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V. Schluß

a) Rückblick und Zusammenfassung

Alle einzelnen Punkte, die wir erörterten, fassen sich schließlich in eine einzige Hauptfrage zusammen: Kann der Sozialismus als Lebensgestaltung das menschliche Leben umfassen, ihm die nötigen Ziele und Kräfte bieten, das menschliche vermögen voll entwickeln, das Glückverlangen befriedigen?

Seine Überzeugung und Hoffnung ging dahin, dem Menschen in klarer Ablösung von allen außermenschlichen Zusammenhängen auf dem Boden der Erfahrung seinen Lebenskreis zu bereiten und darin sein Glück zu finden; es ist nach seiner Überzeugung die Verbindung der einzelnen Kräfte, es ist die Gesellschaft, namentlich die Wirtschaftsgemeinschaft, die das Problem vollauf zu lösen vermag; alle anderen Fragen schlossen sich dem an, alle einzelnen Punkte wurden durch diesen Zusammenhang eigentümlich gestaltet, ein fester Bereich wurde abgesteckt, der alle berechtigten Wünsche der Menschenwesen zu erfüllen versprach.

Der Zusammenhang dieser Fragen forderte eine klare und unumwundene Antwort, unsere Antwort mußte verneinend sein, unser Standpunkt war dabei nicht der des Politikers und des Nationalökonomen, sondern der des Philosophen, nur dieser hatte zu erwägen, was aus dem Ganzen und Innern des Menschen wird, wenn die vom Sozialismus gebotene Lebensgestaltung eine volle Wirklichkeit erlangt.

Unsere Überzeugungen faßten sich in sechs Hauptpunkte zusammen; an jeder Stelle erwies sich, daß der Sozialismus bedeutende Probleme enthält und wichtige Anregungen liefert, daß er aber für das Lebensproblem in keiner Weise ausreicht. Seine Behandlung ist viel zu eng, zu summarisch, zu parteimäßig, sie verkennt die Tiefen und auch die Verwicklungen des menschlichen Wesens, nur einer gewissen Fläche des Lebens kann ihre Antwort genügen. Betrachten wir jene Punkte.

1. Der Sozialismus möchte alle Lebensbewegung zusammenfassen und unserem Streben mehr Einheit geben. Das Problem ist unverwerflich, aber die gesuchte Lösung reicht nicht über eine begrenzte Fläche und Schicht hinaus, sie verkennt die tieferen Bewegungen und auch die Gegensätze, welche uns bewegen.

2. Der Sozialismus macht den Menschen zum Mittelpunkt alles Strebens, aber er faßt in seinem Menschheitsidealismus den Begriff viel zu äußerlich, er trennt den Menschen vom Ganzen der Wirklichkeit und kann bei solcher Trennung seinem Leben weder einen Sinn noch einen Wert verleihen: nur ein Zusammenhang des Lebens mit dem Alleben kann ihm einen Inhalt geben.

3. Der Sozialismus will das Leben ganz und gar in die Gegenwart stellen, er erreicht aber keine lebendige Gegenwart, er gerät vielmehr unter die Gewalt der Augenblicke, zugleich entbehrt er einer echten Geschichte.

4. Der Sozialismus möchte eine volle Gleichheit durchführen, er kann das aber nicht, ohne alle Gliederung der Gesellschaft aufzugeben und bei klarer Konsequenz in einen geist- und kulturlosen Stand zu versinken; die erstrebte Gleichheit verwandelt sich ihm leicht in eine Ungerechtigkeit.

5. Der Sozialismus möchte durch seine Sozialisierung die Menschheit enger verbinden und zu höherer Leistung führen, aber da er keine inneren Kräfte dafür aufzubieten hat, so muß das Ganze auseinandergehen und schließlich in einen Kampf aller gegen alle enden.

6. Der Sozialismus behandelt die wirtschaftliche Aufgabe als die allesbeherrschende Macht, er kann das nicht, ohne das Ganze und Innere des Menschen schwer zu schädigen und niederzudrücken; das Äußere reißt hier das Innere gewaltsam mit sich fort.

In Summa vermissen wir hier sowohl einen rechten Lebensinhalt als ein rechtes Lebensglück; das Ganze bleibt bei aller Fülle seiner Leistungen innerlich an die Oberfläche gebannt. Als leitendes Ziel des Handelns bleibt nur die Nützlichkeit; eine Verbindung von überlegendem verstand und sinnlichem Trieb soll einen ganzen Menschen ausbilden; Intellektualismus und Sensualismus beherrschen miteinander das Leben und rauben ihm eine Seele. Die Beurteilung des Menschen aber litt einerseits an einer starken Überschätzung der wirtschaftlichen Mittel, welche uns aus der Natur und aus den Verhältnissen zur Verfügung stehen, andererseits an einer Überschätzung des moralischen Vermögens. Der Mensch erscheint als von Natur tüchtig und edel, nur die schlechten Verfassungen verschulden die Mißstände der menschlichen Verhältnisse. Das war die Denkweise Rousseaus und der französischen Revolution, das ist auch die Denkweise des Sozialismus. Das Zusammentreffen beider Überzeugungen muß gewaltige Bewegungen und ungeheure Leidenschaften erzeugen; eine innere Bildung des Menschen trat dagegen sehr zurück. Was soll alle solche Bildung, wenn keine Innenwelt besteht, wenn wir ganz in das sinnliche Dasein aufgehen?

Über diesen Einwänden und Entgegnungen sei nicht unterschätzt, was der Sozialismus für das Lebensproblem geleistet hat. Zunächst hat er eine energische, vielfach berechtigte Kulturkritik an unseren Verhältnissen geübt, besonders aber hat er das wirtschaftliche Problem als ein Hauptstück des Lebens anerkannt und bedeutende Konsequenzen daraus entwickelt, in engem Zusammenhänge damit die Selbständigkeit des Arbeiterstandes als eines wesentlichen Gliedes der Menschheit vollauf anerkannt; das muß stark auf die Gestaltung des gesamten Lebens wirken. Über diese besonderen Antriebe hinaus teilen weite Kreise bei ihm eine Sehnsucht nach einem neuen Leben, eine Sehnsucht nach mehr Liebe, mehr Zusammenhang, mehr Glück des Lebens. Die Macht dieses Verlangens muß jeder würdigen, der den Sozialismus richtig einschätzen möchte. Solches Sehnen ist freilich nur zu erfüllen, wenn es von größeren Zusammenhängen begründet und getragen wird, als die eigenen Zusammenhänge der sozialistischen Gedankenwelt sie bieten. Müßte diese Gedankenwelt alles ausgeben, was ihr aus anderen Zusammenhängen zufließt, so wäre eine arge geistige Verarmung nicht zu vermeiden. Tatsächlich ist unsere ganze geistige Atmosphäre durch die weltgeschichtliche Arbeit getränkt; diese Arbeit wird nur nicht anerkannt.

b) Lage und Ausblick

Daß der Sozialismus – das Wort im umfassendsten Sinn verstanden – jetzt eine Weltmacht übt, das erfahren alle Völker täglich und stündlich, direkt oder indirekt. Daß er aber zu dieser Macht gelangt ist, das hatte zwei Hauptgründe, ihr Zusammentreffen bewirkt vornehmlich die gegenwärtige Krise. Die Kulturwelt entbehrt jetzt eines umfassenden und erhöhenden Zieles; früher gab ihr ein solches die Religion, dann gab es ihr eine Idealkultur mit ihrer intellektuellen und künstlerischen Bildung. Dann ist eine Wendung zum Realismus eingetreten, unter seinem Einfluß hat sich das Leben in einzelne Ströme gespalten, deren jeder manches wirken mag, die miteinander aber das Ganze des Lebens mehr entzweien als verbinden. In diese, haltlose und schwankende Zeit aber fällt die große wirtschaftliche Wendung, die radikale Umwandlung der Arbeit und zugleich das vorantreten der wirtschaftlichen Probleme mit seinen Gegensätzen. Dieses Problem hat nunmehr eine Übermacht erlangt, und es hat das Ganze der Menschheit aus seiner Bahn gerissen, es hat das Leben auf eine neue Grundlage zu stellen gesucht, es hat die hier vorherrschenden Ziele zu Zielen des ganzen Menschen erhoben. Ein solches Unternehmen verschlingt untrennbar Richtiges und Verkehrtes; ein gewisses Recht ist ihm zuzuerkennen, aber dies Recht wird zu einem Unrecht, wenn es die Frage des ganzen Menschen zur Seite schiebt und für den Menschen den Arbeiter, namentlich den Fabrikarbeiter, mit seinen Interessen einsetzt. Das macht das Maß des Lebens viel zu eng; zur Rettung der Weite und Freiheit der Menschheit ist ein energischer Kampf gegen diese drohende Verengung aufzunehmen; es hat hier die Menschheit einen harten Kampf für ihre Selbsterhaltung zu führen, es gilt die Frage zu entscheiden, ob das Ganze der Menschheit der Aufgabe gewachsen ist oder ob es ihr unterliegen muß, ob es die jetzige Lage assimilieren kann oder ob es durch sie zerstört wird. Die Gefahr dieser Lage liegt weniger in dem geistigen Gehalt des Sozialismus, dessen Einseitigkeit und Begrenztheit zweifellos ist, als in dem Mangel eines positiven Lebenszieles, eines umfassenden und erhöhenden Zusammenhanges; die Gegenwart entbehrt dessen, erst die Zukunft kann das bringen, zugleich aber muß sie ein rechtes Verhältnis von wirtschaftlicher und geistiger Betätigung vermitteln, muß sie den Menschen über den Arbeiter stellen. Ohne eine gründliche Kräftigung und Vertiefung, ohne eine geistige Reformation kommen wir bei diesen Aufgaben nicht weit, ein subjektiver Aufschwung, eine Begeisterung der Stimmung kann uns nicht dazu verhelfen, es müssen überlegene geistige Mächte auf uns wirken, um eine innere Umwälzung bei uns zu bewirken; voraussichtlich stehen wir vor einer neuen religiösen Epoche, die unserem Innenleben sowohl einen Halt als einen Inhalt zu geben vermag. Schließlich ist unsere geistige Selbsterhaltung und zugleich unser Glück das Allerwichtigste, es wird sich durch die Selbsterfahrung der Menschen allen politischen und sozialen Problemen als überlegen erweisen; der einmal zur Geistigkeit geweckte Mensch kann sich unmöglich seiner Geistigkeit wieder entäußern; seine geistige Wesensfreiheit erträgt nicht den Zwang des Sozialismus. Aber wenn wir schließlich den Sieg des ganzen Menschen hoffen, zwischen der Gegenwart und jenem »Schließlich« können große Rümpfe und Umwälzungen liegen; der nächste Anblick der Gegenwart ist wenig hoffnungsvoll, jedenfalls stehen wir in einer großen Entscheidung und bedürfen wir dafür alles Vermögens.

Große Kraftverschiebungen und große Wertverschiebungen sind erfolgt oder doch im Gange; eine ungeheure Bewegung ist aufgestiegen, der Lebensdurst und die Affekte der Individuen wie der Völker sind aufs äußerste erregt, aber es fehlen zusammenhaltende und erhöhende Mächte, welche dem ein Gegengewicht entgegensetzen könnten, es fehlt diesem Leben ein Inhalt, der die Kraft leiten und lenken könnte. Gewaltige Umwälzungen bedrohen das Ganze der Menschheit. Der tausendjährige Bestand der alten Gesellschaft ist erschüttert, elementare Mächte streben empor, ging früher die Bewegung von oben nach unten, so geht sie jetzt von unten nach oben. Das ergibt ungeheure Wandlungen. Zugleich verschiebt sich die Stellung des Menschen zum All, er wird unsicher über sich selbst und über sein Grundverhältnis zur Wirklichkeit, es wanken die Träger nicht bloß des religiösen, sondern auch des moralischen Lebens.

Die Neuzeit zeigt in dieser Richtung eine erschütternde Tragik. Die Menschheit der Neuzeit wollte sich von allen Zusammenhängen ablösen und lediglich der eigenen Kraft vertrauen, durch einen engeren Zusammenschluß und eine volle Entfaltung alles Vermögens auf dem Boden des Daseins glaubte sie allen Aufgaben gewachsen zu werden, in rastloser Arbeit wollte sie einen Turm bis zum Himmel bauen. Nun aber sind die Völker untereinander verwirrt, immer weniger findet die Menschheit sich bei allem Gerede von Einheit und Gleichheit innerlich zusammen. Die Grenzen der Menschheit treten deutlich hervor, der Menschenenthusiasmus ist im Verschwinden. Es muß sich bald entscheiden, ob die heutige Kultur und Gesellschaft stark genug ist, eine innere Einigung zu vollziehen, die notwendigen geistigen Kräfte aufzubringen, die seelische Vereinsamung nicht nur des einzelnen, sondern der Menschheit zu überwinden, oder ob sie es nicht ist; bei einer Verneinung müßte die heutige Kultur und Gesellschaft untergehen, sie würde einen solchen Untergang verdienen. Die geistige Welt selbst steht sicher und fest über allen Wandlungen und allem Menschengewimmel, wie die Gestirne über den Wandlungen der Erdoberfläche. Ja, es könnte sein, daß erst eine krasse Verneinung aller selbständigen Geistigkeit und die Auflösung aller unsichtbaren Zusammenhänge der Menschheit erweisen würde, wie sehr sie für ihr eigenes Bestehen daraus angewiesen ist. Inzwischen tue jeder einzelne unverdrossen seine Pflicht und halte er das Ganze fest im Auge!


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