Scheidung des Übermenschlichen vom Bloßmenschlichen zu versuchen. Denn daß in die Religionen viel Kleinmenschliches einfließt und bis zu scheinbarer Untrennbarkeit mit dem Göttlichen zusammenrinnt, das wurde uns deutlich genug; das bildet ja den Hauptknoten der Sache, daß die geschichtlichen Religionen zu viel Menschliches enthalten, um als reines Werk Gottes gelten zu können, zu viel Geistiges und Göttliches aber, um ein bloßes Gebilde des Menschen zu sein.

So werfen uns die geschichtlichen Religionen auf dieselbe Frage zurück, mit der dieser Abschnitt begann, auf die Frage, ob sich innerhalb unseres Lebenskreises über den bisher dargelegten Stand noch irgendwelche Weiterbildung der geistigen Wirklichkeit vollziehe und darin die Eröffnung einer weiteren Tiefe des Alls erfolge. Der Verlauf unserer Untersuchung läßt wohl einen Platz dafür offen. Denn was die universale Religion an Geistigkeit in unser Dasein brachte, das entfaltete sich durch die Arbeit an der Welt und blieb an den Fortgang dieser Arbeit gebunden. Das aber ergab Verwicklungen in Hülle und Fülle. Könnte nun die weltüberlegene Geistigkeit nicht auch ohne eine solche Vermittlung der Welt sich dem Menschen eröffnen, könnte sich nicht im Gegensatz zur Welt ein unmittelbares Verhältnis von Ganzem zu Ganzem bilden? Wäre das möglich, so ließe sich eine neue Art des Lebens, so ließen sich neue geistige Gehalte und Güter, so ließe sich eine völlige Wendung unserer Lage erwarten und mit ihr wohl auch irgendwelche Überwindung der bis dahin übermächtigen Widerstände.

Das ist zunächst nur eine Möglichkeit; ob ihr eine Wirklichkeit entspricht, darüber kann nichts anderes als die Erfahrung des Lebens entscheiden, die wir jetzt anrufen wollen. Aber schon das ist wichtig zu wissen, daß das Suchen nicht sinnlos ist, und einigermaßen darüber orientiert zu sein, welche Richtung es einzuschlagen hat.

b. Anzeichen einer neuen Lebenstiefe.

Die Gesamtanlage unserer Untersuchung läßt uns eine weitere Tiefe der Wirklichkeit nicht als draußen vorhanden und von dort mitgeteilt erwarten, wir können sie nirgend anders als im Lebensprozesse selber suchen, hier haben wir sie herauszuarbeiten und von hier aus uns des Zusammenhanges mit einer neuen Ordnung zu versichern. Nirgends müssen wir uns mehr als an dieser Stelle vor dem Fehler des eingewurzelten Intellektualismus hüten, der zuerst eine Welt jenseits des Menschen ermitteln und von da sein Leben erfüllen möchte, statt vor allem dieses zu ergreifen und in ein Ganzes zu fassen, um dann Überzeugungen vom All zu wagen.

Voraussichtlich wird aber die gesuchte neue Lebenstiefe zunächst nur in einzelnen Äußerungen zutage treten. Diese Äußerungen könnten aber weiterführen, wenn eine nähere Betrachtung sie als Stücke eines größeren Zusammenhanges erwiese, und wenn im Aufsuchen dessen sich immer weitere Ausblicke fänden, bis schließlich eine neue Welt vor unseren Augen stünde. Suchen wir also vor allem irgendwelchen greifbaren Ausgangspunkt zu gewinnen, dessen eigentümliche Art eine neue Ordnung der Dinge verrät, suchen wir dann in allmählichem Aufstieg mehr und mehr umfassende Größen und schließlich ein Gesamtleben zu gewinnen.

1. Die Idee der Feindesliebe.

Als ein solcher Ausgangspunkt mag uns die Tatsache dienen, daß auf einer gewissen Höhe des geschichtlichen Lebens der Gedanke und die Forderung der Feindesliebe erscheint, nicht nur im Christentum, sondern auch bei anderen Religionen und über die Religionen hinaus in einem allgemeinen Zuge des Lebens; die Feindesliebe dünkt hier der Gipfel des Verhältnisses von Mensch zu Mensch und das sicherste Kennzeichen ethischer Vollendung. Indem aber die Feindesliebe eifrig gepriesen wurde und das überschwängliche Ziel den Menschen über sich selbst emporzuheben schien, blieb gewöhnlich die Frage unerörtert, ob die gefeierte Tugend innerhalb der gegebenen Lage irgendwie möglich sei, ob nicht schon das Streben nach ihr eingreifende Wandlungen im Ganzen unseres Lebens und Wesens verlange. Diese Frage mag leicht nehmen, wer die beiden Seelenlagen, die bei der Feindesliebe zusammentreffen, so matt und verschliffen denkt, daß kein ernster Konflikt entsteht. An den Punkten aber, wo die Forderung der Feindesliebe durchbrach, verhielt es sich anders, hier sah man darin eine völlige Wendung, eine Umwälzung des bisherigen Standes. Feindschaft sei keine flüchtige Verstimmung, sondern eine Gegensätzlichkeit der tiefsten Gesinnung und der ganzen Denkart, ein Zusammenstoß aus sachlicher Notwendigkeit, indem die von uns verehrten Güter von anderen bekämpft, geschmäht, geschädigt werden. Liebe aber sei nicht jene mattherzige Gesinnung, die auch dem anderen eine Existenz gönnt und sein Wohlergehen duldet, sondern sie sei ein tätiges und positives Verhalten, eine starke Freude am Wesen des anderen, eine Erweiterung und Erhöhung des eignen Lebens aus der mit ihm geschlossenen Gemeinschaft. Bildet so verstanden nicht beides einen unversöhnlichen Gegensatz, ist es nicht ein Unding, zugleich wahrhaftig hassen und wahrhaftig lieben zu wollen?

Ja die Frage liegt nahe, ob die geforderte Abschwächung des Streites sich für uns Menschen überhaupt auch nur wünschen lasse. Wir haben eine geistige Wirklichkeit gegen eine feindselige oder gleichgültige Welt erst aufzubringen und durchzusetzen; dazu bedarf es höchster Anspannung der Kraft und eines unermüdlichen Kampfes; wie dieser Kampf sich um die höchsten Güter bewegt, so verlangt er die ganze Seele des Menschen, die volle Stärke des Affekts, die volle Glut der Empfindung; PLATO hatte guten Grund, zum Gelingen der Lebensarbeit einen »edlen Zorn« zu verlangen. Droht nun nicht das Gebot der Feindesliebe den Ernst der Sache zu verringern, ja zu vernichten, gut und böse als gleichwertig zu behandeln, der äußerlich überlegenen Unvernunft willig das Feld einzuräumen? Unmännlichkeit, feige Nachgiebigkeit, sentimentale Weichheit würden damit zu höchsten Tugenden, wenn anders nicht die geforderte Gesinnung nur scheinbar bleibt und unter dem Deckmantel der Feindesliebe Leidenschaft und Haß ungehemmt aufwuchern können, wie so oft in den Glaubenskämpfen. Eine Minderung der zum Kampf gegen das Böse unerläßlichen Lebensenergie ward dem Christentum von Anfang an oft zum Vorwurf gemacht; so z. B. von PLOTIN mit der Erwägung: »Wenn wir nicht kämpfen, siegen die Schlechten«. Sollte eine solche Entkräftigung des Menschen, so oft die Geschichte des Christentums sie zeigt, die letzte Meinung des Christentums sein? Jedenfalls war sie nicht die Meinung Jesu, als er die gewaltigen Reden gegen die Pharisäer hielt, und als er die Wucherer aus dem Tempel trieb.

Wie steht es denn aber mit der Feindesliebe? Ist sie wirklich nicht mehr als ein trügerischer Schein, ein Wahnbild überspannter Stimmung, und müssen wir damit abschließen, daß Freund Freund und Feind Feind ist, daß wir diesem lediglich Gerechtigkeit schulden, unsere Liebe dagegen jenem aufbewahren? So dachte auf seiner Höhe das Griechentum, so hat es auch CONFUCIUS bewußt und nachdrücklich gelehrt. »Jemand sprach: Was soll man von dem denken, der Beleidigungen mit Wohltaten vergilt? Der Philosoph sprach: Wenn man so handelt, womit wird man die Wohltaten selbst vergelten? Man muß durch Billigkeit den Haß und die Beleidigungen, die Wohltaten aber durch Wohltaten vergelten.« Das ist eine klare und rechtschaffene Denkart, welche der natürlichen Empfindung des Menschen entspricht. Aber sie steckt dem menschlichen Leben Grenzen, über die es erschütternde Erfahrungen der innersten Seele hinausgetrieben haben. Jener Abschluß genügt nur, wenn uns eine der Hauptsache nach fertige Welt umfängt, und wir selbst in ihr abgeschlossene Größen bilden, wenn es nichts Wesentliches zu verwandeln und zu erneuern gibt; er wird zu einer unerträglichen Verengung, wenn der vorgefundene Stand schwere Verwicklungen enthält, und nur eine gründliche Erneuerung unserem Leben und Tun einen Wert geben kann. Erschiene eine solche neue Ordnung, so möchte alles vergehen, was uns scheidet und entzweit, so möchte von einer neuen Grundlage aus sich eine Gemeinschaft des Lebens bilden, welche auch die Gemüter verbindet, die sonst auseinanderstrebten, so möchten wir, ohne die Gegensätze aufzugeben, über alle Gegensätzlichkeit hinausgehoben werden. Aber dieses sonst Unmögliche verlangt die Eröffnung einer Tiefe, welche das ganze bisherige Leben mit all seinen Kämpfen zur bloßen Oberfläche macht. Wenn daher die Forderung der Feindesliebe auftaucht und auf echte Liebe, nicht auf bloßes Mitleid geht, so lag immer dabei die Hoffnung einer neuen Ordnung der Dinge zugrunde, so wirkte darin ein Sehnen der Menschheit nach Befreiung von den Maßen und Schranken der gegebenen Welt. Und die Freudigkeit solcher Hoffnung, die Stärke solcher Sehnsucht darf selbst als ein Zeugnis dafür gelten, daß uns hier nicht ein bloßes Trugbild äfft, sondern ein neues Leben in unserem Kreise erscheint.

2. Die Vertiefung der Liebe.

Das Problem der Feindesliebe ist nur der Ausschnitt eines allgemeineren Problems, des Problems, ob die Leitung unseres Lebens letzthin der Gerechtigkeit oder der Liebe gebühre. Es hatte seinen guten Grund, wenn die altgriechischen Denker für die Gerechtigkeit eintraten, für Gerechtigkeit in dem weiten Sinne einer Ordnung aller Verhältnisse gemäß dem Verdienst: jeder erhalte, was ihm zukommt, nicht weniger, aber auch nicht mehr, selbst die Liebe bemesse sich nach dem Grade der dargebotenen Liebe, auch bei ihr sei alles Unverdiente, alles Unbegrenzte ausgeschlossen. Ein solches Ideal trieb zur Aufbietung aller Kraft, zur Umsetzung alles Vermögens in wirksame Tätigkeit, zum Aufbau eines wohlgeordneten Reiches der Vernunft; ein solches System der Gerechtigkeit hatte insoweit auch Platz für Gnade, als es Härten einer buchstäblichen Abmessung zu mildern und die Überspannung des Rechts zum Unrecht zu vermeiden galt ( summum jus summa injuria). Die Idee der Gerechtigkeit hat auf menschlichem Boden allererst eine zusammenhängende geistige Ordnung hervorgebracht und gleichmäßig durchgebildet, zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung ist und bleibt sie uns unentbehrlich.

Wie kommt es nun, daß trotz so hoher Leistung die Gerechtigkeit dem Menschen nicht genügte, daß die weltgeschichtliche Bewegung jenes Ideal der Gerechtigkeit überschritt? Es kam aus schmerzlicher Erfahrung und Empfindung der Unzulänglichkeit des Menschen als Menschen, aus der Erkenntnis eines tiefen Zwiespalts in seinem eignen Wesen. Solche Erfahrung und Erkenntnis wurde aber unabweisbar, sobald der Mensch sich nicht mehr als ein bloßes Stück einer gegebenen Welt verstand, sondern darüber hinaus zum Ganzen eines neuen Lebens strebte, sobald er unendliche Aufgaben in sich entdeckte und sich nicht mehr an seinesgleichen, sondern an einem Ideal absoluter Vollkommenheit maß. Wenn er sich aber bei solcher Wendung nicht nur höchst unfertig, sondern auch voller Widersprüche findet, so wird das Maß der Gerechtigkeit zu einer unerträglichen Härte, so bedroht die Schätzung nach der Leistung auch den Besten mit Verwerfung und Vernichtung. Dessen erwehrt sich der Mensch nach bestem Vermögen und zwar keineswegs bloß aus einem selbstischen Lebensdrange, sondern weil er sich einer größeren Tiefe und mit ihr eines unverlierbaren Wertes gewiß fühlt; kann er nun jene nicht aus eigner Kraft beleben, so wird er für das Durchdringen zum eignen Wesen auf Hilfe und Liebe angewiesen. So erwacht eine starke Sehnsucht nach einer unendlichen Liebe jenseit aller Frage des Verdienstes, nach einer neuen Ordnung jenseit alles Rechnens und Messens, nach einer Befreiung von der bloßen Leistung in der gegebenen Welt.

Ist ein solches Verlangen ein müßiger Einfall, konnte es überhaupt entstehen und soviel Macht gewinnen, stünde nicht hinter ihm irgendwelche Wirklichkeit? Auch das Verhältnis vom Menschen zum Menschen würde mit der Entfernung aller unverdienten und unbemessenen Liebe kalt und seelenlos. Aber wie rätselhaft ist eine solche Liebe! Wie könnte sie der Selbstsucht und der Unlauterkeit des Durchschnittsgetriebes entstammen? So muß hier wohl der Mensch von innen heraus in andere Zusammenhänge gehoben werden, und es muß ihm aus dem Ganzen eine Kraft zugehen, die ihn über die Anfangslage, ja über sein natürliches Vermögen hinaushebt und ihn aus einem neuen Leben das scheinbar Unmögliche vollbringen läßt. Besonders deutlich ist das bei solchen Persönlichkeiten, denen das menschliche Leben eine innere Erhöhung verdankt, namentlich bei den Helden der Religion. Die äußere Lebenslage stellte sie oft recht einsam, die Umgebung erwies ihnen wenig Liebe, und zugleich fühlten jene Männer zu echt und sahen zu scharf, um sich durch Phrasen von der Größe und der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit den wahren Stand der Dinge verhüllen zu lassen. So haben sie sich im menschlichen Kreise oft sehr einsam gefühlt, wie das auch die Inbrunst verrät, mit der sie sich zur Gottheit wandten. MUHAMMED gehörte nicht zu den tiefsten Geistern, aber auch er hat jenes Gefühl zu kräftigem Ausdruck gebracht. »Beim Glanz des Mittags und in der stillen Nacht verwirft der Herr ihn nicht, und wird ihn nicht vergessen, und die Zukunft wird besser sein als die Vergangenheit. Hat er ihn nicht gefunden als eine Waise und ihm eine Heimstätte gegeben, ihn irregehend gefunden und ihn auf den rechten Weg geführt, ihn so arm gefunden und so reich gemacht?« Aber hat bei diesen führenden Geistern solche Einsamkeit unter den Menschen die Liebe zu ihnen zerstört, hat sich nicht bei ihnen inmitten alles Gegensatzes ein mächtiges Feuer der Liebe entzündet, das auch die trägen Gemüter ergriff und zur belebenden Kraft für das Ganze der Menschheit wurde? So mußten jene Männer im Menschen wohl mehr sehen, als unmittelbar vorliegt, so mußten sie durch alles Kleine und Verfehlte hindurch zu einer Tiefe des Wesens dringen, die das scheinbar Getrennte verbindet und auch dem scheinbar Nichtigen einen Wert verleiht. Aber sollte solche Tiefe möglich sein ohne eine neue Ordnung der Dinge, ohne die Gegenwart eines Alllebens in der menschlichen Seele? Wie jene Männer die Menschheit im Lichte der neuen Ordnung sehen mußten, um zu ihr zu wirken wie sie wirkten, so hätten sie ohne die Kraft jenes Lebens, ohne ein Gehobenwerden über sich selbst schwerlich die Festigkeit, Freudigkeit, Unerschöpflichkeit gefunden, die ihr Werk verlangte und die sein Gelingen zeigt.

So geschah es mit besonderer Deutlichkeit auf höchster Höhe des Lebens, keineswegs aber blieb es auf diese Höhe beschränkt. Denn unser aller Leben würde einer vollen Innerlichkeit beraubt, wäre es ein bloßes Gewebe von Wirkungen und Gegenwirkungen, wäre alles Handeln nach dem zu bemessen, was es an Folgen für uns hat, wie das dem Gedanken der Gerechtigkeit entspricht. Unser Leben müßte bald stocken und sinken, enthielte es nicht viel Wirken ohne Erwartung eines Dankes, viel Liebe ohne die Forderung einer Gegenliebe, viel Handeln, das scheinbar weggeworfen und verloren ist, wie GOETHE das oft in wunderbarer Weise ausgesprochen hat; eine derartige zugleich selbstlose und starke Liebe mag sich besonders in äußerlich unscheinbaren Leistungen erweisen und deren inneren Wert über alle Großtaten der Weltgeschichte erheben. In diesem Alltäglichen steckt ein Rätsel und geschieht ein Wunder, es widerspricht nicht nur der Ordnung der Natur, es widerspricht auch der des Geisteslebens, soweit sie der Gerechtigkeit folgt, es schwebt in der Luft und kann sich nicht halten, wenn nicht eine neue Ordnung, ein Reich schaffender Liebe, es trägt und beseelt. Solche Überlegenheit der Liebe anerkennen heißt nicht die Gerechtigkeit verwerfen und sie aus unserer Welt verweisen, vielmehr ist sie in den menschlichen Verhältnissen unentbehrlich für den Aufbau der Vernunft in der Breite des Lebens, für die Befestigung geistiger Art gegenüber der bloßen Natur. Aber nach Anerkennung eines Reiches der Liebe wäre ihre Ordnung nicht mehr unsere ganze Welt; nicht nur als Hoffnung, auch als Gegenwart würde jenes sich in unser Leben erstrecken und seine Gesamtart verändern, zugleich aber die Anerkennung einer neuen Tiefe der Wirklichkeit fordern.

3. Die Selbstbehauptung in Hemmung und Leid.

Schon die frühere Betrachtung zeigte, daß bei Anerkennung einer selbständigen Geistigkeit das Leben sich nicht als ein ruhiger Aufstieg, sondern als ein harter Kampf ausnimmt. Denn mit jener erscheint etwas wesentlich Neues, das einer vorhandenen Welt gegenüber sich erst durchzusetzen hat; Zusammenstöße konnten nicht fehlen, Hemmungen und Stockungen waren zu erwarten. Zunächst bestand dabei die Hoffnung und Überzeugung, daß das von göttlichem Leben getragene Geistesleben sich siegreich durchsetzen, und daß auch die Hemmung als scharfer Stachel schließlich zur Förderung wirken werde. Nun aber sahen wir den Widerstand eine solche Stärke und Ausdehnung gewinnen, daß das Ganze gefährdet wird und die Hoffnung einer Überwindung innerhalb dieses Kreises zusammenbricht, überall stößt unser Streben auf starre Schranken, die es zweck- und sinnlos zu machen drohen. Was zeigt hier nun die Erfahrung der Menschheit? Sie zeigt, daß auch unter den erschütterndsten Eindrücken jener Hemmung und unter Verzicht auf ein Gelingen der Weltarbeit geistiges Leben aufrechtgehalten werden konnte und aufrechtgehalten wurde, beim Einzelnen wie im Ganzen der Menschheit. – Unsere wissenschaftliche Forschung stößt auf unüberwindliche Schranken, schmerzlich empfinden wir unser Unvermögen gegenüber den Rätseln des Daseins. Im Ringen um eine wahrhaftige Kunst finden wir uns viel zu schwach, dasjenige, was im tiefsten Innern der Seele vorgeht und nach Verkörperung dürstet, angemessen zu fassen und zur ersehnten Wirklichkeit zu führen; so bleiben wir höchst unfertig, ja zerrissen im eignen Sein, uns selbst verschlossen und unzugänglich. Mußten wir uns nicht auch beim praktischen Wirken durch jahrtausendlange Erfahrung von der Unmöglichkeit einer durchgreifenden Besserung der menschlichen Lage überzeugen, weichen nicht die Ziele vor unseren Augen immer weiter zurück? Und muß nicht auch der Einzelne, je mehr er auf einem inneren Zusammenhange seines Lebens besteht, es mehr und mehr als ein bloßes Bruchstück erkennen? Vollbegreiflich wäre es, wenn unter den Eindrücken eines so harten und herben Nein die Menschheit allen Mut zum Leben verloren und die Arbeit als nutzlos eingestellt hätte. In Wahrheit hat sie das nicht getan. Mochten einzelne Weltanschauungen und auch Religionen eine völlige Verneinung versuchen, die Verneinung ist, wenn sie nicht von vornherein eine Bejahung in sich trug, bald wieder in eine solche umgebogen. Auch der Buddhismus hat die anfängliche völlige Verwerfung des Lebens bald gemildert und in eine gewisse Bejahung verwandelt. War das bloß eine Hartnäckigkeit des Naturtriebs, eine Unausrottbarkeit gemeiner Lebensgier? Schwerlich, denn die Bejahung selbst hat als geistige Selbsterhaltung so viel Mühe und Arbeit, so viel Sorge und Not über die Menschen gebracht, daß das natürliche Glückverlangen weit eher eine Preisgebung des Lebens, ein ruhiges Versinken und Sichauflösen hätte empfehlen müssen; auch hat die Bejahung viel zu viel geistige Bewegung und Erneuerung hervorgerufen, als daß sie sich als eine bloße Irrung zur Seite schieben ließe. So mußte in jenem Lebensdrange wohl etwas Tieferes wirken, irgendwelche Kraft mußte den Menschen beim Leben festhalten und ihn mit einer Zuversicht erfüllen, die der nächste Lebensanblick nicht rechtfertigt.

Kein großer Denker hat diese Probleme wahrhaftiger erlebt und hinreißender zum Ausdruck gebracht als AUGUSTIN. Vor seinen Augen versinkt eine alte Kulturwelt, ohne daß eine neue aufsteigt, er empfindet, von dem Gespenst völliger Leere bedroht, alle Schäden und Schranken des menschlichen Daseins mit peinlicher Stärke. Und doch hält es ihn fest beim Leben und widersteht er der Vernichtung. Weshalb wohl? Weil die Hemmung selbst ihm zu deutlichem Bewußtsein bringt, daß etwas ihr Überlegenes in ihm steckt, weil alle Bedrohung und Einschüchterung ihn eines Unverlierbaren in seinem Wesen erst recht gewiß macht. Es ist das etwas Axiomatisches, etwas zunächst völlig Rätselhaftes, aber aus diesem Rätselhaften entspringt eine gewaltige Kraft und erzeugt einen neuen und höheren Lebensdrang, der gegenüber dem der bloßen Natur ein metaphysischer heißen könnte. Woher das alles, wenn sich das Leben mit der bisherigen Eröffnung erschöpft hat und nicht aus einer weiteren Tiefe den Menschen befestigen und erneuern kann? Das Erlebnis des AUGUSTIN ist aber ein Erlebnis der Menschheit, ein Erlebnis jedes Einzelnen, dem diese Probleme zum eignen Schicksal wurden; es waren nicht die trübsten Zeiten und Erfahrungen, welche am Leben gänzlich verzweifeln ließen, sondern weit mehr waren es Zeiten träger Übersättigung und mangelnder großer Ziele; jene haben eher zur Befestigung und Kräftigung gewirkt. Aber wie konnten sie das ohne die Hoffnung, ja die Gewißheit einer neuen Ordnung der Dinge in vollem Widerspruch zu allem, was ihnen zunächst das Leben brachte?

4. Die Weiterbildung der Innerlichkeit.

Dem Geistesleben war es nach unserer Darlegung wesentlich, das Innenleben zur Selbständigkeit zu erheben, es zu einer Welt zu erweitern, die nicht neben den Dingen steht, sondern sie ihrem ganzen Bestande nach in sich aufnehmen und zugleich ihrem eignen Wesen zuführen will; die Entwicklung des Geisteslebens wird damit eine fortschreitende Verinnerlichung der Wirklichkeit. Aber diese Verinnerlichung stieß im Gesamtstand der Arbeit auf ungeheure Widerstände; die Gefahr ist augenscheinlich, daß was wir Menschen an Innerlichkeit erreichen, ein abgesonderter Kreis neben der großen Welt verbleibt, eine Klause des bloßen Subjekts. Aber solcher Auflösung hat die Menschheit sich keineswegs ergeben, sie hat die Innerlichkeit immer neu zu gestalten, sie immer weiter zurückzuverlegen, ihr eine festere Grundlage und einen neuen Inhalt zu geben versucht. Und solches Streben ist augenscheinlich mehr als eine bloße Verirrung. Die Hemmungen selbst lösen neue Bewegungen aus. Die Dinge werfen uns schroff auf uns selbst zurück und lassen uns starre Schranken schmerzlich empfinden. Aber was wir dabei empfinden und erleben, das wird zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens, jene Hemmung erzeugt nicht nur ein sentimentales Nachklingen und ein schwachmütiges Reflektieren, sie wird in ein tiefer gegründetes Leben aufgenommen, sie dient zur Weiterbildung eines aller Weltarbeit überlegenen Seelenstandes; es scheint sich hier eine rein bei sich selbst befindliche Innerlichkeit aufzuringen und sich zum Gewinn zu gestalten, was für die Arbeit ein bloßer Verlust war.

Die Anerkennung einer solchen reinen Innerlichkeit verändert aber den Lebensanblick wesentlich: was bisher unsere ganze Welt schien, wird nun zu einer bloßen Stufe und erscheint jener Innerlichkeit gegenüber als nach außen gekehrt; auch was bisher der ganze Bestand unserer Seele dünkte, muß nun eine Tiefe hinter sich anerkennen. Solche Anerkennung wird den Menschen um so bereiter finden, je mehr er die bisher eröffnete Geistigkeit als unzulänglich durchschaut, je mehr er auch seine eigne Art als ein starres Schicksal empfindet, von dessen Macht er sich irgend befreien möchte. Aber wie ist diese reine Innerlichkeit, die so große Veränderungen bringt und so große Hoffnungen weckt, selbst zu verstehen? Wie wäre sie möglich, ohne daß unser Leben weitere Zusammenhänge gewänne und daraus einen neuen Inhalt schöpfte? Und dieses wiederum wird schwerlich geschehen können ohne eine Weitererschließung des Ganzen der Wirklichkeit.

5. Die Weiterbildung der Moral.

Die innere Weiterbildung des Lebens, die uns hier beschäftigt, wird nirgends ersichtlicher als beim Problem der Moral. Der Verlauf unserer Untersuchung gab uns unablässig mit ihm zu tun, aber es hatte sich uns dabei die Moral nicht vom Ganzen des Lebens abgelöst und zu einem eignen Gebiete verdichtet, sie hatte nicht sowohl ein besonderes Werk zu verrichten, als sie sich auf alles Geistesleben erstreckte, indem dies durchgängig den Menschen nicht von Natur umfing, sondern ihm erst durch freie Entscheidung und Aneignung zu erringen war. Solche Universalität der Moral ist unbedingt festzuhalten, im besonderen hat das praktisch-soziale Gebiet, das Gebiet des menschlichen Verkehrs, kein Recht, moralische Gesinnung für sich allein in Anspruch zu nehmen und etwa Kunst und Wissenschaft davon auszuschließen. Denn auch diese tragen eine Entscheidung und Zuwendung in sich. Durch das ganze Leben geht der Gegensatz, ob das Handeln von den eignen Notwendigkeiten des Geisteslebens, oder ob es von den Zwecken des bloßen Subjekts beherrscht wird, und es ist daher die Gesinnung des Forschers, der lediglich und allein der Wahrheit dient und sich durch keinerlei Beweggründe subjektiver Art wie Genuß, Gewinn, Ruhm davon ablenken läßt, oder des Künstlers, der lediglich darauf bedacht ist, die seiner Seele entquellenden Bilder zu reiner Verkörperung zu bringen, moralisch ebenso wertvoll als das Verhalten dessen, der mit praktischem Wirken die Menschheit fördert. So verstanden wird die Moral sich um so besser entwickeln, je weniger sie sich absondert und gegen andere Aufgaben abgrenzt.

Aber nun erfährt die Moral ähnliche Widerstände und Verwicklungen, wie wir sie der Religion erwachsen sahen. Jene Hingebung an das Geistesleben fehlt nicht gänzlich, aber sie erlangt wenig Stärke, die Verwicklungen der geistigen Arbeit lähmen oft auch die Gesinnung, andererseits bringt auch die glänzendste Arbeit nicht schon eine entsprechende Gesinnung mit sich; Naturtriebe dringen tief auch in die Gebiete ein, welche den Menschen über die Natur hinausführen wollten, das Kleinmenschliche hält seine Seele mit überlegener Gewalt bei sich fest. So ist im Durchschnittsleben die Moral von geringer Macht und wird meist wie eine Nebensache behandelt. Ja oft gilt sie als eine lästige und aufdringliche Störung, als ein Versuch ungebührlicher Einengung. Aber die Menschheit als Ganzes hat sich bei solcher Abweisung nicht beruhigt, immer wieder ist sie zur Schätzung der Moral zurückgekehrt, gewiß doch, weil sie in ihrer Preisgebung einen unerträglichen Verlust an Tiefe und Kraft des Lebens verspürte. In solchen Erschütterungen ist die Moral selbst über die anfängliche Gestalt hinausgetrieben, und hat sie ein besonderes Gebiet gegenüber dem sonstigen Leben erlangt. Mit der Ausbildung einer reinen Innerlichkeit gegenüber der Weltarbeit gewinnt sie die Aufgabe, diese und mit ihr einen Kern des Seelenlebens unbedingt festzuhalten, eine Seele der Seele gegenüber ungeheuren Widerständen tapfer und treu zu behaupten. Damit erst scheint das Leben zu seiner tiefsten Wurzel gelangt; so gilt, was hier geschieht, allem anderen Wirken unvergleichlich überlegen. Eine solche Überzeugung verficht namentlich das Christentum, ihr entsprechen Worte wie die, daß der Gewinn der ganzen Welt eine Schädigung der Seele nicht aufwiegt, oder daß um den Preis der ganzen Welt nicht die Seele eines einzigen Menschen erkauft werden kann (LUTHER). So kann bei etwaigem Zusammenstoß mit anderen Zwecken gar kein Zweifel darüber sein, daß die nunmehr zu voller Selbständigkeit gelangte moralische Aufgabe jeder anderen unbedingt vorgeht: das Auge ist auszureißen, die Hand abzuhauen, wenn sie das Heil der Seele gefährden. Solcher höheren Schätzung entspricht eine größere Strenge der Forderung. Die Erhaltung jener Tiefe des Wesens scheint nicht den Handelnden allein anzugehen, sondern über ihn hinaus in den Gesamtstand des Geisteslebens einzugreifen und ihm schwere Schädigung zu drohen. So muß auch dem Ganzen daran liegen, daß an der besonderen Stelle das Rechte geschehe, und es scheint von ihm aus eine Gegenwirkung gegen die Verfehlung zu kommen. In solchem Zusammenhange entstehen Begriffe wie Verantwortung, Schuld, Gewissen usw., Begriffe höchst rätselhafter Art, aber bei allem Dunkel Mächte, die aller Geringachtung oder auch Wegdeutung zum Trotz immer neu aufgestiegen sind, und die, einmal mit voller Stärke hervorgebrochen, leicht das ganze Leben unter ihre Herrschaft brachten. Sie scheinen sich aus der Welt des Menschen nicht vertreiben zu lassen, weil das Bestehen einer selbständigen Innerlichkeit und damit die Möglichkeit einer geistigen Selbsterhaltung untrennbar mit ihnen verknüpft ist. Wo immer sie zurückgedrängt und abgeschwächt wurden, da ist das Leben auch inmitten glänzendster Leistungen, wie z. B. in der Renaissance, einer inneren Auflösung verfallen. So ist jenes Rätselhafte, jenes Unbequeme, jenes Störende unentbehrlich, mit ihm erst scheint in das Leben eine innere Festigkeit und eine unvergleichliche Würde zu kommen. Wie erklärt sich das alles und weist es nicht dahin, daß in unserem Leben mehr vorgeht, daß in uns weitere Kräfte walten, als bis dahin ersichtlich wurden?

 

Der Überblick über die einzelnen Punkte läßt eine durchgehende Tatsache ersehen, eine Weiterbewegung des Lebens über den Punkt der Hemmung hinaus. Es ist eine reine Innerlichkeit, von deren Gewinn eine Wiederbefestigung und eine Wendung zum Ja erwartet wird. Aber diese Innerlichkeit schwebt einstweilen ganz in der Luft, wir sahen sie noch nicht einen eigentümlichen Inhalt gewinnen, noch nicht sich zu einem selbständigen Reiche entwickeln. Und doch liegt viel zu viel Tatbestand vor, als daß wir das Ganze wie eine Luftspiegelung abweisen könnten. Was im Einzelleben minder faßbar sein mag, das hält die Geschichte der Menschheit uns in großen Zügen entgegen. Hier erscheint die neue Art vornehmlich in der Hinaushebung des Lebens über alle bloße Kultur. Jederzeit ist bei uns mehr vorhanden als diese, aber nur in einzelnen Epochen kommt dies Mehr zu deutlicher Abhebung und voller Bewußtheit. Es gibt Zeiten, wo besondere Schicksale alle Kulturarbeit stocken ließen, ja rückläufig machten, und die trotzdem nicht geistiger Leere verfielen, sondern in anderer Richtung ein großes und wertvolles Leben fanden.

Die Epoche des Zusammenbruches des Altertums war, nach der Kulturleistung gemessen, höchst unergiebig, ja unerquicklich, aber diese Epoche ist es, die in unserem Völkerkreise zuerst dem Seelenleben volle Selbständigkeit gab und über alle bloße Subjektivität hinaus zu einer Innenwelt vordrang, eine der größten Wendungen im weltgeschichtlichen Leben. Daher vermögen wir aus Männern wie PLOTIN und AUGUSTIN noch immer zu schöpfen, daher gelten sie uns als Helden des Geistes, obschon sie der Kultur mehr Schaden als Nutzen brachten.

Immerhin erhalten wir bis jetzt mehr Fragen als Antworten, mehr Rätsel als Lösungen, wir befinden uns mehr im Suchen als im Besitz. Freilich bedeutet im Reich des Innenlebens ein echtes Streben selbst eine Tatsache, es muß im besonderen da, wo eine Umwandlung des Wesens in Frage steht, dasjenige, was als fernes Ziel vorschwebt, irgendwie auch als Besitz von Anfang an zugegen und wirksam sein; sonst könnte es uns gar nicht bewegen. Nicht nur für die Religion gilt PASCALS Wort: »Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest.« Aber es heißt dann freilich, den verborgenen Besitz deutlicher herauszuarbeiten, um von bloßen Ahnungen und Andeutungen zu vollem und freudigem Leben vorzudringen.

c. Die Entfaltung einer Religion charakteristischer Art.

1. Einführung.

Verschiedene Andeutungen einer neuen Tiefe wurden ersichtlich, sie alle weisen nach der Richtung, daß ein noch weiter zurückliegendes Innenleben eröffnet und in ihm eine den Verwicklungen entzogene Wirklichkeit gewonnen werde. Eine derartige Bewegung kann nun und nimmer aus dem bloßen Menschen, sie muß aus dem All entspringen; sie kann nach dem Verlauf unserer Untersuchung nur darin bestehen, daß das Allleben uns nicht nur in seiner Entfaltung zur Welt, sondern daß es uns auch unmittelbar als Ganzes gegenwärtig wird. Daß dies in Wahrheit geschieht, das ist die Behauptung der Religion, die sich damit ins Charakteristische gestaltet; erweisen aber läßt sich jene nicht anders als durch die Aufdeckung eines neuen Lebens, eines eigentümlichen Lebenszusammenhanges, in dem sich eine durchgehende Tatsächlichkeit eröffnet und uns das eigne Wesen wie das Ganze der Wirklichkeit in neuem Lichte zeigt. Dies Neue kann nicht plötzlicher und überraschender Art sein, es muß irgend in uns angelegt sein; wie könnte es sonst unser innerstes Wesen werden? Aber für den ersten Anblick gibt es sich als etwas Zerstreutes, Nebensächliches, bloß Anhängendes; indem die Religion darin eine Wandlung vollzieht, indem sie jenes sammelt, verbindet und als Ganzes zur Wirkung bringt, auch zur eignen Tat des Menschen macht, stellt sie erst seine Bedeutung in volles Licht, und erkennt sie in ihm die Gegenwart einer neuen Welt.

So dem Leben seine letzte Tiefe und seine innersten Zusammenhänge erringen kann die Religion nicht ohne sich deutlicher vom übrigen Geistesleben abzusondern und sich ein eignes Gebiet zu schaffen. Mit solcher Wendung zum Charakteristischen berührt sie sich eng mit der Behauptung der geschichtlichen Religionen, und gewinnt sie ein näheres Verhältnis zu ihnen als in der bisher betrachteten universalen Art. Mit ihnen teilt sie die Überzeugung, daß der Mensch durch eine weitere Erschließung des Göttlichen über das Gebiet der Verwicklungen hinaus in ein neues Leben gehoben werde, mit ihnen anerkennt sie eine Abstufung der Wirklichkeit, eine Weiterbildung im eignen Gebiet des Geisteslebens, sie verleiht zugleich der inneren Erfahrung wie der geschichtlichen Bewegung mehr Bedeutung. Aber auch bei solcher Annäherung verbleibt ein erheblicher Unterschied. Das gesuchte neue Leben erscheint der charakteristischen Religion, wie wir sie verstehen, nicht als Sonderbesitz einer einzigen geschichtlichen Religion, sondern als das gemeinsame Ziel und die gemeinsame Grundkraft aller Religionen; sie gelten uns nicht als unversöhnliche Gegner, sondern als Mitarbeiter an dem einen großen Werke der geistigen Rettung der Menschheit. Das heißt nicht die einzelnen Religionen einander gleichstellen und ihre Unterschiede verwischen; eher mag die Messung an einem gemeinsamen Ziele diese noch deutlicher zeigen. Aber sie liegen nun innerhalb eines gemeinsamen Strebens und können sich nicht bloß als Gegner betrachten. Was immer die eine Religion an Gehalt entwickelt, das bedeutet nun nicht einen Abzug von der Wahrheit der anderen, sondern bei Zurückführung auf den gemeinsamen Kern kann sich alles gegenseitig unterstützen und verstärken. Die Behandlung der einzelnen Religionen hätte alsdann das Augenmerk vornehmlich darauf zu richten, was eine jede zur Belebung der einen durchgehenden Religion charakteristischer Art beiträgt, es wäre zu zeigen, wie die eine Wahrheit durch alle Entstellung hindurch und oft in geradem Gegensatz zu den bewußten Formulierungen, zum Gerüst der Lehren und Einrichtungen wirkt, es wäre bei den Religionen überall herauszuheben, was an ihnen in Wahrheit Religion, was Grundgehalt und nicht bloß Einkleidung ist.

In dieser Weise fortschreiten kann aber die Religion wie ihre Behandlung nur bei energischer Konzentration auf das Innenleben, ihre Wahrheit ruht auf Tatsachen oder vielmehr auf einer zusammenhängenden Tatsächlichkeit durchaus innerer Art. Diese kann sich nirgends finden als in der menschlichen Seele und zwar jenseit aller besonderen Leistungen und Gestaltungen, die uns bis dahin beschäftigten; in noch stärkerem Maße als bisher wird nunmehr der Mensch zum Ausgangspunkt einer neuen Welt. So wird sich bei dieser Wendung auch der Vorwurf eines bloßen Subjektivismus und Anthropismus verstärken, dem die Religion von Anfang an ausgesetzt war, den sie aber in ihrer universalen Fassung leichter abzuwehren vermochte. Auch wer der Gesamtentwicklung des Geisteslebens eine innere Einheit und eine unsichtbare Tiefe zuerkennt, mag sich gegen die Wendung zur charakteristischen Religion als gegen einen Rückfall in bloßes Menschentum sträuben, da sich hier die Seele der übrigen Welt entgegenstellt, und die treibende Kraft jener Bewegung vornehmlich ein Bestehen des Menschen auf Selbsterhaltung ist. Bildet demnach die vermeintlich neue Welt nicht ein bloßes Gewebe menschlicher Vorstellungen und Zwecke, spinnt er sich bei ihr nicht in die eigne Zuständlichkeit ein unter Verlust alles Zusammenhanges mit echter Wirklichkeit? Geht daher die von der universalen Religion nachdrücklich verfochtene Befreiung von der bloßen Menschlichkeit nicht mit der Wendung zur charakteristischen wieder verloren? Ohne Zweifel steckt viel von jenem Subjektivismus und Anthropismus in den geschichtlichen Religionen und bedroht auch die charakteristische Religion. Aber mag solche Subjektivität den Durchschnitt des Lebens vielfach überwuchern, sie erschöpft nicht die Sache, ja sie trifft nicht den Kern der Sache. Denn wie überhaupt in der Religion, so ist auch bei der Wendung zu einer charakteristischen Art die bewegende Kraft nicht die Selbsterhaltung des Menschen als bloßen Menschen, sondern die Aufrechterhaltung eines seinen Zwecken wie Vorstellungen weit überlegenen Geisteslebens, die Unmöglichkeit einer Preisgebung der geistigen Inhalte und Güter; es wirkt hier ein metaphysischer, nicht ein physischer Lebensdrang. Und was an neuem gehofft wird, ist nicht eine Pflege und Förderung des bloßen Menschen, ein epikureisches Wohlsein feinerer Art, sondern eine neue Stufe der Geistigkeit, die aus dem Menschen etwas anderes macht als bisher, die ihm entwertet, was bisher Glück hieß, die ihm neue Güter zuführt, welche bisher seinem Leben fehlten. Das zeigen auch die geschichtlichen Religionen deutlich genug. Sie sind nicht bloße Spiegelbilder menschlichen Tuns und Treibens, sondern an ihnen ist der Mensch geistig emporgeklommen, hat er sich selbst neu zu sehen und zu verstehen gelernt, hat er Mut und Kraft zum Kampf gegen die kleinmenschliche Art und die kleinmenschliche Welt gewonnen. So schon im intellektuellen Gebiete. Denn nichts hat die Beschränktheit des menschlichen Vorstellungskreises deutlicher herausgestellt als die Idee eines weltüberlegenen Wesens und Lebens; was darin an Forderungen lag, das hat das menschliche Weltbild bis in die Grundformen von Raum und Zeit hinein zu einer besonderen Art herabgedrückt, die andere Möglichkeiten offen läßt. Noch geringer aber haben die Religionen vom sittlichen Vermögen des Menschen denken gelehrt, denn an dem von ihnen vorgehaltenen Maße gemessen sank auch die prunkvollste menschliche Leistung zu völliger Unzulänglichkeit herab. Auch läßt sich unmöglich sagen, daß die Religionen mit ihrer Fassung der Lebensaufgabe dem Menschen das Dasein leichter und angenehmer gemacht, daß sie seinem natürlichen Glückstrieb geschmeichelt hätten. Mag von dem, was sie von jenseitigen und zukünftigen Welten, von Bindung und Verantwortung lehrten, noch so viel der bloßmenschlichen Vorstellung angehören, es wirkte darin die Forderung einer gänzlichen Umwandlung des Lebens und gab dem Tun des Menschen einen unermeßlichen Ernst.

Diese Ablösung einer geistigen Welt, einer Welt selbständiger Innerlichkeit, vom menschlichen Tun und Treiben, die allen Religionen innewohnt, vermag sich mit besonderer Deutlichkeit herauszuarbeiten, wo von vornherein die Religion mit vollem Bewußtsein als eine Sache des Geisteslebens, nicht des bloßen Menschen gefaßt wird, das Geistesleben selbst aber als eine Umspannung und Überwindung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt, als ein ursprüngliches Hervorbringen, nicht ein bloßes Abbilden der Wirklichkeit gilt. Auf diesem Boden ist auch die Bewegung zur charakteristischen Religion gegen die Gefahr der Subjektivität gesichert, sofern mit ihr in Wahrheit eine Weiterbildung des Geisteslebens erscheint, eine neue Art volltätiger Wirklichkeit gewonnen wird. Daß dies geschieht, darauf kommt also alles an, das kann aber das neue Leben nur durch seine eigne Entfaltung, durch den Aufbau einer neuen Wirklichkeit zeigen.

Immerhin ist auf dieser neuen Stufe die Gefahr einer Vermenschlichung beträchtlich gesteigert. Noch weiter ist das Leben ins Unsichtbare zurückverlegt, noch weniger vermögen wir den geistigen Gehalt angemessen darzustellen, noch mehr müssen wir uns mit bloßen Symbolen begnügen, die unablässig auf ihre begründende Wahrheit zurückbezogen sein wollen, um nicht irrig zu werden. Um solchen Gefahren gewachsen zu sein, gilt es, die charakteristische Religion nicht aus dem Ganzen der Religion herausfallen zu lassen, sondern sie als eine Stufe, als eine höhere Schicht dieses Ganzen zu behandeln; die universale Art der Religion muß zugegen bleiben, wenn die charakteristische den geistigen Charakter genügend wahren und auch vor anderen Gefahren beschützt bleiben soll. So kommen wir auf das Verhältnis der beiden Arten der Religion; wie es näher zu fassen sei, und welches Recht überhaupt ihre Scheidung habe, das bedarf um so mehr einiger Erörterung, als hier Mißverständnisse naheliegen.

Sicherlich gibt es nicht zwei Religionen, sondern nur eine einzige, diese eine könnte aber sehr wohl verschiedene Stufen haben, und es könnte die deutliche Herausarbeitung dieser Stufen zur vollen Belebung des Ganzen nötig sein. Je entschiedener wir eine Religion des Geisteslebens im Gegensatze zu einer des bloßen Menschen fordern, desto notwendiger ist es, dieses Leben in ihr zu einem Ganzen zusammenzufassen und als Ganzes zur Wirkung zu bringen. Aber nun gewahrten wir die Hemmungen, welche unsere Welt dem bereitete; sie führten zum Suchen einer neuen Stufe, auf ihr empfängt die Religion eine stärkere Konzentration und wird bei schärferer Abhebung als charakteristische eigentümlichere Leistungen erzeugen. Das wirkt auch auf die universale zurück und gibt ihr einen sicheren Halt gegenüber allen Bedrängnissen; auf dem Boden der Geschichte gab es nie eine selbständige Religion universaler Art, und es geriet eine universal-religiöse Denkweise rasch in Sinken und Auflösung, sobald sie bei sich selbst abzuschließen versuchte. Aber zugleich behält sie einen eigentümlichen Wert, insofern sie die Erhebung des Menschen zur Geistigkeit erst in Fluß bringt, die auch der charakteristischen Religion zugrunde liegt; erst aus ihren Erfahrungen geht die Wendung zu jener hervor, erst ein Aufnehmen des Kampfes mit dem Ganzen der Welt und ein Auskosten ihrer Widerstände gibt dem Verlangen nach einer neuen Ordnung volle Wahrheit. Wie unsympathisch berührt z. B. das aufdringliche Bekenntnis des Unvermögens der menschlichen Vernunft seitens solcher, die nicht den mindesten Kampf um ein echtes Erkennen aufnahmen und daher auch keinen Schmerz der Entsagung kennen, oder auch die moralische Schwarzfärberei des Menschen, die ihn als von Grund aus verdorben erklärt und die schlichte Natur vergiftet, weil er der geistigen Aufgabe weitaus nicht gewachsen ist, ja in schroffen Widerspruch zu ihr gerät!

Der unablässigen Beziehung auf die universale Religion bedarf die charakteristische weiter als eines Gegengewichtes gegen eine drohende Verengung. Bei aller Wendung ins Besondere muß sie einen Einfluß auf das Ganze des Lebens behaupten, auch in der Zuspitzung muß die Gesamtaufgabe gegenwärtig bleiben und durch sie gefördert werden. Sonst kann die charakteristische Religion im eignen Bereich zu einem bloßen Asyl gegen die Nöte des Daseins, für das übrige Leben aber zu einer starren und düsteren Verengung werden. Ja die Ablösung mag den geistigen Charakter der Religion gefährden, indem diese dabei mehr und mehr allen deutlichen Inhalt verliert und zu einer bloßen Erregung leeren Gefühles sinkt.

Unser Hervorgehenlassen der charakteristischen Religion von der universalen her behauptet in keiner Weise eine Darstellung des geschichtlichen Verlaufes bei Völkern und Individuen zu sein. Hier pflegt den Ausgangspunkt die positive Religion zu bilden, erst später entwickelt sich eine allgemeine Denkart und übt am überkommenen Bestande eine Kritik, die zunächst vornehmlich verneinend ausfallen mag, um schließlich wieder zu einer positiven Würdigung zu führen. Damit erst erreichen wir den Boden der philosophischen Behandlung, und nun rechtfertigt sich auch die Zweiseitigkeit der Religion innerhalb der einen Gesamtaufgabe.

So verstanden, müssen die beiden Arten nebeneinander verbleiben und gegenseitig aufeinander verweisen. Das Ganze der Religion gewinnt damit eine unablässige Bewegung; das ist die beste Schutzwehr gegen einen abschließenden Dogmatismus. Zugleich aber wird damit ein freier Spielraum für die Eigentümlichkeit der Individuen und der Zeiten gewonnen. Wohl müssen im Ganzen der Religion universale und charakteristische Art zusammenwirken, aber ihr Verhältnis kann sich verschieden gestalten, und bald die eine, bald die andere im Vordergrunde stehen, je nachdem entweder die Größe und Kraft des Geisteslebens die Überzeugung erfüllt, oder vornehmlich die Hemmungen empfunden werden und eine weitere Erschließung des Göttlichen als die einzig mögliche Rettung fordern. Die leitenden religiösen Persönlichkeiten bieten hier verschiedene Mischungen; wie groß ist hier z. B. der Abstand zwischen einem LUTHER und einem ZWINGLI bei aller Verwandtschaft der Gedankenwelt! Keine jener Persönlichkeiten dürfte beide Seiten stärker nebeneinander entwickelt haben als AUGUSTIN, er aber hat allerdings das bloße Nebeneinander nicht überwunden.

So eröffnet sich ein Ausblick auf viel Bewegung und reiche Mannigfaltigkeit, auch auf Gegensätze und Kämpfe, aber nirgends mehr als in der Religion erweist der Kampf selbst mit seiner Aufrüttelung aller Kräfte die Macht des Ganzen und die Notwendigkeit der Sache.

Soviel an Erwägungen zur Sicherung des Platzes der charakteristischen Religion; wenden wir uns jetzt zum Näheren ihres Gehalts.

2. Der neue Lebensprozeß.

α. Die Hauptthese.

Die Behauptung der charakteristischen Religion geht dahin, daß sich in unserer Seele ein reines Beisichselbstsein des Geisteslebens als Mitteilung eines weltüberlegenen Innenlebens erschließe, die Forderung, daß der Mensch dies als sein wahres Wesen ergreife und demgemäß sein Leben gestalte, die Hoffnung, daß er damit eine volle Überlegenheit gegen alle Konflikte und Hemmungen gewinne. Als Beisichselbstsein des Geisteslebens kann die hier in Frage stehende Innerlichkeit nicht einen Sonderkreis neben der Wirklichkeit, sondern muß sie ihr eigenstes Wesen, ihre innerste Tiefe bedeuten; sie wird zugleich nun und nimmer bloße Subjektivität sein dürfen, sondern einen neuen Inhalt zu erschließen haben; sie kann mit solcher Leistung keineswegs ein Werk des einzelnen Punktes sein, sondern sie muß vom Ganzen des Geisteslebens stammen. Das eben ist die Überzeugung der charakteristischen Religion, daß dieses uns nicht bloß in der Entfaltung zur Welt, sondern auch im Gegensatz zur Welt, in einem reinen Beisichselbstsein zugänglich werde und damit dem Menschen eine Rettung aus den Nöten bringe, denen er sonst erliegen muß; durch die Schöpfung nicht bloß einzelner Lebensvorgänge, sondern eines neuen Lebenskernes im Menschen werde das Leben von der dargelegten Stockung befreit, wieder in frischen Fluß gebracht und zu neuer Höhe geführt. Wie sich das vom Menschen her ausnimmt, sei nunmehr näher betrachtet.

Den Ausgangspunkt bildet die Tatsache, daß beim Menschen über alle Leistung hinaus, auch über alles Ganze der geistigen Kraft in der Leistung hinaus, das Problem entsteht, was er im Ganzen seiner Seele ist, im Ganzen seiner Gesinnung, wie es zu heißen pflegt. Das Leben erscheint hier lediglich mit sich selbst, mit seinem eignen Stande befaßt, in keiner Weise über sich hinaus nach draußen gerichtet, und doch scheint in dem, was es in solcher Abgeschiedenheit tut oder nicht tut, die letzte Entscheidung über seinen Wert, über sein Gelingen oder Mißlingen zu liegen. An Ausdrücken fehlt es hier nicht, man spricht von sittlichem Charakter, moralischer Persönlichkeit usw., unter großer Gefahr, das in Frage Stehende von vornherein zu verengen und zu vergröbern. Was hier vorgeht, ist rätselhaft genug. Das Leben drängt noch über die Weltarbeit hinaus zu einem Beharren in sich selbst, zu einer neuen Art des Seins; für den ersten Anblick aber ist es in lauter einzelne Erscheinungen zersplittert, und was an Einheit im Grunde vorhanden sein mag, das scheint sich nicht der Hemmung entwinden und zu irgendwie leidlicher Wirkung gelangen zu können. Diesen ersten Anblick aber überwindet die charakteristische Religion mit der Behauptung, daß im Menschen trotz alles Widerstandes ein Selbständigwerden reiner Innerlichkeit und die Schöpfung einer neuen Lebenseinheit jenseit der allgemeinen Geisteskultur erfolge, nicht aus seiner eignen Kraft, sondern aus der Mitteilung des innersten Grundes der Dinge, eines reinen Beisichselbstseins der Wirklichkeit. Wohl kann jene Mitteilung keine mechanische Einflößung sein, sondern es ist auch die eigne Kraft des Menschen zu wecken; die Kraft selbst erscheint hier aber nicht als ein natürlicher Besitz, sondern als eine Gabe und Gnade. Wie überhaupt im Gebiet der Religion, so kann besonders hier die Belebung des Ganzen an dieser Stelle nicht ohne eine Entscheidung und Zuwendung gelingen, die aber selbst eine Tat des Ganzen in sich trägt.

Dieses nun, daß ein neues Leben reiner Innerlichkeit nicht etwa bloß am Menschen vorgeht und ihn mit einzelnen Wirkungen berührt, sondern daß es sein eignes Leben, sein selbstgewolltes und selbstgeführtes Leben wird, daß er im Kern seines Wesens selbst mit zum Träger und zur hervorbringenden Ursache wird, daß er damit einen neuen Lebensmittelpunkt und eine neue Wirklichkeit gewinnt, das ergreift die charakteristische Religion als eine einfache Tatsache und als ein großes Wunder, worauf gestützt sie getrost den Kampf gegen die ganze übrige Welt aufnimmt. Denn dieser neue Mittelpunkt kann dem so arg ins Wanken geratenen Leben wieder Festigkeit verleihen, nirgends ist das Leben mehr bei sich selbst als hier, nichts von dem, was zur Umgebung gehört, kann es in seiner Gewißheit erschüttern. Wird dabei die geistige Weiterbildung genügend von aller bloßen Subjektivität abgehoben, so erstreckt sich der Weltcharakter des Geisteslebens auch auf die neue Stufe, und so darf das ihr eigentümliche Leben als die Vollendung der Wesensbildung gelten, wonach alles Geistesleben strebt.

Solche Wendung macht die Religion zur Herrscherin über das Ganze des Lebens. Denn nunmehr gewinnt der Mensch aus dem Verhältnis zu Gott nicht nur irgendwelche Erhöhung seines Lebens, sondern überhaupt erst ein selbständiges Leben und Wesen gegenüber der Welt, sowie eine völlige Sicherheit gegenüber schwerster Erschütterung und drohender Vernichtung; in diesem neuen Leben wird das Beisichselbstsein der ganzen Unendlichkeit sein eigen und eröffnet sich ihm die letzte Tiefe der Wirklichkeit. So muß, als die alleinige Quelle geistiger Selbsterhaltung, das Verhältnis zum göttlichen Leben allen übrigen Aufgaben unvergleichlich vorangehen, nicht das mindeste dürfen sie ihm entziehen, das bei sich selbst als unbedingter und ausschließlicher Selbstzweck ergriffen sein will. So ging auf der Höhe der Religion durchgängig die Forderung dahin, alle Dinge nicht bei sich selbst, sondern um Gottes willen und aus der Kraft Gottes zu lieben, also immer erst an zweiter Stelle und durch jene Vermittlung hindurch; konnte doch alles übrige Sein in diesem Zusammenhange als wertvoll nur gelten, soweit es von Gott neu begründet und mit neuem Leben erfüllt war. Alle direkte Hingebung an anderes erschien daher als ein Raub an Gott, alle Meinung, aus eignem Vermögen etwas leisten zu können, als sträflicher Übermut ( superbia). Wenn somit Gott alles in allem wirkt und dabei ganz bei sich selbst verbleibt, nicht einen außer ihm gelegenen Zweck verfolgt, so muß sich die Überzeugung entwickeln, daß alles um der Herrlichkeit Gottes willen geschehe ( propter majorem dei gloriam). So dachte keineswegs bloß düsterer Fanatismus, wie eine oberflächliche Meinung wähnt, so dachte in der Strenge seiner moralischen Denkweise auch ein KANT: »Daher diejenigen, welche den Zweck der Schöpfung in die Ehre Gottes (vorausgesetzt, daß man diese nicht anthropomorphistisch als Neigung, gepriesen zu werden, denkt) setzten, wohl den besten Ausdruck getroffen haben.« Es war in der Tat die anthropomorphe Fassung, welche diesen Gedanken zu einem harten und krassen stempelte; er wird unerläßlich bei Anerkennung jenes reinen Beisichselbstseins der Wirklichkeit und der alleinigen Rettung des Lebens durch seine Mitteilung.

Es kann aber diese Forderung ihre volle Strenge nicht entfalten, ohne daß der weite Abstand, ja der völlige Gegensatz des menschlichen Durchschnittsstandes zu peinlicher Empfindung kommt und sich damit das Lebensproblem unermeßlich verschärft. Das neu vorgehaltene Maß läßt alles, was aus natürlichen Trieben, aus Freude an der Regung der eignen Kräfte hervorgeht, als ungenügend, ja als einen Widerspruch gegen die höhere Ordnung erscheinen. Es ist hier nicht diese oder jene einzelne Handlung und Richtung, es ist die gesamte Festhaltung des natürlichen, des »kreatürlichen« Seins, welche dieser Gedankengang zu einer Auflehnung gegen Gott, zu einem Abfall von ihm stempelt. Von den Denkern läßt namentlich AUGUSTIN erkennen, welche Freilegung und Erhöhung der ethischen Aufgabe dadurch erfolgt, daß so das Problem ins Ganze gehoben und ein von Grund aus neues Sein verlangt wird, aber nicht minder läßt er auch die großen Gefahren erkennen, welche auf diesem Wege liegen. – Die Forderung steigert aber nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Eindringlichkeit. Denn der Widerspruch richtet sich jetzt nicht gegen etwas Fernes, sondern gegen das Allernächste, das überhaupt denkbar ist, gegen das göttliche Leben, das unser eignes innerstes Wesen begründet, und damit gegen jenes Wesen selbst; er trifft nicht ein unpersönliches Gesetz, sondern die als Ganzes unmittelbar gegenwärtige Weltmacht. So erscheint das Böse nun als eine persönliche Verletzung, eine Kränkung und Verachtung höchster Güte, es gestaltet sich damit zur Sünde und Schuld, es legt sich mit unvergleichlich größerer Schwere auf die Seele des Menschen, versetzt sie in Aufregung und erfüllt sie mit Angst. Die Religionen haben das oft viel zu anthropomorph gefaßt und bisweilen fast krankhaft verzerrt, aber durch alle Unvollkommenheit der Fassung schimmert deutlich genug die Grundtatsache einer inneren Zerrüttung und einer schweren Verantwortung hindurch. Diese mag für das Bewußtsein des Individuums wie der Menschheit lange Zeiten schlummern, sie mag von flacher Denkweise leichthin weggedeutet werden, sie bricht gegen die Meinungen und gegen die Neigungen des Menschen immer von neuem hervor, und sie kann das nicht tun, ohne sich sofort zum beherrschenden Mittelpunkt des gesamten Lebens zu machen.

Augenscheinlich ist diesem Zwiespalt nicht die Kraft des Menschen gewachsen, sondern lediglich und allein göttliche Macht und Gnade. Daß sie in Wahrheit das rettende Werk vollbringt, das ist die felsenfeste Überzeugung der Religion. Gewiß kann diese sich zur Bekräftigung dessen nicht auf ein fertiges Werk berufen, gewöhnlich haben gerade solche Persönlichkeiten, welche sich völlig gewiß eines neuen Lebens fühlten, einen Widerspruch dagegen im eignen Sein mit peinlicher Stärke empfunden. Aber die Empfindung des Konfliktes war ihnen zugleich eine Erhebung über den Konflikt, und in dieser Erhebung ergriffen sie die unmittelbare Gegenwart einer höheren Macht. Das neue Leben ward ihnen durch den Widerspruch des eignen Seelenstandes nur noch weiter bekräftigt, und sein Ursprung aus Gott nur noch klarer gemacht, im Versagen eigner Kraft erwies sich mit besonderer Stärke ein Gehobenwerden, ja ein Neuwerden durch ein höheres Leben, das doch auch wieder ein eignes war. Aller Unfertigkeit und Dunkelheit im menschlichen Kreise stellte sich der feste Glaube, das sichere Vertrauen entgegen, daß, was die höchste Macht beginne, nun und nimmer verloren sein könne; es war das Vertrauen auf Gott, das dem Menschen erst wieder einen Glauben an sich selbst verlieh.

Diese Bewegungen und Erfahrungen der Seele mit ihren Zusammenstößen, diese Dialektik im tiefsten Innern, dies Auferstehen des Wesens aus der Vernichtung, dies Gewißwerden der Überzeugung im härtesten Zweifel irgend in Begriffe zu fassen, hat immer nur recht ungenügend gelingen wollen; die Sache pflegte um so dunkler zu werden, ein je verwickelterer Gedankenapparat zu ihrer Verdeutlichung aufgeboten wurde. Entscheidend und vollgenügend ist für die Religion selbst, daß im Menschen ein selbständiger Ausgangspunkt göttlichen Lebens, wenn auch in direktem Widerspruch gegen die Breite seiner Seelenlage, gesetzt und aufrecht gehalten wird. Damit erfolgt eine Zurückverlegung nicht nur, sondern eine Umkehrung des Lebens, damit erscheint eine fundamentale Tatsache, die sofort in eine unermeßliche Aufgabe umschlägt. Tatsache und Aufgabe aber bezeugen miteinander die Gegenwart einer neuen Ordnung im Menschen und das Entstehen eines neuen Lebenszentrums daraus. Nur darf der Mensch nicht, wie das meist geschah, für ein Ganzes des Lebens einzelne Seiten und Vorgänge einsetzen, namentlich nicht sich auf gehobene Gefühlszustände berufen, die leicht ebenso rasch vergehen, wie sie entstanden sind. Wo die Religion vom Geistesleben aus entwickelt wird, da bedarf es zu ihrer Vollendung einer neuen Stufe des Geisteslebens jenseit der Verzweigung der Seelenvermögen; sicherlich wird eine solche ihren Reflex auch in den unmittelbaren Seelenstand werfen, nun und nimmer aber läßt sie sich von dorther begründen. Schroff, aber nicht ohne Recht, nannte KANT »den unmittelbaren Einfluß der Gottheit als einen solchen fühlen zu wollen« »eine sich selbst widersprechende Anmaßung«. Leicht erwächst daraus ein Schwelgen in vermeintlich religiösen Gefühlen, das keinen geistigen Kern besitzt, und das nicht wenig dazu beigetragen hat, die Religion in den Schein einer bloßsubjektiven Einbildung zu bringen.

In Wahrheit kann sie solchen Vorwurf mit bestem Rechte ablehnen, wo sie eine neue Art des Seins und mit ihr eine sichere Befestigung des ganzen Lebens bringt. Die in ihr erfolgende geistige Konzentration mit ihrer Entwicklung eines reinen Beisichselbstseins des Geisteslebens, nicht des bloßen Subjekts, diesen Gewinn einer neuen Lebensstufe, von vornherein als bloßsubjektiv ablehnen kann nur, wer in Festhaltung der naiven, man möchte sagen ptolemäischen Denkart, eine Gewißheit glaubt von außen her dartun, von außen her ein Inneres beweisen zu können. Die geschichtliche Entwicklung der Menschheit, namentlich die innere Bewegung der Neuzeit, hat eine Umkehrung gegen die anfängliche Überzeugungskraft handfester Sinnlichkeit vollzogen und uns mehr und mehr dahin aufgeklärt, daß alle Wirklichkeit uns zunächst nur als unser eignes Erlebnis gegenwärtig ist, daß sich ein Zusammenhang der Erscheinungen nur auf Grund unserer eignen geistigen Organisation gewinnen läßt, daß es daher keinerlei Festigkeit für uns gibt, wenn nicht im eignen Leben ein unangreifbar fester Punkt zu gewinnen ist. Ohne das behält der absolute Phänomenalismus Recht, der Außenwelt wie Innenwelt miteinander in einen bloßen Fluß von Erscheinungen auflöst. Nun ist das gerade das Hauptanliegen und die Hauptleistung der Religion, einen den Schwankungen überlegenen Punkt zu bieten, das Leben auf seine ursprünglichste Quelle zu führen. Daher ist für den Standort des Geisteslebens dies das Allergewisseste, was überhaupt möglich, es ist das, was allem übrigen erst Gewißheit zu geben hat. Wenn trotzdem soviel Streit darüber waltet, so verschuldet das nicht die Sache, sondern unser menschliches Verhältnis zu ihr. Jenes zentrale Leben scheint uns nicht sinnfällig entgegen, sondern es können erst eigne Bewegungen und Erfahrungen uns an den Punkt geleiten, wo es uns zugänglich und überzeugend wird. Dabei sind verschiedene Stufen unverkennbar. Wen die Beschäftigung mit der Außenwelt ganz und gar festhält und von aller Beachtung des Innenlebens ablenkt, dem muß die ganze Frage der Religion als müßig erscheinen, der wird dabei nur an eine anthropomorphe Deutung der Außenwelt denken und eine solche mit gutem Grunde verwerfen. Wer wohl einen Komplex inneren Lebens anerkennt, aber in ihm vorwiegend ein Nebeneinander einzelner Betätigungen sieht und darin nach Anlage und Neigung Stellung nimmt, dem mag die Religion wohl als ein Gebiet neben anderen oder auch als ein gemeinsamer Hintergrund gelten, aber sie wird für ihn nicht eine zwingende Kraft erlangen und die beherrschende Macht seines Lebens werden. Erst wem sich das Innere in ein Ganzes zusammenfaßt und dabei das Ganze des Vermögens an dem Ganzen der Forderung mißt, erst den wird eine durchgreifende Erschütterung des Lebens an den Punkt treiben, wo eine Gegenwart unendlichen Lebens hervorbricht, und die Aneignung dieses Lebens allererst eine unerschütterliche Festigkeit gewährt, die der Widerspruch der übrigen Welt nicht mindern, sondern nur verstärken kann. Insofern liegt im Verhältnis der Religion zum Menschen ein, wir möchten nicht sagen subjektives, wohl aber persönliches Element; sie kann nur zu dem wirken, der in eine innere Bewegung des Lebens eintritt, nicht zu dem, der sich von ihr fernhält. Aber verhält es sich bei der Moral, der Kunst, ja der Wissenschaft, namentlich soweit sie ins Ganze geht, im Grunde anders, ist nicht lediglich dies der Religion eigentümlich, daß sie die persönliche Entscheidung am meisten ins Ganze faßt?

Jedenfalls seien die Frage der Anerkennung der Religion durch die Individuen und die ihrer Wahrheit innerhalb des Geisteslebens nicht miteinander vermengt; die Entscheidung der letzten Frage hängt daran, ob die charakteristische Religion in Wahrheit eine Fortbildung des geistigen Lebens bringt, ob sie Inhalte und Güter einführt, die aller subjektiven Reflexion und aller Willkür der Menschen überlegen sind. Dies also will noch genauer ins Auge gefaßt und in seine Hauptzweige verfolgt sein. Zunächst ist der Fassung der Gottesidee zu gedenken, die aus der charakteristischen Religion entspringt und ihre Gestaltung wesentlich bestimmt.

β. Die Gottesidee und das Verhältnis zu Gott.

Auch die charakteristische Religion schöpft ihre Gottesidee aus dem Lebensprozesse; sie kann sie nicht aus einer Offenbarung von außen her erwarten, wie das eine ältere, kindlichere Denkweise tat, sie kann sie auch nicht aus freischwebender Spekulation gewinnen, deren schattenhafte Gebilde nichts zu bewegen und nichts zu erwärmen vermögen. Im Lebensprozeß und in der Lebenserfahrung aber kann eine so tiefgehende Fortbildung nicht erfolgen, ohne daß auch die Gottesidee dem Menschen weitere Züge erschließt. In der Vorstellung der Menschheit wird hier die größere Nähe voranstehen, welche die Gottesidee mit jener Lebensvertiefung gewinnt. Nicht nur hat die höchste Macht sich der menschlichen Not angenommen, sondern was sie dem Menschen mitteilt und worin sie ihm gegenwärtig bleibt, das ist ihr eignes Leben und Wesen, ihr Beisichselbstsein gegenüber aller Entfaltung zur Welt; so wird sich im Bilde der Gottheit vornehmlich die Liebe herausheben, Liebe als Selbstmitteilung wie als Wesenserhöhung des anderen, als Ausdruck innigster Gemeinschaft. Indem hier das Ganze des göttlichen Lebens an der einzelnen Stelle unmittelbar gegenwärtig wird, ein neues Lebenszentrum schafft und erhält, entwickelt sich ein Verhältnis von Ganzem zu Ganzem, entsteht ein Wechselverkehr der Seele mit Gott, wie zwischen einem Ich und Du; da hier die Gottheit als eine lebendige und wirksame Einheit zugegen sein muß, so vollzieht sich notwendig eine Wendung von dem farblosen Begriffe der Gottheit zu dem eines lebendigen und persönlichen Gottes. Der Begriff einer Persönlichkeit Gottes, der sofort unzulänglich wird, wenn er sich vom Lebensprozeß der Religion ablöst und lehrhaft auftritt, ist innerhalb dieses Prozesses einleuchtend und unentbehrlich. Der Mensch kann dabei des Symbolischen der Vorstellung deutlich bewußt sein und zugleich im Grundgedanken einen unbestreitbaren Wahrheitsgehalt ergreifen und sich allem bloßen Anthropomorphismus sicher überlegen wissen. Denn es wird hier nicht eine bloßmenschliche Größe auf die Gottheit übertragen, sondern von einem mitgeteilten göttlichen Leben auf dessen Ursprung zurückgegangen; nicht wird vom Menschen auf Gott geschlossen, sondern in dem Göttlichen bei uns das Göttliche selbst ergriffen. Wo das Persönlichsein Gottes bestritten wurde, da pflegte ein kräftiger religiöser Lebensprozeß zu fehlen; wo er zustande kam, da fand sich auch, oft in direktem Widerspruch zur bewußten Fassung, ein Verhältnis von Persönlichsein zu Persönlichsein. So z. B. bei PLOTIN, einem der eifrigsten Bekämpfer des Persönlichkeitsbegriffs.

Aber diese größere Nähe ist nur eine Seite der Gottesidee; der Gefahr eines Verlaufens ins Bloßmenschliche ist nur zu begegnen, wenn zugleich die weitere Entfernung Gottes vom unmittelbaren Dasein anerkannt wird. Die charakteristische Religion bringt einen neuen Inhalt nur, indem sie über das göttliche Wirken zur Welt zu einem Beisichselbstsein vordringt und in ihm eine aller Gestaltung überlegene Tiefe der Wirklichkeit erkennt. Dies kann nur geschehen in einer Ablösung von der Welt und in einer Erhebung über alle Weltbegriffe; so erscheint hier etwas von der Welt her schlechterdings Unzugängliches, eine überlegene Hoheit, eine geheimnisvolle Erhabenheit. Erlangt diese weltüberlegene Erhabenheit trotzdem eine Gegenwart in der Seele, ja wird sie das Innerste und Eigenste unseres Wesens, und läßt sie uns das Beisichselbstsein der Unendlichkeit teilen, so schafft sie auch in uns selbst eine unergründliche Tiefe, die uns das äußerlich nächste Dasein in die Ferne rückt und in unserm eignen Sein einen weiten Abstand erkennen läßt. So ist es dieselbe Religion, welche von Gott aus den Menschen zugleich sich selbst erst eröffnet und ihn sich selbst zum Geheimnis macht; so muß auch in der Gottesidee die Nähe und die Ferne gleichmäßig zugegen sein, wenn das religiöse Leben seine volle Ausbildung erreichen und den hier wie dort drohenden Gefahren entgehen soll. Danach schwebt hier die Gottheit einerseits in unendlicher Höhe und Ferne über dem Menschen und läßt ihn seine Kleinheit mit voller Herbigkeit empfinden; sie wird ihm andererseits zur nächsten Nähe, zum vollsten Besitz und erhebt ihn damit zu unermeßlicher Größe. Daß beides sich in einen Lebensprozeß verschlingt, daß es nicht nacheinander, sondern daß es zusammen wirkt, daß in der Scheidung die Einigung und in der Nähe die Ferne gegenwärtig ist, das pflanzt in das Leben eine unerschöpfliche Bewegung und befähigt es zur Frische immer neuer Jugend, das treibt hinaus über alle endliche Gestalt und verbietet allen selbstgenugsamen Abschluß. Der Kontrast des Endlichen und des Unendlichen, des Nichtigen und des Vollkommenen, den schon die Religion universaler Art entwickelte und als die Quelle aller Erhabenheit, aller echten Größe und Würde erkannte, er wird nun erst zu einem unmittelbaren Erlebnis des ganzen Menschen.

Dem reicheren Inhalt der Gottesidee entspricht ein engeres Verhältnis zu den menschlichen Geschicken. Daß das neue Leben sich dem Menschen nicht von vornherein, sondern durch die Erfahrung herber Konflikte und in ihrer Überwindung erschließt, das ergibt ein anderes Verhältnis der Gottesidee zum Leid, als bis dahin ersichtlich wurde. Wohl fand auch die universale Religion die Eröffnung des Göttlichen nur in einem Zusammenstoß mit der Welt. Aber dort lag der Widerstand mehr draußen, und seine Zurückdrängung ließ sich mit Sicherheit erwarten. Inzwischen hat sich der Anblick der Wirklichkeit weiter verdüstert, das Geistesleben zeigte sich bei uns bis in seine Wurzel hinein von der Verwicklung ergriffen, nur von der Mitteilung einer neuen Lebenstiefe durch überweltliche Macht war Hilfe zu erwarten. Nun aber hat jene Macht sich zu uns gewandt und sich unserer Not angenommen; kann sie das ohne selbst von jenem Leide berührt zu werden, ohne selbst in seine Sphäre einzugehen? Gibt es eine echte Hilfe, wo der Helfende kalt und gleichgültig über den Nöten thront? Aus solchem Gedankengange ist die Lehre von einem leidenden Gott entstanden, der unsere Schuld auf sich nehme, um uns von ihr gründlich zu befreien, ein unverwerfliches Zeugnis tiefen Empfindens, aber bei der Wendung zu lehrhafter Gestaltung ein entschiedener Mißgriff. So gewiß die Religion auf der Nähe des Göttlichen im Leide, auf der allernächsten Nähe eben im Leide bestehen muß, das Leid in Gott selbst zu setzen, überhaupt jenes große Mysterium in formulierte Begriffe zu zwängen, das führt auf anthropomorphe, ja mythologische Vorstellungen unerträglicher Art. Da sich das Leiden nicht wohl in die letzte Ursache setzen läßt, so bildet jener Gedankengang Abstufungen in Gott; es entwickelt sich die Idee einer Vermittlung und Stellvertretung, berechtigt, sofern sie die Ohnmacht des bloßen Menschen und sein völliges Angewiesensein auf Liebe und Gnade zum Ausdruck zu bringen strebt, grundverkehrt und eine Schädigung der Religion, sofern sie die dabei wirkende Kraft nicht in Gott selbst setzt und sie nicht unmittelbar an den Menschen gelangen läßt. Auch die Religion kann nicht an der einen Stelle geben ohne an der anderen zu nehmen; so muß das unmittelbare Verhältnis zu Gott Schaden leiden, wenn das Heil von der Vermittlung erwartet wird; ja die Meinung, das Göttliche helfe nicht aus eignem Wollen und Vermögen, sondern müsse erst durch besondere Mittel dazu angeregt sein, kann leicht die Grundlage aller Religion verdunkeln: die unmittelbare Gegenwart der unendlichen Liebe und Gnade. Auch wird eine Schuld dadurch nicht aufgehoben, daß ein anderer die Folgen auf sich nimmt, sondern nur durch die Schöpfung eines neuen Lebens. Alle dogmatische Formulierung der Probleme führt gegen die eigne Absicht leicht zu einer Rationalisierung, zugleich aber zu einer Behandlung aus den menschlichen Verhältnissen heraus und nach dem Maße des Menschen; dieser Rationalismus würde die Religion weit mehr geschädigt haben, als er es in Wirklichkeit tat, hätte nicht das Leben selbst immer wieder durch die ihm innewohnende göttliche Kraft alle Irrung der Begriffe überwunden. Der religiösen Überzeugung genügt die Nähe Gottes im Leid, seine Hilfe aus dem Leid durch die Erhebung in ein neues, aller Irrung überlegenes Leben; je einfacher diese notwendige Wahrheit gefaßt wird, je weniger sie sich mit dogmatischer Spekulation verquickt, desto reiner und kräftiger kann sie wirken.

Ähnlich wie mit dem Verhältnis des göttlichen Lebens zum Leide steht es mit dem zur Geschichte. Die Geschichte wird dem Lebensprozeß der charakteristischen Religion weit bedeutender. Denn nur durch Erfahrungen, Erschütterungen, Wandlungen der Seele hindurch erschließt sich uns das weltüberlegene Leben; es erscheint als eine höhere Stufe, die eine andere voraussetzt und von ihr aus erst gewonnen sein will. In Wahrheit entstand eine Geschichte der Seele nur in Zusammenhang mit der charakteristischen Religion, einen Platz in der Literatur haben ihr erst AUGUSTINs Bekenntnisse verschafft. Aber deshalb, weil sich uns Menschen die Bewegung als ein Nacheinander darstellt und Stufen der Offenbarung auseinandertreten, eine geschichtliche Bewegung, wohl gar eine innere Wandlung in Gott zu setzen, das heißt wiederum aus menschlichen Erfahrungen heraus urteilen und Gott nach menschlichem Maße messen. Das aber geschieht, wenn jene Wendung zur Liebe in Gott erst von einem besonderen Zeitpunkt ab, etwa unter Beschwichtigung eines vermeintlichen Zornes, beginnen soll, oder doch die Liebe erst nach Erfüllung gewisser Bedingungen wirksam wird. Es ist eine Irrung, eine größere Nähe Gottes durch eine möglichst menschliche Fassung seines Bildes erreichen zu wollen.

Eben in ihrem einfachen Grundbestande, als Einigung eines im Menschen neugesetzten Wesens mit Gott, als ein im eignen Sein Teilgewinnen am göttlichen Leben, stellt die Religion das ganze Leben unter einen neuen Anblick, und bewirkt sie eine völlige Umwälzung. Auch bringt jene Wesenseinigung dem Menschen eine völlige Beruhigung über sein Schicksal; nirgend anderswoher kann er sie gewinnen als aus seinem Verhältnis zu Gott. Die unendliche Macht und Liebe, die gegenüber dem Ganzen einer dunklen und feindlichen Welt in ihm ein neues selbsttätiges Wesen gründet, wird dieses Wesen und damit seinen geistigen Kern auch irgend erhalten und gegen Gefahren und Angriffe schützen, namentlich kann sie ihn, als einen Träger ewigen Lebens, in den Strom der Zeit nicht gänzlich vergehen lassen; so wird in diesem Zusammenhange ein wesentliches Stück der Religion der Unsterblichkeitsglaube, d. h. die Überzeugung von der Unzerstörbarkeit jener geistigen Lebenseinheit im Menschen, welche das Werk Gottes ist. Denn bei solcher Fassung ist es die Überzeugung von der Ewigkeit des göttlichen Lebens, woraus für den Menschen das Vertrauen auf irgendwelche Erhaltung seines geistigen Kernes, nicht seiner Naturbeschaffenheit, entspringt, und worauf sich die Gewißheit gründet, »daß für sich selbst nicht vergeht, was für Gott nicht vergeht« (AUGUSTIN). Der Gedankengang der Religion ist hier der, daß wo das Größere gewiß ist, über das Geringere kein Zweifel sein kann. Daß aber jene innere Neubegründung das weitaus Größte, das Wunder der Wunder ist, indem sie die Überwindung der Gesamtheit der alten Welt und die Schöpfung einer neuen Welt in sich trägt, das gilt der Religion als sicher und ausgemacht, dafür verlangt sie die Überzeugung des ganzen Menschen, dessen Bezweiflung und Verneinung verwirft sie als Kleinheit und Unglauben. So mag denn die Welt für den äußeren Anblick bleiben wie sie war, ein Reich des Widerstandes und Dunkels, so mögen die Hemmungen draußen und drinnen fortfahren, den Menschen mit seinem geistigen Vermögen einzuengen und anscheinend zu zerstören, so mag hier all sein Tun vergeblich und verloren dünken und sein ganzes Dasein als nichtig und wertlos versinken: das Eintreten des neuen Lebens und einer neuen Welt hat alles von innen her verwandelt, alle Tiefe des Dunkels läßt nun die Helle des Lichts nur noch stärker empfinden. Ja es wird hier inmitten aller Rätselhaftigkeit unserer Erfahrung die Hoffnung, die Überzeugung, die Gewißheit entstehen, daß selbst das Böse schließlich der Entwicklung des Guten dienen muß; »das ist die geistige Macht, welche herrscht inmitten der Feinde und gewaltig ist in allen Unterdrückungen. Dies ist aber nichts anderes, als daß die Kraft in der Schwachheit vollendet wird, und daß ich in allen Dingen am Heil gewinnen kann, so daß Kreuz und Tod gezwungen werden, mir zu dienen und zum Heile mitzuwirken« (LUTHER).

γ. Die Bewährung der Religion durch die Fortbildung des Lebens.

Wie alles Ursprüngliche und Axiomatische, so kann auch die Religion ihre Wahrheit nicht durch eine Zurückführung auf allgemeine Begriffe beweisen, sondern nur durch ihre Entwicklung und Wirkung erweisen; nur das ist zu fordern, daß diese Wirkung den eignen Bestand und Gehalt des Lebens, nicht bloß die Reflexion und Stimmung des Subjekts betreffe, und daß sie dorthin nicht einzelne Anregungen, sondern eine Weiterbildung des Ganzen bringe. Daß dies bei der charakteristischen Religion der Fall sei, wollen wir darzutun suchen, indem wir erstens zeigen, wie sich die Andeutungen einer neuen Tiefe, die uns vorhin beschäftigten, aufhellen und zusammenfassen, zweitens, wie Bewegungen, welche die universale Religion begann, sich hier weiterentwickeln, drittens, wie das Gesamtleben von hier neue Züge empfängt.

aa. Die Aufhellung und Zusammenfassung.

In den Wirren des Lebens erwuchs ein sehnliches Verlangen nach einer selbständigen Innerlichkeit gegenüber aller Weltarbeit und aller Kultur. Zu solcher Innerlichkeit aber bedarf es einer neuen Grundbeziehung des Lebens, bedarf es einer aller subjektiven Reflexion überlegenen Innenwelt. Die Religion, und sie allein ist es, welche mit der Eröffnung eines reinen Beisichselbstseins des Lebens das zu gewähren vermag, hier erst faßt sich die Wirklichkeit in ein Ganzes und wirkt als ein Ganzes zu jedem Einzelnen, hier wird der Mensch vor der seelischen Vereinsamung gerettet, der er sonst um so mehr verfallen müßte, je mehr die Bewegung der Kultur die sinnlichen Zusammenhänge auflöst und die Individuen weiter auseinandertreibt. Zum Gewinn eines inneren Zusammenhanges der Einzelnen, zur Vertiefung des Lebens in sich selbst, zur Überwindung aller Fremdheit im eignen Wesen, zum Ansichziehen und seelischen Beleben dessen, was bis dahin bloße Umgebung war, hat auch die weltgeschichtliche Erfahrung die Religion als unentbehrlich gezeigt. Sie hat den Menschen dadurch allererst sich selbst erschlossen, daß sie ihm durch die Gegenwart eines überlegenen Beisichselbstseins ein Reich reiner Innerlichkeit erschloß; an ihr erst hat er die eigne Innerlichkeit und ein inneres Verhältnis zur Welt gefunden. In tausendfachen Beispielen kommt das zum Ausdruck; wie hat z. B. die religiöse Bewegung vor und nach Beginn unserer Zeitrechnung die Gedankenwelt der klassischen Kultur ins Seelische und Innerliche gewandt, wie eng ist bei PLOTIN die Freilegung seelischer Stimmung mit der Wendung zur Religion verbunden, wie sehr hat AUGUSTIN die seelische Tiefe und den musikalischen Klang der lateinischen Sprache gesteigert! Auch ein inniges Verhältnis zur umgebenden Natur, ein seelischer Wechselverkehr mit ihr ist erst mit der Überzeugung von der Gegenwart eines weltbeseelenden Lebens zu voller Entwicklung gelangt. Wir Deutschen rühmen uns seit FICHTE des »Gemüts« als eines Vermögens, das wir besonders entwickelten; wer anders aber hat dem Ausdruck den auszeichnenden Sinn verliehen als die Mystiker, die einen solchen aus dem unmittelbaren Verhältnis zur ewigen Wesenheit schöpften? Überhaupt ist die seelische Innerlichkeit, die unserer Sprache zuerkannt wird, in engem Zusammenhang mit der Religion gewonnen und ausgebildet. Nicht nur zu ihrem Aufkommen bedarf aber die Innerlichkeit der Religion, sondern auch zu ihrer Erhaltung; besteht keine kosmische Innerlichkeit und erlangen wir keinen Anteil an ihr, so verliert das Innenleben seine Wurzel und mit ihr seine Kraft und Wahrheit. So usurpiert auch heute oft eine leere Subjektivität die Rechte der Innerlichkeit, das Wort und der Schein wird um so eifriger festgehalten, je mehr die Sache zu entschwinden droht.

Mit dem Selbständigwerden der Innerlichkeit geht Hand in Hand eine herrschende Stellung der Moral, das eine läßt sich nicht von dem anderen trennen. Eine rechte Innerlichkeit erwächst nur da, wo das Leben in ein Ganzes zusammengefaßt wird, und dazu bedarf es eigner erhöhender Tat; jene Innerlichkeit finden wir nicht vor, wir haben sie erst zu erringen und zu bilden; hier ist der Punkt, wo eine kräftige, männliche, gesunde Innerlichkeit sich von der weichen, verträumten, krankhaften der Romantik deutlich abhebt. Andererseits gibt es keine echte Moral, die nicht auf ein Ganzes der Innerlichkeit geht und einen neuen Menschen erstrebt. Eine solche Fassung aber wird erst möglich durch die Religion, indem diese jenseit aller Verzweigung der Kräfte ein neues Leben aus Weltzusammenhängen eröffnet und zum Kern alles Strebens die Frage der Rettung der Seele macht. Wohl hat die Moral sich oft einen selbständigen Wert auch außer der Religion, ja im Gegensatz zur Religion beigelegt, wie denn die stoische Denkweise als ein bleibender Typus durch die Jahrtausende geht. Aber einer solchen abgelösten Moral fehlt mit den Zusammenhängen ein lebendiger Gehalt wie ein sicherer Grund; leicht überspannt hier der Mensch sein eignes Vermögen, isoliert sich und gerät ins Leere. Der einzelne Punkt kann kein Leben aus dem Ganzen führen, wenn es ihm nicht vom All aus mitgeteilt wird. Sobald das moralische Problem das Ganze des Lebens und Seins umfaßt, und sobald dabei nicht nur die Größe, sondern auch die Kleinheit des Menschen vor Augen steht, wird eine Verbindung mit der Religion unerläßlich; erst in solcher Verbindung faßt sich das moralische Leben in ein Ganzes zusammen und vermag es seinen Anspruch auf Herrschaft zu begründen, der sonst als diktatorische Willkür erscheint; erst so läßt sich der Stolz und die Härte des Moralismus vermeiden, die der Moral soviel Angriffe eingebracht haben. Wohl hat eine Tat, eine das ganze Wesen umfassende Tat, unser geistiges Leben zu tragen, aber diese Tat ist mehr als ein subjektiver Aufschwung, sie ist Aneignung eines neuen Lebens und erscheint inmitten aller Aktivität zugleich als getragen, ja erzeugt von einem überlegenen Leben.

Inmitten ungeheurer Hemmungen beharrte das Leben und fand immer neuen Mut zum Aufstieg. Wir erkannten darin ein schweres Problem, ja ein Rätsel. Denn ein bloß instinktives Festhalten am Leben würde nicht die Kraft zur Neubildung finden, alle subjektive Aufregung aber an der Härte des Widerstandes erlahmen. Die Religion erst gibt jenem Lebensdrang zugleich eine Aufhellung und eine Rechtfertigung, eine Aufhellung, denn hier wird in Wahrheit ein neues, den Verwicklungen des menschlichen Daseins überlegenes Leben eingeführt, eine Rechtfertigung, denn das neue Leben hat alles ausgeschieden, was an der Selbsterhaltung niedriger Lebenstrieb oder enge Selbstsucht war; ist es doch nicht der bloße Mensch, sondern die Erhaltung des göttlichen Lebens an dieser Stelle, welche das Streben beherrscht, wird nicht um ein endliches Sein, sondern um die Gegenwart eines unendlichen Lebens gekämpft. Immer wieder wird der Religion vorgeworfen, daß sie die Lebensenergie verringere, ja den Mut zum Leben breche. Aber das gilt nur für ihre Entartungen in besonderen Zeiten oder aber für eine Ansicht von draußen her, der das innere Leben der Religion verschlossen bleibt. In Wahrheit hat nichts so sehr wie die Religion den Menschen in den schweren Bedrängnissen von draußen wie von drinnen aufrecht gehalten und ihn mit freudigem Lebensmut erfüllt. Wurde doch hier der Mensch von der Wirkung in die Ursache, von der Peripherie ins Zentrum versetzt, und wurde dabei unendliches Leben mit seiner Vollkommenheit zu seinem eignen Leben. Gewiß hing dabei, das wurde uns längst klar, alle Kraft der Bejahung an der Gründlichkeit einer Verneinung, aber war es nicht ein Verlangen nach einem Ja, welches das Nein erst hervortrieb?

Wir sahen inmitten aller Härte der menschlichen Verhältnisse die Forderung der Liebe und einer Gestaltung des Lebens aus ihr beharren; aber die Liebe hatte keinen festen Grund, und die Bewegung zu ihr drohte, auf sich selbst gestellt, in leere Gefühlsseligkeit oder in prunkvolles Gerede auszulaufen; oft genug muß ein solches Gerede den Mangel an Gehalt und an Wahrheit verdecken. Neue Lebensinhalte tun not, in denen der Mensch einen Wert gewinnt und über sich selbst hinauswächst; soll das dem ganzen Weltstande gegenüber geschehen, so bedarf es neuer Anfänge, einer neuen Welt, einer unendlichen Macht und Liebe, welche das eigne Leben dem Menschen mitteilt, ihn damit aller Bedrängnis enthebt, ihn erst echter Liebe fähig macht. In diesem Zusammenhange wird die Betätigung solcher Liebe zu einem Zeugnis für ihren göttlichen Ursprung; »daß wir den Nächsten vergeben, macht uns gewiß, daß uns Gott vergeben hat« (LUTHER). Nur muß dabei das Leben wirklich weitergebildet, nicht bloß höher eingeschätzt werden, und immer gilt es hier eine Abwehr des Bloßsubjektiven und Anthropomorphen. Der Ausdruck »unendliche Liebe« selbst enthält etwas Bildliches und Menschliches, das irreführen kann. Aber alle Unzulänglichkeit des Ausdrucks schadet nicht, wenn die Tatsache kräftig festgehalten wird, daß jenseit aller Natur und auch aller Kultur dem Menschen aus dem Verhältnis und im Verhältnis zum göttlichen Leben ein neues Wesen verliehen wird, dessen angemessensten Ausdruck jene echte Liebe bildet.

Eine derartige Begründung der Liebe im göttlichen Leben wird diese vor der weichlichen und spielenden Art bewahren, die ihr unter menschlichen Verhältnissen droht, sie wird die Humanität von der Erscheinung, an die sie der Alltag haftet, auf den Kern des Menschenwesens lenken und zugleich aller fälschlichen Idealisierung widerstehen, die unvermeidlich zu schweren Enttäuschungen führt. So gegen Entstellungen gesichert und eines neuen geistigen Inhalts gewiß, wird die Liebe als mächtiger Antrieb dahin wirken, das menschliche Zusammensein von der Tiefe her der Schätzung gemäß zu gestalten, die dem Menschen als einem Gliede jenes neuen Lebens gebührt, sie wird einen mannhaften Kampf aufnehmen nicht nur gegen das, was ihn von außen her bedrängt und schädigt, sondern mehr noch gegen das, was ihn innerlich zu zerstören droht. Nun kann auch die Feindesliebe mehr sein als eine bloße Forderung oder gar eine bloße Phrase, denn das neue Leben mag eine innere Gemeinschaft begründen, welche den Gegensatz und den Kampf freilich nicht einfach aufhebt, ja sie nicht aufheben darf, welche aber über sie hinaushebt und ihnen entgegenzuwirken gestattet.

So verbindet die Religion sonst vereinzelte Bewegungen zu einem Ganzen, gibt sonst Schwankendem einen Halt, erhellt das Dunkel, das sonst über jenen Bewegungen liegt. Nun erst wird, was zuvor mehr an uns als von uns geschah, unsere eigne Tat, unser eignes Wesen; eine Umkehrung erfolgt und mit ihr eine unermeßliche Erhöhung, indem wir aus der Wirkung in die Ursache treten und damit das unendliche Leben und Schaffen reiner Innerlichkeit voll zu eigen gewinnen, ja in ihm unser wahres Selbst erreichen. Alles das aber nur, sofern die Religion in Wahrheit einen neuen Inhalt, eine neue Stufe des Geisteslebens eröffnet, nicht aus der bloßen Richtung des Lebens auf ein nicht näher bestimmtes Überweltliches und Jenseitiges. Das ist der Religion des Geisteslebens wesentlich, daß sie immer und immer auf einen Inhalt dringt, der den Menschen über den Anfangsstand hinaushebt, nicht ihn zu bloßen Bewegungen innerhalb seines Kreises anregt. Wohl kann auch die Religion des Geisteslebens sich nicht ablösen von der menschlichen Lebensform, aber es macht einen gewaltigen Unterschied, ob sie diese als schlechthin gültig hinnimmt, oder sie als ein bloßes Gefäß, ein recht unzulängliches Gefäß einer neuen Lebensstufe behandelt.

bb. Die Weiterführung von Lebensbewegungen.

Schon mit ihrer universalen Art leitete die Religion fruchtbare Lebensbewegungen ein. Aber diese Bewegungen erfuhren in der Welt des Menschen mannigfachste Hemmung, sie drohen ganz und gar ins Stocken zu geraten, wenn sich nicht auch das Vermögen der Religion verstärkt, wenn sie nicht wenigstens in einer gewissen Richtung durchzusetzen vermag, was sie für das Ganze erstrebt. Daß dies aber durch die Eröffnung eines weltüberlegenen Innenlebens in Wahrheit möglich wird, sei in Kürze dargelegt.

Ein Unendlichkeitsstreben gehörte zum Grundbestande der Religion, aber streng und hart widerstand ihm die Welt des Menschen. Denn nicht nur von außen her wird er hier eng begrenzt, auch innerlich bindet ihn die Besonderheit seiner Natur, selbst sein geistiges Vermögen ist ihm, meist kärglich genug, vom Schicksal zugemessen. Wie kann er solcher Begrenzung entgehen, wie das Ganze des Lebens in sein Leben verwandeln? Er kann es nur auf der neuen Stufe, wo sich ihm das reine Beisichselbstsein der Wirklichkeit mitteilt und in ihm ein neues Leben erweckt. In diesem Leben reiner Innerlichkeit erfaßt er die ganze Unendlichkeit als seinen eignen Besitz, und wird sein Leben über alle bisherigen Schranken hinausgehoben. Das zunächst nur in einer Innerlichkeit des Gemütes, aber doch nicht aus einer bloßsubjektiven Einbildung, sondern aus der Kraft einer neuen Ordnung, eines Alllebens, das sich bei sich selbst befindet. Wenn sich damit unser Leben am innersten Punkt einer Unendlichkeit versichert, so wird es sie auch in der Weltarbeit allen Hemmungen gegenüber festhalten können.

Dem Problem der Unendlichkeit ist eng verknüpft das der Freiheit. Irgendwelche Freiheit mußte das Leben fordern, denn ohne sie gab es, so sahen wir, keine Ursprünglichkeit, kein eignes Leben, keine wahrhaftige Gegenwart; die Religion aber wurde der beste Anwalt der Freiheit, indem sie gegenüber allen Verkettungen von Natur und Geschick ein ursprüngliches Leben aus dem Ganzen erschloß. Aber solches Leben drang für das Ganze unseres Seins gegen die Hemmungen der Welt nicht durch, es geriet bis in sein inneres Gewebe hinein unter die Macht der Verkettung, ohne einen neuen Einsatz unterliegt die Freiheit dem Schicksal. Diesen neuen Einsatz aber bringt ihr die neue Stufe des Lebens, welche die charakteristische Religion eröffnet. Denn damit werden neue Anfänge auch gegenüber dem eignen geistigen Vermögen gewonnen, und dieses Reich reiner Innerlichkeit läßt auch das nicht verloren gehen, was nicht in sichtbares Werk und Leistung umgesetzt wird. Jenseits aller matten Gesinnung als einer bloßsubjektiven Regung eröffnet hier die Gegenwart des göttlichen Lebens ein Handeln in reiner Innerlichkeit, und schafft sie damit einen neuen, den Hemmungen der Welt entzogenen Lebenskreis. Mit Befestigung dieses Lebenskreises verschwindet keineswegs gänzlich das Reich der natürlichen Verkettung, es behauptet eine Macht auch über die Seele des Menschen. Aber seine Ausschließlichkeit ist überwunden, der Mensch kann der Bindung entgegenwirken, er kann an einem innersten Punkt sein Leben auf eigne Tat, auf ursprüngliches Schaffen stellen und damit alle bisherige Fremdheit vertreiben, damit die Kluft überwinden, die ihn sonst von der eignen Seele trennt.

Alles Geistesleben war ein Kampf gegen die bloße Zeit, ein Aufstreben zu ewiger und unvergänglicher Wahrheit; indem die Religion das ins Ganze und Prinzipielle erhob, vollzog sie eine Umkehrung des ersten Anblicks der Dinge. Aber wir sahen, wie beim Menschen das Wahrheitsstreben selbst unter die Macht von Zeit und Veränderung gerät, wie gerade das die schwersten Verwicklungen und unsäglichen Streit hervorruft, daß immer von neuem Vergängliches mit dem Schein und dem Anspruch ewiger Wahrheit auftritt. Nicht bloß im unmittelbaren Dasein, auch in der nächsten geistigen Ordnung der Dinge gibt es keine sichere Überwindung der Zeit, keine Heraushebung ewiger Wahrheit. Diese wird erst möglich durch eine neue Ordnung, die unsere ganze Welt zu einer besonderen Art und Stufe der Wirklichkeit herabsetzt; in dieser Ordnung mag das Leben einen zeitlosen Charakter gewinnen und sich mit einer innersten Tiefe in ein reines Beisichselbstsein, ein Beharren im eignen Wesen verwandeln. Die charakteristische Religion eröffnet vom reinen Beisichselbstsein aus eine solche Befreiung von der Zeit, sie allein bringt in das Leben Ruhe und Festigkeit, sie wirkt damit über den eignen Kreis hinaus zur Aufrechterhaltung und Stärkung alles Strebens nach zeitloser Wahrheit. Wo immer daher die Religion volle Kraft und Selbständigkeit gewann, da hat sie es verschmäht, mit der Zeit dahinzutreiben und ihren eignen Bestand den wechselnden Lagen und Launen der Menschheit zu unterwerfen, da hat sie vielmehr von sich aus den Bewegungen der Zeit ein Maß entgegengehalten, vor dem sie sich zu rechtfertigen hätten, da hat sie zur Scheidung von Vergänglichem und Unvergänglichem, von Kulturkomödie und echter Geistigkeit gewirkt. Geriet sie aber bei sich selbst in Verwicklung, so fand sie Hilfe nicht bei den schwankenden Gebilden der Zeit, sondern in einer kräftigen Besinnung auf das Ewige ihres eignen Wesens, in einer Neubelebung ihres unerschütterlichen Grundes; nur das von den Bewegungen der Zeit, was sie darin unterstützt, kann ihr als wertvoll gelten. So hat die Religion dem menschlichen Leben die Idee der Ewigkeit gegenwärtig gehalten, sie hat ihm gegenüber der Hast der Arbeit ein Verweilen bei sich selbst, gegenüber aller Bewegung eine sichere Ruhe eröffnet, sie hat damit dem Dasein eine Tiefe gegeben und den Schwankungen der Zeit eine Stetigkeit des Lebens entgegengehalten.

Das Verlangen nach Größe, so sahen wir, entspringt keineswegs bloß eitler Überhebung und Selbstbespiegelung; der Mensch muß von sich und seinem Vermögen groß denken, wenn er gegenüber scheinbarem Verlorensein in der endlosen Welt eine eigne Aufgabe ergreifen und sie ungeheuren Widerständen gegenüber durchsetzen soll; die Religion gab solchem Verlangen einen festen Grund und einen sicheren Halt, indem sie ein göttliches Leben in uns gegenwärtig zeigte, uns dieses Leben ergreifen und seine ganze Unendlichkeit in eignen Besitz verwandeln hieß. Aber seinen ganzen Bereich in dies Leben hineinzuziehen, wollte dem Menschen nicht gelingen, die Widerstände wuchsen ihm über den Kopf, lähmender Zweifel drückte ihn zur Kleinheit herab. Zur Überwindung dessen muß die Religion eine neue Tiefe des Lebens eröffnen, sie tut es mit der Wendung zum weltüberlegenen Beisichselbstsein und der dabei erfolgenden Einigung menschlichen und göttlichen Lebens. Hier ist der Mensch in das Zentrum der Wirklichkeit versetzt, hier hat er Entscheidungen über das Ganze zu treffen, hier ist auch das Gelingen des Ganzen insofern an seine Entscheidung geknüpft, als an dieser Stelle die volle Belebung seiner eignen Tat bedarf und sie damit die Weltbewegung weiter zu führen hat; so hat sein Tun nunmehr einen Weltcharakter gewonnen und kann unmöglich für klein erachtet werden. Vielmehr wird gegenüber dem inneren Bilden und Bauen der Wirklichkeit, das sich hier vollzieht, alles was der äußere Anblick der Dinge aufweist, alles was die Weltgeschichte an sinnfälligen Ereignissen, an Katastrophen wie an Massenwirkungen zeigt, zur bloßen Nebensache; es hat einen rechten Wert nur, soweit es jene Bildung fördert, darüber hinaus ist es für die höchste Betrachtung eine mehr oder minder gleichgültige Umgebung, ein Kommen und Gehen, ein Steigen und Fallen, ein Sichsuchen und -fliehen menschlicher Dinge. So auch hier jene Umkehrung des Lebens und der Schätzung, die der Religion eigentümlich ist.

In dem allen bringt die charakteristische Religion das stockende Leben wieder in Fluß. Sie tut es nicht sowohl dadurch, daß sie den Widerstand bricht, als dadurch, daß sie das Leben über seinen Bereich hinaushebt, sie tut es durch Erzeugung eines neuen eigentümlichen Kreises; aber wie das Verlangen danach aus dem Ganzen des Lebens hervorging, so wird seine Befriedigung dahin zurückwirken und es verstärken.

cc. Eigentümliche Wirkungen der charakteristischen Religion.

Schon die bisherige Darlegung ließ erkennen, daß die charakteristische Religion nicht bloß fortführt, sondern auch Neues bringt; dies Neue sei nun in einigen eigentümlichen Entwicklungen besonders ins Auge gefaßt. Auch dabei ist nichts Überraschendes zu erwarten, wohl aber dieses, daß Erscheinungen, die sonst zerstreut und bei solcher Zerstreuung ohne Gesamtwirkung blieben, sich nun zusammenfassen und damit eine neue Bedeutung erlangen, damit eine Fortbildung des Ganzen enthüllen. Die Religion erscheint dabei als die Kraft, welche durch eine Aufdeckung der Zusammenhänge und eine Versetzung in die schaffenden Gründe die Sache als Ganzes sehen und als eigne fassen lehrt. Ihr Wirken mag, äußerlich angesehen, erst am Saum des Lebens erscheinen, innerlich kehrt es das Leben dahin um, daß alles, was den Menschen mit bunter Fülle umfängt, an die zweite Stelle tritt, die neue Art des Lebens aber sich als die treibende Kraft und die begründende Tiefe erweist.

Die Religion überhaupt erfaßt die Wirklichkeit als Entfaltung oder Erweisung eines Gesamtlebens, aber es macht einen großen Unterschied, ob dies Leben nur in der Verkettung der Mannigfaltigkeit wirkt und der einzelnen Stelle durch diese vermittelt wird, oder ob es ihr unmittelbar und als Ganzes gegenwärtig ist. Jene Betrachtung überwiegt in der universalen, diese in der charakteristischen Religion. Erst jene unmittelbare Gegenwart des Ganzen läßt das Einzelne vollauf als einen Ausdruck der Unendlichkeit, als einen Durchbruchspunkt ursprünglichen und bei sich selbst befindlichen Lebens verstehen. Daraus erwächst eine Betrachtungsweise, welche der exaktwissenschaftlichen mit ihrer durchgehenden Kausalverkettung, ihrer Ableitung jedes Einzelnen aus der Reihe, der es angehört, direkt entgegensteht; die religiöse Betrachtung darf nicht diese zu verdrängen, oder zu ersetzen suchen, aber sie behauptet ihr gegenüber eine Selbständigkeit und ein eignes Recht. Sie erzeugt ein mehr intuitives, künstlerisches Sehen, dessen das Ganze der Weltanschauung unmöglich entbehren kann. Jede einzelne Stelle empfängt hier eine unermeßliche Erhöhung indem sie zu einer unmittelbaren Erweisung eines Innenlebens des Alls, zu einem Ausdruck göttlicher Herrlichkeit wird; sie gewinnt damit in ihrer Individualität ein Beisichselbstsein, einen Selbstwert, eine innere Unendlichkeit, sie wird zu einem Gegenstande reinen Sehens und selbstloser Hingebung. Hier hat die Kunst ihre vornehmste Aufgabe, in ihrer Lösung entwickelt sie ein neues, innigeres Verhältnis zur Welt, sie »hilft nicht der Natur auf, macht sie nicht herrlicher als sie ist, aber sie hilft der Menschheit, ihre eigne und der Welt Herrlichkeit zu sehen, hindurchzublicken durch die Verwirrung des Äußeren« (RUNEBERG). Sie wird dabei das Göttliche nicht bloß in dem Anmutigen und Harmonischen, sondern nicht minder in dem Erhabenen und Erschütternden sehen und ehren. Wäre solche innere Belebung der Natur, solches Zurückstrahlen von Geistigem aus der Natur nicht eine Unwahrheit, und könnte sich dabei eine solche Fülle des Lebens erschließen, wenn die Wirklichkeit kein Beisichselbstsein, keine innere Tiefe hätte? So wird alle echte Kunst zum Zeugnis für jene Tiefe.

Wie aber mit jener Wendung die Betrachtung über die bloße Kausalverkettung, so wird das Handeln über die bloße Zwecktätigkeit und damit über das ganze Getriebe des Durchschnittslebens hinausgehoben. Erst nach Gewinn jener inneren Unendlichkeit braucht es nicht immer von neuem über den jeweiligen Stand hinaus neue Aufgaben zu erspähen, sondern kann es in sich selber ruhen, zu sich selbst aus aller Bewegung zurückkehren, ohne einem trägen Stillstande zu verfallen. Es eröffnet sich damit eine Sphäre inneren Friedens, stiller Sabbatsruhe gegenüber dem Lärm und Kampf der nächsten Welt. Entweder ist das ein leerer Wahn, und wir bleiben ganz und gar Knechte einer rast- und sinnlosen Weltarbeit, oder aber es gibt ein Beisichselbstsein der Wirklichkeit und wird auch dem Menschen zu eignem Besitz.

In anderer Richtung wirkt die Erschließung jenes Beisichselbstseins, wie die Religion sie vertritt, dahin, dem Leben eine größere Schlichtheit und Kindlichkeit zu verleihen, als die Verwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse ihm sonst gestattet. Denn wo der Einzelne dem göttlichen Leben direkt gegenübertritt, muß einerseits seine gänzliche Abhängigkeit davon, andererseits seine Zugehörigkeit dazu, sein sicheres Geborgensein darin zur Empfindung kommen. Und es kann kein geeigneteres Symbol dessen geben als das Kindesleben mit der Schlichtheit seiner Empfindungen, seinem völligen Hangen am anderen, seinem unbedingten Vertrauen, seinem sicheren Erwarten der Hilfe, als sei sie selbstverständlich. Das Leben erscheint hier wie eine Rückkehr aus unsäglicher Verwicklung und Selbstentfremdung, und doch erfolgt dabei keine bloße Rückkehr, sondern eine innere Erneuerung, ein Durchbrechen einer sonst verschlossenen Tiefe. Solchen Geist der Kindlichkeit haben vor allem die Religionen zur Entwicklung gebracht, niemand mehr als Jesus, aber auch die Reformatoren der Erziehung haben in ihre Arbeit die Überzeugung eingesetzt, daß nirgends der Mensch mehr bei sich selbst und näher bei den Quellen des Lebens sei als im zarten Kindesalter, daß von hier aus daher eine Verjüngung des Lebens auszugehen habe. Eine solche Überzeugung durchdringt die Lebensarbeit FR&OUML;BELs; für PESTALOZZI aber wird die das kindliche Leben durchdringende Gesinnung zum sicheren Ausgangspunkt für die Bildung zur Religion. »Das Staunen des Weisen in den Tiefen der Schöpfung und sein Forschen in den Abgründen des Schöpfers ist nicht Bildung der Menschheit zu diesem Glauben. In den Abgründen der Schöpfung kann sich der Forscher verlieren und in ihren Wassern kann er irre umhertreiben, ferne von der Quelle der unergründlichen Meere«. »Einfalt und Unschuld, reines menschliches Gefühl für Dank und Liebe ist die Quelle des Glaubens. Im reinen Kindersinn der Menschheit erhebt sich die Hoffnung des ewigen Lebens, und reiner Glaube der Menschheit an Gott lebt nicht in seiner Kraft ohne diese Hoffnung«.

Diese verschiedenen Züge entfalten augenscheinlich ein einziges Leben. Dies Leben läßt sich nicht in angemessene Begriffe fassen, nur in Bildern und Gleichnissen kann es zu einiger Darstellung kommen. Aber es verliert darüber nicht seine Wirklichkeit und seine Kraft, es gibt dem Menschen erst einen sicheren Halt und ein reines Beisichselbstsein, ohne die sein ganzes Leben zusammenbrechen müßte. So vollzieht sich hier etwas, das unerläßlich und unentbehrlich ist, aber zugleich erscheint das menschliche Leben als höchst unfertig, als zwischen verschiedene Weltordnungen gestellt und bis in sein Inneres von schroffen Gegensätzen bewegt. Die Bewegung selbst ist jedoch das sicherste Zeugnis dafür, daß das Ganze keine bloße Einbildung ist, und daß die Religion die tiefsten Gründe des Lebens vertritt. Nur wird sie immer größte Energie daran setzen müssen, die neuen Lebensinhalte scharf von aller bloßen Subjektivität zu scheiden, welche dies neue Leben wie sein Schatten begleitet, es aber nun und nimmer aus seinem Vermögen hervorbringen kann.

dd. Rückblick.

Die Erweisung der Religion aus der Erfahrung des Lebensprozesses, wie wir sie vertreten, ist der Sache nach keineswegs neu. Denn von jeher war die Aufbringung eines neuen Lebens die Hauptleistung der Religion und der überzeugendste Beweis ihrer Wahrheit. Das vorgehaltene Leben gewann die Gemüter und machte sie auch den Lehren geneigt, nicht umgekehrt. Aber je mehr die Religionen zu kirchlicher Gestaltung kamen, desto mehr haben sie die Lehren durchgebildet, in ein System zusammengefügt, die Anerkennung dieses Systems zur Hauptsache gemacht und das Leben leicht als das Zweite, erst Abgeleitete behandelt. Unter menschlichen Verhältnissen ist das schwer zu vermeiden, aber es enthält so viel Gefahren und erzeugt so viel Mißstände, daß immer wieder eine Gegenwirkung nötig wird und es wichtig ist, ihr Recht auch prinzipiell zu verfechten. Jene Festlegung in Begriffen und Lehren bringt die Religion leicht in einen Beharrungsstand und lähmt die Aktivität des Menschen, dem hier die Religion als fertig und mit unbedingter Autorität gegenübertritt; bei Voranstellung des Lebens gibt es weit mehr eigne Betätigung, und die Religion wird weit mehr zu einem fortlaufenden, immer neu einsetzenden, zugleich auch gemeinsamen Werk. Das Leben muß seinen Inhalt erst allmählich erringen und mit steigender Klarheit herausarbeiten, es hat immer weiter vorzudringen, mehr und mehr Wirklichkeit in sich zu ziehen und damit sich selbst zu steigern. Ferner kann die Umsetzung der Religion in ein Lehrgebäude nur in engem Zusammenhange mit dem jeweiligen Kulturstand erfolgen, es kommt damit in sie ein zeitliches und problematisches Element, das sich doch leicht zur Hauptsache macht; die Erschütterung, welche dies im Fortgang des Kulturlebens unvermeidlich erfährt, erzeugt leicht Angriffe gegen die Religion und stellt sie weit unsicherer dar, als sie in Wahrheit ist; sie gerät in unsägliche Verwicklungen, weil sie den Kampf nicht vom Punkt ihrer größten Stärke her führt.

Solche und andere Mißstände haben seit Jahrhunderten dahin gedrängt, das in Wahrheit allezeit entscheidende Leben auch für das Bewußtsein und die Tätigkeit des Menschen voranzustellen und mit voller Deutlichkeit herauszuarbeiten; so tat es die Reformation, so der Pietismus, so taten es PASCAL und SCHLEIERMACHER, so verlangt es mit besonderer Stärke die Gegenwart. Aber mit dem Streben selbst zeigt die Geschichte zugleich seine große Gefahr und Verwicklung. Die Wendung zum Leben, die dem Ganzen Kräftigung bringen soll, wird leicht ein Sinken zur bloßen Subjektivität; diese aber kann natürlich der Religion weder einen sicheren Grund noch einen charakteristischen Inhalt gewähren, eine Verflüchtigung und Auflösung ist kaum zu vermeiden. Es gilt also, das Leben über die gewöhnliche Vagheit hinauszuheben, in ihm innere Zusammenhänge, ja den Quell einer Wirklichkeit aufzudecken, es zugleich vom bloßen Punkte abzulösen und ihm eine Selbständigkeit, eine eigne Erfahrung, einen Weltcharakter zu verleihen. Dies versuchten wir mit der Wendung zum Geistesleben und seiner scharfen Abhebung vom empirischen Seelenleben als einem gegebenen Dasein; mit der Anerkennung dieses Geisteslebens steht und fällt unser ganzes Streben. Von der Erforschung der Welt her Religion begründen zu wollen, darauf haben wir Neueren längst verzichtet, indem uns die Welt selbst viel zu sehr zum Probleme wurde; so flüchteten wir zum Menschen als zum Ausgangspunkt aller Lebensentwicklung. Aber der Mensch in seinem empirischen Dasein ist viel zu klein und begrenzt, um aus eignem Vermögen der unermeßlichen Welt um ihn eine überlegene Welt entgegenzustellen; so droht die Religion eine bloße Ausstrahlung subjektiv menschlicher Begehrungen und Vorstellungen zu werden, und ihre ganze Welt zu einer Traumwelt herabzusinken. Keine Klugheit, kein Scharfsinn kann diesen Ausgang verhindern, wenn der Mensch nicht mehr ist als er im ersten Augenblick scheint, wenn nicht bei ihm ein wesenhaftes Allleben gegenwärtig wird und sich unter Umkehrung seines natürlichen Daseins mehr und mehr von ihm aneignen läßt. Dies aber ist eine Frage der Tatsächlichkeit, nicht des Räsonnements; so war auf den Aufweis dieser Tatsächlichkeit unser Hauptbestreben gerichtet. Indem wir uns ihrer versicherten, gewannen wir den Standort geistiger Erfahrung im Gegensatz zu einer bloßpsychologischen. Denn diese befaßt sich mit bloßen Seelenlagen, im Gebiet der Religion namentlich mit Willens- und Gefühlserregungen, die über sich selbst hinaus nichts darzutun vermögen; die geistige Erfahrung dagegen hat es mit Lebensinhalten, schließlich mit der Bildung einer Wirklichkeit zu tun; sie braucht sich um Weltzusammenhänge nicht erst nachträglich zu bemühen, sie steht von vornherein innerhalb ihrer, sie ist ohne sie überhaupt nicht möglich. Vom Menschen zum Göttlichen gelangen läßt sich nun und nimmer, wenn nicht in seinem eignen Leben Göttliches wirkt und anerkannt wird; was hier beim ersten Schritt unterlassen wird, das ist nie wieder nachzuholen, das wird im Fortgang nur immer unmöglicher werden. Ist aber jener Standort geistiger Erfahrung gewonnen, so kann auch die Religion vollste Gewißheit und Nähe erlangen, so werden auch die Kämpfe, in die sie verwickelt, so werden ihre eignen inneren Bewegungen zu einem Zeugnis für die Wirklichkeit der von ihr vertretenen Gotteswelt.

3. Die Gestaltung des religiösen Lebens.

Auch wer sich zu einer Religion des Geisteslebens freundlich stellt, mag daran zweifeln, ob sie sich nicht zu weit vom Durchschnittsstande des Lebens entferne und wie ein Reich bloßer Schemen und Schatten über ihm schwebe; so aber könnte sie keine kräftige Bewegung erzeugen, so würde sie nur zu auserlesenen Geistern, nicht aber zum Ganzen der Menschheit, nicht zu allem und jedem wirken. Eine solche Allgemeinheit des Wirkens aber ist der Religion unbedingt notwendig, sie gibt sich selber preis, wenn sie sich auf besondere Kreise einschränkt. So gilt es zu prüfen, was eine Religion des Geisteslebens in dieser Hinsicht zu leisten, und ob sie unerläßlichen Forderungen vollauf zu genügen vermag. Diese Frage sei aber in der Weise zerlegt, daß wir nacheinander erörtern, welche Bedeutung eine Religion des Geisteslebens der Gemeinschaft, der Geschichte, dem individuellen Seelenleben gibt, und dabei untersuchen, sowohl ob sie jene Entwicklungen genügend zu würdigen vermag, als auch ob sie den Schwierigkeiten gewachsen ist, die eine jede der Seiten erzeugt.

α. Die religiöse Gemeinschaft.

aa. Allgemeine Erwägung.

Wir sahen, daß die universale Religion hoffen konnte, die Menschen durch die geistige Arbeit selbst ohne eine besondere Organisation genügend zusammenzuhalten, daß aber die charakteristische zwingend zu einer solchen drängte. Denn die Welttiefe, welche sie eröffnet, mit ihrem neuen Leben würde gegenüber dem Getriebe und den Leidenschaften der natürlichen und der sozialen Selbsterhaltung von den bloßen Individuen her nicht die nötige Selbständigkeit erlangen; weder könnte sie so sich selbst zur erforderlichen Kraft und Klarheit bringen, noch auch die Menschheit überwältigend aufrütteln und erhöhen. Handelt es sich hier doch nicht um eine Zutat zu einem vorhandenen Dasein, nicht um irgendwelche Verbesserung eines gegebenen Lebensstandes, sondern um eine radikale Umwälzung, die etwas wesentlich Neues einführt. Eben die Religion des Geisteslebens setzt den Menschen zur Gottheit keineswegs bloß in irgendwelche Beziehung, sondern sie will ihm vom göttlichen Leben her ein echtes Wesen erst geben, sie kann das nicht ohne einen Bruch mit den herkömmlichen Zielen und Maßen, sie findet zugleich ein überaus schweres Problem darin, die neue Welt dem Menschen zu anschaulicher Gegenwart und zu eingreifender Wirkung zu bringen. Hier nun erhebt sich mit Notwendigkeit der Gedanke einer religiösen Organisation, in der vereinte Arbeit das sonst Fließende befestige, das sonst Zerstreute sammle, den flüchtigen Augenblicken einen beharrenden Bestand entgegenhalte. Aber wenn die Religion des Geisteslebens aus der von ihr verlangten Umkehrung heraus mit besonderem Nachdruck das fordert, so muß sie auch mit besonderer Stärke die Verwicklungen der Sache empfinden. Ja sie gerät beim Problem einer gemeinsamen Gestaltung der Religion unter Antriebe widerstreitender Art. Einerseits kann ihr das Geistesleben nur eine Welt unsichtbarer Größen und Güter sein, und einen Zugang zu solcher Welt gewährt nur die Innerlichkeit der Seele; in dieser muß jene sich mit ursprünglicher Kraft entfalten, als bloße Mitteilung einer sichtbaren Organisation könnte sie nun und nimmer beim Einzelnen selbständig werden, auch in der Aneignung würde sie immer etwas Äußerliches und Fremdartiges behalten. Darum ist eine Gestaltung des Verhältnisses von Gemeinschaft und Einzelseele, wie aus seiner geschichtlichen Entwicklung heraus der römische Katholizismus sie jetzt vertritt, mit einer Religion des Geisteslebens unvereinbar; wo der Einzelne nur als Glied des Ganzen etwas gilt und zwar einer sichtbaren Organisation, da muß bei konsequenter Durchführung eine völlige Mechanisierung erfolgen. Andererseits ist die Innerlichkeit, welche beim Geistesleben in Frage steht, nicht das Befinden des bloßen Subjekts, vielmehr handelt es sich um den Gewinn einer Innenwelt und um die Gegenwart eines Weltlebens an dieser besonderen Stelle; diese Welt aber würde leicht bei einem vagen Umriß verbleiben, wenn ihr nicht irgendwelche Durchbildung, irgendwelche feste Gestaltung gegeben würde; eine solche aber kann nicht das bloße Individuum, sondern nur ein Zusammenschluß zu gemeinsamem Wirken erreichen. Namentlich vom Geistesleben aus angesehen kann das Individuum des Erfahrungsstandes nicht als ein Wesen gelten, dessen Betätigung von Haus aus die Richtung auf das Wahre und Gute hätte, vielmehr bedarf es erst einer inneren Umwälzung, einer Erhebung zu einer geistigen Energie, um eine geistige Welt mit bilden und bauen zu können. Wohl ist eine Bewegung dahin im eignen Wesen jedes Menschen angelegt, aber daß sie sich voll entfalte und glücklich vorwärts komme, dafür ist es von größter Bedeutung, daß die Gemeinschaft den Einzelnen in einen eigentümlichen Lebenskreis versetze, ihn mit einer geistigen Atmosphäre umfange, ihm die Bewegungen und Erfahrungen vergegenwärtige, die in der langen Arbeit der Menschheit stecken. Aber auch über solche Erziehung hinaus bleibt die Verkörperung des Lebens in einer festen Gemeinschaft unentbehrlich, um den Weltcharakter des Geisteslebens, sein Wirklichkeitbilden, aufrechtzuhalten und es nicht zu bloßsubjektiver Regung sinken zu lassen.

Daß solche Verkörperung große Gefahren mit sich bringt, zeigte die Betrachtung der geschichtlichen Religionen; wir sahen, wie die Kirchen nicht nur mit den Individuen, sondern auch mit dem allgemeinen Geistesleben, ja mit der Religion selbst in eine feindliche Spannung geraten konnten; auch eine Religion des Geisteslebens mit ihrem Bestehen sowohl auf einer reinen Innerlichkeit als auf einem durchgebildeten Weltcharakter muß diese Verwicklungen teilen. Aber so wenig sie sich glatt lösen lassen, auch der Wandel der Zeiten immer neue Lagen ihnen gegenüber hervorbringt, eine Religion des Geisteslebens gewährt einen besonders geeigneten Boden, um ihnen entgegenzuwirken. Sie tut das, weil sie ein Gegenwärtigwerden des Gesamtlebens an der einzelnen Stelle erstrebt und sich damit über den Gegensatz einer hierarchischen und einer bloßassoziativen Gestaltung der Gemeinschaft erhebt, deren jene das Individuum, diese das Ganze als Nebensache behandelt; sie tut es, weil sie zwischen einem Grundbestande des Lebens und der menschlichen Existenzform unterscheiden und jene als zeitüberlegen verfechten, die menschliche Aneignung aber als in Fluß befindlich betrachten kann; sie tut es, weil ihre Voranstellung des Lebens, nicht des animalischen, sondern des geistigen, wirklichkeitbildenden Lebens die ganze Bewegung dem Menschen innerlich nahe hält und ihn in Stand setzt, alle Mannigfaltigkeit der Leistung an einer beherrschenden Einheit zu prüfen, sowie aus aller bunten Fülle immer wieder einfache Grundzüge herauszuheben.

Solchen Vorteilen gegenüber hat sie aber besonders stark an der Schwierigkeit zu tragen, daß sie mit der Wendung zu charakteristischer Art eine neue Lebenstiefe eröffnen und einen neuen Weltanblick herstellen will, die etwas Eignes und Unvergleichliches bringen und damit die Welt der Arbeit, auch die der geistigen Arbeit, wesentlich überschreiten. Zugleich aber läßt sich nicht leugnen, daß wie alle Gestaltung des Lebens, so auch diese Weiterbildung an die Mittel jenes allgemeinen Standes gebunden bleibt, daß nur mit ihrer Hilfe das, was in der Tiefe der Seele sich regt, irgendwie darstellbar wird. Damit ist ausgemacht, daß die neue Lebensstufe nie eine angemessene Darstellung finden kann, sondern zwischen Ziel und Leistung stets eine Kluft verbleibt; alle Aussage von jener ist schließlich nur ein Bild und Gleichnis, das über sich selbst hinausweist. Aus solchem Mißverhältnis von Wollen und Können mag so lange keine ernstliche Gefahr entstehen, als das Leben und Streben volle Ursprünglichkeit hat und daraus jeder Festlegung beim bloßen Mittel widersteht; sobald es aber ermattet und sinkt, wird jene unvermeidlich, und mit ihr treten schwere Verwicklungen ein.

Auch insofern erzeugt die Verkörperung Schwierigkeiten, als sie aus einer besonderen Zeitlage zu entspringen pflegt und damit die Züge dieser annimmt, daß aber der Lauf der Zeiten neue Lagen hervorbringt, und daß es nun unsicher wird, ob diesen die überkommene Verkörperung genügt, ob sie in ihr den Ausdruck ihrer tiefsten Überzeugungen finden. Bis zu einem gewissen Grade mag sich hier eine Ausgleichung in der Weise vollziehen, daß das Vorhandene allmählich und unvermerkt in der Richtung der neuen Denkart umgebildet wird; diese übt oft schon viel Wirkung, wo das Bewußtsein der Menschen das Alte völlig unverändert zu bewahren glaubt. Aber dieser Art der Ausgleichung ist eine bestimmte Grenze gesetzt: wenn zwischen dem, was die Verkörperung bietet, und dem, was die Innerlichkeit des religiösen Lebens verlangt, eine tiefe Kluft, ja ein direkter Gegensatz empfunden wird, dann ist es vorbei mit der freundlichen Verständigung, dann kann ein Bruch mit dem Alten zur zwingenden Notwendigkeit werden. Alle menschliche Fassung des Göttlichen ist nicht mehr als ein Symbol, und auch alle Fortbewegung kommt über ein Symbol nicht hinaus, aber das Symbol, an das wir uns halten, muß das denkbar höchste sein, das wir aufzubringen vermögen; sonst vergegenwärtigt es uns nicht die Sache, der es dienen soll, sonst fallen uns Menschliches und Göttliches auseinander, und die Sorge für dieses macht es dann zur heiligen Pflicht, die zu menschlich gewordene Fassung auszutreiben. So geschah es zu Beginn des Christentums, so geschah es im Reformationszeitalter, so hat es wohl auch jetzt zu geschehen. Aber das Notwendige kann hier schwer und peinlich sein, weil es Dinge betrifft, die wir als heilig verehrten.

Endlich läßt sich das geistige Leben nur verkörpern, indem es aus seiner Einheit heraustritt und sich in einzelne Hauptbetätigungen auseinanderlegt; Denken, Wollen und Fühlen bedürfen besonderer Entwicklungen, um gleichmäßig befriedigt zu werden. Dies aber enthält sowohl die Gefahr einer Festlegung des Lebens bei den einzelnen Gebieten als die andere, daß das eine von ihnen sich über die anderen hinaushebe und das Ganze damit einseitig gestalte. Um dem zu widerstehen, müssen die einzelnen Gebiete immerfort auf ein ihnen überlegenes Ganzes des Lebens bezogen werden und zugleich sich gegenseitig gleiches Recht zuerkennen. Nach solchem Ziele zu wirken, dafür dürfte aber eine Religion des Geisteslebens besonders geeignet sein.

bb. Die Festlegung einer Gedankenwelt.

Die religiöse Organisation hat den Individuen zunächst eine Durchbildung und Festlegung der religiösen Gedankenwelt zu liefern. Die Tatsache, daß heute weite Kreise allen kirchlichen Dogmen abhold sind, hebt das Recht solcher Forderung keineswegs auf. Denn jene Abneigung stammt vornehmlich daher, daß die überkommenen Dogmen den heutigen Forderungen des religiösen Lebens nicht voll entsprechen und daher uns oft fremdartig berühren; aber dieser Mißstand der gegenwärtigen Lage sollte die Notwendigkeit einer eigentümlich religiösen Gedankenwelt in keiner Weise verdunkeln. Ohne eine solche könnte die Religion leicht zu einer bloßen Erregung vager Gefühle sinken. Allerdings muß jene Gedankenwelt in ihrer Eigentümlichkeit scharf gefaßt und gegen andere Aufgaben deutlich abgegrenzt werden. Das aber nach Inhalt und Form. Ihren Inhalt bilden nicht Lehren von der Welt in ihren eignen Zusammenhängen, sondern ein Verstehen und Aufbauen der Wirklichkeit vom göttlichen Leben her, und besonders die Gestaltung des Verhältnisses Gottes zum Menschen, das dabei ersichtlich wird; namentlich die Religion des Geisteslebens muß mit größter Entschiedenheit darauf bestehen, daß die religiöse Gedankenwelt nicht Gott vom Menschen, sondern den Menschen von Gott her zu betrachten hat; wie das aber geschehen soll, das mag zunächst rätselhaft scheinen. Ihren Komplex von Wahrheiten gibt aber die Religion, sofern sie sich zur Gemeinschaft gestaltet, nicht als ein in Fluß befindliches Problem, nicht als dem Suchen, Grübeln und Zweifeln der Individuen unterworfen, sondern als eine felsenfeste, in sich selbst gegründete Tatsächlichkeit; eine solche kommt an den Einzelnen als eine heilige Verkündigung, als Offenbarung einer neuen Tiefe, die ihm erst einen Halt verleiht, nicht seiner Zustimmung zu ihrem Bestehen bedarf. Ohne Ehrfurcht vor einer überlegenen Wahrheit gibt es keine Religion. Da aber andererseits kein äußerer Zwang die religiöse Wahrheit dem Menschen auferlegen kann, so entstehen hier schwere Verwicklungen und ziehen sich durch die gesamte Geschichte der Religion.

Die Verwicklungen aber, die so bei Inhalt und Form der religiösen Gedankenwelt entstehen, brauchen eine Religion des Geisteslebens nicht zu entmutigen. Sie hat in der Erfassung und Entfaltung der Grundtatsachen des weltüberlegenen und weltdurchdringenden Geisteslebens einen selbständigen Gedankenkreis, der die ganze Wirklichkeit eigentümlich durchleuchtet und belebt. Dieser Gedankenkreis wurzelt fest in der Grundtatsache jenes Geisteslebens, er erhält aber eine innere Bewegung und Geschichte, indem er von der grundlegenden Geistigkeit durch die kämpfende hindurch zu der überwindenden vordringt; das trägt große Erfahrungen der Menschheit in sich, die zugleich jedes Einzelnen Erfahrung werden können; jede einzelne dieser Stufen ergibt einen eigentümlichen Durchblick der Wirklichkeit und der Lebensarbeit, alle aber fassen sich in ein Gesamtbild zusammen und verleihen von hier aus allem Umfaßten einen ausgeprägten Charakter. Dieser religiösen Gedankenwelt ist namentlich eigentümlich ein schroffer Kontrast: einerseits ein Entwerten des alten Lebens, ein Ungenügendmachen alles dessen, was bisher den Menschen befriedigte, andererseits ein Vorhalten eines neuen Lebens, ja eine Versetzung in ein Leben, das alle alten Maße unvergleichlich überragt. Wenn die Religion des Geisteslebens solche Grundwahrheiten als eine überlegene und unbestreitbare Tatsächlichkeit an den Menschen bringt, so legt sie ihm sie nicht mit tyrannischem Zwange auf und entzieht sie keineswegs aller Erweisung. Denn jene Tatsächlichkeit ist eben das, was den Menschen erst zu einem geistigen Wesen erhebt, was ihn zu sich selber führt; so kann er in ihrer Aneignung unmittelbar ein Größer- und Weiterwerden des eignen Lebens erfahren und durch solche Beweise des Geistes und der Kraft sich in der Überzeugung von ihrer Wahrheit bestärken. Wo die Tatsächlichkeit eines neuen Lebens in Frage steht, da kann nur die Lebensentwicklung selbst einen rechten Erweis erbringen. Wirkt aber in uns selbst eine überlegene Tatsächlichkeit, und wird sie mehr und mehr unser eignes Leben und Wirken, so sind wir über den Gegensatz äußerer Autorität und subjektiver Willkür sicher hinausgehoben, so wird zugleich der Begriff der Tatsächlichkeit aufs gründlichste umgestaltet. Denn nunmehr entwächst er aller Vermengung mit sinnlicher Greifbarkeit, und es wird zugleich die Religion vor einem Eindringen magischer Elemente geschützt. Nunmehr kann auch sie die weltgeschichtliche Bewegung anerkennen, welche mehr und mehr die Tatsächlichkeit vom Sinnlichen ins Geistige verschiebt, und es kann ganz besonders durch sie zur Geltung gelangen, daß die wahre Tatsächlichkeit nicht neben dem Geistesleben, sondern innerhalb seiner liegt, in seiner eignen Befestigung, seiner Vertiefung zu einem Beisichselbstsein, seiner Hervorbringung einer Wirklichkeit, seinem Gegenwärtighalten eines Ganzen des Wesens in jeder einzelnen Betätigung. In Ausbildung alles dessen kann eine Religion des Geisteslebens ganz wohl eine gemeinsame Gedankenwelt entwickeln, mit ihr die Individuen umfangen und sie innerlich zusammenhalten.

cc. Die Ordnung des Handelns.

Auch für das Handeln innerhalb der religiösen Welt ist die Verbindung zu einer organisierten Gemeinschaft nicht zu entbehren. Dies Handeln wird in Inhalt und Antrieb dadurch eigentümlich gestaltet, daß die Religion in ihrer charakteristischen Ausprägung zum Urquell und Träger alles Geschehens, im besonderen alles Geschehens beim Menschen, die göttliche Liebe macht; auch daß an der einzelnen Stelle selbständiges Leben erweckt und dauernd gegenüber allen Hemmungen aufrecht gehalten wird, das gilt ganz und gar als ihr Werk. Demgemäß richtet sich hier das menschliche Handeln an erster Stelle auf Gott, es ist ein Erweisen innigen und freudigen Dankes für die Rettung aus schwerer Not und die Erhöhung zu seligem Leben; alles was hier an Liebe entsteht, das ruht auf der Liebe zu Gott und hat aus ihr unablässig zu schöpfen. »Aus derselben Liebe lieben wir Gott und den Nächsten, aber Gott um seiner selbst, uns aber und den Nächsten um Gottes willen« (AUGUSTIN). Die starke Erregung der Seele, welche die Erfahrung jener Liebe mit sich bringt, erzeugt einen gewaltigen Drang, die Gesinnung in Tat umzusetzen, die Freudigkeit, die das eigne Wesen durchdringt, auch darüber hinaus zu ergießen. »Es fließt aus dem Glauben die Liebe und die Freude im Herrn und aus der Liebe ein froher und freier Geist, dem Nächsten aus freien Stücken zu dienen, ohne alle Rücksicht auf Dank oder Undank, auf Lob oder Tadel, auf Gewinn oder Verlust« (LUTHER).

Aber so großartig diese Gesinnung ist, und so viel sie zu bewegen vermag, sie ist nicht ohne Gefahren. Jener Drang mit seiner Unbegrenztheit kann ins Ungestüme und Überschwängliche verfallen, zugleich aber können die Individuen weit auseinandergehen, schließlich alle Fülle von Kraft in unfruchtbare Leere verrinnen. Demgegenüber bedarf es einer Ordnung und Begrenzung, einer Lenkung der stürmischen Leidenschaft in ruhige Bahnen, eines Zusammenhaltens und einer Verbindung der Individuen. Wer anders aber könnte dies unternehmen als eine Organisation des religiösen Zusammenseins wie die Kirche sie darstellt? Ein solches Wirken übte z. B. die religiöse Gemeinschaft in den ersten Jahrhunderten des Christentums, an denen kaum etwas so bewunderungswürdig ist als die Mäßigung des religiösen Enthusiasmus zu fruchtbarer Arbeit des Alltags und gleichmäßiger Ausdehnung über die Breite des Lebens.

Aber wie gewöhnlich im Gebiet der Religion sich kaum eine Gefahr vermeiden läßt, ohne daß man einer anderen verfällt, so geht es auch an dieser Stelle. Die religiöse Gemeinschaft lenkt leicht jene Begeisterung dahin, daß sie den Menschen antreibt, seine gottgeweihte Gesinnung durch außerordentliche Werke, durch spezifisch religiöse Werke zu bekunden, ein eigentümliches Gebiet des Heiligen vom übrigen Leben abzusondern und diesem Gebiet allein einen rechten Wert zuzuerkennen. Viel Innigkeit des Gefühles und viel aufopferndes Handeln wurde in dieser Richtung erwiesen. Aber diese Bewegung führt leicht, ja fast unvermeidlich dahin, die übrigen Aufgaben gering zu achten, im besonderen das Verhältnis zur menschlichen Umgebung als minderwertig zurückzustellen, die einfache Pflicht des Tages zu einer Nebensache herabzudrücken; auch droht jene Wendung mit ihrer Abhebung vom Durchschnittsleben ein hochgespanntes Selbstbewußtsein zu erzeugen, das leicht zu pharisäischem Hochmut anschwillt. Beides zusammen kann die Religion mit der Moral verfeinden, und wenn nun die Kirche das religiöse Leben an sich zieht und sich selbst zur Hauptsache macht, so können leicht die Zwecke der Kirche als aller Moral überlegen und ihren Geboten entzogen erscheinen.

So ist es vollauf begreiflich, daß überall da, wo das religiöse Leben mit ursprünglicher Kraft hervorbrach, es die Absonderung spezifisch religiöser Werke verwarf, die innere Erhebung über das ganze Leben ausdehnen wollte und die schlichte Moral, freilich die religiös belebte und vertiefte Moral, zur Hauptsache machte. So klingt es uns aus den Reden Jesu entgegen, so ist dieses das Hauptverdienst der Reformation, die Menschheit von jenem spezifisch religiösen Handeln befreit und den wahren Gottesdienst in das Ganze des Lebens verlegt zu haben; es ist das zugleich eine Befreiung von einer Mechanisierung des Lebens, der dies spezifisch-religiöse Handeln unvermeidlich verfällt, sobald die Kraft der Begeisterung nachläßt.

Die Abweisung einer spezifischen Heiligkeit verändert auch die Stellung der religiösen Gemeinschaft und mag ihr auf den ersten Anblick eine selbständige Aufgabe zu nehmen scheinen; auch kann es scheinen, daß mit der Preisgebung jenes direkt auf Gott gerichteten Handelns als einziges Ziel die menschliche Wohlfahrt bleibt, und daß damit ein Utilitarismus das Feld gewinnt, dem über der Sorge um die Bedingungen des Lebens ein inneres Leben verloren geht. Daß die Sache in Wahrheit anders liegt, ist unbestreitbar, sobald im Menschen ein großes Problem und eine geistige Tiefe anerkannt wird. Denn dann kann es unmöglich genügen, ihm sein natürliches und soziales Dasein möglichst angenehm zu gestalten, sondern dann gilt es, eine neue Welt in ihm zu entwickeln und ihn mit seinem ganzen Wesen in diese Welt zu versetzen, dann bedeutet die Sorge für den Menschen unvergleichlich viel mehr als eine Steigerung der sozialen Wohlfahrt, dann erschöpft das Handeln sich nicht in Leistungen für die Individuen, sondern dann gilt es eine Umwandlung des vorgefundenen Gesamtstands, und dazu bedarf es der Mitwirkung aller Gebiete des Geisteslebens, so auch der Kunst und der Wissenschaft. Gilt es nicht sowohl den Menschen wie er ist zu befriedigen, sondern wesentlich mehr aus ihm zu machen, ja ihn in eine neue Welt zu heben, so kann der religiöse Antrieb in der Arbeit am Menschen seine volle Befriedigung finden, so braucht sich das Heilige nicht vom Leben abzusondern, sondern so läßt es sich in ihm, in seiner eignen Tiefe finden; dann hat das Wort ein volles Recht: »Unter Menschen soll man Gott suchen.«

Daß es aber auch bei solcher Wendung zum Menschen, bei solcher Verbindung von Religion und Moral, eines Zusammenschlusses der Kräfte zu fester Gemeinschaft bedarf, das begründet sich namentlich aus der Lage, in der sich das Streben nach echter Geistigkeit gegenüber der Welt der Erfahrung befindet. Es trifft hier auf härtesten Widerspruch und hat unablässig zu kämpfen, ja es ist hier wie verstreut und verweht; werden aber die einzelnen Kräfte nicht zu vereinter Wirkung zusammengefaßt, so scheint alle Möglichkeit zu entschwinden, daß auch im menschlichen Kreise die selbständige Geistigkeit zur Geltung und Wirkung komme.

Das ist nötig für alle Zeiten, das ist ganz besonders nötig für die Gegenwart. Sie befindet sich in der eigentümlichen Lage, daß in den Überzeugungen der Menschen sich die geistige Betätigung mehr und mehr von einer festen Grundlage abgelöst hat, daß sie mehr und mehr als ein Erzeugnis des bloßen Menschen behandelt wird. Eine gewaltige Steigerung des menschlichen Vermögens in den letzten Jahrhunderten ist augenscheinlich, und daher eine Steigerung des Selbstgefühls der Menschheit wohlbegreiflich. Aber alles den Menschen auszeichnende Vermögen wurzelt schließlich in der ihm innewohnenden Geistigkeit; wird das verdunkelt, jene Tiefe des Wesens geleugnet und der Mensch möglichst ganz auf sein unmittelbares Dasein gestellt, so ist dies nichts anderes als ein Kampf des Menschen gegen das, was ihm seine Größe gibt und über den tierischen Stand hinaushebt; je mehr das fortschreitet, desto mehr muß es zur Selbstzerstörung werden und den geistigen Gehalt des Lebens in ein rasches Sinken bringen. Die Erkenntnis solcher Gefahr ist bei ernsteren Geistern heute in sichtlichem Wachsen, mit ihr aber geht naturgemäß Hand in Hand das Verlangen nach einer kräftigen Gegenwirkung, diese kann aber nur durch eine Zusammenfassung der Kräfte erfolgen, und diese wiederum bedarf der Hilfe der Religion, damit sie die Tiefe und die Kraft erlange, welche die gewaltige Aufgabe fordert. So ist in der Gegenwart die Aufgabe der religiösen Organisation keineswegs erledigt und veraltet, und es darf die Sache der Religion keineswegs der Zerstreuung der bloßen Individuen anvertraut werden, vielmehr bedürfen wir in den Wirren und Stürmen der Gegenwart zur Aufrechterhaltung des Geisteslebens einer religiösen Gemeinschaft so dringend wie nur je zuvor. Eine Religion des Geisteslebens aber vermag alle Mannigfaltigkeit des Strebens in die eine Aufgabe zusammenzufassen, auf menschlichem Boden gegenüber einer bloßen Menschenkultur und einer menschlichen Zurechtmachung des Geisteslebens eine echte, selbständige und weltüberlegene Geistigkeit klar und kräftig gegenwärtig zu halten.

dd. Der Kultus.

Weder im Erkennen noch im Handeln erreicht das religiöse Leben seine höchste Höhe, es findet sie vielmehr in der unmittelbaren Verbindung der Seele mit Gott, im Ergreifen des Göttlichen in unmittelbarer Gegenwart. Hier allein löst das religiöse Leben sich von allen anderen Zwecken ab, hier ruht es rein in sich selbst, und trägt es in sich volle Seligkeit. Von dieser Höhe der Religion gelten die Worte HEGELS: »In dieser Region des Geistes strömen die Lethefluten, aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, alle Härten, Dunkelheiten der Zeit zu einem Traumbild gestaltet und zum Lichtglanz des Ewigen verklärt.« Sowie sein anderes Wort, es müsse »die Kontemplation des Ewigen und ein ihr allein dienendes Leben« vorhanden sein, »nicht um eines Nutzens, sondern um des Segens willen«.

Solche Gegenwart des Göttlichen fällt ganz und gar in das Innere der Seele, aber die Innerlichkeit bedarf für ihre eigne Entwicklung einer Unterstützung, um den verwirrenden und ablenkenden Eindrücken einer andersartigen Welt gewachsen und überlegen zu werden, sowie um sich über die Zufälligkeit der individuellen Stimmung zu erheben, und hier setzt nun die Gemeinschaft mit ihrem geordneten Kultus ein, sie nur vermag es, eine bleibende geistige Atmosphäre zu schaffen, beharrende Wirkungen auszuüben, die neue Welt dem Einzelnen damit zu anschaulicher Nähe zu bringen und seine Seele in sie zu versetzen. Wiederum freilich kann sie das nicht ohne Verwicklungen und Gefahren auf sich nehmen. In einer Gemeinschaft zur Darstellung kommen kann die übersinnliche Welt nur mit Hilfe sinnlicher Mittel; in künstlerischer Veredlung sollen sie zum reinen Ausdruck geistiger Erlebnisse und Erfahrungen werden, im besonderen werden auch sie die Zweiseitigkeit des religiösen Lebens zu verkörpern haben: einmal den weiten Abstand und das schmerzliche Suchen des Menschen, andererseits die unmittelbare Nähe und die volle Seligkeit göttlichen Lebens. Dabei droht aber die Gefahr, daß das Sinnliche sich nicht mit der Stellung eines bloßen Mittels bescheide, sondern eine Selbständigkeit erlange und, statt über sich hinauszuweisen, sich bei sich selbst befestige. Alsdann wird aber der Kultus einerseits leicht zu einer Sache bloßen Genusses und zu einem epikureischen Schwelgen in weichen Gefühlen, andererseits aber mag das Sinnliche bei einer solchen Wendung selbst die Verehrung an sich ziehen, die lediglich dem überlegenen göttlichen Leben gebührt; so kann es hemmen statt aufwärts zu führen. Ja indem es sich so zwischen den Menschen und die Gottheit stellt, kann es tieferen Gemütern als ein verwerflicher Götzendienst erscheinen, den auszurotten heilige Pflicht sei. So trieb es zu verschiedenen Zeiten ernste Seelen zu einem Bildersturm, zu einer Wegräumung alles dessen, was sich ihrer Empfindung zwischen Gott und die Seele stellte. Hier ganz besonders gilt die Forderung, daß das Symbol, was der Mensch sich vom Göttlichen macht, das denkbar höchste sei; treibt nun der Fortgang der Zeiten vom Äußeren zum Inneren, vom Sinnlichen zum Seelischen, so können frühere Formen des Kultus hinfällig werden, und gilt es neue zu suchen. Andererseits schöpft der Kultus einen Hauptgrund seiner Macht über die Gemüter aus seiner Tradition, aus der Ehrwürdigkeit seines Alters, aus seiner Festigkeit und scheinbaren Unwandelbarkeit. So verlangt hier jede Änderung besondere Behutsamkeit, damit nicht der Gewinn an der einzelnen Stelle zur Erschütterung des Ganzen wirke. Aber die Änderung wird unvermeidlich, wenn für das gemeinsame Empfinden der Menschheit das Symbol und die Wahrheit, der es dient, miteinander in Widerspruch kommen; bei solcher Lage haben alle Erwägungen der Zweckmäßigkeit der Forderung der Wahrheit zu weichen. Auch die Gegenwart steht hier vor großen Aufgaben, denn ein Wiederaufsteigen der Religion wird nun und nimmer gelingen, ohne daß der Kultus sein volles Recht bekommt.

ee. Rückblick und Zusammenfassung.

Wenn die religiöse Organisation ihre Betätigung in verschiedene Gebiete zerlegt, so müssen diese Gebiete untereinander in steter Wechselwirkung bleiben und dabei gleichmäßig zur Entwicklung kommen; jedes Überwiegen der einen Seite gefährdet das Gedeihen des Ganzen. Ein Überwiegen des Gedankengehalts droht, die religiöse Gemeinschaft zu einer bloßen Lehrgemeinde zu machen, ein solches des Handelns, durch emsige Vielgeschäftigkeit das Beisichselbstsein des Lebens zu schädigen, ein solches des Kultus, das Seelenleben in eine traumhafte Versenkung in weiche Stimmungen zu verwandeln.

Auch ist für die kirchliche Organisation die Forderung von besonderer Bedeutung, daß die charakteristische Gestalt der Religion mit der universalen in steter Verbindung bleibe; sonst kann die Verkörperung leicht zu einer unerträglichen Verengung werden, und über der Freude an dem »spezifisch« Religiösen der Weltcharakter der Religion schweren Schaden leiden. Auch ist die universale Religion unentbehrlich für ein rechtes Verhältnis der religiösen Gemeinschaft zu den Bewegungen der Kultur, sie hat hier ein vermittelndes Wirken zu üben. Dem Einfluß der Kultur auf den Gesamtstand des Lebens kann sich auch die religiöse Gemeinschaft nicht entziehen, aber unmöglich kann sie dabei allen Wandlungen der Kulturarbeit dienstwillig folge leisten; wie weit diese Wandlungen berechtigt sind, das muß die Religion mit ihren eignen Mitteln erst prüfen, und solche Prüfung kann nur die universale Religion vollziehen. Auch deshalb muß die religiöse Gemeinschaft beide Stufen umspannen, weil sie nur damit die genügende Weite erlangt, um den verschiedenen Gemütsarten und Denkweisen genüge zu tun, nur dann auch die Möglichkeit, alle Begrenzung durch einzelne Kulturkreise zu überwinden und die ganze Menschheit in sich zu fassen. Das aber wird mehr und mehr zu einer Notwendigkeit. Wenn früher die Kulturkreise ohne engere Beziehung, ohne gegenseitiges Verständnis nebeneinander lagen, so konnte das Bestehen verschiedener Religionen und verschiedener religiöser Organisationen nebeneinander keinen Anstoß erregen. Nun aber sehen wir überall das Geistesleben nach einer die ganze Menschheit umfassenden Einheit drängen und die Menschen sich immer mehr zu einer Gemeinschaft der Arbeit verbinden; ist das der Fall, so wird die Spaltung und Feindschaft der Religionen zu einem schweren Mißstand; wer daran zweifelt, ob eine der geschichtlichen Religionen mit ihrem heutigen Befunde alle anderen unter sich bringen werde, der muß nach einer umfassenden Einheit streben, welche sich nicht auf die Erfahrungen eines einzigen Kulturkreises beschränkt, sondern die der ganzen Menschheit in sich aufnehmen kann. Das heißt weder, daß bloß allgemeine Lehren aus der Mannigfaltigkeit herausgehoben werden, noch auch, daß die verschiedenen Religionen in einen Brei zusammenfließen sollen, wohl aber heißt es dies, daß es in aller Besonderheit durchgehende menschliche Züge, durchgehende Tatsachen und Erfahrungen herauszuheben und von ihnen aus nach einer Verständigung zu streben gilt. Über allen einzelnen Religionen muß die Religion der ganzen Menschheit stehen. Wir befinden uns hier in einer ähnlichen Lage wie das spätere Altertum. Auch hier dehnte sich der Gesichts- und Lebenskreis über verschiedene Religionen aus, die zunächst besonderen Nationen angehörten; die Bewegung ist hier nicht eher zur Ruhe gekommen, als bis eine Religion und eine religiöse Gemeinschaft, manche Züge der anderen aufnehmend, sich über sie alle siegreich hinaushob. Damals siegte das Christentum; soll es auch in den heutigen Kämpfen siegen, so wird es erhebliche Wandlungen an sich vornehmen müssen, so hat es sich enger mit dem Ganzen des Geisteslebens zu verbinden.

β. Das Verhältnis zur Geschichte.

Den engen Zusammenhang von Religion und Geschichte hat uns der gesamte Verlauf der Untersuchung gezeigt; wir sahen, daß Geschichte als geistiges Erlebnis nur durch ein Zurückgehen auf eine ewige Ordnung möglich wird; wir sahen auch, daß die Religion mit ihrer Aufdeckung verschiedener Stufen im Leben und einer ihm innewohnenden Bewegung die Bedeutung der Geschichte aufs beträchtlichste steigert, ja daß sie mit dem Aufnehmen einer Bewegung in den Kern des Lebens Geschichte in vollem Sinne erst möglich macht. Die Erfahrung der Zeiten bestätigt das weiter. Denn sie zeigt, daß das große und herrliche Altertum, welches das Geistesleben als eine geschlossene Größe behandelte, ihm keinen inneren Aufstieg gewährte, keine solche Geschichte kannte, sie zeigt auch, daß sich der Gegenwart bei all ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit und bei aller Hochhaltung der Evolution Geschichte als inneres Erlebnis, als ein Werk freier Tat zu verschwinden und sich alles Geschehen in einen bloßen Naturprozeß zu verwandeln droht. Und zugleich bringt uns die heutige Abwendung von der Religion und allen Lebenstiefen in Gefahr, eine Geschichte der Seele zu verlieren und damit das Leben unermeßlich herabzusetzen, es zu echtem geistigen Schaffen immer untauglicher zu machen. JAMES findet in seinem ausgezeichneten Werk über die Mannigfaltigkeit der Religionen es auffallend, daß sich außerhalb der christlichen Literatur so wenige Selbstbiographien, so wenig rein persönliche Bekenntnisse finden. Sollte diese Tatsache sich nicht einfach daraus erklären, daß das Christentum besonders geeignet ist, der Seele eine Geschichte zu geben, und daß so die einzelnen Menschen von ihrem inneren Ergehen mehr zu berichten hatten? Doch an dieser Stelle gilt es nicht, das allgemeine Verhältnis von Religion und Geschichte näher zu erörtern, hier möchten wir erwägen, wieviel der Religion ihre eigne Geschichte sein kann, und wie im besonderen eine Religion des Geisteslebens sich zu diesem Probleme verhält.

Je mehr die Religion des Geisteslebens ihre charakteristische Art entfaltet, desto geneigter wird sie sein die Geschichte zur Unterstützung des Lebens heranzuziehen. Denn die Erfahrungen, auf die sie sich begründet, scheinen nicht mit gleicher Deutlichkeit jeden Augenblick jedem entgegen; ganz wohl könnten dafür frühere Zeiten Anregungen und Wegweisungen bringen, sofern in ihnen die religiöse Bewegung eine sonst unerreichte Höhe erreichte. Solche Höhepunkte mögen namentlich da sich finden, wo zwingende Probleme der allgemeinen Lage und große Persönlichkeiten zusammentreffen; dann wurde das menschliche Dasein zwingend aus der sonstigen Trägheit aufgerüttelt, und das geistige Schaffen fand aus der üblichen Vagheit einen Weg zu fester und klarer Gestaltung. So ist es vollauf begreiflich, daß die geschichtlichen Religionen sich an diese Höhepunkte hielten und sie zum dauernden Maßstab aller religiösen Betätigung machten.

Was immer einer Religion des Geisteslebens Geschichte sein mag – wir werden uns gleich damit befassen –, unmöglich kann sie sich erstwesentlich auf die Geschichte gründen und sich ganz und gar an eine besondere geschichtliche Leistung binden. Wie alle Wahrheit, so hat auch die Wahrheit der Religion eine Zeitüberlegenheit, und sie muß immer von neuem ursprünglich entstehen; drang eine besondere Zeit in der Belebung und Aneignung dieser Wahrheit besonders weit vor, so hat sie das Ewige und allezeit Ursprüngliche nur besser erfaßt, nicht aber von sich aus erzeugt, so besteht ihre echte Wirkung auf uns darin, daß sie uns den Zugang zum Ewigen erleichtert, nicht darin, daß sie uns bei sich selber festhält. Daher kann aus der Geschichte nur das von religiösem Werte sein, was sich in unmittelbares Leben umsetzen läßt, und es ist der geschichtliche Befund gewissenhaft darauf zu prüfen, wie weit er solcher Forderung entspricht. Die Religion entwickelt sich ihrem geistigen Charakter nach nicht sowohl aus der Geschichte als an der Geschichte, und es ist hier aller echte Gebrauch der Geschichte eine Vernichtung der Geschichte als bloßer Vergangenheit. So kann die Geschichte reine Förderung nur dem bringen, der ihr gegenüber seine Selbständigkeit zu wahren und kraft ihrer bei früheren Epochen den ewigen Gehalt von der bloßen Zeitform zu befreien versteht; wo ein solches Vermögen fehlt, da entsteht leicht die Neigung, sich ganz und gar in die fremde Zeit zurückzuversetzen und in sie hineinzudenken, über solcher Hingebung aber sich selbst und die eignen Bedürfnisse zu vergessen, bis schließlich mehr ein fremdes als ein eignes Leben geführt wird. Auch das muß eine Religion des Geisteslebens an der ausschließlichen Bindung an eine besondere geschichtliche Epoche als einen Mißstand empfinden, daß jene Bindung unvermeidlich die Menschheit in verschiedene Gruppen auseinanderreißt, indem was den einen das Heiligste ist, den anderen bloße Irrung, ja eine verwerfliche Nachäffung dünkt. Bei konsequenter Denkart ist hier ein Kampf aller gegen alle nicht zu vermeiden, und der Schroffste hat dabei die Logik für sich.

Wenn demnach einer Religion des Geisteslebens die Geschichte nur an zweiter Stelle stehen kann, so braucht sie ihr darum nicht wertlos und auch nicht leichtentbehrlich zu sein. Die Geringschätzung der Geschichte weist auf die Aufklärung zurück, diese aber wurde zu ihr durch besondere Voraussetzungen geführt, die eine Religion des Geisteslebens unmöglich teilen kann. Jene machte nämlich zum Träger des Lebens das Individuum und glaubte in ihm die Vernunft so fest angelegt und so fertig vorhanden, daß sie sich unmittelbar an der einzelnen Stelle entwickeln ließ; dann bedurfte das Leben allerdings keiner Heranziehung der Geschichte, keiner Unterstützung durch die Geschichte. Ganz anders stellt sich die Sache, wenn der Mensch sich erst im Aufstreben zu Vernunft und Geist befindet, wenn er die Höhe seines eignen Wesens erst zu erklimmen hat, und er sie nur erklimmen kann bei Eröffnung einer neuen Wirklichkeit, bei Zuführung eines neuen Lebensstromes, der ihn ergreift und emporhebt. Wo das Geistesleben uns nicht eine bloße Klärung des Denkens, sondern Lebensentwicklungen und Lebenserneuerungen bringt, da bedeuten uns auch die geschichtlichen Religionen nicht bloße Weltanschauungen, theoretische Zurechtlegungen der Wirklichkeit, sondern wir sehen und verehren in ihnen gewaltige Konzentrationen des Geisteslebens, die sonst verborgene Tiefen erschlossen, und die nicht bloße Bilder vom Leben gegeben, sondern sein Wesen weitergebildet haben. So hat auch das Christentum nicht sowohl neue Begriffe von Gott und der Welt aufgebracht und aus ihnen nachträglich ein eigentümliches Leben zurecht gezimmert, sondern es hat den Grundprozeß des Lebens verwandelt und zugleich unser Verhältnis zur Wirklichkeit; daraus gingen dann auch neue Begriffe hervor, aber sie hatten nur soweit Recht und Kraft, als sie jenem Grundprozeß entsprangen. Wenn wir uns solches weltbildende Leben innerlich nahebringen und es möglichst unmittelbar auf uns wirken lassen, so kann uns das freilich nicht von eigner Arbeit entbinden, wohl aber kann es uns diese erleichtern, kann es uns in dem Streben fördern, unsere Kraft zu stärken, die Zufälligkeit der individuellen Lage zu überwinden und in den geistigen Lebensstrom zu gelangen. Leben ruft Leben hervor: das muß sich auch hier bewähren.

Dabei fällt stark auch das in die Wage, daß echtes Geistesleben mit seinem Wirklichkeitbilden nicht aus dem Durchschnitt des Alltags hervorwächst, sondern sich mit ihm gewöhnlich in feindlicher Spannung befindet. Denn jener Stand pflegt geistige Aufgaben nur nebenbei und im Dienste andersartiger Zwecke zu betreiben, während jene als Selbstzwecke behandelt sein wollen, um die nötige Kraft und eine reine Gestalt zu finden; auf den Höhepunkten der weltgeschichtlichen Bewegung erfolgt nun eine Erhebung über jene Schranke, in großen Persönlichkeiten und großen Zeiten gewinnt das Geistige eine Selbständigkeit, und von ihnen aus wird diese der Kleinheit des Alltags als eine Forderung dauernd entgegengehalten. So vermag die Verbindung mit der Geschichte dem eignen Streben erhöhende Antriebe zuzuführen und zu erwecken, was im eignen Wesen an geistiger Regung steckt.

Demnach kann eben eine Religion des Geisteslebens die großen Persönlichkeiten vollauf würdigen, auch vollauf verstehen, daß sie der Religion mehr bedeuten als irgendwelchem anderen Gebiet. Denn hier vor allem ist klar, daß sie keineswegs bloß ein Mehr der alltäglichen Leistung, sondern daß sie etwas wesentlich Neues bringen. Jenen schöpferischen Geistern war es gegeben, das Göttliche völlig vom Bloßmenschlichen abzulösen und es als eine eigne, unermeßlich überlegene Welt dem Menschen in ausgeprägter Gestalt entgegenzuhalten, sowie es mit aufrüttelnder Kraft auf ihn wirken zu lassen. Das war ein Erheben des Lebens ins Große und Hohe, es war ein Versinken des gewöhnlichen Daseins mit all seinen Zwecken, ein Verblassen auch seiner glänzendsten Erfolge vor der Herrlichkeit der neuen Welt. Das alles aber nicht durch neue Lehren, sondern durch das Aufbringen eines neuen Lebens, durch die Entfaltung eines eigentümlichen geistigen Typus, der dem Menschen zur Belebung des Besten in seiner Seele verhilft, das ohne jene Hilfe leicht ein bloß schattenhaftes Dasein führt. So waren jene Großen nicht bloß Weise und Lehrer, sie haben nicht bloß einen Weg gezeigt, sondern sie haben ungeheuren Schwierigkeiten gegenüber eine Bahn gebrochen und ziehen damit uns anderen überwältigend in die Bewegung hinein.

Die Bildung einer neuen Wirklichkeit gegenüber dem Alltagsdasein, das in ihnen beginnt, setzt sich dann fort durch die Zeiten und schafft eine neue Geschichte gegenüber dem, was gewöhnlich Weltgeschichte heißt und als die Hauptsache gilt. Hierher gehören vornehmlich die Zeiten der Bildung der großen Religionen, in ihnen wurden größere Kreise von der geistigen Bewegung ergriffen, über die Kleinheit der Alltagsinteressen hinausgehoben und in eine sichere Richtung gebracht. Auch das erlischt nicht mit seiner Zeit, auch das vermag kraft der Einheit des Geistes, die alle Zeiten umfaßt, anregend und fördernd weiterzuwirken. Immer von neuem vermag es uns die Aufgaben, Erschütterungen, Erneuerungen nahe zu bringen, auf die unser geistiges Wesen uns weist. Schließlich aber verbinden sich für ein selbständig gewordenes Geistesleben alle einzelnen Leistungen zum Ganzen eines Strebens nach seiner eignen Verwirklichung in der menschlichen Welt, wir erkennen in aller Mannigfaltigkeit ein durchgehendes Werk, ein Werk, woran mitzuarbeiten wir selbst berufen sind. Und es macht einen gewaltigen Unterschied, ob wir das isoliert, oder ob wir es im Zusammenhang mit der weltgeschichtlichen Arbeit tun. Bei solcher Aufdeckung einer Seele der Geschichte bilden ihre einzelnen Phasen kein bloßes Nacheinander, sondern sie fügen sich in einer zeitüberlegenen Gegenwart einem Ganzen des Lebens ein, das eigentümliche Erfahrungen, Widerstände und Hemmungen, aber auch Überwindungen und Weiterbildungen in sich trägt. Da dieses Streben unserem eignen Verlangen nach geistiger Selbsterhaltung entspricht, so können wir die Zeiten durchschauen und was uns äußerlich fern, uns innerlich nahe rücken. Wenn wir dabei nur keinen Augenblick vergessen, daß die Geschichte uns nichts mechanisch zuführt, sondern uns nur nach dem Maße der an sie gebrachten geistigen Kraft zu fördern vermag, daß sie nicht ursprünglich begründet, sondern nur schon Begonnenes weiterführt, so ist bei der Größe und Schwierigkeit der Sache jene Förderung gar nicht hoch genug anzuschlagen. Im besonderen hebt sich in jener Bewegung die Religion immer weiter über das bloßmenschliche Dasein hinaus, und entwickelt sie immer mehr selbständigen Geistesgehalt, läßt sie immer mehr das Sinnliche hinter sich, und verlegt sie die ihr notwendige Tatsächlichkeit immer mehr in das Geistesleben selbst. Was aber dabei die Zeiten errangen, das muß jeder Einzelne an seiner Stelle immer von neuem erringen.

Solchen Erwägungen möchte nur das Bedenken entgegentreten, ob das Individuelle der geschichtlichen Bildungen dabei zu seinem vollen Rechte gelangt, was zu allen Zeiten für die Wirkung auf die Menschen besonders fruchtbar war. Diese Wirksamkeit leugnen wir in keiner Weise, nichts gibt der Religion unmittelbarer eine Macht über die menschliche Seele als die anschauliche Vorhaltung einer individuellen Art, wie sie aus Persönlichkeit, Zeitlage, Umgebung hervorging. Damit erst wird die sonstige Jenseitigkeit und Schattenhaftigkeit der religiösen Bildungen überwunden, damit erst der ganze Mensch in Bewegung gebracht. Auf diesem Gebiet, das eine neue Welt uns zuführen möchte, ist die besondere Gestalt kein bloßes Beispiel, sondern ein lebendiger Taterweis, der mit seiner Verwebung von Sichtbarem und Unsichtbarem eindringlicher zu den Menschen spricht als alle Erwägungen allgemeiner Art. Hierdurch vornehmlich ward ganzen Zeiten eine fernliegende Epoche seelisch vertraut, vertrauter als die sinnliche Umgebung. So ward der Christenheit das ferne Land, welches das Leben, Wirken, Leiden des Erlösers trug, zur geistigen Heimat, und die Persönlichkeiten, die ihn umgaben, wurden zu Typen menschlicher Art, welche das Leben und Streben der Jahrtausende treu begleiteten. Durch enge Verknüpfung damit erhielt das eigne Leben ein verklärendes Licht und eine innere Erhöhung.

Müssen wir das alles aufgeben, weil eingreifende Wandlungen, weil namentlich eine neue Stellung zur Geschichte uns nicht mehr das alte naive Verhältnis zu jener Verkörperung gestatten, weil wir einen weiten Abstand zwischen uns und ihr nicht zu leugnen vermögen? Wir müßten es nur, wenn keine Scheidung möglich wäre zwischen dem geistigen Bilden, was jene Verkörperung durchdringt, und ihrer besonderen zeitgeschichtlichen Art; eine solche Scheidung aber ist uns vom Geistesleben aus sehr wohl möglich. Denn es zwingt uns, deutlich auseinanderzuhalten den Grundgehalt des Lebens und die besondere Entfaltung nach der Lage der Menschen und Zeiten. Diese kann uns, auch wenn wir uns von ihr entfernen müssen, wertvoll bleiben, weil sie mit besonderer Energie einen Geistesgehalt, ja einen Lebenstypus zum Ausdruck brachte; dieser Geistesgehalt macht uns auch die individuelle Verkörperung wertvoll und ehrwürdig, wir vermögen nun durch das hindurch, was uns trennt, das, was uns verbindet, zu sehen, nur darf dann nicht das Zeitgeschichtliche seinem unmittelbaren Befunde nach unser eignes Handeln beherrschen wollen, nur müssen wir in aller Anerkennung unsere Freiheit und das Recht der lebendigen Gegenwart wahren. Daß bei Scheidung eines Geistesgehalts von der menschlichen Darbietung wir zu früheren Zeiten bei voller Freiheit der Kritik ein positives Verhältnis finden können, das erfahren wir z. B. gegenüber dem alten Christentum. Nicht nur sein Weltbild, auch seine praktischen Ziele, auch die oft stürmische Art seines Fühlens ist uns innerlich ferngerückt. Aber zugleich vermögen wir uns in seinen Kampf für eine innere Erneuerung des Lebens, eine ethische Aufrüttelung des menschlichen Daseins, den Aufbau eines Gottesreiches bei den Menschen mit ganzer Seele zu versetzen und aus der belebenden, richtenden, erhöhenden Kraft, die davon ausgeht, immer neuen Gewinn für uns zu schöpfen. So kann überhaupt eine Religion des Geisteslebens keineswegs einer engen Verbindung mit der Geschichte entbehren, und sie braucht nicht auf sie zu verzichten. Wohl wird sie vielfach anderes in der Geschichte sehen müssen als die gewöhnliche, viel zu passive Art, sie wird mehr abstufen und scheiden müssen, aber eben damit gewährt sie die Möglichkeit, zugleich die Vergangenheit hochzuhalten, sowie Förderung aus ihr zu ziehen, und der Gegenwart eine Selbständigkeit ursprünglichen Lebens zu wahren.

γ. Das Seelenleben des Einzelnen.

So wenig die Religion aus dem bloßen Individuum hervorgeht, die Seele des Einzelnen bildet die Stätte, wo vornehmlich sie sich zu bewähren hat; weder Gedanken von Welt und Gott noch soziale Leistungen können Ersatz für das bringen, was hier an Unmittelbarkeit und an Innigkeit fehlt. Aber zugleich erheben sich hier besonders schwere Bedenken: ein religiöses Innenleben kann nur entstehen bei einem direkten Verkehr von Gott und Seele, nun dünkt aber einerseits das menschliche Wesen zu klein und nichtig, um in ein solches Verhältnis einzutreten, Gott aber als allumfassende Weltmacht zu überlegen und fern aller menschlichen Art, um sich dem Menschen in der Weise erschließen zu können, wie ein Mensch sich dem Menschen mitteilt. So meinte denn ein großer Denker wie ARISTOTELES, der Abstand von Gott und dem Menschen wäre zu groß, als daß Freundschaft zwischen ihnen stattfinden könnte, und durch die Jahrtausende ist dieser Einwand immer von neuem erhoben worden. Nun wäre die Kluft in Wahrheit unüberwindlich, wenn der Mensch nichts anderes bedeutete als ein Wesen neben vielen anderen, als ein Etwas, das die bloße Natur nirgends wesentlich überschreitet. Aber es ist die Grundüberzeugung aller Religion, daß er dies tut, und daß er kraft seiner Beziehung zu Gott ein Wesen eigner und überragender Art wird; die Religion des Geisteslebens vermag aber dieser Überzeugung einen festen Grund zu geben. Denn sie scheidet scharf zwischen dem, was beim Menschen der bloßen Natur angehört, und dem, was ihn als ein Glied eines selbständigen Geisteslebens zeigt; als solches vermag er eine geistige Energie zu werden, das Beisichselbstsein der Wirklichkeit unmittelbar als sein eignes Sein zu erleben und zu seiner Entfaltung mitzuwirken. So gewiß die Religion diese Neuschöpfung als ein Werk Gottes versteht, so gewiß muß sie ein inneres Verhältnis des Menschen zu Gott verfechten; es ist das hier dem Menschen nicht eine Nebensache, die zu seinem übrigen Wesen nur hinzukommt, sondern es wird in jenem Verhältnis ein echtes Wesen überhaupt erst gewonnen, der Lebensprozeß ist hier ein Streben und Ringen des Menschen nach einem wahrhaftigen Selbst; wenn wir das erst in der Einigung mit der Gottheit finden, so muß das darauf gerichtete Leben vollste Wärme und Innigkeit haben, ja so ist hier die Wurzel alles dessen, was bei uns sich davon entwickeln mag.

Ferner aber ist bei einer Fassung des Geisteslebens, wie wir sie vertreten, Gott nicht als bloße Intelligenz, auch nicht als bloße Kraft, sondern als weltbegründende und weltdurchdringende Tat, als Quell aller Aktivität zu verstehen; wir sahen, wie der Begriff der Persönlichkeit, wenn auch nur ein Symbol, so doch das beste Symbol dafür bietet; wir können nicht nur, wir müssen eine Verbindung dieser weltdurchdringenden Tat mit der zur Geistigkeit geweckten Menschenseele behaupten. Wir sahen, wie hier ein deutliches Bewußtsein von der Unzulänglichkeit aller begrifflichen Fassung die Kraft und Wahrheit des Erlebnisses in keiner Weise zu mindern braucht; so verhindert es auch nicht einen Wechselverkehr wie den eines Ich mit einem Du. Gerade daß der Mensch sich an erster Stelle nicht um dieses oder jenes Gut bemüht, sondern um ein geistiges Sein überhaupt, kann solchem Verkehr weit mehr Kraft und Tiefe verleihen, als wenn das natürliche Individuum bei der Religion Befriedigung für sein Glücksverlangen sucht. Auch steht hier außer Zweifel, daß so sehr der Mensch für sein Entstehen und Bestehen, für all sein Handeln und Wirken letzthin auf die Gottheit angewiesen ist, er auch zu eigner Entscheidung berufen wird, und daß die Gestaltung des Verhältnisses zur Gottheit auch mit an ihm hängt; da alles Verhältnis zweiseitiger Art ist, so kann, was der Mensch bei jenem tut oder unterläßt, keineswegs wertlos sein.

Wir kennen ganz wohl den schroffen Einspruch, den namentlich eine pantheistische Denkweise gegen solche Anerkennung eines religiösen Gemütslebens erhebt, als ein Hineinziehen Gottes in die Zeit und Menschlichkeit, als eine Durchbrechung des ehernen Kausalgefüges, das die Welt von Ewigkeit her umschließt. Wir aber meinen, daß dabei eine außerreligiöse Weltbetrachtung in höchst dogmatischer Weise auf die Religion übertragen und damit ihre Selbständigkeit grundsätzlich preisgegeben wird. Das ist der Religion wesentlich, und darauf muß sie unweigerlich bestehen, daß unsere Welt in ihrem Geistesgehalt noch mitten im Flusse ist, daß folgenreiche Entscheidungen in ihr zu treffen und Wandlungen in ihr zu vollziehen sind; wie sich das mit anderen Durchblicken der Wirklichkeit verträgt, das ist eine Frage für sich, auf das Recht eines selbständigen Durchblicks kann die Religion aber nun und nimmer verzichten; nur wer in ihr keine Uroffenbarung des Geisteslebens sieht, kann ihr solchen Anspruch bestreiten.

So verfechten wir mit Entschiedenheit die Möglichkeit eines religiösen Gemütslebens gegen alle Ungunst der Zeit; wie es aber mit seiner Wirklichkeit steht, und wie diese sich näher gestaltet, das gehört nicht mehr in die Philosophie.

»Bis zum Wege und zur Fahrt geht die Lehre. Das Schauen aber ist Sache dessen, der sehen will« (PLOTIN).

4. Die religiöse Beleuchtung der Wirklichkeit.

Nach solchem raschen Blick auf die Gestaltung der Religion sei schließlich noch ihrer Wirkung auf das Gesamtbild der Wirklichkeit gedacht; nacheinander wollen wir hier das Geistesleben, die Welt, den Stand des Menschen betrachten. – Die Religion führt über den allgemeinen Gedanken des Idealismus insofern hinaus, als sie nicht bloß eine Überlegenheit des Geisteslebens verkündet, sondern ungeheuren Hemmungen gegenüber, welche dieses Leben in unserem Bereiche erfährt, eine neue Erschließung bringt und inmitten aller Hemmung aufrecht erhält; ihr entwickelt sich das Beisichselbstsein der Wirklichkeit mit seiner neuen Welt nicht ruhig und sicher aus dem gegebenen Dasein heraus, sondern es erfolgt nur durch ein Neueinsetzen des Lebens, ihr steht der Mensch nicht von vornherein schon im Element der Vernunft, sondern er bedarf ihrer Hilfe, um dahin versetzt zu werden. So dem vorgefundenen Leben ein neues entgegenhalten kann die Religion aber nicht, ohne dieses wie jenes in ein Ganzes zu fassen und eine Bewegung von Ganzem zu Ganzem hervorzurufen. Zugleich erweist sich das Leben seinem geistigen Charakter nach als keine blinde Tatsächlichkeit, der wir wollend oder nicht wollend angehören, sondern es wird uns zum Problem, es ruft uns zu eigner Beteiligung auf und fordert von uns eine durchgreifende Wendung. Damit entwirft die Religion gegenüber aller Verwicklung der Kultur und aller Mannigfaltigkeit ihrer Arbeit einfache Grundzüge des Lebens und hält uns allen eine gemeinsame Aufgabe vor. Solche Heraushebung einer schlichten Grundform des Lebens gibt vornehmlich der Religion das Vermögen, allen Menschen verständlich zu sein und zu allen mit gleicher Kraft zu wirken. Je komplizierter der Fortgang der Zeiten die Kultur zu gestalten pflegt, desto notwendiger wird eine derartige Gegenwirkung zur Vereinfachung und Konzentration; wer könnte leugnen, daß wir eben heute ein starkes Bedürfnis danach haben. Auch dem Ganzen der Kultur gegenüber hat hier die Religion ein besonderes Werk. Die Kultur kommt zu innerer Durchbildung und zu voller Beherrschung des Daseins nur, indem sie aus der Unbestimmtheit des allgemeinen Gedankens heraustritt, eine eigentümliche Richtung einschlägt, die Mannigfaltigkeit der Arbeit unter eine allumfassende Synthese stellt. Aber so notwendig solche Wendung zur Besonderheit ist, sie hat eine innere Grenze, sie genügt für die Dauer nicht dem Gesamtgehalt des Lebens, das immer von neuem aufquillt; auch die herrlichsten Kulturen erschöpfen sich und leben sich aus, immer wieder kommt die Menschheit an einen Punkt, wo sie ins Leere zu fallen droht und in Wahrheit darin verfallen würde, wenn ihr nicht eine größere Tiefe, ein ursprünglicher Quell des Lebens gegenwärtig bliebe, aus dem sie sich erfrischen und zu neuem Unternehmen stärken könnte. Eine solche Lebensquelle aber vertritt niemand mehr als die Religion.

So bringt die Religion in das Leben weit mehr Bewegung. Aber diese Bewegung ist nicht die Hast und Unruhe eines ziellosen Suchens, nicht ein Grübeln und Zweifeln menschlicher Reflexion. Denn sie wird erst hervorgerufen durch das Erscheinen einer neuen Tatsächlichkeit, durch die Eröffnung eines neuen Verhältnisses zum lebendigen Grunde aller Wirklichkeit. So trägt die Bewegung in sich ein festes Ziel und einen sicheren Halt; über der Sphäre des Suchens steht eine des Besitzens, aller Unsicherheit des menschlichen Strebens überlegen bleiben unwandelbare Pole des Lebens.

Wie das Verlangen nach einem neuen Leben aus der Erfahrung der Unzulänglichkeit des alten entspringt, so muß das Erscheinen jener die Empfindung solcher Unzulänglichkeit noch weiter steigern; das ist eine Hauptwirkung der Religion, die Kontraste des Lebens mit voller Kraft und Klarheit herauszustellen, alle Befriedigung beim unmittelbaren Dasein zu verleiden und unwiderstehlich daraus aufzurütteln. Indem die Religion den Menschen zwingt, nach den Maßen des neuen Lebens zu messen, läßt sie ihn die Unzulänglichkeit alles dessen, was das menschliche Dasein an Seele und Liebe bietet, mit gesteigerter Schärfe empfinden: die Rechtschaffenheit des bürgerlichen Lebens wird ihm zu einer Karikatur, wenn sie mehr als eine Vorstufe echter Vollendung sein will; unvergleichlich schwerer trifft ihn jetzt die Gleichgültigkeit der sichtbaren Ordnung gegen die geistigen Güter, die Flüchtigkeit und Scheinhaftigkeit aller menschlichen Liebe, die innere Verlassenheit des geistigen Lebens in einer undurchsichtigen Welt. Daher waren die leitenden Geister der Religion darüber einig, daß die Religion mit ihrer Steigerung der Maße und ihrer Vertiefung der Gefühle das Leid nicht kleiner, sondern größer macht. »Je christlicher einer ist, desto mehr ist er dem Übel, dem Leid, dem Tod unterworfen« (LUTHER).

Um so größer erscheint freilich auch, was die Religion gegenüber solchem nicht nur unzulänglichen, sondern unerträglichen Lebensstande bietet: die Erhebung zur selbständigen Geistigkeit mit ihren neuen Gehalten und Gütern, die Seligkeit eines Geborgenseins in unendlicher Liebe, der weltüberlegene Friede in der Einigung mit dem letzten Grunde.

Nun verschärft die Religion aber den Gegensatz von Göttlichem und Außergöttlichem nicht um mit ihm abzuschließen, mit größter Entschiedenheit muß sie verlangen, daß das Göttliche auch in unserem Kreise zur Herrschaft komme, allen Widerstand breche, seine Ziele ohne allen Abzug erreiche. So ist jener Kontrast nicht eine Sache ruhiger Kontemplation, er ruft auf zu eifrigstem Kampf. Die Religion ist die geschworene Gegnerin aller Versuche, durch ein bloßes Zurechtrücken und Umdeuten der Erscheinungen das Weltproblem lösen zu wollen, sie fordert eine Überwindung des Ungöttlichen und Widergöttlichen durch Tat und Arbeit, nicht durch Begriffe und Worte.

Aber zugleich läßt die Erfahrung keinen Zweifel daran, daß in unserem Bereich der Kampf keinen reinen Sieg ergibt. Hier wird der Widerstand keineswegs gänzlich überwunden und zu völligem Verschwinden gebracht, sondern er behauptet sich und bricht immer von neuem hervor, ja er saugt Nahrung selbst aus dem Guten und Göttlichen, indem der Mensch es in seinen Interessenkreis zieht und durch seine Leidenschaften entstellt, wie denn auch die Entwicklung der Religion in jenem Kreise überaus viel Unerquickliches, ja Widerwärtiges hervorgebracht hat. Nirgends mehr als hier findet sich das KANTsche Wort bestätigt: »Alles, auch das Erhabenste, verkleinert sich unter den Händen des Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden.«

Wenn aber die Religion den Widerstand nicht geringer, sondern eher größer macht, so kann es scheinen, als ob die ganze von ihr hervorgerufene Bewegung vergeblich und fruchtlos sei und der gewaltige Kampf zu keinem Ende führe. Aber das gilt doch lediglich für eine Ansicht von außen her. Denn die Grundüberzeugung der Religion geht dahin, daß in jenem Kampf das Innenleben selbst sich weiter und weiter entfaltet, daß es sich immer sicherer über den Bereich des Kampfes hinaushebt, sich immer fester bei sich selbst in ein Ganzes zusammenschließt und zugleich eines Zusammenhanges mit der überweltlichen Ordnung gewisser wird. Inmitten alles Widerstandes schreitet der innere Aufbau des Lebens fort, und verstärkt sich das freudige Bewußtsein eines unangreifbaren Besitzes. Die Welt des Kampfes bedeutet der Religion nicht die ganze Welt, sie hält ihr ein Reich des Friedens und der Vollendung entgegen, und sie kann von einem weiteren Lebensganzen aus selbst dem Kampf und der Unfertigkeit unseres Daseins irgendwelchen Sinn abgewinnen. Mag die Bewegung bei uns nicht zu einem reinen Abschluß führen, und mögen wir durch tausend Fäden einer Welt verkettet bleiben, welcher der letzte Grund unseres Lebens sich überlegen fühlt, gewonnen wird eine Vertiefung des Lebensprozesses, eine Herausarbeitung aller Probleme, die in ihm liegen, eine fortschreitende Erhöhung der Ziele. Alles zusammen läßt freilich unser Leben nicht nur als höchst unfertig erscheinen, sondern in seinem Fortgang immer unfertiger werden, wie z. B. auch die geschichtliche Betrachtung kaum einen größeren Unterschied zwischen Altertum und Neuzeit aufweist, als den, daß jenes bei den wichtigsten Fragen sich dem Abschluß nahe glaubte, während uns die Ziele immer weiter zurückgewichen sind. Aber ist solche Steigerung der Probleme nicht unmittelbar ein Wachstum des Lebens? Und ist es denn ausgemacht, daß die Welt unserer menschlichen Erfahrung ein fertiges Ganzes bildet und sich selber vollauf erklärt? Könnte nicht gerade das der Sinn dieser unserer Welt sein, daß die Probleme erst deutlich herausgearbeitet werden, daß die Kräfte sich bereit machen und gegeneinanderstellen, daß die Gegensätze volle Klarheit erlangen? Damit würde unser Leben keineswegs eine bloße Vertröstung auf ein anderes und besseres, kein müssiges Harren und Hoffen auf ein Jenseits, denn auch jetzt ist das Göttliche gegenwärtig, und schon jetzt stehen wir mitten in der Bewegung. Aber es würde dann allerdings mehr Beginn als Vollendung, es gliche dem ersten Akt, der Exposition eines Dramas, dessen weiterer Verlauf sich für uns in tiefes Dunkel verliert, über dessen letzten Abschluß aber die Religion nicht den mindesten Zweifel hegt. Mögen wir daher in unserem Bereich nie an ein Ende kommen, es ist darum nicht verloren, was wir hier tun. So meinte es auch LUTHER, wenn er sagte: »Wir sinds noch nicht, wir werdens aber; es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gange und Schwange; es ist nicht das Ende, sondern der Weg; es glühet und glänzet nicht alles, es feget sich aber alles.« Durchsichtig macht daher die Religion den Lebensprozeß keineswegs, wohl aber steigert sie seinen Gehalt und seine Tiefe.

Dies von der Religion eröffnete Bild des Lebens ist aber von stärkstem Einfluß auf die Fassung unserer Stellung zum All und im All. Denn das bringt ja die Begründung der Religion auf das Geistesleben, dies Beisichselbstsein der Wirklichkeit, mit sich, daß das von ihr entwickelte Leben nicht einen Sonderkreis neben der übrigen Wirklichkeit bildet, sondern ihre eigne Tiefe bedeutet. So ergeben die Erfahrungen der Religion wesentliche Richtlinien auch für das Ganze der Weltanschauung. Gewiß darf nicht die Religion das ganze Weltbild von sich aus entwickeln und unter ihre Art der Betrachtung stellen wollen, denn auch die anderen Lebensgebiete, wie z. B. Kunst und Wissenschaft, enthalten eigentümliche Urerfahrungen, die der Religion gegenüber eine Selbständigkeit besitzen und nur innerhalb des Ganzen des Geisteslebens sich mit ihr verständigen können. Aber wie die Religion sich mit den Grundbedingungen des geistigen Lebens befaßt, so werden ihre Erfahrungen von besonderer Bedeutung für das Grundgefüge des Ganzen sein. Es seien hier namentlich folgende Punkte hervorgehoben. Die Religion beginnt von einer Tatsächlichkeit, die sich schlechterdings nicht weiter ableiten läßt, deren Selbständigkeit und Ursprünglichkeit jeder Versuch der Ableitung zerstören müßte. Schon darin liegt eine Abweisung aller Versuche, durch freischwebende Konstruktion, Deduktion usw. den Befund der Wirklichkeit zu erzeugen. Insofern weist die Religion nach der Richtung eines Positivismus. Aber die Tatsächlichkeit, die sie vertritt, ist nicht ein draußen befindlicher Vorgang, der erst durch seine Wirkungen uns berührt, in seinem Wesen aber stets verschlossen bleibt, sondern es ist die Tatsächlichkeit eines Beisichselbstseins, in die wir uns versetzen und die wir zu unserem eignen Leben machen können, die sich daher uns voll zu erschließen vermag. So erhalten wir einen Positivismus nicht naturalistischer, sondern spiritualistischer Art, einen Positivismus, der hoffen darf, die Tiefe der Wirklichkeit zu erreichen, nicht bei bloßen Beziehungen der Dinge stehen zu bleiben. Demnach muß die Religion das Vertrauen des Menschen auf sein geistiges Vermögen, seinen Mut zur Wahrheit verstärken. Denn das weltentwickelnde und wirklichkeitbildende Geistesleben ist nicht die Erscheinung einer dahinter befindlichen Tiefe, sondern es ist die Tiefe selbst, es ist ursprüngliches, in sich selbst gegründetes Leben. Darin liegt eine Abweisung alles Phänomenalismus, alles Abschließens bei einer bloßen Erscheinungswelt.

Weiter aber bringt erst die Religion voll zum Bewußtsein den ungeheuren Widerstand, den die Entwicklung der geistigen und göttlichen Welt in der Welt unserer Erfahrung findet; erklären kann sie diesen Widerstand nicht, alle Versuche der Erklärung haben ihn nur an eine andere Stelle und weiter zurück verlegt. Damit enthüllt die Religion einen gewaltigen Riß, eine schroffe Diskontinuität in unserm Dasein, sie macht es unmöglich, dieses als ein einziges fortlaufendes Gewebe zu verstehen und den ganzen Befund der Erfahrung in rationale Gleichungen aufzulösen. Die Positivität, die daraus hervorgeht, ist anderer Art als die, welche in der Unableitbarkeit der weltbegründenden Tatsächlichkeit liegt. Denn diese läßt sich durchleuchten und in eignes Leben verwandeln; solches aber ist unmöglich bei jener Positivität des Widerstandes; so bleibt ein tiefes Dunkel im Weltbestande unaufgehellt. Aber diesem Dunkel bleibt jene Grundtatsache überlegen, und zugleich bleibt es das Licht, welches von dieser ausgeht. So kann, ja muß die Religion die Grundüberzeugung vertreten und gegenüber allen Zweifeln verfechten, daß wir keineswegs letzthin einer fremden und undurchsichtigen Welt angehören, sondern daß die Tiefe unseres Wesens uns eine Verbindung mit den letzten Gründen gewinnen läßt und uns in das Element voller Wahrheit versetzt. Das besagt eine Abweisung alles Agnostizismus und Relativismus; wie die Religion selbst zusammenbrechen würde, wäre sie nicht überzeugt, letzte Wahrheit zu bringen, so kann sie auch dem Menschen inmitten aller Unsicherheit eine freudige Zuversicht gewähren. Zugleich aber wird sie vor Augen stellen, daß solche Zuversicht nur im Aufklimmen zur Höhe unseres Wesens gewonnen wird, und daß sie immerfort einen harten Kampf mit dem nächsten Eindruck zu führen hat.

Für die nähere Beschaffenheit der Wirklichkeit liefert aber die Religion nicht sowohl bestimmte Lehren als gewisse Grundüberzeugungen, gewisse Hauptrichtungen, welche die Deutung zu verfolgen hat; das Ja, was sie mit ihrer Verfechtung eines sowohl weltüberlegenen als weltdurchdringenden Lebens, eines tätigen Beisichselbstseins der Wirklichkeit, verkündet, trägt entschiedene Verneinungen in sich. Die Religion widersteht dem Naturalismus, der alles Geistesleben zu einem Erzeugnis oder einer Begleiterscheinung der sinnlichen Welt herabsetzt, sie widersteht einem Pantheismus, der alle Widersprüche der Welt durch eine bloße Veränderung der Betrachtung glaubt in eine umfassende Harmonie verwandeln zu können, sie wirkt entgegen einer pessimistischen Verzweiflung, die den Widerständen gegenüber keine Wehr besitzt. Die der Religion eigentümliche Denkweise muß nachdrücklich dahin wirken, die Welt als ein noch in Fluß befindliches Ganzes zu fassen, als einen Schauplatz von Kampf und Entscheidung; auch verficht sie eine Erhöhungsfähigkeit der vorhandenen Kräfte, die Möglichkeit eines Erscheinens ursprünglichen Lebens. Wie der Begriff eines ursprünglichen Schaffens der Religion durchaus unentbehrlich ist, so wird sie durch den ganzen Umfang der Wirklichkeit zur Anerkennung und Verstärkung jenes Begriffes wirken. Da zugleich, wie wir sahen, die Religion unseren Daseinskreis nicht als das Ganze der Wirklichkeit betrachtet, sondern ihn als ein Glied eines umfassenderen Ganzen versteht, so wird sie überhaupt einer dogmatischen Abschließung dieses Weltkreises widerstehen und durchgängig alles fördern, was wie das Leben so das Denken ins Weite, Freie, Ursprüngliche hebt.

Die Wirkung der Religion auf den Menschen und die Menschheit hat uns durch den Gesamtverlauf der Untersuchung so unablässig beschäftigt, daß sie hier keiner weiteren Darstellung bedarf. So sei hier nur noch dies eine bemerkt, daß die Religion dazu wirken kann und muß, die Menschheit über den Gegensatz einer Richtung auf die Welt und einer auf die menschliche Gesellschaft hinauszuheben und damit zugleich den Gegensatz einer einseitig theoretischen und einer einseitig praktischen Lebensführung zu überwinden. Die Geschichte zeigt viel Hin- und Herbewegung von der einen Art zur anderen, und auch die verschiedenen Völker gehen nach ihrer Natur und ihren Erfahrungen hier weit auseinander. Zum Weltall flüchtete sich der Mensch, um gegenüber der Kleinheit und den Schwankungen des Alltags seinem Leben Größe und Festigkeit zu gewinnen, es an überlegene und unwandelbare Pole zu ketten. Bald aber machte sich demgegenüber sein Unvermögen geltend, in das Innere der Welt einzudringen und ihr eignes Leben mitzuerleben, das Streben kam über allgemeine Begriffe und Formen nicht hinaus, und die Empfindung der Leere und Kälte dieser trieb zum menschlichen Kreise zurück, der mehr Nähe und Wärme gewährte und der Arbeit fruchtbarere Anhaltspunkte gab. Aber je mehr die Beschränkung auf diesen Kreis durchgeführt wurde, desto mehr verlor das menschliche Leben als Ganzes große Zusammenhänge, desto mehr verschwand alles Vermögen einer inneren Erhöhung des Menschen, sowie einer Gegenwirkung gegen die kleinmenschliche Art, immer ausschließlicher beherrschte diese alles menschliche Leben und Streben. Und der bloße Mensch, sowie die Beschränkung auf sein Wohlsein, sei es der Individuen, sei es der Massen, wird schließlich dem Menschen selbst zu einer unerträglichen Enge, diese droht seinem Leben inmitten ungeheurer Geschäftigkeit allen Sinn und Wert zu rauben.

Diesem Dilemma nun einer bloßkosmischen und einer bloßsozialen Lebensführung entgegenzuwirken, ist vornehmlich die Religion berufen, indem sie im Menschen selbst, als einem Träger der Geisteswelt, die Gegenwart eines Alllebens erkennt, das Allleben selbst aber zugleich wärmer und seelisch näher faßt. Gewiß verschwindet damit jener Gegensatz nicht einfach, aber wir sind ihm nun nicht mehr gänzlich verfallen, es ist ein Standort gefunden, wo das Leben ihm überlegen ist, und von wo aus sich ihm entgegenwirken läßt. Das aber war ja überhaupt dem Wirken der Religion eigentümlich, daß es nicht die verschiedenen Gegensätze einfach aufhebt, daß es aber über sie hinaushebt und damit das Ganze des Lebens unvergleichlich bewegter und tiefer macht.

5. Glaube und Zweifel. Die Verneinung der Religion.

Es sind nicht nur einzelne Sätze, es ist eine eingewurzelte Denkart, gegen welche die Religion ihr Recht zu erhärten hat. Wir meinen jene zunächst naive, dann aber durch eine einseitig intellektuelle Stellung zur Welt weiter befestigte Denkart, daß die Wahrheit unabhängig vom Leben zu ermitteln und dann erst ihm zuzuführen sei. Das trifft nur zu für das Verhältnis zu einer außer uns befindlichen Welt; gilt uns in Wahrheit die ganze Wirklichkeit nur als eine Außenwelt, so ist der Religion das Urteil gesprochen. Aber es ist nicht bloß die Religion, es ist alles zum Ganzen strebende Geistesleben, welches ein inneres Verhältnis zu den Dingen fordert; damit aber tritt das Ganze des Lebens voran, und es wird sich hier auch die nähere Art des Denkens, seine Richtung und seine Gestaltung, nach der Beschaffenheit dieses Lebens bestimmen. Wenn daher die Religion einen eigentümlichen Begriff des Glaubens einführt, so geht dieser Glaube in erster Linie auf ein charakteristisches Leben, auf ein Leben in dem besonderen geistigen Sinn, das eine Wirklichkeit in sich trägt und aus sich entwickelt. Die Religion ist nicht eine Mitteilung überweltlicher Geheimnisse, sondern die Eröffnung eines überweltlichen Lebens; die Anerkennung und Aneignung dieses Lebens ist es, womit der Glaube zu tun hat, eine Aneignung, die ein Zusammenfassen und Aufklimmen des eignen Wesens, ein Vordringen und ein Gehobenwerden in sich trägt. Das neue Leben bringt notwendig ein neues Bild der Wirklichkeit mit sich, aber auf dieses geht der Glaube nur durch das Leben hindurch; erst bei Verdunklung dieses Zusammenhanges bis zur Ablösung davon wird der Glaube eine bloße Behauptung von jenseitigen Dingen und unterliegt dann unvermeidlich der Kritik des Wissens, während er als Lebensmacht dem Wissen vorangeht und es von sich aus erst möglich macht. Es ist aber ein solcher Glaube nicht nur ergreifender und vordringender, sondern auch festhaltender und abwehrender Art. Denn einmal gilt es eine fortlaufende Entscheidung für das neue Leben, seine Aneignung im Ganzen, sodann aber seine Behauptung gegen eine andersartige, feindliche oder gleichgültige Welt, die Aufrechthaltung des unsichtbaren Tatbestandes gegen den harten Widerspruch des sichtbaren Daseins, des Grundgedankens gegenüber aller Unmöglichkeit einer näheren Durchführung.

Trägt der Glaube in sich so viel Bewegung und Kampf, so ist es nicht zu verwundern, wenn die Sache nicht glatt verläuft, wenn Hemmungen und Stockungen eintreten, wenn sich dem Glauben der Zweifel gegenüberstellt und die Seele in peinlichen Zwiespalt versetzt. Der Zweifel erscheint in diesen Zusammenhängen nicht als etwas Ungeheuerliches und Entsetzliches, wie er da erscheinen mochte, wo ein geschlossener Gedankenkreis als eine göttliche Offenbarung an den Menschen kam und seine Zustimmung wie eine schuldige Pflicht verlangte. Denn wo es ein neues Leben zu erfassen und eine innere Umwandlung zu vollziehen gilt, da bedarf es eines eignen Erfahrens und Prüfens; keine Prüfung aber ist echt, bei der das Endergebnis von vornherein feststeht und nicht auch die Möglichkeit des Gegenteils ernstlich in Frage kommt. Die entgegenstehende Möglichkeit muß ausgedacht und durchgelebt werden, wenn das Ja volle Kraft und Wahrhaftigkeit erlangen soll. So wird der Zweifel ein notwendiger, wenn auch unbequemer Begleiter der Religion, er ist unentbehrlich für die Erhaltung ihrer vollen Frische und Ursprünglichkeit, für die Befreiung von den konventionellen Formen und Phrasen, die den gewaltigen Strom der religiösen Bewegung in geordnete Bahnen leiten möchten, ihn aber leicht zum Versanden bringen.

Eine Bestätigung dessen liefert die Geschichte der Religionen. Denn sie zeigt als gegen allen Zweifel gefeit und zu pharisäischem Herabsehen auf ihn geneigt nur eine gewisse Mittelhöhe des religiösen Lebens; ihr mochte zur Befestigung des eignen Glaubens die strenge Niederhaltung alles Zweifels oder auch nur Fragens notwendig dünken. Manchen schaffenden Geistern dagegen (denken wir nur an AUGUSTIN und an LUTHER) hat der Zweifel recht viel zu schaffen gemacht. Das nicht, weil bei ihnen der Trieb zur Religion minder stark war, sondern weil sie aus größerer Stärke dieses Triebes die Unzulänglichkeit aller Stützen durchschauten, die dem Durchschnitt das Gefühl der Sicherheit geben, weil sie etwas wahrhaft Sicheres, unmittelbar Gegenwärtiges, aller menschlichen Irrung Entzogenes verlangten, um darauf das Leben zu stellen und damit dem Tode zu trotzen. Nur bei solcher Fassung des Zieles konnten sie Führer anderer werden, seine Erreichung aber forderte unsägliche Mühe und Arbeit, forderte eine furchtlose Auseinandersetzung mit aller Macht des Zweifels. Und selbst damit wurde keine völlige Ruhe gewonnen. Denn was im tiefsten Kern des Lebens felsenfest gesichert war, das erfuhr von der umgebenden Welt her immer neue Anfechtungen, die auch die Seele nicht unberührt ließen; so bildete jene Gewißheit keinen trägen Besitz, sondern sie war immer neu zu erkämpfen, immer neuem Zweifel abzuringen. »Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben«, das ist der beste Ausdruck der seelischen Lage, die sich bei solchen Kämpfen zu finden pflegt.

Dem gefährdeten Glauben mit greifbaren Wundern und Zeichen zur Hilfe zu kommen, das war ein naheliegender und dem naiven Empfinden genehmer Gedanke. Aber bei näherer Erwägung muß schon die Wahrnehmung bedenklich machen, daß diese äußeren Wunder auf der Höhe des religiösen Schaffens weit zurückgetreten sind vor dem inneren Wunder der geistigen Erneuerung, vor der unmittelbaren Gegenwart einer göttlichen Welt. Mit großem Nachdruck haben die Religionsstifter selbst das Verlangen nach jenen sinnfälligen Zeichen abgewiesen. »Gehet hin und verbergt eure guten Werke und bekennet vor den Leuten die Sünden, die ihr begangen, das ist das wahre Wunder«, so meinte BUDDHA; MUHAMMED wollte keine Wunder tun und berief sich auf die großen Werke Gottes in der Natur und in der menschlichen Seele als die wahren Zeichen und Wunder für die, welche wissen, was glauben heißt. Und wie harten Tadel hat JESUS, mit dessen Lebenswerk die Vorstellung seiner Anhänger die Wunder am engsten verflochten hat, für die Sucht nach Wundern! »Die böse und ehebrecherische Art sucht ein Zeichen, und es wird ihr kein Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jonas.« Das aber heißt nichts anderes als das Zeichen geistiger Kraft, gotterfüllter Größe.

Wiederum ist es eine Mittelhöhe der Religion, der die Wunder unentbehrlich dünken, um dem Glauben die Gewißheit zu geben, die er hier von innen her nicht zu erlangen vermag; hier will man mit einem Thomas sehen und fühlen, bevor man glaubt. Große Krisen und Erschütterungen aber haben immer wieder ein Zurückgreifen auf das innere Wunder des Geistes gebracht. Kein äußeres Wunder und Zeichen hat die Reformation beglaubigt, und doch fand sie die Kraft, sich gegen eine große, in altem Besitz befindliche Welt durchzusetzen, das Leben zu erneuern, die religiöse Gewißheit zu verstärken. Und als SAVONAROLA in den schweren Tagen vor seinem gewaltsamen Ende, in die uns seine Aufzeichnungen einen ergreifenden Einblick gewähren, nach Gewißheit und Freudigkeit rang, worin hat er sie letzthin gefunden? Nicht bei äußeren Zeichen und Wundern, die ihm doch Überlieferung und Umgebung nahe genug legten, sondern in der inneren Gegenwart eines lebenerhöhenden göttlichen Geistes, der Besseres aus dem Menschen macht, und dessen Mitteilungen daher keine bloßen Einbildungen sein können.

Der Zweifel ist mehr ein unbequemer Begleiter als ein Gegner der Religion. Denn er bezeugt immer eine starke Erregung, ein Sorgen und Mühen um die Sache, er anerkennt das Problem, eben indem er die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit einer glatten Lösung empfinden läßt. Ganz anders die direkte und volle Verneinung der Religion, der Versuch, sie aus dem Leben ganz zu vertreiben. Auch dies kann niemandem als ungeheuerlich erscheinen, dem die Verwicklungen der Sache deutlich vor Augen stehen, der namentlich den weiten Abstand unserer Welt von dem durch die Religion geforderten Bilde vollauf ermißt. Schwere Bedenken erwachsen in Wahrheit und sollten nicht irgend abgeschwächt werden. Aber es fragt sich, ob sich nicht ihnen innerlich überlegen werden läßt, ob ihnen nicht neue Wirklichkeiten, ursprünglichere Tatsachen entgegentreten. Wir suchten das zu zeigen durch die Aufdeckung einer selbständigen Lebenstiefe, durch den Aufweis der unmittelbaren Zugehörigkeit des Menschen zu einem unendlichen und göttlichen Leben; wir getrauten uns von da den Kampf mit allem, was nach solcher Eröffnung ein Draußen, eine bloße Umgebung wird, aufzunehmen und zu bestehen. Dabei ist uns völlig bewußt, daß jenes Leben Behauptungen enthält, die keineswegs selbstverständlich sind, über die viel Unsicherheit und Zwist entstehen kann. Aber der Kampf ist nun weiter zurückverlegt, er geht nicht auf die Deutung einer gegebenen Wirklichkeit, sondern auf die Hervorbringung und den Inhalt der Wirklichkeit selbst, er ist nicht eine Sache des bloßen Intellekts, sondern des ganzen Menschen; Leben steht hier gegen Leben.

So gilt es vornehmlich, das Leben auf die Höhe wesenhafter, bei sich selbst befindlicher Geistigkeit zu erheben und damit das neue Gebiet, den neuen Raum, geistiger Erfahrung zu gewinnen, dann das Nein und das Ja miteinander zu erleben und in das rechte Verhältnis zu bringen, schließlich aber alles miteinander zu einem einzigen, allumfassenden Leben zu verbinden. Die Haupterweisung der Religion liegt immer im Ganzen des von ihr entwickelten Lebens; dieses Ganze muß den Gesamtumfang des Daseins an sich ziehen, dabei sondern und scheiden, zusammenfassen und erhöhen, die Dinge zu ihrer eignen Wahrheit führen, eine gewaltige Bewegung erzeugen, die durch ihren eignen Gehalt, ihr siegreiches Überlegenwerden ihr Recht erweist. Es wird dem Menschen in der Religion nicht eine Lehre zugeführt, die er anzunehmen und zu befolgen hätte, sondern ein Leben vorgehalten und nahegebracht, für das er berufen ist, das ihn allererst das rechte Grundverhältnis zur Wirklichkeit und die Tiefe seines eignen Wesens gewinnen läßt, das mit seiner Gestaltung auch das Bild der Wirklichkeit umgestaltet, indem es sie erweitert und vertieft. Die Erhöhung des Wirklichkeitsstandes, das innere Vordringen des Lebens in einer allem Vermögen des bloßen Subjekts überlegenen Weise, das Bauen und Schaffen, das ist der Hauptbeweis, den die Religion erbringen kann; daß sie mit ihrem Wollen und Schaffen nicht isoliert steht, sondern sich im Mittelpunkt des Geisteslebens befindet, daß sie das Ganze, nicht bloß einzelne Seiten, fördert und seiner eignen Wahrheit zuführt, das ist diesem Beweise wesentlich. Wie alles Ursprüngliche und Axiomatische ist dies Leben positiv darzutun nur durch seine eigne Entfaltung, nicht durch eine Ableitung von irgendwelchem anderen Punkte her, und trägt es seine wirksamste Überzeugungskraft in der Kraft und Klarheit jener Entfaltung, zugleich läßt es sich nie von außen her aufdrängen, sondern nur von innen anregen, es kann unmöglich überzeugen und gewinnen, wo diese Anregung keinerlei Entgegenkommen findet.

Indirekt aber läßt sich der Nachweis führen, daß ohne die Zusammenfassung und Erhöhung des Lebens, welche die Religion vertritt, alles unsicher und haltlos wird, was das Leben irgend an Gehalt besitzt; mit der Preisgebung der Religion beginnt eine Abbröckelung des Lebens, die weiter und weiter zurückgreift und schließlich seine letzten Grundlagen zerstört. Entfällt mit der Religion eine Überwindung der Unvernunft, so wird der Pessimismus zum unbestrittenen Herrn des Feldes. Als letzter Abschluß aber muß ein solcher starr, verbittert und unfruchtbar werden, das ganze Leben sieht sich von ihm mit Stagnation, ja mit Zerstörung bedroht; dem widersteht ein unabweisbarer Naturtrieb, ein zähes Hangen am Dasein, und erzwingt irgendwelche Milderung; man möchte das Leben irgendwie festhalten und kann das nicht, ohne die lichten Seiten des Daseins hervorzukehren, die dunklen zurückzustellen, man kann das nicht ohne eine Annäherung an den Optimismus, ohne einen Übergang zum Optimismus. So sehen wir in der eignen Zeit gegenüber einem unerträglich werdenden Pessimismus eine Bejahung des Lebens Boden gewinnen, nicht sowohl aus einer inneren Erhöhung des Lebens als aus einem Sichsträuben gegen die völlige Verneinung. Aber einen festen Halt gewährt solche Wendung nicht. Entweder verschließt sich diese sachlich wenig fundierte Lebensbejahung allen widerstreitenden Eindrücken der Erfahrung und sinkt dann rasch zur Flachheit und Unwahrheit, oder jene Eindrücke gewinnen die Oberhand und zerstören dann allen Lebenszusammenhang, vernichten alle selbständige Geistigkeit. So verliert das Leben seinen geistigen Charakter, und muß es auf allen Wesensgehalt verzichten, wenn es jenen inneren Fortgang der Bewegung und ihren Abschluß in der Religion verwirft. Deutlich erhellt damit, daß es sich bei dieser nicht um ein Sondergebiet, sondern um die Erhaltung des Ganzen handelt, und daß ihre Verneinung unvermeidlich eine innere Auflösung des gesamten Lebens mit sich bringt.

Zur Gefahr beim Menschen werden der Religion vornehmlich die täuschenden Mittelgebilde eines sog. »immanenten Idealismus«, indem sie ihm vorspiegeln, daß eine Vernunft der Wirklichkeit und ein Sinn des Lebens ihm ohne viel Mühe unmittelbar zufließt; diese Mittelgebilde entspringen einem Mangel an Lebensenergie und müssen ihn noch steigern, aber sie lassen mit ihren klingenden Phrasen ihn nicht zur Empfindung kommen und schädigen damit die Wahrheit des Lebens. Nicht nur für die Wissenschaft, auch für das Leben und die Religion gilt BACONs Wort, daß die Wahrheit eher aus dem Irrtum als aus der Verworrenheit entspringt. Der Atheist ist nicht der gefährlichste Feind der Religion.

Immerhin bleibt das Geistesleben, das in der Religion zur vollen Klarheit gelangt, in hartem Widerspruch zur Weltumgebung, und es steht eine Überwindung dieses Widerspruches nicht im Vermögen des Menschen. Dieser Widerspruch muß und wird das Denken wie das Gemüt immer von neuem erregen, er wird immer neuen Zweifel erzeugen. Die Entscheidung wird schließlich daran liegen, ob dem Menschen die Welt draußen oder das in ihm selbst aufquellende Leben die Hauptsache wird, ob er die Wirklichkeit vorwiegend von draußen oder von drinnen erlebt. Es ist ein Kampf um den beherrschenden Mittelpunkt des Lebens. Gelangt das Innenleben nicht zur Selbständigkeit, und wird es nicht als ein Ganzes geführt, so wird der Widerspruch der Weltumgebung unüberwindlich, und es muß der Mensch die Religion als eine Unmöglichkeit verwerfen; kommt es aber zu jener Selbständigkeit, und findet der Mensch im Geistesleben zugleich eine neue Welt und sein echtes Selbst, so können ihm auch die schwersten Bedenken die Gewißheit der Grundtatsache nicht im mindesten erschüttern; so bleibt diese Tatsache als die erste und begründende dem Widerspruch der gesamten Welt draußen weit überlegen, so muß der Weltanblick sich nach dieser Grundtatsache, nicht sie nach jenem richten. Gewiß verschwindet auch nach solcher Entscheidung der Widerspruch nicht ganz und gar, sondern wie die Seligkeit den Hintergrund des Leides, so wird die Gewißheit den des Zweifels haben und behalten. Aber der Widerspruch ist jetzt aus dem Zentrum des Lebens in die Peripherie gerückt, er kann daher nur von außen berühren, nicht von innen erschüttern, er wird nun die Gewißheit nicht sowohl schwächen als stärken, weil er das Leben zu steter Erneuerung aufruft und die Größe des Sieges erst recht zur Empfindung bringt.

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