Josef Ettlinger
Benjamin Constant - Der Roman eines Lebens
Josef Ettlinger

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V. Zwischen zwei Frauen

(1794)

Ein Lebensabschnitt war mit dem Abschied von Braunschweig abgeschlossen. Eine verfehlte Ehe war endlich gelöst, ein unbefriedigendes Amt abgeschüttelt: zu neuen Ufern hätte jetzt ein neuer Tag den Siebenundzwanzigjährigen locken können. Aber noch sah er keinen bestimmten Weg vor sich, den er zu gehen entschlossen gewesen wäre. Bei seinem Vater, der sein Verbleiben in Braunschweig dringend gewünscht und sich noch kurz vorher an Herrn und Frau von Charrière brieflich mit der Bitte gewandt hatte, daß sie ihren Einfluß auf Benjamin in diesem Sinne aufbieten möchten, hatte er nach dessen zweiter Eheschließung und seiner Niederlassung auf dem Lande nichts mehr zu suchen. Das angefangene Manuskript seiner Religionsgeschichte und der Plan zu einer Biographie seines verstorbenen Braunschweiger Freundes und Gönners Mauvillon waren die einzigen Wechsel auf die Zukunft, die er in diesem Augenblick besaß. Beides wollte er später an irgend einem Orte Deutschlands, wo er sich festzusetzen gedachte, zu Ende führen. Einstweilen aber wies der Kompaß seines Herzens doch zunächst wieder nach Colombier, wo noch immer die ihm vertrauteste geistige Sphäre war und wo seine »chère et très chère« Bibliothek sich bereits befand.

Die Briefe, die er noch von Braunschweig aus dorthin geschrieben hatte, zeigen seine unverminderte Anhänglichkeit. »Der einzige Ort, an dem ich mich glücklich fühle,« wird Colombier genannt. »Wenn ich bei Ihnen bin, fühle ich nicht, wie nötig Sie mir sind: jetzt fühle ich es nur zu sehr .... In der Wüstenei, die meine Zukunft ist, sind Sie meine einzige Hoffnung.« So und ähnlich drückt er sein Empfinden aus, und Frau von Charrière, die nach seiner Abreise ihrem eigenen Zeugnis nach zuerst in eine Art geistige Lethargie verfallen war, lebt unter solchen erwärmenden Worten so weit auf, daß sie ihm schreiben kann: »Kommen Sie bald zurück! Niemand liebt Sie so wahrhaft, niemand versteht Sie so gut, stellt Sie so hoch und beurteilt Sie so gerecht, wie ich.« Das hindert nicht, daß Benjamin sich ärgert, als die Freundin sich etwas mokant-abfällig über die Hubers äußert, die sie persönlich – besonders Therese – nicht recht leiden mochte, obwohl sie ihnen eine tatkräftige Helferin gewesen und geblieben war, indessen Constant den beiden große Zuneigung bewahrte, auch noch kurz vorher auf der Reise nach Braunschweig eigens in Göttingen Aufenthalt genommen hatte, um den alten Heyne zu besuchen und im Interesse seiner Tochter Therese und Hubers bei ihm Vermittlerdienste zu tun. Aber solche kleine Streitfälle berühren die festen Wurzeln einer nun schon seit sieben Jahren unwandelbaren Freundschaft nicht, zumal Frau von Charrière als die Ruhigere und Ältere ihren gelegentlich empfindlichen oder übellaunigen »Constantinus« durch ihre unerschütterliche Gelassenheit unwichtigen Dingen gegenüber leicht entwaffnet. Sie spart sogar jede naheliegende Ironie, als er ihr halb scherz-, halb ernsthaft noch inmitten der letzten Krise seines Scheidungsprozesses vorschlägt, seine Freiwerberin bei einer jungen Freundin, einer Mademoiselle Henriette L'Hardy, zu werden, die er in Colombier den Winter vorher kennen gelernt hatte, ohne daß sie ihm in besonderer Weise entgegengekommen wäre. Es sah ihm ähnlich genug, daß er, nach dreijährigen Anstrengungen knapp der verhaßten Ehefesseln entledigt, schon wieder an ein neues Heiratsprojekt dachte, nur weil Frau von Charrière auf jenes junge Mädchen so große Stücke hielt. Und sie ihrerseits geht, mehr aus Zartgefühl als Überzeugung, auf seine Idee ausführlich und ernsthaft ein, rät aber zum Abwarten, was wiederum ihn veranlaßt, im nächsten Schreiben ziemlich kühl und kurz das Thema abzubrechen. Allmählich macht sich dann in seinen Briefen eine gewisse zunehmende Auflehnung gegen diejenige fühlbar, unter deren Einfluß er so lange gestanden hatte, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Ein Brief an seine Tante Gräfin Nassau in Lausanne, zu der er sich von allen seinen Angehörigen nach wie vor am meisten hingezogen fühlte, drückt die Gemütsverfassung jener Tage aus. »Vergegenwärtigen Sie sich meine Erziehung,« schreibt er, »dieses unzusammenhängende Wanderleben, das ich geführt habe, die frühreife Eitelkeit, an der ich mich nähren mußte, den gewissen ironischen Ton, der der Stil unserer Familie ist, den Hang, jedes wärmere Gefühl bei sich selbst zu unterdrücken und zu persiflieren, den Esprit und Ruhm dagegen für das einzig Wahre zu halten, und sagen Sie dann selbst, ob es ein Wunder war, daß ich der werden mußte, der ich bin. Ich habe zu viel unter dieser Vergangenheit gelitten, um ihr jetzt nicht endlich abzuschwören. Ich habe zu gründlich erkannt, daß man nicht in die Tiefe des Lebens dringt, wenn man die Dinge immer nur von ihrer lächerlichen Seite nimmt: alle Befriedigung, die dabei die liebe Eitelkeit gewinnt, wiegt eine einzige Minute wahren Gefühls nicht auf. Ich bin meiner ewigen Selbstverspottung müde, bin es müde, mein Herz mit einer künstlichen Atmosphäre blasierter Gleichgültigkeit zu sättigen, die mich der reinsten und besten Sensationen beraubt. Da mich dieser unselige geistige Hochmut gegen alles Gefühlsmäßige so wenig glücklich gemacht hat, mag das Hochgefühl der Superiorität über diejenigen, die Empfindung haben, der Teufel holen; lieber will ich mich allen Torheiten der Begeisterung hingeben, (sofern das Torheit ist, was glücklich macht), als dieser Leichenbitterweisheit« ... Und fast im Tone des Gebets fährt er fort: »Komm du wieder, Kinderglaube, den überwunden zu haben mein Stolz war, kehrt zurück, ihr Leidenschaften, die ich ertötet habe, ihr einfachen Freuden, denen ich fremd geworden bin, ihr unscheinbaren, bescheidenen Alltagstugenden, deren ich mich verachtungsvoll entwöhnt hatte, all ihr Gefühle der Liebe, Freundschaft, Güte und des Vertrauens, für die man mir nichts als einen frühreifen Weisheitsdünkel eingepflanzt hat, kehrt wieder!«

Es sind, wie man sieht, fast genau dieselben Worte, die er anderthalb Jahre früher gelegentlich an Frau von Charrière gerichtet hatte, nur die Adresse ist nicht mehr dieselbe. Er empfand es wohl jetzt schon selbst bisweilen, daß manches von dem, was er sich so schonungslos nachsagte, die Frucht jenes Einflusses war, den er in und aus Colombier so viele Jahre lang auf sich hatte einwirken lassen. In demselben Briefe an die Gräfin Nassau erwähnt er beiläufig Frau von Charrière und fühlt sich zu der Bemerkung gedrungen: »Sie ist eine Frau, die man viel verkennt und die, ich gebe es zu, auch verdient, verkannt zu werden; aber sie besitzt gute, große, warme und loyale Eigenschaften, und jedenfalls mehr Geist, als nötig wäre, halb Germanien zittern zu machen.« Das klingt mehr wie eine Entschuldigung, denn wie ein Lob, und Frau von Charrière wäre, wenn sie diese Zeilen gelesen hätte, hellsichtig genug gewesen, darin schon den hippokratischen Zug von Benjamins Freundschaft und die Vorboten einer nahen Krisis zu sehen. Einstweilen aber war sie weit entfernt, Befürchtungen solcher Art zu hegen, denn wiewohl er ihr von Braunschweig aus geschrieben hatte, er kehre als ein völlig anderer zurück, sie werde ihn gründlich verändert finden, konnte sie im August, als er tatsächlich erschien, einer Freundin froh bewegt berichten: »Er ist ganz so wiedergekommen, wie er von uns gegangen ist, und hat seinen angeblich neuen Charakter nicht nur total vergessen, sondern mir schon nach den ersten zwei Stunden ausdrücklich versichert, daß nichts davon wahr sei.«

Sie selbst hatte in der vorangegangenen Zeit außer zu den Hubers noch zu einem anderen deutschen Gaste Neuchatels in Beziehungen gestanden, die in ihren stillen Lebenskreis zeitweise einige Bewegung brachten. Ein paar Jahre zuvor hatte König Friedrich Wilhelm II. für seine morganatische Gemahlin Gräfin Dönhoff eine Gesellschafterin gesucht und durch Vermittlung eines aus Neuchatel stammenden Hofgeistlichen, der sich an Frau von Charrière wandte, auf deren Empfehlung hin eben jenes Fräulein Henriette L'Hardy nach Berlin engagiert, die nachher für kurze Zeit Benjamins Zukunftsgedanken beschäftigte. Als dann die Partei Bischofswerder beim König gegen seine Favoritin intrigierte, verließ diese freiwillig Berlin und den Hof, um irgendwo außerhalb ihre zweite Entbindung abzuwarten. Mit der ihr liebgewordenen Gesellschaftsdame kam sie nach dem damals noch preußischen Fürstentum Neuenburg und blieb hier über ein Jahr: dabei lernte sie auch Frau von Charrière näher kennen und suchte sie wiederholt in Colombier auf.

Deren Bekanntschaft mit der preußischen »demi-reine« wurde alsbald die Veranlassung zu einer anderen, die tiefere und verhängnisvollere Spuren in ihr Leben graben sollte: denn im August 1793 erschien aus Genf die ihr bis dahin nur als Neckers berühmte Tochter dem Namen nach bekannte Frau von Staël mit ihrem Gatten in Colombier zu dem Zwecke, Frau von Charrières vermeintlichen Einfluß auf die Gräfin Dönhoff und damit auf den König von Preußen zugunsten ihres Freundes General Lafayette aufzubieten, der nun schon seit Jahresfrist zu Olmütz in strenger Haft gefangen saß. Ihr Besuch galt zugleich, wie sie in schmeichelhaften Worten vorher geschrieben hatte, der Verfasserin des Romans »Caliste«, den sie so hoch schätzte, daß sie gestand, ihn wohl zwanzigmal gelesen zu haben, und dessen auffallende Einwirkung auf ihre eigene, zwölf Jahre nachher erschienene »Corinne« sich dem Leser deutlich genug aufdrängt.

Frau von Charrière, die dem Besuche schon mit Unbehagen entgegengesehen hatte, empfand sofort eine starke Abneigung gegen die »Gesandtin«. Es war vielleicht zunächst nur die Abneigung der in selbstgewählter Stille lebenden Landedelfrau gegen die glänzende Vertreterin der großen, geräuschvollen Welt, des resignierenden Alters gegen die vorwärts drängende Jugend, des kühleren holländischen Temperaments gegen die südländisch lebhafte Pariserin mit der rastlosen Beweglichkeit ihres Gebärdenspiels, der etwas männlich starken Gesichtszüge und der sprechenden dunkeln Augen. Aber wenn sie auch den bestechenden Zauber, den Frau von Staëls einzigartige Unterhaltungsgabe im näheren Verkehr auf jeden übte, nicht bestritt, sogar – in Briefen an Constant – offen bewunderte, so war sie doch zu sehr Kind des skeptischen und rationalistischen achtzehnten Jahrhunderts, zu sehr im Geiste Pascals und in den strengen literarischen Traditionen der Bossuet, Fénélon, Sévigné und so weiter erzogen, um sich nicht gegen das Oszillierende und Überlebhafte dieser Enthusiastin, gegen das ganze Frou-Frou ihrer Persönlichkeit voreingenommen zu fühlen. So blieb sie allen werbenden Liebenswürdigkeiten der Genferin gegenüber gemessen, fast befangen, und verhielt sich nachher gegen ihre Versuche, in schriftlichem Verkehr zu bleiben, reserviert bis zur Unhöflichkeit.

In diesem Sinne äußern sich auch ihre Briefe an Constant, der sich zufällig um eben die Zeit, da diese Dinge spielten, im Herbst 1793, in Lausanne aufhielt – eigentümlicherweise ohne Gelegenheit zu finden oder zu suchen, Frau von Staël kennen zu lernen, obwohl diese in der Gesellschaft Lausannes keine Fremde und speziell mit der Familie seines Onkels Samuel nahe bekannt war. »Frau von Staël,« schreibt sie, »ist ihrem Wesen nach ein richtiges Kunstprodukt: Abbé Raynal, Guibert, ihr Vater und ihre Mutter haben ihrem Geist die Dressur gegeben. Vielleicht wäre gar nichts aus ihr geworden, wenn man sie sich selbst überlassen hätte, oder sie wäre dann wenigstens wahrhaftiger, echter und besser geworden.« Und sie macht sich über den gesuchten »style figuré« in den Schriften der andern lustig, wobei Constant ihr beistimmt, der damals noch nicht wußte, um wie viel besser Frau von Staël zu sprechen, als zu schreiben verstand. Er gab überhaupt so viel auf Frau von Charrières Menschenkenntnis und Urteilsfähigkeit, daß er von der Richtigkeit ihrer abfälligen Charakteristik von Neckers Tochter ohne weiteres überzeugt war und wahrscheinlich schon aus diesem Grunde keinerlei Versuch machte, ihr selbst zu begegnen.

Um so überraschender und stärker mußte der Eindruck sein, den er empfing, als er nun, einige Wochen nach der endgültigen Rückkehr aus Braunschweig, die persönliche Bekanntschaft seiner gefeierten Landsmännin machte. Es ist anzunehmen, daß diese, die in Genf und Lausanne schon manches von Benjamin, seinem Lebensschicksal, seiner Intimität mit Frau von Charrière, seiner geistreichen Persönlichkeit gehört haben mußte, selbst den Anstoß zu der Begegnung gab und ihn vermutlich durch seine Cousine Rosalie, zu der sie seit einiger Zeit Beziehungen unterhielt, bald nach seinem Eintreffen in Lausanne einladen ließ, sie in Coppet, der Besitzung ihrer Eltern bei Genf, zu besuchen. So machte er sich im September eines Vormittags auf den Weg dorthin, traf sie nicht zu Hause, holte auf dem Rückweg in Nyon ihren Wagen ein und machte die Fahrt bis Lausanne mit ihr gemeinsam. Das beiderseitige Interesse war sofort so stark, daß man gleich den Abend der Ankunft und den ganzen nächsten Tag samt allen Mahlzeiten zusammen verbrachte.

Ein Brief Benjamins nach Colombier vom 30. September, der darüber ausführlich berichtet, macht kein Hehl aus der angenehmen Enttäuschung und nimmt Frau von Staël angelegentlich gegen die allzu schroffen Urteile Frau von Charrières in Schutz. Diese, obwohl unangenehm berührt durch Benjamins plötzliche Intimität mit der ihr antipathischen Genferin, versuchte zunächst, gute Miene zum bösen Spiel zu machen; denn noch begnügte sie sich, sein Vergnügen an der neuen Bekanntschaft mit ein paar leichthingeworfenen Bemerkungen zu ironisieren. Aber wenige Wochen später konnte sie sich über den eingetretenen Umschwung der Dinge keiner Illusion mehr hingeben, als Benjamin ihr über Frau von Staël schrieb. »... Seit ich sie genauer kenne, fällt es mir schwer, anders als in überschwenglichem Tone von ihr zu sprechen und nicht alle Menschen, mit denen ich rede, zu Zeugen meiner Bewunderung und meines Entzückens zu machen. Selten habe ich eine solche Vereinigung von blendenden und anziehenden Eigenschaften gefunden, so viel glänzende Gaben, ein so treffendes Urteil, so viel natürliche Güte und Hilfsbereitschaft, so viel wahre Vornehmheit der Gesinnung, so viel Liebenswürdigkeit bei aller Würde in Gesellschaft und so viel hinreißende Herzlichkeit im intimeren Verkehr. Dies ist die zweite Frau in meinem Leben, die mir eine ganze Welt aufwiegen, mir für sich allein eine Welt sein könnte. Welches die erste war, wissen Sie.« Und mit einer Begeisterung, die die Adressatin dieses Ergusses als persönliche Spitze empfinden mußte, wird dann weiterhin Frau von Staël als eine Art höheres Wesen gepriesen, wie jedes Jahrhundert es höchstens einmal hervorbringe, ihr seltenes Talent des guten Zuhörens und ihre Gabe gerühmt, diejenigen, die ihr nahestehen, durch Ermunterung zu fördern und in ihrem Selbstvertrauen zu stärken.

Frau von Charrière konnte von diesem hohen Lied auf die Frau, die ihr schon vorher beinahe verhaßt, zum mindesten höchst antipathisch gewesen war, aus dem Munde desjenigen, mit dem die Bande engster Wahlverwandtschaft sie seit mehr als sieben Jahren vereinigt hatten, nicht anders denn tödlich verletzt sein, und sie war es. Es war keine larmoyante Dido-Stimmung, nicht etwa die Eifersucht einer abgedankten älteren Geliebten, die sie empfand, dazu fehlten die Voraussetzungen, auch nicht nur die bittere Erkenntnis, daß der Mann, den sie für Geist von ihrem Geist hatte halten dürfen, sich nun ihrem Mentorat (wie sie selbst wohl ihr Verhältnis scherzend bezeichnete) zu entreißen drohte: die Tragödie saß tiefer, und Benjamin selbst hat sie in seinen oben zitierten Briefworten schonungslos angedeutet. Es war im Grunde ein Fiasko ihrer Lebensanschauung, das die gealterte Frau hier erlebte, einer geistvollen, aber sterilen Lebensanschauung, deren Weisheit letzter Schluß die immer wiederkehrende skeptische Frage war: à quoi bon? Mit der Beize dieser Lebensauffassung hatte sie in jahrelangem Verkehr auch Benjamins ohnehin früh blasierte Natur imprägniert und ihm die Überzeugung von der Zwecklosigkeit des Daseins und des eigenen Wirkens wenn nicht erst beigebracht, so doch gestärkt und immer wieder erneuert. Sie hatte seinen Ehrgeiz mehr niedergehalten, als gefördert, mehr gedämpft und abgekühlt, als befeuert, und wenn auch seiner Jugend das Paradies der Kindheit gefehlt hatte und des Lebens goldner Baum ihm schon halb entblättert war, als sie seinen Weg zuerst kreuzte, so war doch ihr Einfluß trotz alledem kein glücklicher für ihn gewesen. Um so stärker mußte in solcher Verfassung eine so blühende Vollnatur wie Germaine de Staël auf ihn wirken, in der ihm alle Pulse einer neuen Zeit entgegenschlugen, die seinem von der Skepsis entfärbten Leben erst Inhalt und Ziele gab, seinen Ehrgeiz weckte und beschwingte. Durch sie wurde er dem politischen Leben seiner Zeit zugeführt, das ihr Element seit früher Jugend gewesen war und dessen Strudel sie dann später beide mehrfach in Untiefen zu reißen drohte. Ohne sie hätte er schwerlich je die Initiative gefunden, aus seinem Privatleben herauszutreten, in dem er sich bis dahin geistig wie seelisch nur verzettelt hatte. Jetzt fühlte er sich wie von einer Welle erfaßt, emporgetragen, von der pochenden Erwartung künftiger Erfolge gehoben und in seinem Empfinden verjüngt. Er war vom alten ins neue Jahrhundert übergetreten.

Der Verkehr mit Colombier mußte nach dieser Wendung der Dinge sehr bald abwelken. Frau von Charrière war Mann genug, Constant seine Leidenschaft für Frau von Staël nicht als eine ihr persönlich zugefügte Beleidigung anzurechnen, aber sie war auch Weib genug, um eine Teilung dessen, was sie bisher – im höheren Sinne wenigstens – allein besessen hatte, mit einer andern unerträglich zu finden. »Tout ou rien, c'est là ma devise,« beginnt ein kleines Gelegenheitsgedicht, das sie ihm in diesen Tagen sandte. Ihre Briefe an ihn zwingen sich zu einem ruhigen Tone, aber in denen an ihre anderen Freunde bricht immer rückhaltloser die Bitterkeit hindurch, weniger gegen Constant selbst, als gegen seine »Dulcinea«. Seine spärlichen Besuche in Colombier machen die Sache nur schlimmer; es fällt ihr auf die Nerven, wenn sie sieht, daß er, der früher nie etwas auf Äußerlichkeiten gab, jetzt nach der letzten Mode gekleidet und mit veränderter Frisur erscheint, sogar Parfüms benützt. Vollends wenn er in ihrer Gegenwart sich nicht enthalten kann, Gutes über Frau von Staël zu sagen, hat sie das Gefühl, das Opfer einer Vivisektion zu sein.

Schließlich ging dieser unnatürliche Zustand über ihre Kräfte; sie brach den Briefwechsel fürs erste ab und blieb unerschütterlich, obwohl er mehrfach, denn seine freundschaftliche Anhänglichkeit dauerte fort, den dringenden Versuch machte, die Beziehungen aufrecht zu erhalten. In ihren Briefen an Huber, der für Constant ihr gegenüber eintrat, nennt sie diesen späterhin mit Geringschätzung das »Faktotum« seiner Gebieterin und taxiert seine politische Betätigung als Phrasenheldentum, als eine neue Form seiner alten Sucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Die Revolution macht offenbar nicht nur Menschen unglücklich, sondern auch lächerlich.« Als er anderthalb Jahre später, im Frühjahr 1796, nach Neuchatel kam. wo er Huber im nahegelegenen Bôle besuchte, weigerte sie sich zum ersten Male, ihn in Colombier bei sich zu sehen. Damals schrieb er ihr am Schlusse eines längeren Abschiedsbriefes mit einer Ergriffenheit, die ihm zweifellos von Herzen kam: »Nun denn, so leben Sie wohl, die Sie acht Jahre meines Lebens verschönt haben, die ich mir, trotz schmerzlicher Erfahrungen, niemals unaufrichtig oder sich selbst untreu vorstellen kann, die ich ganz allein besser nach ihrem wahren Werte zu schätzen weiß, als Sie jemals ein anderer zu schätzen wissen wird. Adieu, adieu!«

Das alte Band der Intimität war damit endgültig zerrissen, doch wurde der briefliche Verkehr später wieder aufgenommen und hörte auch in den folgenden Jahren, die Frau von Charrière – bis 1805 – noch zu leben hatte, nie gänzlich auf, wiewohl er sich nur noch auf rein äußerliche Angelegenheiten erstreckte. Ein letztes Mal noch sah Constant Ende 1798 seine vereinsamte, leidende und ziemlich verbitterte Freundin in Colombier wieder: der Eindruck war nicht geeignet, ihm ein Wiederkommen nahezulegen. »Son entrevue de Colombier était assez froide,« berichtet späterhin Rosalie de Constant in einem Briefe darüber an ihren Bruder. Und der Ton, in dem Frau von Charrières Briefe an ihre Freunde späterhin Constants Verhältnis zu »seiner Schönen«, das Gerücht ihres Heiratsprojekts, seine politische Tätigkeit im Tribunat und so weiter kommentieren, bleibt stets derselbe sarkastische, denn sie konnte und wollte nicht glauben, daß das Bündnis mit einer anderen ihm irgend welchen Segen gebracht habe. Selbst Philippe Godet, ihr liebevoller Biograph, muß zugeben, daß sie in dieser eigensinnigen Selbstverblendung Constant großes Unrecht getan habe, und daß es schwer zu verstehen sei, wie eine Frau von ihrem Alter und ihrer Intelligenz zu glauben vermochte, sie könnte einen so viel jüngeren Mann, den seine ungewöhnlichen Gaben zu einer ersten Rolle in der Öffentlichkeit befähigten, auf die Dauer sozusagen für sich behalten, ihm ganz allein die Welt, die Liebe, den Ruhm ersetzen.

»All das wäre ein Rätsel,« meint er, »wenn wir nicht Frau von Charrière so kennten, wie sie seit ihrer frühen Jugend war: im Grunde ihrer Seele skeptisch, aller Illusionen bar, ohne Glauben an das Leben. ... In ihr lebte zu gleicher Zeit ein unablässiges Bedürfnis nach Tätigkeit und die unheilbare Überzeugung von der Zwecklosigkeit alles menschlichen Schaffens und Daseins. Eingesponnen in eine Ideenwelt, die ihren Geist beschäftigte und unterhielt, lernte sie in der melancholischsten Zeit ihres Lebens diesen jungen Menschen kennen, der so frühfertig war wie sie selbst, und beide berauschten sich an ihren endlosen Gesprächen und Debatten, in denen sie ihrer selbst und aller andern spotteten. Der Einfluß, den sie auf ihn gewann, war groß, aber er konnte nicht länger währen, als seine Jünglingsjahre. Die Stunde der Emanzipation mußte für ihn schlagen, sobald er zum Bewußtsein der in ihm schlummernden Fähigkeiten kam. Frau von Staël war es, die ihm den Weg seiner Bestimmung wies und ungekannte Kräfte in ihm weckte. An sie schloß er sich an wie an die Verkörperung seiner Zukunft ... Frau von Charriére verlor alles, als sie ihn verlor. Sie sah sich verdrängt aus dem leitenden Einflüsse auf diesen glänzenden Geist, der so lange dem ihrigen Untertan gewesen war, den sie im Laufe von acht Jahren geformt, geschärft und in beständiger, sie selbst anregender Vibration gehalten hatte. Sie sah ihn den Weg ehrgeiziger Ruhmsucht einschlagen, in der Gefolgschaft einer Frau, die ihr mit ihrem romantischen Optimismus und ihrem Gefühlsüberschwang von jeher eine tiefe und instinktive Abneigung eingeflößt hatte. Sie verstand es weder, dieser Frau gerecht zu werden, die sie in seltsamem Grade verkannte, noch Benjamin zu verzeihen, daß er sich dem neu aufgehenden Stern ihrer Jugend und ihres Genies anschloß. Sie zog es vor, lieber ganz mit ihm zu brechen, als ihn mit der ›Gesandtin‹ zu teilen. Sie verzichtete – und nicht er, was ausdrücklich unterstrichen sei – auf dieses Band einer rein geistigen Gemeinschaft, die der einzige Reiz ihres Lebens, der wichtigste Nährstoff ihres Geistes wie ihres Herzens gewesen war. Von da an verschloß sie sich in ihrer Einsamkeit und verzehrte sich in quälender Langeweile. In dem tiefen Skeptizismus dieser steuerlosen Natur liegt, genau betrachtet, die ganze Erklärung für ihren großen Irrtum und ihren großen Schmerz.


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