Josef Ettlinger
Benjamin Constant - Der Roman eines Lebens
Josef Ettlinger

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XIV. Göttingen

(1811–1813)

Äußerlich waren die zweieinhalb Jahre, über die sich dieser letzte größere Aufenthalt Constants in Deutschland erstreckte, die ruhigsten und seßhaftesten seines Lebens. Von kleinen Abstechern nach Cassel, Hardenberg, Braunschweig abgesehen, fanden sie ihn zumeist in dem stillen Göttingen, nur im Verkehr mit Angehörigen der dortigen Gelehrtenrepublik, mit seinem Freunde Charles de Villers insbesondere, der jetzt als Universitätsprofessor hier wirkte, und ganz den Bücherstudien für seine Geschichte der Religionen hingegeben, die er diesmal zu vollenden entschlossen war. Sein Tagebuch indessen, so kurz und summarisch es diese drei Jahre behandelt, läßt doch, wie ein Transparent bei der Beleuchtung von der Innenseite her, das Trügerische dieser Friedensillusionen erkennen. Das Verhältnis zu Charlotte blieb nicht ungetrübt, die Enge der Verhältnisse brachte von selbst mehr Gelegenheit zu Differenzen mit sich, und die natürlichen Grenzen ihrer geistigen Fähigkeiten traten hier, wo man mehr allein auf einander angewiesen war, fühlbarer zutage. Heftige Anfälle von Heimweh nach Frau von Staël und nach Albertine waren das Ergebnis solcher Zeiten der Enttäuschung, der Unbefriedigung und Langeweile. Kam dann freilich wieder aus Coppet einer der hergebrachten Anklagebriefe, so schlug wohl die Stimmung rasch ins Entgegengesetzte um. Vor allem aber sorgte der alte Juste Arnold de Constant dafür, daß Benjamins Ruhe noch lange nicht ungestört blieb. Von dem Vermögen, das er dem Sohne bei dessen erster Verheiratung ausgesetzt hatte, machte er ihm nun schon seit langem immer größere Teile zugunsten seiner Kinder aus zweiter Ehe streitig und schickte sich jetzt alles Ernstes an, den Prozeßweg zu beschreiten, ja er ging so weit, ein gedrucktes Libell vorzubereiten, in dem er seine Ansprüche an Benjamin darlegen wollte. Dies und der drohende Rechtsstreit wurde dadurch verhütet, daß dem streitbaren Siebenundachtzigjährigen Anfang Februar 1812 der Tod selbst endlich den Prozeß machte: ein Ereignis, das Benjamin trotz alledem bei der großen und pietätvollen Liebe, die er zeitlebens seinem Vater unerschütterlich bewiesen und bewahrt hatte, aufrichtig zu Herzen ging.

Auf die Dauer empfand er die Enge und Öde des Aufenthalts in Göttingen immer drückender, desselben mit Hofräten und ästhetischen Tees gesegneten Göttingen, in dem nur wenige Jahre nachher der Studiosus Heinrich Heine seine Fuchsenzeit verbrachte, um sich dann für die ausgestandene Langeweile in dem boshaften Anfangskapitel seiner »Reisebilder« schadlos zu halten. Der Verkehr mit den Professorenkreisen der Georgia Augusta, zu deren wissenschaftlichen Leuchten damals noch der alte Heyne, Therese Hubers mehr als achtzigjähriger Vater, dessen Schüler Benecke, der Zoologe Blumenbach, der Ästhetiker Bouterwek, der Historiker Heeren, der Theologe Schlegel, ein Bruder der beiden Romantiker, und andere gehörten, bot wohl einige Anregungen, und die Freundschaft mit dem ehrlichen Villers (der noch immer der Ritter der grundgelehrten Dorothea Rodde geborenen Schlözer war) half über manche Öde hinweg; aber der Mangel jeglicher Zerstreuung, der geringe Komfort, die Monotonie des äußeren Lebens war nicht geeignet, dem an geistigen Sport und häufigen Umgebungswechsel Gewöhnten für Verlorenes Ersatz zu geben. Daß er in seinem Empfinden Charlotte gegenüber kritischer wurde, erklärt sich bei solcher Gesamtdisposition von selbst. Er stößt sich an seiner Abhängigkeit, an der Verschiedenheit mancher Gewohnheiten und Bedürfnisse, an ihrer Neigung zum Schmollen. »Quelle peste que le mariage!« lautet einer der Stoßseufzer, mit denen er im Journal intime sein Gemüt erleichtert, und ein selbstverspottendes »George Dandin!« ruft er sich ein andermal zu. Immerhin erkennt er dann wieder die guten Seiten ihres Charakters an und kommt zu dem Ergebnis, daß er ihr manches vorwerfe, was nicht ihre Eigentümlichkeit allein, sondern die der meisten Frauen sei. Im Grunde weiß er schon manchmal selbst nicht mehr, weshalb und wofür er noch lebt und warum noch dazu in freiwilliger Verbannung. »Ich komme mir hier vor,« schreibt er im Frühjahr 1812 an Prosper Barante, »wie der Doge von Genua in Versailles; täglich erstaunter darüber, daß ich fern von Frankreich weile, und besonders, daß ich aus freien Stücken fern von Frankreich weile. Wenn ich ungestört bei meiner Arbeit bleiben könnte, wäre mein Aufenthalt hier wenigstens nützlich gewesen, wofern man etwas Nützliches darin sehen will, ein Buch zu vollenden, das nachher doch niemand liest.« Und seinem Tagebuch klagt er Ende des Jahres: »Quel temps perdu! Quelle vie inarrangeable!«

Hier in Göttingen entstand in arbeitsfreien Stunden die einzige Versdichtung, in der Constant nach der Wallenstein-Übersetzung sich selbständig versucht hat, eine »épopée antinapoléonenne« in neun Gesängen, die den Titel »Die Belagerung von Soissons« führt, und erst in neuester Zeit, im Jahre 1892, als Manuskript entdeckt und an die Öffentlichkeit gegeben worden ist. Nur zwei flüchtige Erwähnungen des Tagebuchs deuten auf diese ziemlich ungenießbare Frucht eines poetischen Spieltriebs hin. »Das Bedürfnis nach Zerstreuung hat mich heut dahin gebracht, Verse zu schmieden. Aber wer wird mir hier sagen, ob sie etwas taugen?« heißt es aus Göttingen zu Beginn des Jahres 1813; und noch einmal im August 1815 findet sich die Bemerkung: »Inmitten der Politik habe ich mich wieder daran gemacht, an meinem Poem zu arbeiten.« Dieses selbst ist der sehr mittelmäßige Versuch eines satirischen Heldengedichts auf oder richtiger gegen Bonaparte, die fingierte Bearbeitung eines altfranzösischen Romans aus dem späten Mittelalter. Die historische Zeit, in der die Vorgänge sich abspielen, ist die der ersten Merowingerkönige im sechsten Jahrhundert, deren Reich von den Horden eines aus Italien heranrückenden gekrönten Abenteurers mit Krieg und Verwüstung überzogen wird. Der siegreiche Eroberer, der von niedriger Herkunft ist und unter dem Protektorat eines Höllenfürsten Almansor steht, trägt den ziemlich durchsichtigen Namen Argaléon; er stürzt mit roher Gewalt alte Throne, schickt Könige ins Exil oder macht sie zu seinen Vasallen, bis ihn bei der Bekämpfung des einzigen, der ihm Widerstand leistet, des alten Königs Didier von Soissons, sein Schicksal ereilt: er wird geschlagen und muß sich von dem Fürsten der Finsternis damit trösten lassen, daß sein Name und seine Taten künftigen Geschlechtern unvergessen bleiben werden.

Um diesen Mittelpunkt gruppieren sich wie der Reigen eines Maskenzugs allerhand romantisch verbrämte Vorgänge und Persönlichkeiten, deren zeitgenössische Urbilder nicht eben schwer zu erkennen sind: so trägt Königs Didier von Soissons die Züge Friedrich Wilhelms III. von Preußen, seine tapfere Tochter Isaure die der Königin Luise, in Argaléons erschlagenen Gesandten Apsimar errät man Talleyrand; Frau von Staël erscheint in der Rolle der Fee Elga, einer Art Armida oder Circe, die ihre erledigten Liebhaber zwar nicht in Rüsseltiere, aber in Zwerge verwandelt, und in dem Ritter Florestan, der diesem bösen Zauber erliegt und lange in Elgas Schlosse schmachten muß, ehe er dazu kommt, das belagerte Soissons von seinem Unterdrücker entsetzen zu helfen, betritt offenbar der Verfasser des Gedichtes selbst die Szene.

Weiter auf dessen Einzelheiten einzugehen, tut nicht not, und die französische Literaturgeschichte wird keine Veranlassung haben, von diesem auf deutschem Boden entstandenen Gewächs der romantischen Zeit noch nachträglich besondere Notiz zu nehmen, das eher in der Geschichte der politischen Satire als in der schönen Literatur einen Platz beansprucht. Ein gewisses literarisches Kuriositätsinteresse besitzt es immerhin, einmal durch seine äußere Form, die mit der Einführung des vers libre in die epische Dichtung an Wielands unabhängige Verstechnik erinnert und von ihr direkt beeinflußt erscheint, sodann durch einige merkbare Reminiszenzen an Goethes »Faust« und seine Geisterwelt, die hier freilich ganz in die Opernsphäre entrückt ist. Constant selbst hat den geringen dichterischen Wert seiner Arbeit wahrscheinlich nicht verkannt, da sie in seinen Aufzeichnungen kaum, in seinen Briefen überhaupt nirgends erwähnt wird: trotzdem scheint er sich Jahre hindurch eine gewisse Liebhaberei dafür bewahrt zu haben, da er sie noch 1815 in Paris wieder vornahm und nun äußerlich vollends abschloß. Die historischen Vorgänge dieses Jahres werden es noch erklären, warum der – erst nach Waterloo entstandene – Schluß ebenso glimpflich und versöhnlich für den entthronten Napoleon lautet, wie sich die ersten Gesänge schroff und feindlich gegen ihn gestimmt zeigen. Die vollzogene Wandlung klingt am deutlichsten aus den anzüglichen Schlußworten Almansors an den seiner Macht beraubten Argaléon hervor:

Console-toi, dit-il, tu vivras d'âge en âge....
Va, de tes successeurs ton nom a rien à craindre.
Ta couronne de fer, qui prétendra la ceindre?
Ton glaive étincelant, qui l'osera porter,
Argaléon? Quels chefs vont régner à ta place?
Des rois, tes instruments, tes flatteurs, tes vassaux,
Des rois qu'on vit trembler à ta moindre menace,
Vétérans de la fuite, apprentis tes cachots,
Ils voudront, par la fraude, imiter ton audace.
Ils voudront égaler leurs timides forfaits
Au jooug de fer assis sur vingt ans de succès. ...
Je te quitte à regret. Ton empire est passé;
De tes vils hèritiers le règne es commencé.
Je curs les diriger. Sur les malheurs du monde
Tu sais, Argaléon, que mon pouvoir se fonde.
Aux peuples affranchis ils vont rendre des fers
Il faut dans leurs projets que mon art les seconde.
Vulgaire est leur esprit, leur lâcheté profonde.
Ces misérables rois ont besoin des enfers. ...

Die Jahreswende 1812/13, die zugleich die Schicksalswende für die Geschicke Europas und seines Bezwingers werden sollte, verbrachten beide Gatten in Cassel, wo Charlotte mit ihrem aus dem Feldzug heimgekehrten Sohne zusammen sein wollte. Aber Constant fand die Hofgsellschaft Jérômes und die offiziellen großen Diners mit ihren nichtssagenden Unterhaltungen noch erheblich langweiliger als die Kleinstadtluft Göttingens, wo man ihn übrigens mittlerweile zum korrespondierenden Mitglied der Sozietät der Wissenschaften gewählt hatte. Die Politik, die Vorgänge auf dem Kriegstheater entlockten ihm kaum noch Interesse: seine Briefe berühren so gut wie nichts davon, trotzdem sich in seiner nächsten Nähe wichtige Begebenheiten des Jahres 1813 abspielten und der Kanonendonner öfters bis in die stillen Straßen der alten Musenstadt an der Leine drang. So stark überkommt ihn bisweilen die Reue, der Selbstverdruß und die Sehnsucht nach der Vergangenheit, daß er sich eingestehen muß, in Gedanken mit Frau von Staël jetzt oft wieder mehr beschäftigt zu sein, als zehn Jahre früher. Dennoch fühlt er sich Charlotten verpflichtet, von ihrer Güte beschämt, und schwört sich zu, wenigstens sie so glücklich machen zu wollen, wie sie es verdiene und es ihm möglich sei.

Mit verdoppelter Anspannung wandte er sich dann seiner Arbeit wieder zu und begrub sich in seinen Büchern, zumal der Aufenthalt in Göttingen, der Kriegsläufte wegen leicht ein plötzliches Ende nehmen konnte. Am ihn auszunutzen, stand er eine Zeitlang schon um fünf Uhr früh auf und arbeitete durch bis sechs Uhr abends, seiner Dinerstunde, die er trotz der abweichenden örtlichen Sitte auch hier beibehalten hatte. »Die hiesige Bibliothek ist ein wahrer Ozean,« schreibt er an Rosalie nach Lausanne, »man verliert sich völlig darin. Kaum habe ich etwas gefunden, was mir unerläßlich Wichtig erscheint, so entdecke ich etwas, was mir noch wichtiger dünkt, und wenn ich zwanzig Jahre hier bliebe, ich wäre, glaube ich, mit der Abfassung meines Werkes noch nicht weiter wie heute.« Und wenn auch wirklich, – er hatte, wie die Dinge lagen, nichts dabei zu verlieren! Wenn er ringsum die Welt von Citadellen starren, Europa in ein Marsfeld und die Menschheit in Armeekorps verwandelt sah, durfte er sich wohl mißmutig fragen, zu welchem Ende er so viel Kraft und Ausdauer an ein Werk verschwendete, für das die Zeit ja doch vorüber war, wie für alles, was nicht dem Zwecke der Völkervertilgung diente; durfte sich jenem Ritter des Ariost vergleichen, der immer noch weiter focht und kämpfte, nur weil er nicht bemerkt hatte, daß er schon lange tot war. »Nie habe ich so wie hier empfunden,« äußert er zu Barante, »wie schnell unser Leben verrinnt. Vielleicht ist die große Einförmigkeit dessen, das ich hier führe, mit schuld daran. Jeder Tag gleicht dem andern, jede Stunde ist heute genau, was dieselbe Stunde gestern war. Und die Zeit entflieht, ohne daß ich, außer an dem Fortschreiten meiner Arbeit, an irgend einem Momente Kennzeichen wahrnehme, die ihn von andern vorher und andern nachher unterscheiden. Ich lebe in einer Art von Einsamkeitsrausch, der eine ganz merkwürdige Wirkung auf mein Gedankenleben hat: in dem Gefühle, mit keinem Menschen auf der Welt mehr irgend ein Interesse gemein zu haben. ... Eine Zukunft gibt es nicht mehr. Die Gegenwart erscheint undurchdringlich. Ungefähr so muß es, denke ich mir, den stygischen Schatten bei Homer zumute gewesen sein, falls seine Unterwelt existiert haben sollte. ... Ich erschrecke oft selbst über meine völlige innere Abgestorbenheit. Ich leide nicht mehr, ich genieße nicht mehr, ich muß mich bisweilen betasten, um mich zu überzeugen, daß ich noch am Leben bin. Ich lebe sozusagen nur noch aus Höflichkeit, wie ich auf der Straße meinen Hut vor den Leuten lüfte, die mich grüßen, ohne daß ich sie kenne. Wenn ich Sie und eine andere Person ausnehme, fühle ich mich als das einzige Lebewesen meiner Gattung auf dieser verstörten Welt. Solange freilich diese andere Person noch unter den Lebenden weilt, bin ich wenigstens nicht ganz allein. Meine Gedanken wohnen bei ihr. Die Seiten meiner Arbeit sind Briefe, die ich ihr schreibe. ...«

Ihr wirkliche Briefe zu schreiben, war ihm aus äußeren Gründen in diesen Göttinger Jahren nur mit großen Unterbrechungen möglich, da Frau von Staël im Gegensatze zu ihm jetzt mit ihren Kindern und Schlegel ein unruhiges Wanderleben führte und der briefliche Verkehr durch die großen Entfernungen, den häufigen Ortswechsel und die während der allgemeinen Kriegszeiten peinliche Unsicherheit der Postverbindungen sehr erschwert war. Nach ihrer geheimen Eheschließung mit Rocca hatte sie im Frühjahr 1812 noch in Coppet einem Söhnchen das Leben gegeben, nachdem sie mit erstaunlicher Selbstbeherrschung ihren Zustand sogar vor den eigenen Kindern zu verbergen und durch eine vorgeschützte Krankheit zu maskieren gewußt hatte. (Erst nach ihrem Tode, fünf Jahre später, erfuhr Albertine von der Existenz dieses Stiefbruders, und ihr Hang zu streng methodistischer Frömmigkeit soll durch diese Entdeckung bedeutend verstärkt worden sein.) Im Mai entzog sich die Gefangene von Coppet, denn das war sie durch eine streng verschärfte Beaufsichtigung allmählich geworden, durch die Flucht den polizeilichen Späheraugen und begab sich erst nach Wien und da sie auch hier keine Sicherheit fand, weiter nach Moskau, Petersburg und Stockholm, wo der ihr noch immer freundschaftlich gesinnte Kronprinz ihre beiden Söhne in schwedische Dienste nahm. Dreiviertel Jahre währte ihr Aufenthalt am Mälar, dann schiffte sie sich mit Albertine und Rocca nach England ein, wo ihr die antibonapartistische Gesellschaft einen über Erwarten glänzenden Empfang bereitete.

Ein bald elegisch-bitterer, bald wehmütig-resignierter Ton durchklingt ihre Briefe an Benjamin, der Ton einer gesprungenen Glocke. »Ich führe Ihre Briefe immer mit mir«, las er in einem dieser Blätter! »so oft ich mein Schreibpult öffne, gleiten meine Hände darüber hin, betrachte ich die Aufschriften ... Die Erinnerung an alles, was ich beim ersten Anblick dieser Zeilen gelitten habe, läßt mich zusammenschauern, und doch hoffe ich noch mehr davon zu erhalten! Mein Vater, Sie und Mathieu (von Montmorency) hausen in einem Teile meines Herzens, der für ewig geschlossen ist... und wenn die Wellen über mir zusammenschlagen sollten, würde meine Stimme noch diese drei Namen ausrufen, von denen einer mein Verhängnis ward. ... Ist es denn denkbar, daß Sie alles so in mir zerstört haben? denkbar, daß eine Verzweiflung wie die meinige Sie nicht bei mir hat zurückhalten können?! – Nein, Sie sind der Schuldige, und nur Ihr ungewöhnlicher Geist täuscht mir noch Illusionen vor. Adieu, adieu! Ach, könnten Sie begreifen, was ich leide! Schreiben Sie mir bald ein paar Worte. Es ist schrecklich, so gar nichts von Ihnen zu hören«. Diese Melodie kehrt noch öfter wieder, aber auf den, dem sie galt, übte sie nachgerade durch die zu häufige Wiederholung nicht mehr die frühere Wirkung. Zwar vermißte er sie oft nicht minder und wußte wohl, wie sehr und warum, aber ihre ewigen Vorwürfe reizten und verstimmten ihn, der sich bewußt war, das Menschenmögliche an Rücksicht, Zartsinn und Schonung gerade ihr gegenüber lange genug geübt zu haben.

Sein Aufenthalt in Göttingen zog sich hauptsächlich um Charlottens willen in die Länge, die durch finanzielle Auseinandersetzungen mit ihren Brüdern zum Ausharren gezwungen war. Erst im Herbst 1813 waren diese Dinge so weit gediehen, daß er daran denken konnte, seine Zelte in Göttingen wieder abzubrechen. Ehe dies geschah, weilte er mit Charlotte zunächst noch ein paar Wochen auf seines Stiefsohnes Familiengut Groß-Schwülper, dann einen Monat in dem benachbarten Braunschweig, wo die wenig erfreulichen Erinnerungen an die einst hier verlorenen Jugendjahre und an seine erste Ehe wieder lebendig wurden, sogar in sehr leibhaftiger Gestalt, denn Frau Wilhelmine, geschiedene de Constant, die er in den zwanzig Jahren seit der Trennung nicht wiedergesehen hatte, erfreute sich noch immer ihres Daseins. Sie zählte jetzt fünfundfünfzig Jahre und hätte dank einer Pension der verstorbenen Herzogin sorgenfrei leben können, wenn sie nicht ihre ganze Existenz und Habe an die vierbeinigen oder gefiederten Hausgenossen gehängt hätte, mit denen sie sich umgeben hatte und ausschließlich beschäftigte. Es waren damals, wie Constant selbst mit malitiöser Genauigkeit seiner Tante Nassau berichtete, nicht weniger als hundertzwanzig Vögel, zwei Eichhörnchen, sechsunddreißig Katzen, acht Hunde und etliche andere Lebewesen, eine wahre Arche Noah, deren Bedienung ein eigenes Personal erforderte.

Constants Absicht war es gewesen, von Göttingen aus zunächst für einige Zeit in die Schweiz zu gehen, da er die Seinigen seit dritthalb Jahren nicht wiedergesehen hatte: aber das Weltgericht der Leipziger Schlacht sollte ziemlich plötzlich wie seinen Entschlüssen, so auch seinem Leben eine neue Wendung geben. Er war noch in Braunschweig, als die Entscheidung fiel, und begab sich von da nach Hannover, wo eben die Herrlichkeit des Königreichs Westfalen in Trümmer sank, um Genaueres über die Weltlage und die Aussichten der nächsten Zukunft zu erfahren. Hier trat ihm sein Schicksal in Gestalt Bernadottes, des jetzigen Kronprinzen von Schweden, entgegen, der ihn schon aus den Tagen des Direktoriums und Konsulats kannte und neuerdings wieder durch Frau von Staël und Schlegel auf sein ungewöhnliches publizistisches Talent hingewiesen worden war. Der einstige Advokatensohn aus Pau, für dessen Ehrgeiz Schwedens Thron noch nicht genügte, glaubte nun, da Napoleons Ende besiegelt schien, seine Stunde gekommen, um selbst als Bewerber um die französische Krone auftreten zu können. Er zog Constant rasch in sein intimstes Vertrauen, um dessen vielvermögende Feder für seine Pläne zu gewinnen, und die also plötzlich auftauchende Möglichkeit, nach fast zwölfjährigem Privatleben wieder eine politische Rolle zu spielen, scheint dem Umworbenen einigermaßen zu Kopfe gestiegen zu sein. Sein Tagebuch läßt erkennen, daß er sich zwar der abenteuerlichen Unsicherheit von Karl Johanns Thronkandidatur bewußt und zunächst schwankend war, ob er sich diesem anschließen sollte, aber der Ehrgeiz und die durch Bernadottes Bemühungen geschmeichelte Eitelkeit siegten: er ließ sich mit dem schwarzen Bande des schwedischen Nordstern-Ordens dekorieren und verfaßte Ende 1813 noch in Hannover die vielleicht am glänzendsten geschriebene seiner politischen Broschüren: »De l'esprit de conquête et de l'usurpation dans leurs rapports avec la civilisation européenne,« worin der konstitutionelle Gedanke in wehrhafter Sprache und metallenem Pathos mit dem Geiste absolutistischer Willkür, der Eroberungssucht und der Usurpationsgelüste konfrontiert wurde.

Die ihrem Titel entsprechend in zwei Teile gegliederte, vierunddreißig Kapitel umfassende Schrift war allerdings nicht jetzt erst entstanden, sondern der Hauptsache nach ein neu redigierter Bestandteil jenes im Jahre 1800 während der Tribunatszeit verfaßten politischen Werkes, das damals – wie früher erwähnt – aus Gründen der Opportunität nicht hatte erscheinen können. In meisterhaft klarem Aufbau gab sie blitzblanke Definitionen, entwickelte praktisch-politische Maxime, zog die Lehren aus der Staatengeschichte der großen Republiken und Monarchien und legte mit zahlreichen logischen Beweisen die Unhaltbarkeit einer usurpierten Willkürmonarchie wie derjenigen Napoleons dar. Dank dieser knappen und zugespitzten Vortragsweise hatte das Buch, das zuerst im Januar 1814 in Hannover anonym gedruckt wurde, gleich einen derartigen Erfolg, daß schon Anfang März bei John Murray in London eine zweite Auflage unter des Autors Namen, Ende April in Paris eine dritte und bald darauf eine vierte erscheinen konnte, wozu noch Übersetzungen ins Deutsche und Englische kamen. Unter den zahlreichen, früheren und späteren politischen Schriften Constants galt und gilt noch heute diese für sein Meisterwerk. Noch fünfundzwanzig Jahre nachher ließ sich der Verleger Charpentier von Charlotte Constant das Verlagsrecht dieses liberalen Muster-Traktats ausdrücklich – zusammen mit dem des »Adolphe« und der gleichfalls vielbewunderten Einleitung zu »Wallstein« – für die Dauer von fünf Jahren übertragen, und auch an noch späteren Neudrucken hat es nicht gefehlt.

Die Verbindung gerade mit Murray, dem bekannten Byron-Beileger, dankte Constant, wie vorher die mit Bernadotte, Frau von Staël, die während des ganzen Winters 1813/14 in London weilte und dort im selben Verlage endlich ihr von der Napoleonischen Zensur so lange unterdrücktes Hauptwerk »De l'Allemagne« hatte erscheinen lassen können. Sie, die ihn von jeher durch ihre Bewunderung seines Talentes befeuert hatte, war auch von seiner neuesten Schrift entzückt und pries in ihren Briefen die unvergleichliche Klarheit seines Stils »à la Montesquieu« mit begeisterten Worten, nicht ohne etwas anzüglich hinzuzusetzen: »Sie wären für die höchsten Stellen bestimmt gewesen, wenn Sie sich und andern die Treue hätten halten können.«

Er glaubte sich in diesem Moment gleichwohl auf dem Wege zu solcher Bestimmung. Mit Bernadottes Hauptquartier näherte er sich etappenweise der französischen Grenze. Aber schon in Lüttich überraschte ihn die Nachricht von der Proklamation Ludwigs XVIII., mit der des Schweden Luftschloß zusammenbrach. In Löwen traf ihn Auguste de Staël, der ihn auf dem Wege von London aufsuchte. »Auguste liest mir einen Brief seiner Mutter vor,« bemerkt eine der jetzt sehr hastigen Notizen des Journal intime; »welch unverbesserliche Intrigantin! Mir wird leicht ums Herz in dem Gedanken, daß nun auch das letzte Band zerrissen ist, das noch bestand.« Als er in Brüssel eintraf, war eben Napoleons Abdankung. bekannt geworden, worauf Bernadotte sofort nach Paris abreiste und Constant nach kurzem Zaudern beschloß, sich in Gesellschaft des jungen Staël ebenfalls dorthin zu wenden, um sich über den Stand der Dinge zu orientieren. Wenig nach ihm traf auch Frau von Staël in der Lichtstadt wieder ein, nach der ihr Herz in fast zehnjähriger Verbannung geschmachtet hatte. Er fand sie, die er volle drei Jahre nicht gesehen hatte, gänzlich verändert, »blaß, abgemagert, zerstreut bis zur Frostigkeit (presque sèche), viel mit sich selbst beschäftigt.« Auch gesundheitlich hatte sie sehr gelitten: der gewohnheitsmäßige Opiumgenuß zur Betäubung von Schmerzen und Schlaflosigkeit hatte ihre Nerven zerrüttet. »Elle est devenue très laide,« berichtete um dieselbe Zeit auch der Großherzog Karl August mit Bedauern seiner Gemahlin nach Weimar.

Die allgemeine Stimmung war im übrigen wenig genug zu Sentimentalitäten geschaffen. In dem eroberten Paris drängten sich die Monarchen und Diplomaten von halb Europa, um bei der großen Liquidation der Firma Bonaparte ihren Anteil zu erraffen. Constant selbst, der schon am 21. April seinen ersten politischen Zeitungsartikel im »Journal des Débats« hatte erscheinen lassen, fühlte auf dem alten Terrain endlich wieder Boden unter den Füßen, sah wieder Wege und Ziele vor sich. Sein politischer Eifer war neu erwacht, seine Kräfte regten und spannten sich zum Kampfe. Aber in diesem Kampfe standen er und Frau von Staël nicht mehr Seite an Seite, wie zwölf und fünfzehn Jahre früher. Sie hatte Napoleon gehaßt, solange er Gewalthaber war; jetzt, da sie ihn selbst verbannt und ihr Vaterland von der ausländischen Invasion bedroht sah, lehnte sich ihr Patriotismus gegen die Einmischung der fremden Mächte auf. Sie verglich sich mit jenem Schwedenkönig, dem seine Feinde die Beschießung einer belagerten Festung dadurch unmöglich machten, daß sie seine eigene Mutter auf den Wall stellten. Sie wollte Napoleon besiegt wissen, aber nicht Frankreich. »Sie sind kein Franzose, Benjamin,« hatte sie ihm noch von London aus traurigen Herzens geschrieben, »Sie sind nicht durch die Erinnerungen Ihrer Kindheit mit all diesen Stätten verwachsen: das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir. Aber trotzdem – können Sie im Ernste wünschen, die Kosaken in der Rue Racine zu sehen?«

Dahin gingen Constants Wünsche allerdings nicht: aber zum mindesten erschien ihm gleich vielen andern jetzt Rußlands Kaiser als der Hort liberaler Hoffnungen, nachdem Bernadottes Aussichten geschwunden waren. Während Frau von Staël in der Restauration der Bourbonen aus Patriotismus das kleinere Übel sah, obwohl sich Ludwig XVIII. ehedem als Graf Artois ihrem Vater feindselig gezeigt hatte, war Constant deren entschiedener Gegner, sobald er sich überzeugt hatte, daß die zurückgekehrte Dynastie von ernsthaften konstitutionellen Garantien nichts wissen wollte. Seine schon stark verbreitete Schrift »De l'esprit de conquête« machte ihn rasch zu einer vielbeachteten Persönlichkeit. Kaiser Alexander empfing ihn wiederholt in Audienz (einmal zusammen mit Chateaubriand) und erwies sich ausgesprochen gnädig. In den Salons traf er viele alte Freunde und Feinde aus früheren Tagen wieder, Talleyrand, Lafayette, Fouché, Montmorency; verkehrte mit dem Staatskanzler von Hardenberg, einem Vetter seiner – in Deutschland zurückgebliebenen – Frau, mit dem Freiherrn vom Stein, Wilhelm von Humboldt, und setzte seine publizistische Tätigkeit mit mehreren Broschüren fort, von denen eine über die Freiheit der Presse an einem einzigen Tage in zwei Auflagen vergriffen wurde, eine andere über die Ministerverantwortlichkeit ihm den Beifall aller Konstitutionellen und die heftigen Angriffe der bourbonischen Presse eintrug. Seine Feder war nie fleißiger und nie glücklicher gewesen, als im Sommer 1814, und er hätte alle Ursache gehabt, mit seinen fortschreitenden Erfolgen zufrieden zu sein, wenn ihm nicht ein Ende August einsetzendes Herzenserlebnis für längere Zeit verhängnisvoll geworden wäre.


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