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III. Der Widerspruch gegen die Religion.

Einleitung

Unsere Untersuchung hatte mit dem bisherigen Stande einen gewissen Abschluß erreicht; so gewiß wir mehr als bloße Naturwesen sind, so gewiß sich in der Kultur ein eigentümliches Reich des Geistes entfaltet, so sicher sind wir der Religion, wie immer es mit der Aneignung seitens des Einzelnen stehen mag. Denn auch die Wahrheit der anderen Lebensgebiete hängt nicht davon ab, wie weit sich der Einzelne ihrer bemächtigt: die Wissenschaft bleibt Wissenschaft, mag der Einzelne noch so wenig Drang zum Erkennen verspüren, die Kunst Kunst, mögen sich noch so viele zu ihr als Barbaren verhalten. Aber trotz solcher Überlegenheit der Religion über individuelle Lage und Laune können wir unmöglich jenen Abschluß als endgültig erachten. Dagegen erregt schon Bedenken, daß was sich uns bisher als Religion ergab, nirgends aus eigner Kraft eine geschichtliche Religion hervorgebracht hat und Überzeugung einer größeren Gemeinschaft ward; es mußte immer noch etwas anderes hinzukommen, um jenes zu leisten, was allererst der Religion eine volle Wirklichkeit gibt. Zum Aufsuchen dieses Weiteren drängt aber auch unsere eigne Erörterung. Wohl macht uns das Geistesleben der Grundtatsache der Religion gewiß, aber unser Augenmerk haftete zunächst ausschließlich an der positiven Leistung, an dem siegreichen Vordringen der Religion; der Widerstand, den sie zu überwinden hatte, verblieb im Hintergrund. Aber er kann dort nicht immer verbleiben, er muß zur Sprache kommen, er will als Ganzes erwogen und gewürdigt sein. Dabei mögen aber so schwere Hemmungen erscheinen, daß die Betrachtung vielleicht in eine neue Bahn getrieben und zu einer mehr charakteristischen Gestaltung der Religion geführt wird. Sehen wir, wie es damit steht.

Daß etwas Untergeistiges und Nichtgöttliches vorhanden ist, das gereicht der Religion noch nicht zum Anstoß und zur Erschütterung; ist es doch eben die Unvollkommenheit der Wirklichkeit, die zu ihr treibt. Auch das Böse kann sie nicht erklären – alle Erklärungsversuche des Bösen pflegen sich im Kreise zu bewegen –, wohl aber muß sie es überwinden, überwinden durch das Aufbringen und Durchsetzen der von ihr vertretenen göttlichen Welt. Auf einem solchen Vordringen aber muß sie allerdings bestehen. Je weniger die Religion eine Vernunft der nächsten Welt schon voraussetzt, desto nachdrücklicher muß sie ein Vernünftigwerden, eine fortschreitende Vergeistigung des Daseins durch die Kraft des in ihr wirksamen Göttlichen fordern. Nach den verschiedenen Stufen der Wirklichkeit würde sich das verschieden ausnehmen, immer aber müßte die höhere Stufe die niedere beherrschen und zu sich emporheben, das Geistesleben die Natur, die Substanz des Geistes die menschliche Daseinsform, alles, was innerhalb des Geisteslebens die Einheit und das Ganze vertritt, die Verzweigung und Besonderheit.

Das Bild aber, das wir danach erwarten und erwarten müssen, wird durch die Erfahrung nicht bestätigt. In unserem Kreise begegnet das neue Leben nicht nur einzelnen Hemmungen, sondern es stößt das Ganze seines Wirkens auf einen Widerstand, der unüberwindlich dünkt. Jenes Leben erlangt keine selbständige Existenz, sondern es bleibt an die Kräfte des Niederen gebunden; das Göttliche hebt das Ungöttliche nicht zu sich empor, sondern es wird zu diesem herabgezogen und zu einem Mittel für seine Zwecke erniedrigt. Solche Wehrlosigkeit gegenüber der Welt, deren Beherrschung ihm gebührt, solche Verkehrung seines Wirkens erschüttert notwendig den Glauben an seine Wahrheit. Wie verträgt sich solche Schwäche mit den Begriffen vom Göttlichen, wie kann ein gehemmtes, ein ohnmächtiges Leben göttlichen Ursprungs sein? Zum mindesten verfällt die Mitteilung des göttlichen Lebens an uns dem stärksten Zweifel. Was hilft uns ein solches Leben, wenn es uns nur als eine Kunde aus weiter Ferne zugeht und gegen die Widerstände unseres Daseins nicht durchzudringen vermag?

So scheint die von der Religion unternommene Wendung des Lebens, statt von der Verwicklung zu befreien, erst recht in sie hineinzuführen. Unleugbar ist mit der Religion eine Verschiebung gegen den Anfang erfolgt, ein neuer Ausgangspunkt gewonnen, irgendwelche Bewegung in Fluß gebracht. Aber wenn diese Bewegung nicht aufzukommen vermag, wenn sie Aussichten eröffnet und Wünsche erregt, ohne sie erfüllen zu können, so hat sie die Gesamtlage eher schlechter als besser gemacht. Die Idee eines selbständigen Geisteslebens hat neue Maße aufgebracht, die manches unzulänglich, ja unerträglich machen, was vorher keinen Anstoß erregte; namentlich die Durchschnittsverhältnisse und das Alltagsleben, die sonst neutral scheinen mochten, treten jetzt auf die Gegenseite und verstärken den Widerstand; die Hemmung wendet sich damit von außen nach innen, und aus der Schwäche des Geisteslebens wird eine innere Verwicklung, ein Zerwürfnis im eignen Bereiche. Eine so verworrene Lage versetzt die Betrachtung und Überzeugung in das peinlichste Dilemma. Für ein einfaches Nein ist zu viel an Vernunft vorhanden, denn eine Wendung ist immerhin erfolgt, und der Widerstand selbst mit seinem herben Schmerz bezeugt das Dasein einer Bewegung. Für ein Ja aber bietet sich viel zu wenig. So kann uns weder das eine noch das andere gewinnen. Und doch treibt die Notwendigkeit des Lebens zwingend zu einer Wahl. Wird dieser Knoten sich irgend entwirren lassen, wird sich wenigstens die Richtung ankündigen, in der wir zu suchen und zu wirken haben? Nicht begriffliche Erörterungen, nur weitere tatsächliche Erschließungen können darüber entscheiden; auf sie vornehmlich sei daher das Augenmerk gerichtet!

Zuvor aber ist das Gebiet der Hemmungen zu durchwandern und sein Eindruck zu offner Darlegung zu bringen; alle Verblümung und Abschwächung wäre ein Unrecht gegen die Wahrheit und eine Gefahr für den weiteren Fortgang. Offenbar ist unsere Untersuchung in eine neue Phase getreten. Zuvor erhob sich aus dem trüben Nebel der anfänglichen Lage die Sonne eines göttlichen Lebens und enthüllte inmitten aller Hemmnisse ein Reich überlegener Geistigkeit; freudig konnte die Betrachtung dies Reich sich ausbreiten und alle Lebensfülle sich aneignen sehen. Nun aber steigen von neuem schwere Nebel auf und verhüllen jenes Licht so sehr, daß es zu einem trüben und matten Scheine wird, geeigneter, uns den Abstand von der Wahrheit empfinden zu lassen als uns ihr näher zu führen.

Auch einem Drama gleicht unser Leben, dessen Handlung mühsam genug in Fluß gebracht ward. Aber eine neue Welt war durchgebrochen, und ihrem siegreichen Vordringen schien alles offen zu stehen. Nun aber beginnt ein Gegenspiel und greift so mächtig um sich, daß aller Gewinn gefährdet wird, ja sich in Verlust zu verwandeln droht. Ob die Sache in solcher Verwicklung endgültig stecken bleibt, ob nicht auch jene Welt weitere Kräfte aufzubieten und mit ihnen das Feld zu behaupten vermag, das muß als eine Möglichkeit offen bleiben, das mag als eine Hoffnung aufrechthalten. Einstweilen aber hat der advocatus diaboli das Wort und mag es unumwunden führen. Denn alles Abschwächen und Ausreden ist hier vom Übel. Für das Nähere der Darlegung aber sei nur an das Eine erinnert, daß hier nicht das menschliche Glück, sondern die Wirklichkeit echtgeistigen Lebens und die Gegenwart einer höheren Welt in unserem Kreise in Frage steht; das gibt der Sache einen ernsteren Anblick und der Frage einen weit größeren Nachdruck, als das bloße Glückproblem sie zu bewirken vermöchte.

a. Die Darlegung des Widerstandes.

1. Der Widerstand der Natur.

Das Geistesleben kann keine Selbständigkeit erlangen, ohne an die Natur eigentümliche Forderungen zu stellen. Die völlige Bindung des Seelenlebens an den Naturprozeß, welche die Erfahrung zeigt, erregte vor der Wendung zur Geistigkeit keinerlei Anstoß. Denn bis dahin war jenes Leben ein bloßes Mittel und Werkzeug zur Selbsterhaltung der Wesen, es wollte und konnte nichts im eignen Bereiche sein, es entwickelte keinen eigentümlichen Gehalt und erschloß keine neue Welt. Die geistige Stufe aber hat dies alles gebracht. So erzeugt die Wendung zu ihr notwendig das Verlangen, daß der Selbständigkeit im Wesen eine Selbständigkeit der Existenz gegenüber der bloßen Natur entspreche; die neuen Ziele, das unmittelbare Teilhaben am Ganzen einer unendlichen, ewigen, bei sich selbst befindlichen Welt, sie fordern angemessene Lebensformen. Ja eine Überlegenheit, eine Herrschaft über die Natur wird hier zu einem dringlichen Verlangen. Denn wenn in Wahrheit die Wendung zur Geistigkeit ein Durchdringen der Wirklichkeit zu ihrem eignen Wesen bedeutet, so muß das selbständig gewordene Geistesleben den ganzen Umkreis von sich aus beleuchten und auf sich beziehen, ihn als ein Mittel für seine Zwecke, eine Vorstufe für seine Höhe behandeln, es wird zum mindesten bei aller Berührung mit ihm die Führung verlangen. Solche Forderung geht nicht bloß nach außen, sondern auch nach innen. Wenn sich die Natur mit ihrem Nebeneinander und ihrem Mechanismus auch in die eigne Seele des Menschen erstreckt, so müßte demgegenüber das erwachte Geistesleben eine Selbständigkeit und eine Überlegenheit erweisen, mehr und mehr unser Handeln beherrschen und alles Streben sich unterwerfen.

Zeigt nun der Tatbestand der Erfahrung ein solches Überlegenwerden des Geisteslebens? Er zeigt das gerade Gegenteil. Die geistige Entwicklung des Menschen bleibt, wie das natürliche Seelenleben, dem Körper verknüpft und zugleich der Ordnung der Natur verhaftet; mit dem Körper wird und wächst, gedeiht und verfällt bei uns auch das geistige Leben. Daß der Körper ihm mehr ist als ein bloßes Werkzeug, das erweisen besonders augenscheinlich die sog. Geistes-, in Wahrheit Gehirnkrankheiten, welche die seelische Betätigung nicht nur aufs stärkste hemmen, sondern auch in verkehrte Bahnen treiben. Der Tod aber, mit seinem Auslöschen der ganzen Existenz, wird nun erst aus einer naturgemäßen Grenze zu einem schweren Übel. Denn das Geistesleben setzt auch innerhalb des Einzelwesens Ziele, welche diese kurze Spanne des Daseins weit überragen. Werke werden begonnen und Verhältnisse von Menschen zu Menschen knüpfen sich an, welche ein zwingendes Verlangen nach bleibender Dauer, enthalten; mit unsäglicher Mühe arbeitet der Mensch an seiner Bildung, erarbeitet er sich ein Persönlichsein und eine geistige Individualität, um rasch alles Ergebnis zerstört zu sehen. Demgegenüber erwachte ein glühender Wunsch, solche Schranke zu sprengen und irgendwie an der Ewigkeit teilzugewinnen; namentlich der Religion ward zu einem Hauptstück die Verheißung einer individuellen Unsterblichkeit. Aber nicht nur gewährt die Erfahrung dafür nicht den mindesten Anhalt, einer Bejahung widersteht auch das, daß was einerseits unentbehrlich dünkt, andererseits überflüssig scheint. Denn wie oft erlischt alle geistige Regung schon innerhalb des Lebens, die Geistigkeit wird stumpf und matt, sie erstirbt fast noch bei Lebzeit des Menschen, Was soll einem solchen schon völlig Ausgelebten eine Unsterblichkeit? Wenn aber hier der Tod den natürlichen Abschluß bildet, kann es anders mit denen stehen, bei denen das geistige Feuer für das ganze Leben vorhält, ja in seinem Verlaufe immer kräftiger und heller wird? Fragen über Fragen, Rätsel über Rätseln! Das aber ist gewiß, daß für unseren Anblick der Naturprozeß unbekümmert um geistige Werte lediglich seinen Weg verfolgt; die glänzendste geistige Größe schützt nicht gegen frühe Zerstörung oder krankhaften Verfall, geistige Nullen dagegen sehen wir oft ein unfrohes, ja verhaßtes Dasein träge weiter und weiter schleppen.

Der Erfahrung der Individuen entspricht die Erfahrung der Völker und der Menschheit. Die Zwecke und Werte des Geisteslebens scheinen für das blinde Getriebe der Naturgewalten nicht vorhanden; diese kennen keinen Unterschied von gut und böse, von gerecht und ungerecht, von innerer Größe und Kleinheit. Erdbeben und Wasserfluten vernichten blühendes Geistesleben wie im Spiel; Pest und Hungersnot halten ihre Ernte unbekümmert um menschliches Wohl und geistige Werte. Nirgends weist die Natur über sich selbst hinaus auf eine höhere Ordnung, wie das die fromme Symbolik des Mittelalters in Pflanze und Tier zu entdecken glaubte; sie bildet ein geschlossenes, nur mit sich selbst befaßtes Reich. Wie eine rätselhafte Sphinx steht sie vor unseren Augen: unermüdlich Leben gebärend und Leben zerstörend, langsam bereitend, rasch vernichtend, fürsorglich und gleichgültig, wohlwollend und grausam zugleich, die Geschöpfe bald einander befreundend, bald zu unerbittlichem Kampf gegeneinander hetzend, zugleich schützende und zerstörende Waffen schmiedend, nach einem alten Ausdruck weniger eine Mutter als eine Stiefmutter ihrer Kinder. Ein unverwüstlicher Trieb zum Leben, aber in aller Erregung und Bewegung kein Beisichselbstsein, kein Fürsichleben, daher kein echter Ertrag, kein Sinn, keine Vernunft des Ganzen, ein leidenschaftliches Spiel um Nichts und abermals Nichts. Freilich nicht ohne alle Vernunft, denn es erfolgt ja alles Wirken der Natur in einfachen, unverbrüchlichen Grundformen und in strenger Verkettung des Geschehens, es erfolgt gesetzlich und kausal. Das ist eine Vernunft, gewiß, aber doch nur eine formale Vernunft, die gegen den Inhalt des Geschehens gleichgültig ist. Auch die schmerzlichste Zerstörung des Lebens, die Entstehung entsetzlicher Mißbildungen, die Vererbung schwerer Krankheiten erfolgt gemäß jenen Gesetzen und in kausaler Ordnung. Was ist das aber für eine Vernunft, die so ihr Vermögen sachlicher Unvernunft dienen läßt?

Solche Gleichgültigkeit der Natur gegen alle geistigen Zwecke und Güter wurde den Religionen unerträglich, so suchten sie eine Hilfe bei den Wundern als sonnenklaren Erweisungen der Herrschaft geistiger und göttlicher Kräfte über die Natur. Aber sicher begründen konnten sie diese Behauptung bei aller Mühe nicht. Die wissenschaftliche Begreifung der Natur wie die historische Kritik unterwühlten im Verein den Wunderglauben, bis die ersehnte Stütze zu einer Belastung des Glaubens wurde.

Könnten wir nur aller Unsicherheit der äußeren Lage ein gefestigtes Innenleben entgegenhalten! Aber der Mechanismus der Natur dringt auch in die Seele ein und legt alles Tun in eherne Bande. Wohl nimmt dieser Mechanismus uns nicht gänzlich ein, wie könnte sonst irgendwelches geistiges Leben entstehen? Aber auch nach der Wendung dahin unterliegt das unmittelbare Bewußtsein dem Mechanismus, die geistige Betätigung muß hier mühsam irgendwelchen Raum erringen, sie wird von jenem bald ganz zurückgedrängt, bald gewaltsam fortgerissen. Das geistige Leben sollte aus dem Ganzen hervorgehen und uns einer Unendlichkeit wie Ewigkeit vergewissern. Aber bei uns Menschen zersplittert es sich in lauter einzelne, unablässig wechselnde, aller Festlegung widerstrebende Bewußtseinserscheinungen. Wohl kämpft das Geistesleben gegen solche Hemmung, aber es dringt nicht durch, es bleibt in den Hintergrund gebannt, es sieht sich von der anschaulichen Welt wie ein Fremdling ausgeschlossen.

Auch bei den Triebkräften des Lebens vermag alles Durchbrechen der Geistigkeit nicht von der Natur zu befreien. Mögen die sinnlichen Triebe auf eine niedere Stufe verwiesen sein, sie behaupten sich mit solcher Stärke, daß auch die geistige Betätigung ihre Hilfe nicht scheint entbehren zu können. Wie matt bleibt alle solche Betätigung, wie matt alle Arbeit, wie matt alle Liebe, die nicht an einen Naturtrieb anknüpft und sein Vermögen an sich zieht! Auch die eigentümliche Gestaltung des Geisteslebens in den verschiedenen Kulturen scheint vor allem durch den Grad und die Art der natürlichen Lebensenergie bestimmt. Entscheidet nicht selbst über die Eigentümlichkeit der geschichtlichen Religionen vornehmlich dieses, ob die Völker zähe an der Bejahung des Lebens hangen und sie allen Hemmungen gegenüber durchsetzen, wie die Semiten, oder ob sie in weicherer Denkart zu entsagen und verzichten bereit sind, wie die Inder?

Das Naturleben untersteht dem Triebe der Selbsterhaltung, im Gebiet des Geistes wird dieser als Selbstsucht getadelt und verworfen. Aber werden wir ihn damit los, können wir ihn überhaupt entbehren? Da unsere Existenz sich unablässig einer fremden und gleichgültigen Welt zu erwehren hat, können, dürfen wir uns da der Sorge um die Selbsterhaltung entschlagen? Diese Sorge wächst aber und veredelt sich mit der Ausdehnung über ganze Völker und über das Ganze der menschlichen Gesellschaft; wie viel an den materiellen Gütern hängt, wie viel sie auch für die geistige Entwicklung bedeuten, das stellen uns die ökonomischen Bewegungen der Gegenwart mit voller Klarheit vor Augen. Wenn aber das Materielle uns so viel wird und uns so zwingend festhält, was wird aus der Erhebung in eine neue Welt, wie das Geistesleben, wie mit besonderer Stärke die Religion sie verlangt?

Der Gesamteindruck kann kein anderer sein als der, daß das Geistesleben auch bei der Erweckung zu voller Bewußtheit eine bloße Begleiterscheinung des Naturprozesses bleibt. In allem Hochflug kann sich das Streben der Abhängigkeit davon nicht entwinden, auf die Kräfte der Natur bleibt es angewiesen, in den Dienst der Natur wird es zurückgezogen. Diese Schranke wird zu einem unerträglichen Widerspruch, wenn innerhalb des Geisteslebens die Gegenwart der Gottheit erkannt ist. Wäre wirklich die Gottheit dabei im Spiel, so müßte sie wohl auch ihr Werk zu vollbringen vermögen; vermag sie das nicht, wie sollten wir sie als Gottheit verehren?

2. Der Widerstand der Kultur.

So rätselhaft die Ohnmacht des Geistes gegenüber der Natur ist, sie wäre zu ertragen, vermöchte der Mensch in seinem eignen Kreise ein Reich der Vernunft zu errichten und sich in ihm gegen allen Angriff zu verschanzen. In Wahrheit entsteht der Natur gegenüber ein eigentümlich menschlicher Lebenskreis: es ist die Kultur, in der sich der Mensch eine neue Welt bereitet, die Kultur, wie sie sich im Zusammenschluß der Individuen zu einem gesellschaftlichen Leben und in der Aufschichtung der Arbeit durch die Geschichte entwickelt. Daß diese menschliche Kultur die Geistigkeit nicht sowohl von sich aus hervorbringt als sie voraussetzt, das haben wir vorher gesehen. Aber sie müßte imstande sein, das begründende Geistesleben aufzunehmen, weiterzuführen und damit sich selbst zu einem Reiche des Geistes zu gestalten. Es war der Widerspruch, die Halbheit, die Unwahrheit des Durchschnittslebens, die mit der nächsten Lage brechen und eine neue Ordnung suchen hieß. Nun ist eine solche erkannt und als gegenwärtig anerkannt, nun müßte aus ihrer Kraft ein neues Leben sich gegen das alte siegreich erweisen, die unserem Dasein innewohnende Geistigkeit befreien und sammeln, aller Unvernunft kräftig widerstehen. Inmitten aller Unfertigkeit unserer Lage müßte die Eröffnung der göttlichen Macht die Überlegenheit des Guten fest besiegeln und die Bewegung der Geschichte in einen fortschreitenden Triumph des Geistes verwandeln.

So sollte es sich finden, in Wahrheit findet es sich anders: statt daß sich die Menschenkultur in den Dienst echter Geistigkeit stellt, macht sie sich zum selbständigen Herrn, behandelt ihr eignes Bestehen und Gedeihen als den höchsten aller Zwecke und kann dann nicht wohl anders als das geistige Leben zu einem bloßen Mittel herabwürdigen und es in dem Stande belassen, wo seine Dienste ihr ersprießlich scheinen. Das aber ist eine starke Verkehrung. Selbständig und selbstwertig zu sein, ist dem Geistesleben wesentlich, auf diesen Anspruch kann es unmöglich verzichten. Die Kultur aber, wie die Erfahrung sie zeigt, gewährt dem Geistesleben jenes nicht. In ihr erfolgt ein Zusammenschluß menschlichen Lebens, eine gegenseitige Verschränkung der Individuen, eine sichtbare Verbindung, die nebenbei sich der geistigen Aufgaben annimmt. In diese Verbindung treten die Individuen ein mit ihrem gegebenen Befunde, d. h. mit überwiegenden Naturtrieben und wenig geistiger Regung, mit viel Lust an sich selbst und wenig Liebe für andere. Nun bewirkt das Zusammensein eine gewisse Verbindung der geistigen Elemente, eine gewisse Summierung des Vermögens. Aber solche Verbindung erfolgt nur in den Leistungen und daher von außen her, auch ohne daß Echtes und Unechtes gehörig geschieden wird. Das vielfach verschlungene Gewebe von Beziehungen, das daraus entsteht, ist nicht schon ein inneres Ganzes; der Zug des Lebens geht dabei nicht von innen nach außen, sondern von außen nach innen; was immer an Geistigkeit aufkommt, bleibt eng verquickt mit bloßmenschlicher Art.

Das alles mag relativ schätzbar und uns Menschen unentbehrlich sein, innerlich hat es enge Schranken; wenn in ihrer Verkennung die gesellschaftliche Kultur sich zum allbeherrschenden Selbstzweck macht und diesen Anspruch auch gegen die zur Selbständigkeit geweckte Geistigkeit aufrecht hält, so werden schwere Verwicklungen unvermeidlich. Daß die gesellschaftliche Kultur nicht mehr ist als sie ist, das ist kein Nachteil und Tadel; wohl aber, daß sie mehr sein will, als sie nach Lage der Dinge sein kann. Nichts anderes aber ist es, wenn sie ihr Gemisch von Vernunft und Unvernunft als reine Vernunft gibt und ihrer menschlich bedingten Geistigkeit die Rechte absoluter Geistigkeit beilegt. Aus solcher Gesinnung sucht sie alle geistigen Größen von sich aus zu gestalten, allem Streben von sich aus sein Maß vorzuschreiben, alle Forderungen mit ihren Mitteln zu befriedigen, die Bewegung an dem Punkte festzulegen, bis wohin ihre Zwecke reichen. Daraus entsteht notwendig ein Gegensatz, ja ein Kampf menschlicher und echter Geistigkeit, ein Kampf, der um so zerstörender wirken muß, da er auch von gegnerischer Seite im Namen des Geistes geführt wird. Ein solcher Zwist liegt anschaulich vor, wenn der allgewaltige Staat oder die alleinseligmachende Kirche möglichst alles Geistesleben an sich reißt, er erstreckt sich aber über diese besonderen Gestaltungen hinaus durch das Ganze des menschlichen Zusammenseins. Überall besteht die Neigung, das menschliche Dasein nicht über sich selbst hinauszuheben, es zu befreien und umzuwandeln, sondern es in sich selbst zu bestärken und zu befriedigen, es damit aber in aller scheinbaren Erweiterung innerlich zu verengen. Utilitarismus und Relativismus, diese Zerstörer des Geisteslebens, werden unvermeidlich, wenn die geistigen Größen und Zusammenhänge vornehmlich als gesellschaftliche Einrichtungen gelten. Gut heißt dann, was der Gesellschaft nützt, wahr, was ihre Anerkennung findet, beides unter Preisgebung des echten Sinnes dieser Begriffe, aber ohne alle Empfindung dessen. So mannigfach ist die Verkehrung und so sehr entstellt sie das Leben, daß sie notwendig nach einigen Hauptrichtungen ein wenig verfolgt sein will.

Das menschliche Zusammensein entwickelt das Geistesleben immer nur in einer besonderen Richtung, zur kräftigen Ausprägung hier scheint es einer starken Einseitigkeit zu bedürfen. Dieses Besondere aber besteht hartnäckig darauf, das Ganze zu sein, und drängt alle übrige Betätigung zurück. Solche Verengung erzeugt im Lauf der Zeit notwendig einen Rückschlag, andere Ideale kommen auf, fordern und finden ihr Recht, um bald derselben Enge und Unduldsamkeit zu verfallen. So ein unablässiger Wechsel der Ideale, eine Bewegung im Zickzack, ohne daß die überlegene Einheit des Ganzen aus dem Hintergrunde hervortritt und die Führung an sich nimmt. Solchen Wechsel der Ideale sehen wir deutlich genug, die Erfahrung der Geschichte stellt ihn anschaulich allen vor Augen, und trotzdem behandelt immer von neuem die gesellschaftliche Kultur die jeweilige Richtung der Arbeit als die allein richtige, die allein mögliche, als den allerletzten Abschluß. In abstracto haben wir das deutlichste Bewußtsein der Relativität aller menschlichen und geschichtlichen Leistung, in concreto wächst uns immer wieder die eigne Zeit zum Träger absoluter Wahrheit. Vielleicht ist das unentbehrlich, damit genügend Gesinnung und Kraft für die Aufgabe der Zeit gewonnen werde.

Die gesellschaftliche Kultur muß die Leistungen voranstellen und nach den Leistungen messen. Das wäre kein Schade, wenn solche Schranke erkannt würde, und die andere Seite des Geschehens, die Innerlichkeit des Seelenlebens, zu ihrem Rechte käme. Das aber geschieht keineswegs, die gesellschaftliche Kultur schließt in die Leistung wie alles übrige so auch die Gesinnung mit ein. Wenn aber alles Leben die Richtung von der Gesinnung zur Leistung und Anerkennung nimmt, so muß alle selbständige Innerlichkeit verkümmern, so wird auch die Unabhängigkeit der Gesinnung arg gefährdet; findet der Mensch seinen Schwerpunkt nicht bei sich selbst, sondern in der sozialen Umgebung, so verliert das Leben die Kraft und Wahrhaftigkeit ursprünglichen Schaffens. Wer an erster Stelle nicht für sich, sondern für die anderen, nicht für die Sache, sondern für die Folgen wirkt, dem muß sich die Tiefe der Dinge verschließen. Vornehmlich aber wird hier der Schein leicht den echten Bestand überwuchern. Anderen gegenüber tut ja oft der Schein dieselben, ja bessere Dienste als die Wahrheit; so wird er bei mangelnder Gegenwirkung alles Leben umspinnen und die Seele selbst vergiften. Dieser Scheincharakter der gesellschaftlichen Kultur wurde namentlich da zu einer unerträglichen Not, wo die letzte Tiefe des Geisteslebens in Frage kommt, wie bei der Religion und der Moral; so war alles durchdringende Schaffen auf diesen Gebieten ein flammender Protest gegen die Scheinhaftigkeit nicht nur der besonderen gesellschaftlichen Lage, sondern gegen alle gesellschaftliche Behandlung solcher Dinge. Diese aber hat sich unbeirrt gegen alle Proteste behauptet.

Zugleich wird hier die Individualität zurückgestellt und unterdrückt. Indem die Gesellschaft am Menschen vornehmlich schätzt und pflegt, was in die gemeinsame Ordnung eingeht, wird das Eigentümliche, Unterscheidende, Auszeichnende geringgeachtet und eingeschränkt. Je ausschließlicher also die gesellschaftliche Lebensführung das Feld einnimmt, desto gleichförmiger und schablonenhafter wird das Dasein, desto mehr vergröbert die Arbeit sich innerlich. Auch muß die Gesellschaft ihren Einrichtungen einen Durchschnittscharakter geben, der der Unerschöpflichkeit der einzelnen Fälle wenig Genüge tut und mit der individuellen Art des besonderen Falles leicht schroff zusammenstößt. So namentlich im Recht ein unaufhörlicher Konflikt zwischen den allgemeinen Normen und der Eigentümlichkeit der einzelnen Sache. Wollen wir deshalb jene Normen verwerfen und damit das Leben völliger Zerstreuung und unsicherer Willkür überliefern?

Die Festlegung des Lebens auf einem Durchschnittsniveau ist besonders mißlich deswegen, weil jenes Niveau nach Lage der menschlichen Verhältnisse kein hohes sein kann, weil der Durchschnitt mit matter Regung und geringer Kraft rechnen und sich danach einrichten muß. Wenn er aber zugleich sich als den Inbegriff und das Maß aller Geistigkeit gibt, so muß alles Überragende, Große, Ursprüngliche als unnütz, überschwänglich und lästig erscheinen; alle selbständige Geistigkeit ist eine Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts, eine Anklage der Selbstgerechtigkeit der Gesellschaft. Dieser Gegensatz erzeugt nicht bloß an einzelnen Stellen schroffe Konflikte mit tragischem Ausgang, er durchdringt das ganze geschichtliche Leben, er verbleibt selbst in der äußeren Anerkennung des Großen, indem dabei jener Durchschnittsstand es möglichst zu sich herabzieht. Auch pflegte bei den wichtigsten Fragen die Anerkennung erst zu erfolgen, wenn das Große weit genug in die Ferne gerückt war, um nicht die eignen Kreise zu stören, ja als »klassisch« zur Waffe gegen das in der eignen Zeit aufstrebende Geistesleben zu dienen.

Sodann zeigt das Reich der Kultur denselben Mißstand, den schon die Natur schmerzlich empfinden ließ: die Spaltung von formaler und materialer Vernunft. Denn die Gesellschaft stellt alles Leben und Tun unter gemeinsame Formen und ist mit besonderem Eifer um die Innehaltung dieser Formen bemüht; die gesellschaftliche Kultur hat einen ausgesprochen formalen Charakter. Die Verwicklung ist insofern gegen die Natur noch gesteigert, als in der Gesellschaft die formale Vernunft zugleich als die Trägerin materialer Wahrheit auftritt und Anerkennung verlangt; ihre Entscheidungen wollen als abschließend gelten. Nun aber bietet auch die korrekteste Innehaltung aller Formen keine Gewähr einer materialen Wahrheit, da jene von irrenden und affektvollen Menschen gehandhabt werden. In allen Formen des Rechts wurden Sokrates und Jesus verurteilt, amtierten Inquisition und Hexenprozesse; alle gesellschaftliche Lebensführung steht in Gefahr, die materielle Wahrheit zu schädigen, indem sie das Streben bei der formalen festhält. Darum schätzten alle echten Freunde der Moral die Tugend und Gerechtigkeit des bürgerlichen Lebens so niedrig, darum gerieten so oft tiefreligiöse Gemüter in schroffen Zwist mit der Festlegung der Religion in Formeln, Dogmen und Riten, wie die gesellschaftliche Gestaltung der Religion sie unvermeidlich vollzieht. Je deutlicher im Geistesleben das Suchen eines wesenhaften Lebens, ein Aufstreben zur Wesensbildung erkannt ist, desto größer muß die Entstellung und Schädigung dünken.

So eine Fülle von Mißständen, ihnen allen gemeinsam eine innere Unwahrheit, ein Mehrseinwollen als man sein kann, die Erhebung einer höchst problematischen Halbvernunft zur absoluten Vernunft, eine Selbstvergötterung des menschlichen Kreises. Ein derartiger Lebensstand mußte immer von neuem eine Gegenbewegung erzeugen, er reizte zur Opposition nicht nur gegen einzelne Vorgänge und Formen, sondern gegen das Ganze der gesellschaftlichen Lebensführung. Wirkten in solchen Gegenbewegungen große geistige Erneuerungen, so konnten sie eine Erhöhung des Lebensstandes vollziehen. Waren jene aber, wie gewöhnlich, bloße Rückschläge, so hat aller leidenschaftliche Widerspruch im Grunde wenig genützt. Was sich der Gebundenheit an Freiheit entgegenwarf, verblieb bei einem gestaltlosen Wogen und Wallen; das Individuum mochte sich auf die Unmittelbarkeit seines Lebens berufen und in eigentümlichen Stimmungen schwelgen, die Substanz des Lebens gewann damit wenig; auch wenn in verwandter Richtung die Gegenwart alle Last der Geschichte abzuschütteln und das Leben allein aus eignen Mitteln zu bestreiten suchte, so ergab das wenig Frucht, es ergab im besonderen nicht die ersehnte Freiheit. Denn das Verlangen des Augenblicks selbst ist auch dann ein Erzeugnis der Geschichte und gebunden an die geschichtliche Lage, wenn es sich der nächsten Vergangenheit schroff entgegenstellt. Paradoxie ist nur eine andere, nur eine indirekte Art der Abhängigkeit. Wenn solche Opposition die Mängel der gesellschaftlichen Kultur zur Empfindung bringt, so sind sie damit noch nicht überwunden. Leicht gerät sie selbst mit ihrer Überspannung des Individuums und seiner Zufälligkeit in so starke Einseitigkeit und Irrung, daß die Wage sich demgegenüber wieder der gesellschaftlichen Kultur mit all ihren Mängeln zuneigen muß. So schwingt das Pendel der Bewegung unablässig von der einen Seite zur andern, immer von neuem treibt die eine Seite durch die eigne Überspannung die andere hervor, in den Leidenschaften dieses Kampfes verzehren sich die besten Kräfte, ohne daß für die Hauptsache etwas Rechtes gewonnen wird.

So ist die gesellschaftliche Kultur weit davon entfernt, die Verwirklichung eines Reiches des Geistes zu sein oder auch nur allmählich zu werden. Dafür liegen die Schäden zu tief. Aber jener Lebenskreis entsprang doch aus der Bewegung zum Geistesleben, und er kann solchen Ursprung nie ganz verleugnen; wie erklärt es sich nun, daß er sich bei sich selbst einspinnt und allem Weiterstreben zähen Widerstand leistet? Und wenn das Geistesleben, als Weltmacht gefaßt, schließlich auf die Gottheit zurückweist, so wird auch diese in den Zweifel hineingezogen. Will oder kann sie das begonnene Werk nicht vollenden? Aber warum begann sie es dann? Wiederum umfangen uns dunkle Rätsel! Alles Dunkel bei diesen Fragen treibt aber auf den Weg der Verneinung.

3. Der Widerstand im eignen Gebiet des Geisteslebens.

So schwer die bisherigen Verwicklungen waren, sie berührten noch nicht den tiefsten Grund des Geisteslebens. So viel Hemmungen es im menschlichen Kreise erfährt, eine gewisse Existenz und ein gewisses Wirken behauptet es auch hier; wie erklärte sich sonst der Kampf sowohl gegen die bloße Natur als gegen die bloße Gesellschaft, wie könnte ihrer beider Leistung als so unzulänglich befunden werden? Auch umfaßt und durchdringt solches überlegene Geistesleben nicht bloß wie eine unsichtbare Atmosphäre unser Dasein, es schließt sich in Kunst, Wissenschaft, Moral usw. zu großen Komplexen zusammen, die sowohl in ihrem eignen Gebiet eine Triebkraft entwickeln als darüber hinaus zum Ganzen des Lebens wirken. So besteht hier ohne Zweifel ein eigentümlicher Lebenskreis. Ist nun vielleicht dieser Kreis den Verwicklungen überlegen und befreit eine Erhebung in ihn von der Hemmung und Irrung, die sonst das menschliche Dasein belastet?

Das war in der Tat eine Meinung und Hoffnung alter und neuer Zeiten. Alle Störung wurde auf das Verhältnis zur Umgebung geschoben, der eigne Kreis des Geisteslebens dagegen schien der Entstellung entzogen, Geistigkeit und Vernunft galten als gleichbedeutende Größen. So brauchte der Mensch nur geistig tätig zu sein, um sein Leben in reine Vernunft zu stellen. Aller Kulturenthusiasmus und alle Aufklärung ist einig in der Überzeugung, daß die Entfaltung geistiger Kräfte auch die Sicherheit eines richtigen Gebrauches verbürge, daß jedenfalls etwaige Irrungen dabei sich leicht und rasch auflösen müßten.

In Einklang mit dem Gesamtverlauf der Untersuchung ergibt sich uns ein entgegengesetztes Bild: die Verwicklungen verschwinden keineswegs im eignen Gebiet des Geisteslebens, sondern sie erreichen hier erst ihre volle Höhe; die schwersten Hemmungen und Störungen sind nicht ungeistiger, sondern geistiger Art. Daß im Bereich des Menschen ein selbständiges Geistesleben ersichtlich wurde, bringt statt einer glatten Lösung vielmehr eine Verschärfung der Gegensätze, eine Steigerung der Konflikte. Ja wenn nunmehr die Störung den Grundbestand selbst zu ergreifen droht, wenn das Geistesleben als bei sich selbst gehemmt, mit sich selbst verfeindet, als ein Verderber und Zerstörer seiner eignen Zwecke erscheint, so muß der Zweifel bis zur letzten Tiefe dringen. Wie steht es um das Göttliche, das solche innere Zerstörung duldet? Oder sollen wir uns zu der Denkweise flüchten, die in dem merkwürdigen Wort zum Ausdruck kommt: Nemo contra Deum nisi Deus ipse?

α. Die Zersplitterung des Geisteslebens.

Das Geistesleben beginnt bei uns an einzelnen Punkten und bildet erst allmählich größere Zusammenhänge; der nächste Anblick zeigt es in eine Vielheit zerstreut. Die Anerkennung seiner Selbständigkeit verheißt darin einen völligen Umschwung. Denn damit gelangt die Einheit zur Herrschaft; so wenig sie jene Zerstreuung mit einem Schlage aufheben kann, so wird sie doch einen energischen Kampf dagegen beginnen und aus göttlicher Kraft in ihm siegreich vorwärtsdringen; mehr und mehr muß auch bei uns das Geistesleben in ein Ganzes zusammengehen und jedes besondere Gebiet mit dem Geist dieses Ganzen durchdringen. Das erwarten wir und das verlangen wir. Aber wiederum wird die Erwartung getäuscht, wieder erwächst aus der vermeintlichen Lösung eine nur noch größere Verwicklung.

Wohl entsteht und wirkt die Idee eines Gesamtlebens und erstreckt sich auch in die einzelnen Gebiete. Aber sie beugen sich ihr nicht, sondern sie suchen sie mit allen ihr zustehenden Rechten an sich zu ziehen und mit ihrer Hilfe eine Alleinherrschaft zu erringen. Bald ist es die Wissenschaft, bald die Kunst, bald die Moral, bald die geschichtliche Religion, bald die praktisch-soziale Betätigung, welche sich zum Mittelpunkt des Lebens aufwirft und alles Streben in ihre besondere Bahn lenken möchte. So entstehen grundverschiedene Lebenstypen, einander widerstreitende Bewegungen, eine Entzweiung der Geistigkeit bei sich selbst. Und zwar scheint dabei eine innere Notwendigkeit zu walten. Denn es scheint sich das Geistesleben bei uns in keiner besonderen Richtung deutlich gestalten und für kein hohes Ziel die nötige Kraft gewinnen zu können, ohne sich ausschließlich auf das eine zu wenden und von seiner Erreichung alles Heil zu erwarten. So gibt es bei uns keine hervorragende Leistung ohne eine starke Einseitigkeit und auch Ungerechtigkeit; alles Große wirkt tyrannisch und unterdrückend; seiner Glut und Leidenschaft gegenüber erscheint alles Streben nach gerechter Abwägung und gegenseitiger Einschränkung als eine minderwertige Mattheit. Das alles erfährt nun durch die Idee des göttlichen Lebens die beträchtlichste Steigerung, so müssen auch die Verwicklungen den bisherigen Stand noch überschreiten.

Die nächste Folge ist eine schroffe Entzweiung der verschiedenen Bewegungen, ein harter Zusammenstoß aller mit allen, die Verwandlung unseres Geisteslebens in einen unerbittlichen Kampf. Und diesem Kampf fehlt alle Hoffnung eines endgültigen Friedens. Denn da jede Partei ein unverlierbares Recht vertritt, so ist keine ganz zu vernichten, so trägt der Sieg der einen in seiner Überspannung schon die Wendung zu einer Niederlage in sich, so eröffnet sich der Ausblick auf ein unaufhörliches Auf- und Abwogen, Hin- und Herschwanken. Wenn aber immer von neuem das eine das andere verdrängt, immer von neuem die Ziele und die Überzeugungen umschlagen bis ins Gegenteil, wird dann das Ganze nicht ein bloßes Spiel von Lage und Laune? Der Gedanke einer allumfassenden und allbeherrschenden Wahrheit strebt auf, aber er scheint sich nicht gestalten zu können, ohne unter die Macht der besonderen Gestaltungen zu geraten, ihren Bestrebungen zur Alleinherrschaft zu dienen und damit die Spaltung zu verschärfen, die er überwinden wollte.

Jene Überhebung aber, in der Besonderheit das Ganze zu sein, werden die einzelnen Bewegungen auch bei sich selber büßen müssen, sie werden sie büßen durch eine Gestaltung, welche Wahres und Falsches, Geistiges und Menschliches, Freiheit und Natur miteinander vermengt und daher nirgends zu reiner Wahrheit gelangt. Denn nur vom Ganzen aus läßt sich die notwendige Scheidung vollziehen, nur bei Zusammenfassung des Lebens zu innerer Einheit kann eine Versetzung in völlige Freiheit und eigne Tat, eine Durchleuchtung und Durchgeistigung des gesamten Daseins erfolgen; nur von hier aus erhält jedes Gebiet bestimmte Grenzen, innerhalb derer es in seiner Weise das Ganze zu vertreten und weiterzubilden hat. Wenn dagegen die partikularen Gestaltungen in ihrer Ausschließlichkeit das Gute und Unentbehrliche mit Verkehrtem und Problematischem zusammenrinnen lassen, so verfällt das Leben dem peinlichsten Dilemma. Was es als Wahrheit nicht missen kann, das vermag es nicht der anhaftenden Irrung zu entwinden; will es aber die Irrung vertreiben, so verblaßt und entschwindet alsbald auch die Wahrheit. So muß es in Einem bejahen und verneinen, aneignen und verwerfen; überall verläuft Wahrheit in Irrung, weil der Teil das Ganze beherrschen will und ihm seine Art aufdrängt.

Das Gesamtleben bedarf zu seiner Befreiung und Durchbildung der Kunst, welche dem geistigen Gehalt Kraft und Freudigkeit gibt, indem sie ihn in das Element der Schönheit taucht, aber sobald sie mit der Entwicklung einer ästhetischen Lebensanschauung das Ganze beherrschen will, erzeugt sie eine weichliche, spielende, hypersensitive Lebensführung. Die Wissenschaft vollzieht eine durchgreifende Klärung und Befestigung, sie führt den Menschen zu einem Weltbewußtsein, einem Leben aus der Weite und Wahrheit der Dinge, aber allein herrschen wollen kann sie nicht, ohne mit ihrer bloßintellektuellen Kultur ein überspanntes Selbstbewußtsein der Denkarbeit zu erzeugen, die Lebensaufgaben zu bloßen Erkenntnisproblemen zu verdünnen, die Entfaltung einer selbständigen Innerlichkeit wie die frische Ergreifung des unmittelbaren Augenblicks zu gefährden. Aus der Moral quillt eine männliche Stärke und eine Befestigung des Gemütes hervor, aber eine spezifisch moralische Lebensführung pflegt hart, starr und eingebildet zu werden. Demgegenüber entwickelt die Religion mehr Weichheit und Innigkeit, aber das ausschließlich von ihr erfüllte Leben unterliegt leicht der Gefahr, von der Weltarbeit abzulenken und sich lediglich in die eigne Zuständlichkeit einzuspinnen, auch auf das mit dem Göttlichen befaßte Menschentum die Ansprüche zu übertragen, die allein dem Göttlichen selbst zukommen. Der Versenkung in die eigne Seele wirkt entgegen das praktisch-soziale Leben mit seiner Ausbildung der Berührungen zur Umgebung, seiner Betätigung der Kräfte im unmittelbaren Zusammensein; das wirkt zu größerer Sicherheit und Gewandtheit, zu frischem Lebensmut und freudigem Selbstvertrauen. Aber sobald dies das Einzige sein will, treibt es in eine flache Geschäftigkeit und seelenlose Veräußerlichung. – So führt jede Art ins Irre, sobald sie das Ganze sein will, und doch scheint sie von solchem Anspruch nicht lassen zu können, da er allein sie zur vollen Anspannung ihres Vermögens treibt.

Bei solchem Auseinandergehen erzeugt jede Lebensführung einen eigentümlichen Dünkel, der sie auf alle übrigen herabsehen läßt. Die ästhetische Denkweise fühlt sich überlegen in der Feinheit ihres Gefühles und der Vornehmheit ihres Geschmackes, die wissenschaftliche in der Weite ihres Blickes und der Klarheit ihrer Einsicht, die moralische in der Strenge ihrer Tugend, die religiöse in der Innerlichkeit ihres Seelenlebens und ihrer Angenehmheit vor Gott, die praktisch-soziale in der sicheren Beherrschung des unmittelbaren Daseins. Jede mißt nach ihren eignen Maßen, kein Wunder, daß sie in der eignen Meinung die anderen leicht besiegt. So zerfällt und verfeindet das Geistesleben sich aufs ärgste bei sich selbst, ein Zustand, der zugleich unvermeidlich und unerträglich scheint.

Wie aber soll die Substanz des Geisteslebens gewinnen, wenn jeder gegen den anderen, alle gegen alle streiten und in diesem Streite die beste Kraft vergeudet wird? Der Streit aber wird im Laufe der Geschichte eher stärker als schwächer werden. Denn bei allen Schwankungen im einzelnen wächst im großen und ganzen die Differenzierung, wächst die eigentümliche Durchbildung der einzelnen Gebiete. Namentlich macht hier die Neuzeit durch die Auflösung des mittelalterlichen Kultursystems einen bedeutenden Abschnitt, immer größer wird die Gefahr einseitiger Gestaltung, einer Zersplitterung des Geisteslebens, einer Verwandlung unseres Daseins in einen unversöhnlichen Kampf. Auch das wird immer klarer, daß die Verwicklung über allem Wollen und Vermögen der bloßen Individuen liegt; der Einzelne erscheint hier ganz und gar als ein Kind seiner Zeit; ihre Wogen spielen mit ihm und treiben ihn mit sich dahin, auch wo er eigner Entscheidung zu folgen glaubt.

Daß gegen solche Entzweiung ein geistiges Gesamtleben nicht durchzudringen vermag, das wird ein besonders arger Mißstand und ruft besonders viel Zweifel hervor, nachdem in jenem Leben das Wirken einer göttlichen Macht erkannt ist. Denn dann scheint das Göttliche selbst zu schwach, um der menschlichen Erniedrigung des Geisteslebens Herr zu werden, ja, was es an Anregungen gab, das scheint unter die Gewalt jener niederen Art zu geraten und damit ihre Eitelkeit und Anmaßung zu steigern. Aber ein Göttliches kann doch nicht wohl seinen eignen Zielen entgegenwirken.

β. Die Spaltung im Geistesleben.

Der Widerstand gegen die Einheit des Geisteslebens reicht aber noch tiefer, zur Zersplitterung in widerstreitende Gestaltungen gesellen sich Spaltungen im Grundprozeß selbst, Spaltungen, von denen namentlich drei unsere Untersuchung berühren. Zunächst ist das die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Zustand und Gegenstand. Von Anfang an hemmte sie vornehmlich ein Erreichen der Wahrheit, sie schien sich aber zu schließen mit der Eröffnung echtgeistigen, wesenbildenden Lebens im eignen Bereiche des Menschen. Denn damit entsprang aus der Tätigkeit selbst eine Wirklichkeit, es entstand eine Welt, die unser Selbst nicht von außen berührte, sondern, einheitlich zusammengefaßt, unser wahres Selbst zu werden versprach. Daß diese neue Welt zunächst der alten gegenüber stand, erst allmählich sie unterwerfen und zugleich jene Kluft überbrücken konnte, das kann nicht befremden und erschrecken. Wohl aber ist zu erwarten, daß eine Bewegung nach jener Richtung entstehe und, wenn auch langsam, so doch sicher gegenüber jener Spaltung Boden gewinne. Aber auch diese Erwartung bleibt unbefriedigt, das Erscheinen einer höheren Stufe scheint auch hier das Problem mehr zu steigern als zu mindern. Nicht nur vermag jene Bewegung zur Einheit das Dasein nicht an sich zu ziehen und von sich aus zu gestalten, sie verschärft insofern die Lage, als jede der beiden Seiten durch das Verlangen nach überlegener Einheit zu dem Versuche getrieben wird, das Gesamtleben an sich zu reißen und die andere Seite sich unterzuordnen. In der einen Richtung emanzipieren sich die eignen Werke des Menschen, sie treten als selbständige Mächte gegen ihn, sie verwandeln das seelische Leben in ein bloßes Mittel ihrer Zwecke, sie unterdrücken damit immer mehr die Innerlichkeit und mechanisieren alles Dasein. Aber solche Aufsaugung des Subjekts gereicht schließlich ihnen selbst zur Zerstörung. Denn je mehr die Werke sich vom seelischen Grunde trennen, desto weniger können sie einen inneren Zusammenhang bei sich selbst behaupten, desto mehr sinkt ihre eigne Kraft und Größe, bis ihre Unfähigkeit das ganze Leben zu erfüllen deutlich zutage tritt. Dann kommt die Reihe an die andere Seite, es erfolgt eine Umkehrung der bisherigen Richtung und Arbeit, riesengroß erhebt sich das Subjekt und sucht unter Ausschaltung des Objekts bei sich selbst alle Wirklichkeit zu bilden. Sein eignes Befinden wird seine Welt, und das Auskosten seiner Zustände, die Verfeinerung seiner Stimmungen sein ganzes Leben. Aber je ausschließlicher es diesen Weg verfolgt, desto mehr verflüchtigt sich ihm die Wirklichkeit, nicht nur draußen, sondern auch drinnen. Denn bei wachsender Hingebung an die bloße Stimmung kann das Subjekt seine eigne Einheit nicht wahren, es zerfällt in lauter vereinzelte, unablässig wechselnde Lagen, sein Dasein gerät immer mehr ins Flüchtige und Schattenhafte. Das ruft wieder die Sehnsucht nach dem Objekt hervor, als einem für unser Leben unentbehrlichen Halt, und damit geht die Wage wieder zur anderen Seite. Diese Dialektik, in der jede Seite durch ihre Isolierung und Überspannung sich selbst zerstört und zur anderen zurücktreibt, zeigt klar, wie notwendig und wie sehr sie aufeinander angewiesen sind. Aber die Anerkennung einer Zusammengehörigkeit läßt uns nicht schon eine lebendige Einheit gewinnen; alles Streben zum Ganzen befreit uns nicht von der Gewalt eines lähmenden Zwiespalts, wie das unsere eigne Zeit mit ihrem Hin- und Herschwanken zwischen seelenloser Technik und freischwebender Stimmung mit peinlicher Stärke empfinden läßt. Die Gegenwart eines selbständigen Geisteslebens, die über den Gegensatz hinausheben sollte, hat ihn also erst recht befestigt, indem sie das Einheitsverlangen steigerte, ohne die Kraft zu seiner Befriedigung zu gewähren.

Ein anderer böser Spalt, von dem jenes Geistesleben befreien sollte, ist der zwischen Kraft und Gesinnung. Nach alter Erfahrung mangelt oft der Kraft die Gesinnung und der Gesinnung die Kraft, das Leben geht auseinander in blinden Naturtrieb und machtlose Geistigkeit. Das sollte sich ändern mit dem Erscheinen einer wesenbildenden Geistigkeit. Denn in ihrem Bereich gibt es keine echte Kraft, die nicht eine selbsttätige Aneignung jener Welt in sich trägt und damit einen moralischen Charakter annimmt; zugleich erhebt sich die Gesinnung von einem mehr passiven Stande zu einer kräftigen Tat, einer Tat, in der sich die ganze Seele zusammenfaßt. So wäre hier unter Veredlung der Kraft und Verstärkung der Gesinnung eine innere Einigung erreicht, ein neuer Typus des Lebens gewonnen, in dem das Starke gut und das Gute stark ist. Schade nur, daß dieser Typus für uns mehr ein fernes Ideal als eine Wirklichkeit ist. Denn nicht nur behält der Gegensatz in der Breite des Daseins auch nach jener Wendung eine unverminderte Kraft, der Versuch der Überwindung scheint ihn nur noch tiefer in das Geistige selbst zurückzuverlegen. Auch ist er aus früherer Naivetät immer mehr zu voller Bewußtheit gesteigert, jede der Seiten hebt sich als einzig wertvoll über die andere hinaus und behandelt sie als überflüssig, ja schädlich. So einerseits die Ausschließlichkeit der geistigen Kraft, große, ja dämonische Gestalten, die der Siegeszug ihres Wirkens und Schaffens vollständig einnimmt und alles übrige mit souveräner Gleichgültigkeit behandeln läßt, denen auch die Ereignisse zufallen und das Schicksal zu huldigen scheint, obwohl ihr Weg jenseit von Gut und Böse liegt; alle moralische Beurteilung erscheint hier als eine nebensächliche Erwägung ja als ein ungebührlicher Einspruch. Darin aber liegt ein Frevel, der nicht nur früher oder später zu äußerem Untergange führt, der auch innerlich von vornherein den geistigen Charakter der Leistung schädigt. – Solchem Kultus der bloßen Kraft gegenüber steht ein Kultus der bloßen Gesinnung, ein Selbstgefühl und eine Selbstgerechtigkeit einer von der Handlung abgelösten und bei sich selbst verweilenden Gesinnung. So gewiß nun, was in der reinen Innerlichkeit vorgeht, letzthin die glänzendste Leistung zur Welt überstrahlen kann, es darf das nicht so gewandt werden, daß die von den Verwicklungen und Versuchungen der Welt gar nicht berührte Gesinnung, die Gesinnung ohne Umsetzung in Tat und ein Ringen mit den Dingen, sich als vollgenügend gibt und den Menschen in ihre vermeintliche Überlegenheit einspinnt. Denn damit droht das Leben in Tatlosigkeit zu versinken, die Schwäche erscheint als Verdienst, Mattheit und Kleinheit des Wesens verwachsen mit einem pharisäischen Selbstbewußtsein. Und das Selbstbewußtsein der Schwäche ist wohl noch unerquicklicher als das der Stärke. Wie aber wird die Gesinnung die Kraft eines großen Lebens werden, wie wird sich die Kluft zwischen Wollen und Können schließen? Wiederum bringen wir Menschen nicht zusammen, was in der Sache einander fordert.

Im gemeinsamen Leben erscheint jener Gegensatz in dem Auseinanderfallen von Kultur und Moral, namentlich einer religiösen Moral. Die Kultur mit ihrer Entfaltung und Steigerung der Kraft pflegt die Moral als eine Nebensache zu behandeln und sie ihren Zwecken aufzuopfern; die Moral entwickelt demgegenüber ein Bewußtsein innerer Überlegenheit, ohne jedoch eine entsprechende Macht entfalten zu können. Immerhin zeigt sie sich kräftig genug, die Schranken der Kultur zur Empfindung zu bringen und eine volle Befriedigung bei ihr zu hemmen. So vermag jede der Richtungen wohl die Ausschließlichkeit der anderen zu brechen, nicht aber selbst zu alleiniger Herrschaft zu gelangen.

Der dritte Gegensatz ist der von geistiger Substanz und seelischer Existenzform, wie ihn die Unterscheidung eines noologischen und eines psychologischen Verfahrens zum Ausdruck bringt. Auch dieser Gegensatz wird erst durch die Idee der Wesensbildung mit voller Deutlichkeit herausgestellt, erst damit wird klar, daß es ohne ein Selbständigwerden des Geisteslebens gegenüber dem unmittelbaren seelischen Vorgehen keinen Inhalt des Lebens und keine zusammenhängende Geisteswelt gibt. Aber zugleich erhellt auch, daß jenes überlegene Leben für uns Menschen sich nur in der seelischen Existenzform verwirklicht, und daß seine Entwicklung nur durch die Bewegungen und Erfahrungen jenes Seelenlebens erfolgt. Ebenso notwendig wie eine deutliche Scheidung wird damit eine stete Wechselwirkung beider Reihen. Auch hier aber zeigt die Erfahrung meist ein schroffes Auseinandergehen und eine arge Verfeindung. Auf der einen Seite eine Verkennung der Unfertigkeit und Bedingtheit des menschlichen Geisteslebens, ein rasches Ergreifen und Festlegen einer Substanz, damit aber ein Abschneiden weiterer Bewegung, ein voreiliger Abschluß des Lebens. Auf der anderen Seite der Versuch, vom unmittelbaren Seelenleben aus einen Inhalt und eine geistige Welt hervorzubringen; dabei viel Frische, Beweglichkeit, Buntheit, aber, bei innerer Unmöglichkeit der Sache, ein stetes Mehrseinwollen als man sein kann, ein unablässiges Erschleichen von Unerwiesenem, eine große Gefahr der Verflachung. So gestaltet sich der Gegensatz von Substanz und Existenzform zu einer Entzweiung von Tiefe und Freiheit: die Tiefe droht starr, die Freiheit flach zu werden. Dieser Streit durchdringt die ganze Verzweigung des Lebens, kein Gegensatz treibt so sehr die Menschen in widerstreitende Heereslager auseinander, keiner erzeugt so viel Parteiung. So auch im eignen Gebiet der Philosophie. Denn was anderes ist der tiefste Grund und die stärkste Kraft der Entzweiung der Denker, als daß die einen ihren Ausgangspunkt in den Notwendigkeiten des Geisteslebens, die anderen in den Zuständen und Erfahrungen des Menschen nehmen? Die Kämpfe zwischen Idealismus und Realismus, zwischen Apriorismus und Empirismus, zwischen Metaphysik und Psychologismus, sie alle stammen schließlich aus dieser einen Wurzel. Wie aber verträgt es sich mit der Gegenwart eines absoluten Lebens bei uns, wenn selbst die Bewegung zur Wahrheit unter den Streit der Parteien gerät und an ihn gefesselt bleibt?

γ. Die Ohnmacht der Moral.

Nach aller Erschütterung bleibt noch eine, nun aber auch die allerletzte Zuflucht: die Moral in ihrem Fürsichsein, als das Reich der reinen Innerlichkeit, als die Entscheidung über die Hauptrichtung des Strebens. Mag nämlich die Wendung zu ihr nach außen hin wenig Folge haben, mag sie auch in der Seele selbst mannigfachsten Widerständen und Einschränkungen begegnen, es entsteht mit ihr ein eigentümlicher Lebenskreis, ein volles Beisichselbstsein der Innerlichkeit, dem alle Macht der Gegner nichts anhaben kann; hier gewinnt die Seele eine sichere Weltüberlegenheit und mit ihr die unerschütterliche Gewißheit einer neuen Ordnung der Dinge. So wurde manchen Zeiten, so war namentlich dem späteren Altertum, die Moral ein festes Bollwerk gegen alle Zweifel und Mühen des Lebens.

Alles das steigert sich beträchtlich, wenn die Wendung zur Religion die Entscheidung auf ganze Welten richtet und den Menschen dabei in einem göttlichen Leben begründet; weit größer muß damit die Aufgabe, weit freudiger aber auch die Gewißheit des Menschen werden. Mag beim Hervorgehen jener Wendung aus schweren Verwicklungen kein leichter Sieg zu erwarten sein, eine Verstärkung und ein Vordringen der Moral wäre allerdings auch bei uns zu verlangen.

Anders aber steht es in der Wirklichkeit unserer Erfahrung. Zunächst ist das gewiß: die Religion stellt unser Tun noch weit unzulänglicher dar, als es sich sonst ausnahm. Wenn über die Bewertung des moralischen Standes des Menschen vor allem der dabei angelegte Maßstab entscheidet, so muß die Religion mit ihrem Messen alles Menschlichen am Göttlichen die Sache sehr verschärfen, und die göttliche Wertung alle menschliche Betrachtung verdrängen. Indem diese den Menschen am Menschen mißt, wird sie weit milder urteilen. Ihren Maßstab nämlich bildet der Durchschnitt des menschlichen Tuns und Treibens; nur was hinter ihm merklich zurückbleibt, wird getadelt; was ihn dagegen merklich überschreitet, als groß gefeiert und als überschüssiges Verdienst verehrt. Nun erhebt sich dagegen die göttliche Wertung der Dinge und stellt den Anspruch auf absolute Vollkommenheit; am Unendlichen gemessen, verschwinden aber alle endlichen Unterschiede vor der durchgehenden Weite des Abstands; hier entfällt alle moralische Größe, hier gibt es kein moralisches Verdienst des Menschen. So geschah es überall, wo die religiöse Idee mit voller Ursprünglichkeit hervorbrach, wie in den Anfängen des Christentums und im Aufsteigen des Protestantismus; nur eine Abschwächung jener Idee konnte der menschlichen Schätzung so viel Raum gewähren, wie das der Katholizismus tut. Auch an dieser Stelle hat er der menschlichen Betrachtungsart zu viel eingeräumt.

So war alle Entwicklung der Moral unter dem Einfluß der Religion eine Entwertung der landläufigen moralischen Werte. Was immer an nützlicher Leistung aus bloßer Naturkraft stammt, das scheidet hier als untermoralisch aus; was immer die menschliche Gesellschaft im eignen Kreise zur Einschränkung der Selbstsucht und zu gegenseitiger Förderung aufbringt, das dünkt viel zu äußerlich und viel zu scheinhaft, um für die endgültige Schätzung in die Wage zu fallen. Aber auch jenseit der gesellschaftlichen Gestaltung erscheint alle menschliche Moral als matt und unzulänglich. Eine Tugend aus einem Mangel an Versuchungen oder aus einem Gleichgewicht der Fehler, eine Rechtlichkeit, die nie auf die Probe gestellt ward, eine Liebe, die treu blieb aus bloßer Gewöhnung und weil sie nichts anderes kannte, ein Glaube und Vertrauen, die sich in keinem Zweifel, in keiner Not zu bewähren hatten, eine Aufopferung, die zugleich eignen Vorteil brachte. Gegenüber solcher Schwäche aber die dämonische Gewalt der Leidenschaften, der Mensch durch sie fortgerissen gegen seine bessere Einsicht, ja gegen sein besseres Wollen, alle übrigen, auch vom eignen Bewußtsein vollauf anerkannten Güter dagegen verblassend wie Schatten und Traum. Über allen einzelnen Leidenschaften aber der Egoismus mit seinem Ablösen des Einzelnen von dem Weltzusammenhange und seinem Beziehen der Unendlichkeit des Geschehens auf den verschwindenden Punkt. Dieser Egoismus, in seiner Verkehrung der Welt grundverschieden von der natürlichen Selbsterhaltung, scheint mit dem Fortgang der Kultur nicht schwächer, sondern stärker zu werden, die geschichtliche Bewegung mag seine Form verändern, seinen Kern läßt sie unangetastet. Solches Gebanntsein des Strebens an das kleine Ich, an das falsche Selbst wird besonders unleidlich, wenn die Wendung zur Wesensbildung dem Menschen im Geistesleben ein neues Selbst als das echte vorhält; nun wird die Festhaltung jenes scheinhaften Selbst eine Selbstentfremdung des Menschen, eine Zerstörung seines eignen Wesens.

So liegt die Unzulänglichkeit aller menschlichen Moral mit voller Klarheit zutage. Solche Unzulänglichkeit wäre erträglich, wenn ihr gegenüber eine göttliche Kraft durchbräche und ein übermenschliches Leben im Menschen schüfe. Aber einer solchen Wendung fehlt einstweilen alle Sichtbarkeit und Überzeugungskraft. Nicht nur scheint alle Religion am Gesamtbefund des Lebens wenig zu ändern, das Eintreten des Höheren treibt zunächst vornehmlich den Widerspruch hervor und erweckt sonst schlummernde Widerstände; die Verkehrung erreicht ihre höchste Höhe, wenn das Gute, obschon erkannt und anerkannt, trotzdem abgelehnt, geschädigt, vernichtet wird. Wenn manche aufklärungsfreundliche Denker ein solches Handeln wider die eigne Überzeugung, eine Verwerfung des Göttlichen mit dem Bewußtsein, daß es das Göttliche sei, für unmöglich erklärten, so verkannten sie die Abgründe der menschlichen Natur und widersprachen durchgehender Erfahrung der Menschheit. Denn im Großen wie im Kleinen gibt es ein Böses über den bloßen Egoismus hinaus, Mißgunst und Schadenfreude, Haß und Neid, auch wo das eigne Wohl gar nicht berührt wird, es gibt einen Widerwillen gegen das Große und Göttliche, eine Lust an der Entstellung und Zerstörung des Guten. Damit steigert sich das Schlechte zum positiv Bösen, zum Diabolischen. Die burleske Gestalt eines Teufels ist aus unseren Vorstellungen verschwunden, leider aber mit ihr nicht auch das Teuflische aus der Menschennatur. Auch hat die rätselhafte Tatsache des Bösen als eines positiven Widerstandes gegen das Gute nicht aufgehört, die tiefsten Geister zu beschäftigen, aus aller versuchten Beschwichtigung ist das Problem mit immer neuer Stärke hervorgebrochen, es steht auch der Gegenwart nicht nur durch die Lehren eines KANT und eines SCHOPENHAUER, sondern mehr noch durch die eigne Erfahrung des modernen Lebens deutlich vor Augen.

In solcher höchsten Steigerung kann das Böse nur ein Erzeugnis der Freiheit sein, es wird damit zur moralischen Schuld, die man dadurch nicht los wird, daß man sie für unverständlich erklärt. Aber mag die Schuld dem Übel erst seine volle Schärfe verleihen, sie erzeugt nicht alles Übel. Das ist es, was die Lage des Menschen besonders peinlich macht, daß die gesamte Ordnung des Lebens ihm eben das, wenn nicht aufdrängt, so doch zuführt, was mit der Aufnahme in eigne Tat zur Verfehlung wird. Aus der Hand der Natur empfängt er den Zwang einer unablässigen Selbsterhaltung, der die Menschen oft gegeneinander hetzt und den Nachteil des anderen zum eignen Vorteil macht. Das Kulturleben steigert diese Verwicklungen mit der Vermehrung und Verfeinerung der Bedürfnisse, mit der vielfacheren Verschlingung und dem engeren Zusammendrängen der Menschen, mit der stärkeren Entfachung von Ehrgeiz und Erwerbstrieb, welche zur Erhaltung unserer Stellung nötig dünkt. Soweit scheint die Entfesselung der Kraft und die rastlose Ausdehnung des Strebens selbstverständlich und unangreifbar; demgemäß gestalten sich die gemeinsame Atmosphäre, die gesellschaftlichen Einrichtungen usw. Und nun nur einen Schritt weiter: ein Aufnehmen des Auferlegten in volle Selbsttätigkeit und die Erhebung alltäglicher Übung zur allesbeherrschenden Triebkraft, und die Sache dünkt eine ungeheure Verkehrung und wird aufs härteste getadelt. Aber dieses Getadelte wuchs aus Verhältnissen hervor, die unser ganzes Leben und damit auch unsere geistige Entwicklung tragen!

Wie wollen wir uns solcher Verwicklung entwinden? Und was wird bei solcher Erschütterung der Moral aus der Gegenwart des göttlichen Lebens? Soweit sie überhaupt anerkannt wird, hat sie allem Anschein nach weniger die Vernunft unseres Daseins verstärkt, als seine Unvernunft erst zu vollem Bewußtsein gebracht.

4. Die Undurchsichtigkeit der menschlichen Lage.

Bis dahin war unser Augenmerk vornehmlich auf die Verwicklungen im Tun des Menschen gerichtet, aber auch sein Ergehen, die Gestaltung seiner Geschicke, will hier gewürdigt sein. Steht doch dabei nicht bloß sein subjektives Glück, sondern dieses in Frage, ob das Geistesleben mit der Begründung in einer höheren Ordnung die Macht gewinne, sich auch nach außen hin durchzusetzen und das Weltgeschehen seinen Zwecken zu unterwerfen. Was die innerste Seele der Wirklichkeit und den Wert aller Werte bildet, das sollte auch in unserem Kreise sicher herrschen und walten.

Vor allem geht das Anliegen des Menschen darauf, durch die überweltliche Macht in seinem Streben zur Geistigkeit gefördert zu werden, gefördert namentlich in dem harten Kampf gegen eine fremde, undurchsichtige, übermächtige Welt. Je mehr für den menschlichen Anblick die Fäden des Geschehens unentwirrbar durcheinander laufen, desto unentbehrlicher scheint eine Lenkung der Geschicke durch eine überweltliche Macht; je härter die Widerstände der Weltumgebung sind, desto dringlicher wird die Hoffnung auf eine überweltliche Hilfe. Sie soll unser eignes Vermögen über seine Unzulänglichkeit erheben, dem Handeln einen sicheren Weg durch das tiefe Dunkel bereiten, auch die Hemmung und Unterdrückung in schließliche Förderung verwandeln. Es muß den Menschen im Innersten seines Seins unermeßlich heben und in seinem Lebensmute stärken, wenn er sich als einen Gegenstand der Fürsorge weltüberlegener Macht und Weisheit, als gepflegt von ewiger Liebe betrachten darf. Mag dabei auf einer niederen Stufe viel Eigenliebe, ja Eitelkeit im Spiele sein, auf der höheren verschwindet das vor dem unverwerflichen Ziel der geistigen Erhaltung und Erhöhung des Menschen.

In Wahrheit ist diese Idee der Religion so unentbehrlich, daß darauf völlig verzichten sie selbst preisgeben hieße; irgendwie muß also jede Fassung der Religion für ihre Verwirklichung sorgen. Ob und wie das aber geschehen mag, das gehört nicht an diese Stelle; hier steht nicht in Frage, wie der für die Religion schon Gewonnene die Idee der Vorsehung schließlich durchsetzt, sondern dieses, ob sie aus dem nächsten Weltbefunde uns deutlich genug entgegenscheint, um den noch Zweifelnden zu gewinnen. Es ist ein arger Fehler, den Tatbestand der Erfahrung und die Forderung des religiösen Glaubens durcheinanderzumengen; wer kritiklos in das nächste Bild als schon vorhanden einträgt, was in Wahrheit erst durch große Umwälzungen möglich wird, der verringert nicht nur die Spannung, er gefährdet auch die Wahrheit des Lebens.

Fragen wir also ohne Vorurteil, ob uns die Weltumgebung eine Lenkung des Geschehens zugunsten wachsender Geistigkeit, eine überlegene Förderung des geistigen Aufstrebens des Menschen deutlich ersehen läßt. – Sicherlich gibt es Vorgänge und Lebensläufe genug, die den Eindruck einer planmäßigen Leitung machen; zahllose Fäden verbanden sich zu einem guten Endergebnis, Gefahren wurden abgelenkt, Hilfen über alle Erwartung gewonnen. Aber den Eindruck der Planmäßigkeit macht gelegentlich selbst der Ausfall des blinden Würfelspiels; um sicher ermessen zu können, ob in jenem, was eine entgegenkommende Stimmung als ein Zeugnis höherer Leitung und Liebe begrüßt, mehr vorliegt als bloßer Zufall, müßten wir das Verhältnis der wirklichen Fälle zu den möglichen, der Gewinne zu den Nieten berechnen können, das aber können wir nicht. Hatte DEMOKRIT nicht recht, wenn er gegenüber dem Preise der Gottheit für Rettung aus Seegefahr an die vielen erinnerte, die ertrunken im Meere liegen?

Zu solcher Undurchsichtigkeit gesellt sich der Eindruck vieler gegenteiliger Erfahrungen. Denn für unser Auge bleibt nicht nur viel redliches Wollen, viel tüchtiges Streben ohne die nötige Hilfe und bricht darum mutlos vor dem Ziele zusammen, es bleiben nicht nur viel geistige Kraft und viel warme Liebe ungenutzt, die andere Stellen schmerzlich entbehren, wir gewahren auch Verkettungen des Geschehens, die auf die Erzeugung schweren Elends abzuzielen scheinen, die den Menschen wie mit unbarmherziger Notwendigkeit zum Abgrunde treiben. Leisester Wink hätte genügt, ihn davon zurückzuhalten, er erfolgte nicht, und das Verderben nahm seinen Lauf. Kleine Zufälle zerstören Leben und Lebensglück, ein Augenblick vernichtet den Ertrag mühsamster Arbeit. Oft auch ein chaotisches Durcheinander, ein rasches Umschlagen der Geschicke, eine scheinbare Gleichgültigkeit gegen alles menschliche Wohl und Wehe, ein blindes Umhertappen; dabei stets verhängnisvolle Möglichkeiten wie dunkle Wolken über dem Menschen schwebend und bisweilen niederfahrend wie ein zerschmetternder Blitz; auch wohl das Geschick gleichsam mit dem Menschen spielend, Hoffnungen erweckend, um sie zu zerstören, Kräfte bereitend, um sie wegzuwerfen. Das scheint keine Ordnung der Vernunft, das scheint kein Reich der Liebe.

Die Art, wie der gewöhnliche Betrieb der Religion diese Probleme behandelt, ist jämmerlich und des Ernstes der Frage unwürdig. Die Sache wird wie ein Prozeßfall in advokatorischer Weise erledigt. Man hebt die Fälle heraus, die einer bejahenden Antwort günstig dünken, man erkennt namentlich gern den »Finger Gottes«, wo er die eigne Partei zu bestärken scheint; was dagegen das Leben an Leid und Unvernunft, an hartnäckigem Widerstande und verlorner Mühe zeigt, das wird möglichst aus den Augen gerückt oder auch in einer Weise weggedeutet, derer wir uns bei menschlichen Dingen schämen würden. Bald flüchtet man zu bloßen Möglichkeiten und hält sich an den bequemen Gedanken, daß die Dinge auch wohl ins Gegenteil umschlagen, und daß, was in Leid und Trauer begann, in Lust und Freude enden könne. Bald soll der Gedanke Trost gewähren, daß bei allem Elend es noch schlimmer kommen konnte; wie eine Gnade Gottes wird gepriesen, daß ein quälendes Leiden nach Erschöpfung aller Kräfte schließlich zum Tode führte, daß eine verheerende Not nicht die allerhöchste Höhe erreichte, die sie hätte erreichen können. So bescheidenen Ansprüchen ist leicht zu genügen, aber die Welt wird dadurch noch nicht ein Reich der Vernunft, daß sie nicht die allerschlechteste ist.

Wird aber die Unvernunft gar zu augenscheinlich, so bleibt jenen Offizialverteidigern der Gottheit noch ein letzter Ausweg: das Leiden wird nicht nur entschuldigt, sondern begrüßt als ein unentbehrliches Mittel zur inneren Läuterung und sittlichen Veredlung. Nun muß man schon recht kurzsichtig sein, um nicht zu bemerken, daß eine Ordnung, deren höchste Ziele sich nur durch schweres Leid hindurch erreichen lassen, unmöglich ein Reich lauterer Vernunft sein kann. Wie aber steht es mit dem Tatbestand der Behauptung? Ist es richtig, daß das Leid den Menschen mit Sicherheit bessert, durchgreifend bessert? Wie die Erfahrung des Lebens sich einer unbefangenen Betrachtung darstellt, bewahrt allerdings das Leid vor Frevel und Übermut, es vermag bei starken Schlägen aus der trägen Stumpfheit des Alltags aufzurütteln, es vermag wohl auch das Gemüt weicher zu stimmen und offner zu machen für die Geschicke der anderen. Oft jedoch wirkt Leiden zur Abstumpfung und Erniedrigung, namentlich wenn es nicht in erschütternden Katastrophen an uns kommt, sondern die ganze Lebensbahn als ständige Sorge und einengender Druck begleitet. Das Gemeine in der Verkettung der Verhältnisse, dem sich der Mensch oft auch dann nicht entziehen kann, wenn er es mit ganzer Seele möchte, hemmt alles Aufstreben und setzt das Niveau des Lebens herab; die Wendung zu kleinlicher Gesinnung, zu Verbitterung und Scheelsucht liegt nahe; ja in äußerster Anhäufung kann Leid und Not fast alle geistige Regung ersticken. So spricht der unmittelbare Eindruck der Erfahrung weit mehr zugunsten der Griechen, denen Glück und Gelingen als förderlicher auch für die sittliche Bildung des Menschen galt. Und daß das Christentum das Leid in die innerste Seele des Menschen aufnimmt und es zum Angelpunkt einer Wendung macht, kann nur eine gröbliche Verflachung und gefährliche Verkehrung so verstehen, als ob das Leid ohne weiteres mit naturnotwendiger Wirkung geistige Förderung und sittliche Läuterung bringe. Dann wäre ja die Sache höchst einfach, so einfach, daß es gar keiner Religion mehr bedürfte. Gewiß ist aller religiösen Überzeugung der Gedanke unentbehrlich, daß schließlich irgendwie aus der Unvernunft eine Vernunft hervorgehen werde, daß mit dem Buche Hiob zu hoffen sei: »jetzt sieht man das Licht nicht, das in den Wolken hell leuchtet; wenn aber der Wind weht, so wird es klar«; aber es bleibt ein gewaltiger Unterschied, ob der Zweifel zunächst voll ausgekostet und eine innere Wendung des Lebens durch tiefste Erschütterung vorbereitet wird, oder ob gemäß jenen rationalistischen Anwälten der Gottheit alles sofort im Reinen und Klaren sein soll und damit allem Stachel die Spitze von vornherein abgebrochen wird. Wie ihre Schönfärberei zur Abstumpfung des Problems wirkt, so widerspricht sie auch dem schlichten Wahrheitssinn. Denn dieser kann nur den Eindruck bekennen, daß gewiß manches in unseren Geschicken über sich selbst hinauszuweisen scheint, daß aber im großen und ganzen die strenge Verkettung wie das wirre Durcheinander der Ereignisse, ihr gleichgültiges Dahinschreiten über das Wohl und Wehe, das Hoffen und Fürchten des Menschen unser Auge keine Ordnung der Vernunft, kein Reich der Liebe ersehen läßt.

Rätselhaft bleibt allerdings manches, rätselhaft ist im besonderen, daß nicht selten die Geschicke des Menschen eine gewisse Richtung zu verfolgen scheinen. Bisweilen, so scheint es, wird durch eine unerklärliche Macht sein Leben und Handeln in eine eigentümliche, vom Individuum selbst nicht gewollte Bahn gedrängt; in manchen Fällen scheint eine starke Woge des Geschickes den Menschen zu heben und ihn fast über sein eignes Vermögen emporzutragen, in anderen wirkt sie ihm mit ebensolcher Kraft entgegen und läßt auch das besterwogene Unternehmen scheitern. Daraus erwuchs von alters her der Glaube an ein Schicksal, das mit ehernem Willen dem Menschen seine Bahn vorschreibe und ihm sein Ergehen zumesse, dem widerstehen zu wollen frevelhaft sei. Einer genauen Kontrolle entzieht sich solche Überzeugung um so mehr, als dabei auch die menschliche Eigenliebe stark mitspielt: schmeichelt es einmal der Eitelkeit, das eigne Geschick von übernatürlicher Macht über das der anderen hinausgehoben zu denken, so findet andererseits alle Kleinheit und Schwäche den bequemsten Trost darin, den eignen Mangel einem unwiderstehlichen Schicksal aufzubürden. Immerhin bleibt es eine bemerkenswerte Erfahrung, daß namentlich hervorragende Männer der Tat, deren Wirken in eine undurchsichtige Welt bestimmend eingriff und unübersehbare Folgen hatte, oft der Überzeugung lebten, Werkzeuge in der Hand eines allgewaltigen Schicksals zu sein. Der Glaube, dadurch gegen alle Gefahren gefeit zu sein und sicher zum vorgesteckten Ziel geführt zu werden, war ihnen unentbehrlich zum freudigen Mut des Schaffens und zur völligen Sicherheit ihrer Ziele. Aber alle Stärke subjektiver Überzeugung liefert keinen objektiven Beweis; entspringt jener Glaube nicht dem bloßen Selbstgefühl einer dem Durchschnitt überlegenen Kraft? Aber selbst die Anerkennung des Wirkens einer höheren Macht an dieser Stelle würde das Rätsel des Ganzen eher steigern als verringern. Denn warum bleibt jene Fürsorge auf einzelne Fälle beschränkt, und wie verträgt es sich mit einer unendlichen Güte, den Menschen als ein bloßes Werkzeug zu behandeln und ihn wie gleichgültig fortzuwerfen, nachdem der gewollte Zweck erreicht ist? Denn auch von den großen Männern scheint oft nach Vollbringung ihres Werkes die Kraft zu weichen. Endlich aber bleibt hier ein unerklärliches Mißverhältnis zwischen der scheinbaren Macht der Vernunft an einzelnen Höhepunkten und ihrer Ohnmacht im Ganzen. Helden erscheinen, wirken und schaffen, bezwingen wie im Spiel allen Widerstand, ketten den Erfolg an ihre Fersen; da ihre Leistung ins Ganze geht, so scheint ihre Hebung zugleich eine Leitung der Geschicke der Menschheit zu erweisen. Aber hat im großen und ganzen alle Mühe und Arbeit viel Vernunft erbracht, nimmt sich die Geschichte aus wie ein siegreiches Aufsteigen und sicheres Vordringen echter Geistigkeit? Ist dies aber nicht der Fall, so hilft die Erweisung des Göttlichen an den einzelnen Stellen wenig. Wiederum scheint eine Halbvernunft vorzuliegen, die rätselhafter ist als eine volle Unvernunft. So ergeht es einem, der in den menschlichen Erlebnissen einen leitenden Faden aufspüren möchte, leicht wie solchen, die in tiefem Dickicht nach einem Wege suchen. Es scheint sich in der Irre ein Pfad zu zeigen, er wird immer deutlicher, er scheint bestimmt zu irgendwelchem Ziele zu führen. Aber bald verengt und verwischt er sich wieder, unsicherer und unsicherer werden die Spuren, endlich verschwinden sie ganz, und alle Mühe endet mit einer getäuschten Hoffnung.

 

Vielleicht jedoch liegt die Schuld des bisherigen Mißlingens am Beobachter, vielleicht suchten wir nur in einer verkehrten Richtung. Ist eine gütige Vorsehung, die alles Ergehen zum Besten lenkt, nicht erkennbar, so erscheint vielleicht mit um so deutlicheren Zügen eine sittliche Ordnung, ein Gleichgewicht von Tun und Ergehen, ein Reich strenger Gerechtigkeit. Das Verlangen nach einer vergeltenden Gerechtigkeit ist keineswegs bloß ein Ausfluß kleinlicher Gesinnung, welche für das Gute Lohn, für das Böse Strafe verlangt, und einer scheelsüchtigen Berechnung, welche ängstlich darüber wacht, daß man selbst ja nicht zu wenig, der andere ja nicht zu viel erhalte. Sondern der Gedanke läßt sich auch von der menschlichen Kleinheit abheben und zu der Forderung gestalten, daß das Geistige als sittliche Ordnung die Welt beherrsche und durchwalte; so verlangte es ein PLATO, so auch ein KANT.

Die Denker erhoben dabei nur ins Ganze und Geistige, was auch die Völker und Zeiten beseelte und sie lieber das Gesamtbild der Wirklichkeit über alle Erfahrung hinaus umwandeln als an der Strenge jener Forderung nachlassen hieß. Zunächst hoffte man die Ausgleichung schon im Lebenslauf jedes Einzelnen zu finden; da dem die Erfahrung zu deutlich widersprach, so wurden auch die Schicksale der Nachkommen herangezogen und in den Erlebnissen des gesamten Geschlechts eine Gerechtigkeit gehofft. Aber solche Verkettung erzeugte neue Probleme, ohne die alten voll zu lösen; so überschritt der von Furcht und Hoffnung beflügelte Gedanke kühn die Schranken dieses Lebens, um in einem kommenden Dasein die ersehnte Gerechtigkeit zu suchen. Die meisten Völker begnügten sich mit einer einmaligen Erweiterung und fanden in dem Gedanken eines Totengerichts den letzten Abschluß. Andere aber, die nicht bloß vorwärts, sondern auch rückwärts schauten und mit unbegrenzter Phantasie die Welten überflogen, gingen noch weiter und machten das jetzige Leben zu einem einzelnen Ring einer unermeßlichen Kette, wie das namentlich die indische Lehre von der Seelenwanderung in beinahe schwindelnder Weise tut. So bildet auch die Lehre von einem unentrinnbaren Schicksal der Taten nirgends mehr den Mittelpunkt der religiösen Überzeugung als bei den Indern; wahrhaft eigen scheint hier dem Menschen nichts anderes als seine Taten; durch Leben und Tod, durch Wiedergeburt und Umwandlung hindurch kommt auf ihn ihre Folge zurück, im Guten wie im Bösen; nirgends ein Ausweichen und Ablenken, ein Vergessen und Verschwinden. Größer hat nie die Phantasie gewaltet als in der kühnen Entwerfung und anschaulichen Ausführung solcher Weltgemälde, und es hat diesem Walten nicht eine starke Wirkung auf die Seele des Menschen gefehlt. Aber eine Überzeugungskraft haben jene Bilder nur für den Gläubigen, dem sie allein gewähren, worauf seine Seele besteht; wer sich noch nicht im Besitz, sondern erst im Suchen fühlt, dem bedeuten sie bloße Möglichkeiten, der kann auf Anhaltspunkte innerhalb unserer Erfahrung unmöglich verzichten.

An solchen Anhaltspunkten fehlt es keineswegs. Eine gewisse sittliche Ordnung, so heißt es, erscheint schon in der natürlichen Verkettung der Dinge, sowohl in den äußeren Folgen der Handlung als in ihrer Beurteilung von innen her. In Wahrheit ergeben gewisse Arten des Handelns schon in ihren eignen Zusammenhängen zusagende Folgen, andere hingegen mißfällige; Ausschweifungen sind dem Wohlsein minder zuträglich als ein geregeltes Leben, und ein den gesetzlichen und gesellschaftlichen Ordnungen entsprechendes Handeln ist dem Fortkommen günstiger als das Gegenteil. Aber wie wenig ist mit solcher trivialen Wahrheit gewonnen! Gilt sie doch nur für einzelne Ausschnitte des Lebens, und trifft diese Ausgleichung nur die sichtbare Handlung, nicht die Gesinnung, worauf es hier allein ankommt. Je mehr sich daher das Leben verinnerlicht und die moralische Aufgabe über seinen ganzen Umfang ausdehnt, desto unzulänglicher wird solche Ausgleichung durch die natürlichen Folgen.

Aber vielleicht wächst dafür mit jener Entwicklung die Klarheit und die Stärke des Reflexes, den das Handeln im eignen Innern der Seele erzeugt, die Macht der Selbstbeurteilung, des Gewissens. Wo immer das Leben sich vom Wirken nach außen zur Innerlichkeit der Seele kehrte, da glaubte es hier einen unbestechlichen Richter über Gut und Böse zu finden; die Billigung dieses Richters schien eine Freude und Stärke zu erzeugen, gegen die alles Leid des Lebens verblaßt, seine Verwerfung hingegen eine Qual, die auch die glänzendsten Erfolge draußen entwertet.

Ohne allen Zweifel findet sich hier ein geistiges Urphänomen, das nur eine flache Denkweise von draußen her ableiten kann. Aber es fragt sich, wie weit das Urphänomen reicht, und ob es unserem ganzen Dasein zu einer gerechten Ordnung verhilft. Das nämlich stößt auf mannigfachste Bedenken. Zunächst leidet die unantastbare Hoheit der Sache schon dadurch, daß die nähere Art der Selbstbeurteilung stark von der gesellschaftlichen Umgebung abhängt: manche Handlungen wurden zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern gerade entgegengesetzt geschätzt; ein Gewissen aber, das wie weiches Wachs den Sitten, Meinungen, Einrichtungen der Menschen nachgibt, liefert keinen untrüglichen Maßstab für Gut oder Böse.

Auch nach der individuellen Art der Seele wirkt das Gewissen sehr verschieden. Der Reflex, den die Handlung in das Bewußtsein wirft, ist bei dem einen sehr matt und wird aufs leichteste abgeschüttelt, den anderen dagegen fesselt er mit überlegener Gewalt und läßt ihn nicht wieder los. So beunruhigen den einen auch schwerste Verschuldungen gar nicht, während den anderen kaum merkliche Verfehlungen quälen. Physische Unterschiede einer gröberen oder feineren Empfindlichkeit sind dabei stark im Spiel, namentlich aber entscheidet die Höhe der moralischen Entwicklung über die Kraft jener Selbstbeurteilung. So wird am meisten von ihr betroffen, wer ihrer am wenigsten bedarf; die Gerechten pflegen sich nach PASCALS Ausdruck für Sünder und die Sünder für Gerechte zu halten.

Wer möchte endlich leugnen, daß auch das Gewissen weithin dem Einfluß des großen Verderbers der moralischen Werte, dem Einfluß des Erfolges, unterliegt; das GOETHEsche Wort »der Ausgang gibt den Dingen den Namen« gilt auch für das Reich der Gesinnung. Denn das Böse, was wir wollten, erregt uns wenig, wenn es keinen Schaden brachte oder gar durch die Verkettung der Umstände zum Guten ausschlug; ebenso scheint auch das redlichste Streben, bei uns selbst und mehr noch bei anderen, gering und wertlos, wenn der Erfolg ihm versagt blieb. Wo hingegen die Folgen im Guten oder im Bösen gewichtig waren, da scheint auch die Gesinnung nach dieser oder jener Seite mehr Größe und Kraft zu haben. Ein so abhängiger, so bestechlicher Richter kann nun und nimmer Gerechtigkeit in das Leben bringen. – Alles in allem geht es an dieser Stelle ähnlich wie an anderen. Wohl erscheint im menschlichen Bereich ein Phänomen, dessen tiefste Wurzel ins Übermenschliche zurückreicht. Aber bei aller näheren Entwicklung gerät die Sache unter den Einfluß menschlicher Art und Unvollkommenheit; wir aber sinken in dieselbe Unsicherheit zurück, über die es uns hinaustrieb.

Vermag demnach das menschliche Dasein das Verlangen nach Gerechtigkeit mit eignen Mitteln nicht zu befriedigen, so kann die sittliche Ordnung nur übernatürlicher Art sein: eine überweltliche Macht hätte das Gleichgewicht zwischen Tun und Ergehen herzustellen, das unserem Leben fehlt. Die Tatsache einer solchen Ausgleichung müßte aber unserem menschlichen Blick deutlich erkennbar sein, ja uns sonnenklar entgegenscheinen, um unsere Überzeugung stützen und unser Leben beherrschen zu können. Daß sie das in Wahrheit tut, wer möchte das zuversichtlich behaupten? Denn der unmittelbare Eindruck bestätigt die Lehre von einem gerechten Schicksal der Taten in unserer Erfahrung keineswegs, es ist vielmehr voller Ungleichmäßigkeit. Bald hat das Handeln die schwersten Folgen, und alle diese Folgen kommen auf den Täter zurück, unbarmherzig hält die Kausalverkettung ihn fest, und eine längst vergessene Vergangenheit mag aus dem Grabe auferstehen und wie ein Gespenst erschrecken; umgekehrt bleiben oft schwere Verfehlungen ohne alle und jede Folge, sie fallen vom Menschen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ab wie eine fremde Zutat, der Wind verweht und zerstreut sie. Zu solchem ungeregelten Durcheinander kommen besondere Gründe, die einer gerechten Zuerteilung der Geschicke entgegenwirken. Das Individuum ist keine Insel, es steht in mannigfachen, oft unlösbaren Verkettungen, es ist durch den Zustand der Umgebung bedingt, durch das Tun und Lassen der engeren und weiteren Kreise, durch Familie, Volk, Zeit usw. Hier waltet eine so feste Verschlingung, daß oft die Handlung ihre Folgen weniger bei dem Täter als bei anderen hat; der eine muß für die Schuld des anderen, das eine Geschlecht für die Torheit des anderen büßen, das Vergehen des einen reißt den anderen in Unglück und Elend; »die Väter haben Heerlinge gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.«

Dabei laufen in den einzelnen Lebensschicksalen die Fäden wirr durcheinander, ohne ein zusammenhängendes Gewebe zu bilden und einen gemeinsamen Charakter zu zeigen. Wer die Summe der individuellen Schicksale zu ziehen versucht, kann sich kaum dem Eindruck eines blinden Durcheinander entziehen, und dieses Durcheinander wird zu schwerer Unbill, wenn so viel Verschiedenheit innerer Art und Gesinnung besteht, wie sie in Wahrheit besteht. Mochte dieser Eindruck hier leidenschaftliche Klagen und Anklagen, dort bange Zweifel hervorrufen, immer versetzte die Gleichgültigkeit der Welt gegen das Verhalten und Ergehen des Menschen gerade die ernsten Gemüter in starke Erregung. Daß oft das Böse nicht nur nicht gehemmt und abgewiesen, sondern gefördert und belohnt, das Gute hingegen statt der erwarteten Förderung der Unterdrückung und Vernichtung preisgegeben scheint, das wurde im eignen Gebiet der Religion zu unablässiger Frage und Sorge. »Ich rufe und ist kein Recht da« (HIOB). »Der Gerechte kommt um, und ist niemand, der es zu Herzen nehme, und heilige Leute werden aufgerafft, und niemand achtet darauf« (JESAIAS).

Den Generalpächtern des Glaubens und Offizialvertretern der Religion fehlt es freilich auch hier nicht an einer bequemen Antwort. Der Mensch, so heißt es, dürfe nicht rechten mit Gott, dessen Ratschlüsse alle menschliche Erkenntnis weit überstiegen; auch sei nach göttlichem Maß niemand frei von Schuld, und auch den, der unter Menschen gerecht heißt, treffe das Leid nicht unverdient. O diese weisen und eben im Bekenntnis des Unvermögens so selbstgerechten Männer! Was wißt ihr von den Ratschlüssen der Gottheit? Und wie könnt ihr vom Menschen ein Einstellen seines Urteils, eine Verleugnung eines unabweisbaren Eindrucks fordern? Gewiß verschwinden alle sittlichen Unterschiede des Menschen gegenüber der absoluten Vollkommenheit, aber der Mensch kann sich und sein Handeln nicht allein im Verhältnis zur Gottheit, er muß sie auch im Verhältnis zu seinen Mitmenschen betrachten, er kann nicht alle Vergleichung der Schicksale und der Würdigkeit einstellen; wenn er dabei keine Gerechtigkeit antrifft, so muß die Religion mit ihrer Zurückführung des Guten auf Gott Schmerz und Aufregung noch steigern. Und ist nicht ihre eigne Geschichte voll härtester Verfolgung und Unterdrückung des Edlen und Göttlichen? Nun und nimmer kann das Religion sein, solche Probleme leicht zu nehmen.

Auch beschränkt die Ungerechtigkeit sich keineswegs auf das Verhältnis von Innerem und Äußerem, von Schuld und Ergehen, sie erstreckt sich in das Innere selbst, sie macht zur Schuld, was keineswegs in vollem Umfange, vielleicht kaum irgendwie unsere Schuld ist. Jene Verkettung der Dinge, jenes Verwachsensein des Einzelnen mit der Umgebung, wodurch wir dem Individuum viel unverdientes Geschick zufallen sahen, betrifft auch das eigne Handeln des Menschen; was er eignes Tun nennt, auch innerlich als solches empfindet, ist oft nur das fast unvermeidliche Schlußglied einer langen Kette, die weit, ja ins Unabsehbare zurückreicht. Es mag nicht alle eigne Schuld des Individuums fehlen, aber sie verschwindet gegenüber dem, was ihm als Schuld, selbst vom eignen Bewußtsein, angerechnet wird. Diese scheinbare Unvermeidlichkeit dessen, was doch wie eine eigne und freie Tat wirkt, dies Hervorwachsen der Schuld aus undurchsichtigen Verwebungen der Geschicke, hat von alters her tiefere Gemüter viel beschäftigt. Dies Problem durchdringt die antike Tragödie und begleitet seitdem alle Höhe des künstlerischen Schaffens; daß auch die Denker sich ihm nicht verschlossen, mag das Wort SCHELLINGS bekunden: »Das ist das höchste denkbare Unglück, ohne wahre Schuld durch Verhängnis schuldig zu werden.«

Es fällt dabei stark ins Gewicht, daß die Dinge im Gewebe des Lebens nicht so scharfe Grenzen gegeneinander haben, und daß Gut und Böse hier nicht so rein und klar einander gegenüberstehen wie in den Lehrbüchern der Moral und in erbaulichen Reden. Sondern die Verworrenheit der menschlichen Lage läßt oft das eine fast unmerklich in das andere verlaufen, unser Handeln scheint oft ohne Beziehung zur Moral, und keine Gefahr ist im Gesichtskreis. Und doch kann in Weiterverfolgung der Weg an den Rand eines Abgrundes führen, eine Katastrophe bricht plötzlich herein, erhellt auch das Frühere klar und grell und macht zur Schuld, was ganz unbedenklich schien. Wie hier, so liegt überhaupt die Schuld oft weniger im Tun als im Unterlassen. Bei rechtzeitiger Aufbietung unserer Kraft, bei geschicktem Einsetzen unserer Tätigkeit war das Unheil abzuwenden. Wir haben sie nicht aufgeboten, auf uns kommt damit die Schuld. Aber wußten wir, was in Frage stand, konnten wir die Folgen unseres Zögerns ermessen? So war es vielmehr unsere Unwissenheit, unser Unvermögen, worauf die Sache zurückkommt. Aber war unser Handeln nicht an solcher Unwissenheit irgend beteiligt, und wird nicht damit die Sache doch wieder unsere Schuld? Dann geht die Schuld weniger auf die einzelne Tat als auf das Ganze des Seins. Aber haben wir selbst dieses Sein bereitet, hat nicht das Schicksal der Natur, der Lebenslage, der Erziehung, der Zeit, der Umgebung usw. es uns auferlegt? Ist nicht selbst dieses, daß wir zu solcher Höhe geistiger Entwicklung gelangen, um uns frei zu glauben und nach Selbsttätigkeit zu streben, nur die Folge jener Mitgift eines eigentümlichen Seins und Geschicks? Aber wenn wir in Wahrheit auch da, wo wir uns frei fühlen, ein bloßes Stück der Weltverkettung sind, woher kommt das Gefühl der Verantwortlichkeit, das Bewußtsein der Schuld, das uns oft mit unerträglicher Schwere belastet? Liegt darin nicht die größte Ungerechtigkeit, daß der Mensch, ohne die Freiheit zu besitzen, die Sorgen und Schmerzen der Freiheit zu tragen hat? Oder läßt sich trotz alledem die Freiheit aufrecht erhalten, und ist lieber diese ganze Welt zu zerschlagen als jene preiszugeben? Aber wer verleiht uns die dazu nötige Kraft, die Kraft zum Bau einer neuen Welt? Einstweilen bleiben wir an die alte Welt gekettet und erfahren hier fortwährend das schmerzlichste Mißverhältnis zwischen Sollen und Können. Wir müssen handeln, es treibt uns dazu mit unerbittlichem Zwange schon die Notwendigkeit der physischen und der sozialen Selbsterhaltung. Aber wir handeln ins Dunkel hinein; ohne die Zusammenhänge durchschauen und die Folgen ermessen zu können, verändern wir durch unser Handeln den Lauf der Dinge und schaffen eine neue Lage. Und damit sind wir der Macht des Schicksals verfallen. Denn nun mag die Verkettung der Dinge Wirkungen hervortreiben, die wir nicht ahnten, die unserer Absicht direkt widersprechen, und für die wir doch verantwortlich bleiben. Bei solcher Umkehrung von Absicht und Erfolg mögen wir schaden, wo wir nützen, zerstören, wo wir bauen wollten. Wenn uns aber Wind und Welle des Geschickes zu völlig anderen Zielen treiben, als sie uns vorschwebten, was ist in dem allen das Werk des Menschen, was ist an ihm sein eigen, handelt er überhaupt noch selbst, oder ist er ein bloßes Werkzeug in der Hand von dunklen Gewalten? So konnte schon der alte Dichter ausrufen:

»Was ist einer, was ist einer nicht?
Des Schattens Traum ist der Mensch«

(PINDAR),

und mit besonderer Wendung zum moralischen Problem der neue Dichter den Zweifel so fassen:

»Ihr führt ins Leben ihn hinein,
Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein.«

Alle Zweifel und Sorgen aber, die ein solcher Weltanblick und eine solche Lage des Menschen hervorruft, müssen mit voller Kraft auf die Seele des Einzelnen fallen, nachdem die Eröffnung eines göttlichen Lebens im menschlichen Kreise ihn unvergleichlich gehoben hat. Denn nun kann er nicht mehr die Weltprobleme von sich weisen, nun hat er unmittelbaren Anteil an der Unendlichkeit, nun muß er auch alle Schicksale, die das Geistesleben im menschlichen Bereich erfährt, als seine eignen empfinden. Ja er sieht jetzt das Ganze seines Wirkens und Seins unter einen schroffen Widerspruch gestellt, der sein Handeln schwankend, sein Lebensgefühl unsicher, seine ganze Existenz problematisch macht.

So weit sich selbständiges Geistesleben entwickelt, hat das Individuum als die einzige Stätte, wo jenes ursprünglich aufquillt, einen unvergleichlichen Wert und eine Überlegenheit gegen alles andere Dasein. Hier allein kann, wenn irgend in menschlichen Dingen, es einen Selbstzweck und Selbstwert geben. Dem Individuum selbst muß damit das, was seine Seelenbildung, die Herausarbeitung eines geistigen Wesens betrifft, allen übrigen Aufgaben vorangehen; es muß um so mehr seine Hauptkraft an dieses Ziel setzen, als der Weg zu ihm voll Mühe und Hemmung ist; es darf nichts von dem, was hierher gehört, für klein und gleichgültig erachten. Denn hier kämpft es um etwas, was eine Welt mit sich bringt, eine wesenhafte Welt, vor deren Gütern die des natürlichen Daseins verschwinden; hier handelt es sich um die Rettung seiner Seele, deren Verlust der Gewinn der ganzen Welt nicht aufwiegt. So läßt den Menschen seine innerste Überzeugung jene Sache als eine heilige Pflicht empfinden, und die menschliche Umgebung es an Unterstützung dessen nicht fehlen. Religion und Moral bestärken ihn eifrig in jener Aufgabe, und alle Erziehung echter Art bemüht sich, sein Streben jenem Ziel zu gewinnen.

Daß aber diese von innen aufsteigende Bewegung dem schroffsten Widerspruch des Weltgetriebes begegnet, das trat uns deutlich vor Augen: mit solcher Gleichgültigkeit behandelte jenes Getriebe alles Ergehen, ja die gesamte Existenz des Individuums, daß es sich von hier aus als etwas gänzlich Nichtiges ausnimmt. Der Welt draußen ist es ein verschwindender Punkt einer Unermeßlichkeit, deren Grundbestand vor uns immer weiter zurückweicht, je klarer die Wissenschaft ihr Wirken in Gesetze faßt, und die immer deutlicher ihre völlige Kälte gegen unser Streben zeigt. Das menschliche Zusammensein bewertet den Einzelnen höher, aber je mehr es ins Große wächst, desto ausschließlicher gilt er nach seinen Leistungen für das Ganze, und desto enger spitzen sich diese Leistungen zu; was innerlich im Menschen vorgeht, aus ihm wird, der Stand seiner Seele ist hier völlige Nebensache. Auch ist, wo aller Wert an den Leistungen hängt, niemand unentbehrlich, niemand unersetzlich, denn alles derartige läßt sich auch anderweit beschaffen; so geht der Strom des gesellschaftlichen Lebens rasch hinweg über das Individuum mit all seinem Sorgen und Hoffen, seinem Verlangen nach irgendwelchem Selbstwert. Es bleibt dafür nur das Verhältnis von Individuum zu Individuum; wenn irgend, so darf der Mensch hier hoffen, durch gegenseitige Liebe in dem Ganzen seines Wesens als Selbstzweck und Selbstwert Anerkennung zu finden und damit zugleich der Geistigkeit seiner Natur näher zu kommen, für deren Befreiung von der Enge des kleinen Ich er dringend auf Teilnahme, Verständnis, Liebe angewiesen ist. Aber dies Verhältnis von Individuum zu Individuum führt nicht nur in das Gebiet der Zufälligkeit, es werden hier mit besonderer Stärke alle Mängel und Schäden bemerklich, die am inneren Stande der Seele haften. Was gewöhnlich als Liebe gepriesen wird, geht so wenig auf das Ganze, Innerliche, Wesentliche, es ist so vermengt mit bloßen Naturtrieben und so abhängig von äußeren Dingen, dazu so flüchtig und wandelbar, daß es jenem tiefsten Verlangen der Seele mehr ein Trugbild vorspiegelt als ihm Befriedigung gewährt. So sieht das Individuum sein Begehren, irgendwie als an sich wertvoll anerkannt, geschätzt, gefördert und zugleich in seinem harten Kampf gegen die ungeheuren Hemmnisse gestärkt zu werden, überall abgewiesen; es kann sich nicht verhehlen, mit allen seinen Zwecken vom Ganzen der Erfahrung gerade entgegengesetzt behandelt zu werden, als es nach innerer Notwendigkeit selbst sich behandeln muß.

Welche Konsequenzen aber soll der Mensch daraus ziehen, daß er dem Weltgetriebe so gleichgültig ist und in ihm so gänzlich überflüssig scheint. Von alters her ist, mit besonderem Eifer im Stoizismus, der Weg versucht, sich gänzlich von der Welt abzulösen, sich zur eignen Innerlichkeit zu flüchten und hier eine Unabhängigkeit gegen alle Umgebung auszubilden. In Wahrheit liegt es im Vermögen des Menschen, sich in seinen Gedanken allein auf sich selbst zu stellen und alle Bindung an die Welt zu lösen; aus solchem Freiwerden von allem Druck und dem Schweben über den Dingen kann er ein eigentümliches Glück, ein stolzes Gefühl der Überlegenheit schöpfen. Aber langt solche Selbstbejahung des Individuums aus, und erfüllt sie das ganze Leben? Ist für den erst im Aufstreben zur Geistigkeit begriffenen Menschen nicht eine gegenseitige Mitteilung, ein Austausch des Lebens unentbehrlich, ergibt jene Ablösung von Menschen und Dingen nicht rasch eine innere Verarmung? Und wenn der Mensch auf sich selbst blickt, trifft er nicht schwere Verwicklungen auch im eignen Wesen, bedarf er zu ihrer Lösung nicht notwendig der anderen, des Ganzen? Der Grundfehler jener Absonderung ist, das Problem nur im Verhältnis des Menschen zur Umgebung zu finden; ist auch die eigne Seele voller Verwicklung, so ist die Unzulänglichkeit dieses Weges sonnenklar.

Was aber soll der Mensch tun, wenn ihn die Welt als gleichgültig verschmäht, und er bei sich selbst keine Zuflucht findet? Soll er die Verneinung, welche die Welt an ihm übt, seinerseits anerkennen, indem er schlechthin verzichtet, alles Streben aufgibt, den Lebensprozeß möglichst herabdrückt, schließlich alles Heil von Tod und Vernichtung erwartet? Das könnte er, wenn die Lebensbewegung lediglich seine eigne Angelegenheit, reine Privatsache wäre; das kann er nicht, nachdem in ihm ein aller bloßen Punktualität überlegener Lebensprozeß, die Eröffnung einer höheren Ordnung erkannt ist. Damit ist etwas in ihm gesetzt, dem er sich nicht entziehen darf; nun liegt eine Aufgabe vor, die nicht er selbst gestellt hat, die wie aus überlegener Kraft in ihm aufsteigt und ihn festhält. Mag er noch so sehr auf eignes Glück zu verzichten bereit sein, seine geistige Art mit ihren Aufgaben kann er unmöglich verleugnen. In ihr scheint ihm eine Sache anvertraut, die nicht nur für ihn, sondern für das Ganze von Wert ist; an dieser Stelle scheint eine höhere Ordnung sich nicht aufrecht erhalten zu lassen ohne seine Tätigkeit. So scheint jenseit alles physischen Lebensdranges etwas Metaphysisches in ihm zu walten, das einen einfachen Verzicht verbietet. Aber wenn die Sache so steht, warum hilft ihm nicht jene überlegene Macht, warum versetzt sie ihn in eine Lage, die weder ein Gelingen hoffen läßt noch ein Verzichten gestattet? Zerstört ein solcher Widerspruch nicht allen Mut zum Streben und Schaffen?

b. Die Erwägung des Widerstandes.

1. Die Unzulänglichkeit vorgeschlagener Abhilfen.

Die Hauptrichtungen, in denen die Entwicklung einer selbständigen Geistigkeit Widerständen begegnete, wurden verfolgt; augenscheinlich laufen jene Hemmungen nicht getrennt neben einander her, sondern sie verstärken sich gegenseitig und steigern sich im Zusammenwirken zu einer schlechthin unüberwindlichen Macht. Die Welt draußen gleichgültig und stumm, die menschliche Gesellschaft unzulänglich und weniger auf Wahrheit als auf Schein bedacht, die geistige Bewegung im eignen Bereiche schwach und widerspruchsvoll, in den Geschicken ein Walten weder zur Liebe noch zur Gerechtigkeit sichtbar, das alles mit ganzer Stärke sich in das Leben des Einzelnen erstreckend; wie kann der Mensch dabei ein Streben nach selbständiger Geistigkeit und einen Glauben an die Gegenwart des Göttlichen aufrecht erhalten.

An der Schwere dieser Hemmungen scheitern alle Versuche, die der menschliche Lebensdrang zu seiner Rechtfertigung ersonnen hat. Es scheitern zunächst alle Systeme des Optimismus. Sie möchten die augenscheinliche Unvernunft unserer Lage wegdeuten, indem sie einen anderen Standort der Betrachtung und zugleich eine Einfügung in größere Zusammenhänge suchen. Könnten nicht vielleicht die Widersprüche unseres Weltanblicks für einen höheren Standort sich in eine reine Harmonie auflösen, oder was uns starre Hemmung dünkt, sich hier als ein unerläßliches Mittel zur Erweckung und Steigerung des Lebens erweisen? Aber das ist eine Aussicht trügerischer Art. Denn da wir Menschen uns nicht auf jenen höheren Standort zu stellen vermögen, so bleibt jene Lösung günstigenfalls eine bloße Möglichkeit; gegen die sehr reale Wirklichkeit der Unvernunft vermag jene Möglichkeit kaum mehr als ein Schatten gegen leibhafte Körper. Der Hauptfehler dieser Versuche steckt darin, daß sie das Problem wie eine Sache der bloßen Betrachtung behandeln. Verhielten wir uns zur Welt nur zuschauend, und wäre alles Leid nichts anderes als ein Mißfallen des Betrachters an dem, was draußen vorgeht, so möchte allenfalls eine Veränderung des Standorts eine Wandlung des Urteils bewirken. Nun aber schauen wir die Welt nicht bloß an, sondern unser Handeln und Leiden verstrickt uns aufs Tiefste in sie; was wir dabei erleben, ist selbst ein Stück Tatsächlichkeit, und eine solche läßt sich nicht wegdeuten, durch kein Geschick zum Verschwinden bringen.

Auch das Trügerische der Hoffnung, daß die Bewegung der Kultur immer mehr reine Vernunft hervorbringen werde, ist durch den Gesamtverlauf der Untersuchung dargetan. Das war ja ein Hauptpunkt der Verwicklung, daß bei den höchsten Fragen aller Fortschritt unsicher und aller Erfolg zweischneidig blieb; der vermeintliche Gewinn verwandelte sich leicht in Verlust, und was längst gesichert schien, verfiel immer von neuem in Zweifel und Kampf. Wer von der geschichtlichen Bewegung eine wesentliche Besserung jener Sachlage hofft, der muß selbständige und bloßmenschliche, zentrale und periphere Geistigkeit in Eins zusammenwerfen.

So lassen die vorgeschlagenen Abhilfen das Problem ungelöst; immer wieder sehen wir uns auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen; die Versuche, der Verwicklung zu entrinnen, lassen sie schließlich nur noch größer erscheinen.

2. Die Unmöglichkeit einer Verneinung.

Steht aber die Sache so, wachsen von Schritt zu Schritt die Widerstände und scheitern alle Versuche zur Rettung, was anderes bleibt übrig als eine völlige Verneinung? Lösen sich nicht die unerträglichen Verwicklungen am einfachsten in der Weise, daß jene ganze Bewegung zu einer selbständigen Geistigkeit zurückgenommen und zugleich die Überzeugung von der Gegenwart eines göttlichen Lebens im menschlichen Kreise aufgegeben wird? Wie immer diese Überzeugung entstanden sein mag, durch die Unmöglichkeit ihrer Durchführung scheint sie als eine Irrung erwiesen. Steht wirklich die Sache derart, so darf uns nichts abhalten, die Konsequenzen mutig zu ziehen und ehrlich auszusprechen. Es wäre also alles, was jener Wendung angehört oder aus ihr folgt, als ein bloßes Trugbild abzuweisen und gänzlich aus unserem Leben zu streichen. Könnte das nicht mit Einem Schlage geschehen, so würde die Pflicht der Wahrhaftigkeit zum mindesten ein eifriges Streben nach jenem Ziele gebieten, wenn anders nach solchem Zusammenbruch für Wahrhaftigkeit und für Pflicht überhaupt noch irgend ein Platz ist.

Die Konsequenzen, so schwer sie sind, sollten uns also nicht abhalten. Nicht so sicher aber sind wir dessen, ob jene völlige Verneinung die Lage in der Tat zum richtigen Ausdruck bringt. Wir fanden, daß ein schwerer Widerspruch unser ganzes Dasein durchdringt, daß weder die Welt noch unser eignes Vermögen den Aufgaben entspricht, die an uns kommen und unsere Überzeugung gewinnen. Könnte nun wohl der Widerspruch die erschütternde und aufregende Kraft erlangen, die wir ihn erlangen sahen, wenn jene Aufgaben uns nur äußerlich anhafteten, und nur ein flüchtiges Spiel der Gedanken sie uns vorspiegelte. Entsteht bei uns ein ernstlicher, das ganze Leben durchdringender Zusammenstoß, so erweist das eine Zweiseitigkeit: es besteht nicht nur etwas, das hemmt, es gibt auch etwas, das gehemmt wird, etwas, dessen Entwicklung nicht gelingen will, das überall und überall zurückgewiesen wird, das sich aber nun und nimmer für ein völliges Nichts erklären und wie ein bloßer Einfall aus dem Leben entfernen läßt. Mit Recht meint PASCAL: »Qui se trouve malheureux de n'être pas roi, si non un roi déposséde«; läge in der menschlichen Natur nicht eine allem Belieben überlegene Bewegung zu einer neuen Welt, nun und nimmer könnte der Befund unserer Welt so viel Aufregung, so starken Unwillen, so herben Schmerz erzeugen. Was anders macht uns die Fremdartigkeit und Gleichgültigkeit der seelenlosen Natur zu einem Übel, als daß wir das Ganze überdenken und an höheren Zwecken messen, wie könnte uns namentlich die Vergänglichkeit unseres Daseins schmerzen, wenn nicht irgendwelches Ewige in uns wirkte und der Auflösung in die bloße Zeit widerstünde? Warum erzürnt uns die Unzulänglichkeit und die Verkehrtheit des gesellschaftlichen Geisteslebens, wenn nicht eine andere Art dagegen aufstrebt und jenes ganze Tun und Treiben zu einer niederen Stufe herabsetzt? Könnten so schwere Verwicklungen in der Innerlichkeit des Geisteslebens empfunden werden, wirkte in uns nicht irgendwelche dem Gegensatz überlegene Kraft, stünden wir nicht irgendwie über dem Bereich des Konfliktes? Warum erregt uns der Mangel an Liebe und Gerechtigkeit in unseren Geschicken so sehr, wenn nicht wertvolle Güter dadurch Schaden leiden? Wie könnte endlich das Individuum die Verwicklungen des Ganzen als sein eignes Los erleben, wenn nicht eine neue Ordnung der Dinge aus ihm ein Weltwesen macht?

Das durchdrang als ein leitender Gedanke unsere ganze Darlegung, daß nur deswegen die Hemmungen so anschwellen, weil neue, größere Forderungen gestellt sind; so wird hier nur zusammengefaßt, was sich Punkt für Punkt uns erwies, daß nämlich die Stärke des Leides, die Härte des Widerspruches selbst das beste Zeugnis für eine Tiefe unseres Daseins, ein Wirken höherer Kräfte in ihm bildet. Ein Nein, das soviel Erregung und Bewegung hervorruft, ist unmöglich ohne ein, wenn auch verstecktes und weit zurückgelegenes Ja.

Das ist der innere Widerspruch eines starren Pessimismus, daß er nur die eine Seite der Sache sieht, daß er bei dem abschließt, was in die Empfindung fällt, nicht aber gewahrt, daß der Eindruck, die Aufregung, das Leid nicht so tief und so leidenschaftlich sein könnten ohne eine Hemmung irgendwelches positiven Lebens und Strebens. Ist alles nichtig, so entsteht gar kein Mißverhältnis, so ist auch der Schmerz eine Einbildung, die sich aufs leichteste abschütteln läßt. Es ist ein Widersinn, dessen Entbehrung oder Verlust zu beklagen, dessen Besitz kein Glück gewährte. Durch das Leben der Inder und das vieler Völker geht eine stete Klage über die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens und den raschen Wechsel der Dinge, jenes scheint damit als nichtig und wertlos dargetan. Aber könnte die Vergänglichkeit ein Übel sein, wenn wir selbst bis zur Wurzel unseres Wesens dem Reich des Wandels angehörten und nicht in uns etwas der Vergänglichkeit Überlegenes wirkte? Kann aber nur für ein auf Ewigkeit angelegtes und nach Ewigkeit dürstendes Wesen Vergänglichkeit ein Schmerz sein, so bezeugt die Stärke des Schmerzes selbst die Kraft jenes Verlangens nach Ewigkeit, so ist ein Mehr in unserem Leben dargetan. Das ist das Wahrheitselement in dem griechischen Gedanken der privativen Natur des Bösen, in der Fassung des Bösen als einer bloßen Hemmung und Beraubung des Guten, daß ohne irgendwelches Vorhandensein positiver Güter auch das Leid keine Kraft, der Schmerz keine Tiefe hätte. Nur darin fehlt jene optimistische Denkart, daß sie mit irgendwelcher Gegenwart des Guten schon seine überwiegende Macht und Herrschaft erwiesen glaubt. Aber mindestens ebenso groß ist der Fehler des Pessimismus, das Gute überhaupt zu streichen, weil seine Entwicklung im menschlichen Dasein auf schwere Hemmungen stößt.

Auch die Erfahrung des Lebens spricht deutlich genug in diesem Sinne. Die Erfahrung schweren Leides pflegt den Menschen keineswegs zu völliger Verneinung zu treiben. Sondern wenn alle Widerwärtigkeit auf ihn einstürmt, wenn er nicht nur von außen in allem, was er liebt, bedroht, sondern auch in seinem Innern aufs Tiefste erschüttert wird, so kann gerade solche Lage ihm ein sicheres, ein axiomatisches Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer Ordnung jenseit aller jener Konflikte, die Gewißheit einer Unzerstörbarkeit seines Wesens erwecken und ihn in der Festhaltung seiner Ziele nur noch bestärken. Jenes Reich der Hemmung erscheint dann nur als eine besondere Stufe der Wirklichkeit, als eine Stufe, die ihn unmöglich ganz und gar einnehmen kann. Nichts schützt so sicher vor einem Verwerfen des ganzen Daseins und einer willigen Ergebung in die Vernichtung als tiefes Leid, namentlich Leid und Schmerz in geistigen Dingen, wie sie hier in Frage stehen; es waren nicht die Zeiten trüber Erlebnisse und schwerer Verwicklungen, welche die Menschheit an sich selbst irre machten, sondern weit eher Zeiten trägen Behagens und scheinbarer Sättigung. Auch der Religion gegenüber hat eine tiefe Erfahrung der Unvernunft unseres Daseins nicht sowohl zur Schwächung als zur Verstärkung des Glaubens gewirkt, indem sie, über alles Vermögen direkter Beweisführung hinaus, die Unerläßlichkeit, die Gewißheit, die Gegenwart einer neuen Welt empfinden ließ. Inmitten des erschütterndsten, mit Gründen unwiderlegbaren Zweifels hat sich oft die Unmöglichkeit einer völligen Verneinung mit siegreicher Klarheit erhoben.

In solchem Gedankengange kann alle unsägliche Hemmung, die der Anblick des menschlichen Daseins enthüllte, nicht zu einem völligen Verzichte bewegen; was immer jenes Dasein zu etwas kleinem und unzulänglichem stempelt, was unseren weiten Abstand von dem Ziel zur Empfindung bringt, das verwandelt sich jetzt in ein Zeugnis für die Wirklichkeit und für die Höhe dieses Zieles; in der Kleinheit des Menschlichen bekundet sich deutlich die Größe des Geistigen und Göttlichen.

Wird aber in aller Hemmung eine Tiefe der Dinge erkannt, so erhellt die Unmöglichkeit einer glatten Verneinung. Auch darüber läßt alle Dunkelheit keinen Zweifel, daß das Göttliche nicht erst an der äußersten Grenze unseres Lebens auftaucht, sondern daß es inmitten seiner schafft und wirkt. Wie dies Wirken zunächst erscheint, bringt es allerdings mehr ein Nein als ein Ja; es baut nicht unter uns ein Reich lauterer Vernunft auf, aber es verhindert alle Befriedigung des Menschen beim Bloßmenschlichen, es widersteht allem Versuch eines Sicheinspinnens und Festlegens im menschlichen Kreise, es übt ein unerbittliches Gericht an aller Selbstgenügsamkeit des Menschen, aller Selbstvergötterung des Menschenwesens.

Das erscheint besonders deutlich in zwiefacher Richtung: in formaler wie in materialer Hinsicht. – Dort ist es die Gewalt des logischen Denkens, in der etwas aller menschlichen Meinung und Neigung Überlegenes, um das Wohl und Wehe des bloßen Menschen Unbekümmertes zur Erscheinung gelangt. Die Bewegung der Gedanken schreitet vorwärts, getrieben und gelenkt lediglich durch ihre eigne Notwendigkeit; aller Versuch des Menschen, sie in seine Bahn zu ziehen und seinen Zwecken unterzuordnen, scheitert aufs kläglichste. Gewisse Ideen erscheinen und gewinnen uns, sie sind uns zunächst willkommen, soweit sie uns Dienste leisten und nicht zu viel von uns verlangen. Dann aber möchten wir, Individuen wie Parteien, sie anhalten, weiteren unliebsamen Konsequenzen entgehen, sie so zustutzen, daß sie sich bequem unseren Plänen fügen. Aber mögen wir uns noch so mühen und plagen, uns dem Strom noch so kräftig entgegenwerfen, es hilft nichts, die Gedanken lassen sich nicht biegen und lenken, selbst dem Schwachen und Ungeschickten ist eine Überlegenheit gegeben, wenn es jene Konsequenz vertritt und zur deutlichen Aussprache bringt. So hat das Denken ein sicheres Übergewicht über alles Unternehmen des bloßen Menschen.

Dasselbe zeigt sich bei dem Erscheinen von Widersprüchen im menschlichen Leben. Eine Zeit mag schroffe Widersprüche enthalten, sie stören und ängstigen nicht, solange sie nicht zum Bewußtsein gelangen. Aber es kommt die Zeit, wo das geschieht, und wenn es geschieht, so entfällt alle Möglichkeit einer Zurückdrängung, Abschwächung, freundlichen Verständigung; dann entwickeln die Behauptungen ihre volle Schärfe, und der Gegensatz wird rücksichtslos ausgekämpft; Glück, Ruhe, Wohlbefinden des Menschen werden demgegenüber Nebendinge. So zeigen es namentlich die politischen und sozialen Bewegungen.

Aus solcher Entfaltung der Konsequenzen und solcher Unversöhnlichkeit der Gegensätze entsteht eine weltgeschichtliche Dialektik, die sich nicht gerade in den Formeln bewegt, in welche HEGEL sie fassen wollte, deren mächtiges Wirken in den menschlichen Geschicken sich aber nicht verkennen läßt. Das Geistesleben gerät auf menschlichem Boden stets in eine besondere Bahn, deren Verfolgung notwendig zu immer größerer Enge führt und im Gelingen selbst mehr und mehr Irrtum erzeugt. Nun vollzieht sich eine Zurückweisung dieses Irrtums nicht durch eine Milderung der Behauptung, durch ein ruhiges Ausscheiden des Verkehrten, sondern durch ein Umschlagen in das völlige – reale, nicht logische – Gegenteil; nach dem Umschlag ist diesem die volle Macht gegeben, und es verfolgt seine Bahn mit derselben harten Ausschließlichkeit, bis auch hier der Irrtum die Wahrheit zu überwiegen droht, und wieder ein Umschlag nach einer anderen, vielleicht völlig anderen Richtung eintritt. Diese Bewegungen mit ihren kleineren und größeren Wogen erfüllen die Weltgeschichte; ob sie einen echten Fortschritt mit sich bringen, ist keineswegs ausgemacht; äußerlich angesehen, scheint das Hin- und Herwogen ins Zwecklose zu verlaufen. Das aber ist sicher, daß alles Auf- und Absteigen, alles Werden und Vergehen jenseit der Zwecke der Menschen liegt und durch all ihr Wünschen und Streben in keiner Weise beirrt wird; diese Bewegungen lassen den Menschen nie ruhen und rasten, nie sich eines sicheren Besitzes erfreuen, sie halten sein Dasein stets in Fluß, sie zerstören immer von neuem alle träge Selbstzufriedenheit. So walten bei ihm geistige Mächte, die ihn tief demütigen, die ihm nur soweit einen Wert vergönnen, als er sich bescheidet ihr Werkzeug zu sein, die ihn trotz aller glänzenden Eigenschaften vernichten, wo er ihren Lauf zu hemmen wagt.

Zu diesem übermenschlichen Walten formaler Art gesellt sich ein solches materialer. Die Moral in ihrer Eigentümlichkeit würdigen, das heißt ihre Überlegenheit, ja ihre Gegensätzlichkeit gegen alle bloßmenschlichen Zwecke erkennen. So muß sie der natürlichen Art des Menschen als etwas Fernes, Fremdes, ja Feindliches gelten, so hat sie den natürlichen Antrieb gegen sich, so wird sie im Durchschnitt der menschlichen Lage bald weit zurückgedrängt, bald in einen bloßen Schein verwandelt. Demnach wirkt sie hier wenig als eine Macht positiver Art. Wohl aber übt sie ein eingreifendes Walten zur Begrenzung und Verneinung. Sie läßt dem Menschen die Unzulänglichkeit alles eignen Unternehmens deutlich empfinden, sie richtet als Gewissen sein Tun, sie zerstört die Befriedigung auch an den glänzendsten Leistungen einer Kultur, die ihrer glaubt entraten zu können, sie rächt sich für alle Verschmähung dadurch, daß ohne sie aller Gewinn des Lebens in Selbstsucht und Übermut auszuarten droht.

Nicht anders steht es bei der Religion. Auch sie hat, soweit sie dem Aberglauben entwuchs, den natürlichen Zug des bloßen Menschen eher gegen als für sich, eine Ehrfurcht vor dem Höheren übermittelt nicht die Natur, und auch da, wo die Religion äußerlich in hohen Ehren stand, war viel Klage über die Ungläubigkeit der Menschen. In der Breite der Verhältnisse war die Religion stets mehr Schein als Wirklichkeit. Aber trotzdem bleibt sie eine gewaltige Macht des menschlichen Lebens und der weltgeschichtlichen Bewegung. Denn sie hat neue Maße gebracht, die ungenügend machen, was sonst genügte, sie hat dem üblichen Tun des Menschen und seiner Wertschätzung der Dinge ihre Schranke gezeigt und die eigne innerste Seele des Menschen damit brechen heißen. Jede große Wendung der Religion ist eine Erhöhung der Ansprüche an das Geistesleben, ein Entwerten dessen, was bisher die Menschen befriedigt hatte. So am meisten in der Persönlichkeit und dem Lebenswerk Jesu. Ein menschliches Dasein schlichtester und einfachster Art, in einem abgelegenen Winkel der Welt verlaufend, wenig beachtet von den Zeitgenossen, nach kurzer Blüte brutal vernichtet. Und doch hat dieses Leben kraft des Geistes, den es verkörperte, die Maße des menschlichen Seins bis zum Grunde verwandelt, es hat, was bisher volles Glück zu bringen schien, unzulänglich gemacht, es hat aller bloßnatürlichen Kultur eine Schranke gesetzt, es hat nicht nur alle Hingebung an den bloßen Lebensgenuß zur Frivolität gestempelt, es hat den ganzen bisherigen Lebenskreis des Menschen zur bloßen »Welt« erniedrigt. Solche Schätzung hält uns fest und will nicht von uns weichen, auch wenn wir in den Dogmen und Gebräuchen der Kirche nur menschliche Einrichtungen sehen. So übt jenes Leben immerfort ein Gericht über die Welt, und die innere Hoheit eines solchen von innen her wirksamen Gerichts übertrifft alle Entfaltung äußerer Macht.

Demnach ist bei aller Verworrenheit der menschlichen Dinge ein überlegenes Geistesleben uns nicht bloß ein Gegenstand der Ahnung und Hoffnung, sondern es wirkt auch unmittelbar bei uns selbst, zunächst freilich als Gesetz und Gericht, als eine Macht, die ein Abschließen des menschlichen Strebens beim bloßen Menschen verhindert, die das Unvermögen alles bloßmenschlichen Unternehmens mit zwingender Klarheit herausstellt. Nicht bloß in jenen besonderen Richtungen, sondern in allem geistigen Leben erscheint mit überlegener Gewalt ein solches demütigendes und zerstörendes Wirken.

Der Mensch ist unablässig beflissen, sich selbst beizulegen, was nur dem Geistesleben gebührt, er erklärt sich selbst, namentlich als Masse, als öffentliche Meinung usw., zum Richter über Gut und Böse, über Wahr und Unwahr. Aber mit dem Schein der Wahrheit gibt er seinen Urteilen nicht zugleich auch die Kraft der Wahrheit; früher oder später kommen die echten Maße des Geisteslebens zur Wirkung und zerstören jeden Schein. Mag das Geistesleben sich zeitweilig in den Dienst menschlicher Zwecke ziehen lassen, bald entwindet es sich der Erniedrigung und erweist seine unzerstörbare Majestät

Das alles bleibt voller Probleme und Rätsel, aber bei aller Dunkelheit ist so viel gewiß, daß ein übermenschliches Geistesleben keine bloße Einbildung ist; mag es mehr als eine Macht der Erhabenheit, als Gesetz und Gericht über uns walten als sich uns freundlich eröffnen, es ist und bleibt eine Wirklichkeit, felsenfest gesichert gegen eine völlige Verneinung und Verwerfung.

3. Die Notwendigkeit weiterer Erschließungen.

So unmöglich demnach ein völliger Verzicht, die Verwicklung erhält zunächst mehr eine andere Gestalt als eine genügende Lösung. Denn mag eine größere Tiefe des Lebens jenseit des Bereiches der Hemmungen erkannt sein, mag eine richtende Macht geistiger Art innerhalb unseres Daseins wirken, es fehlt noch, worauf es uns vornehmlich ankommen muß: ein positives Teilhaben am Geistesleben, eine volle Belebung der in uns angelegten Tiefe. Das allein aber ist es, was unserem Tun einen Wert verleiht und unsere Überzeugung vom Zweifel zu befreien vermag. Ohne eine Wendung dahin verbleiben wir in einer schwankenden Mittelstellung: unverkennbar ist eine höhere Welt, aber in unserem Kreise scheint sie die ungeheuren Widerstände nicht so weit überwinden zu können, um sich rein zu entwickeln; wohl wird uns alle Befriedigung am Bloßmenschlichen ausgetrieben, nicht aber zum Ersatz ein neues Leben gewährt. So sehen wir nicht, was unser Tun bezweckt, warum und wofür wir es aufbieten sollen. Hat das Göttliche sich uns nur erschlossen, um uns seinen unermeßlichen Abstand und unsere verschwindende Kleinheit zur Empfindung zu bringen? Ist unser ganzes Dasein ein bloßes Mittel für die Erweisung der überweltlichen Erhabenheit? Aber ist dann nicht alles vergeblich, was wir unternehmen mögen, müßte nicht unter solchen Eindrücken alles menschliche Streben zusammenbrechen?

So bleibt auch bei Anerkennung jener Tiefe der Dinge und jenes Waltens der Gottheit für uns Menschen alles in Frage, noch immer umfängt uns das peinliche Dilemma, daß für die Verneinung zu viel, für die Bejahung zu wenig Vernunft vorliegt. Si deus, unde malum; si non deus, unde bonum? Wie können wir hoffen, diesem Dilemma zu entrinnen? Alle bisherigen Tatsachen und Erwägungen verhelfen uns dazu nicht; die einzige Hoffnung liegt also darin, daß die Eröffnung eines übermenschlichen Geisteslebens noch nicht erschöpft ist, daß das Göttliche auch mit irgendwelchem positiven Wirken innerhalb unseres Kreises erscheint. Nur eine weitere Tatsächlichkeit kann das Ja zum endgültigen Siege führen und damit unser Leben der drohenden Vernichtung entreißen. Nach einer solchen Tatsächlichkeit gilt es also Umschau zu halten. Daß der Mensch in der Erschütterung seines Lebens nach äußeren Zeichen und Wundern rief, verstehen wir, ohne es mitzumachen; aber insofern bleiben auch wir auf ein Wunder, auf eine weitere und durchdringende Erschließung des Göttlichen angewiesen, als dies allein uns aus dem bisherigen Widerspruch herauszuheben und unser Leben in eine sichere Bahn zu leiten vermag.

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