Josef Ettlinger
Benjamin Constant - Der Roman eines Lebens
Josef Ettlinger

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XIII. Trennung

(1809–1811)

Salon der Madame Récamier

Der Erfolg seiner Wallenstein-Bearbeitung, obwohl es, von den ersten politischen Broschüren abgesehen, der erste literarische Erfolg seines Lebens war, brachte Constant über die beklemmende Unzufriedenheit nicht hinweg, die ihn gefangen hielt. Noch immer stand ihm bevor, was er seit zwölf Jahren hundertmal beschlossen und beschworen, hundertmal aufgegeben hatte. Nur daß er jetzt erst durch seine Heirat die Schiffe hinter sich verbrannt hatte und auf kein Zurück mehr rechnen durfte.

Am 9. Mai 1809 endlich fiel der harte Schlag. Er hatte sich mit Charlotte nach Sécheron bei Genf begeben und Frau von Staël dort um ein Rendezvous gebeten; nach einem Berichte Sainte-Veuves, der sich auf unveröffentlichte Tagebuchfragmente Benjamins stützt, habe er ihr hier in einem Gasthof Charlotte ohne weitere Vorbereitung als seine Frau vorgestellt, und Frau von Staël sei von dieser Eröffnung um so mehr zerschmettert worden, als ihr die »fadesse allemande« ihrer Nebenbuhlerin auf die Nerven gegangen sei, die halb zu ihrer Beruhigung, halb zu seiner Entschuldigung immer wieder die Phrase gebraucht habe: »C'est que Benjamin, voyez-vous, est si bon!« Constant selbst berichtet am 13. Mai 1809 seiner Tante nur so viel: die so lange aufgeschobene Mitteilung sei endlich erfolgt; er habe von Frau von Staël das Versprechen ihrer fortdauernden Freundschaft erlangt und sich nur verpflichten müssen, die Tatsache seiner Verheiratung noch für eine Weile geheim zu halten, um ihr Zeit zu lassen, die öffentliche Meinung in der Weise vorzubereiten, als ob sie diejenige gewesen sei, die ihn verabschiedet habe.

Charlotte hatte heroischer Weise selber, um ihrem Gatten härtere Krisen zu ersparen, angesichts der Verzweiflung, deren Zeugin sie ward, dieses Anerbieten gemacht, wie sie sich auch freiwillig bereit erklärt hatte, zur Abkürzung des Verfahrens der Medea von Coppet persönlich gegenüberzutreten, wozu nach allem vorangegangenen und nach allem, was sie zu gewärtigen hatte, eine nicht gewöhnliche Herzenstapferkeit gehörte. Aber mit der aufregenden Ausführung dieses entscheidenden Schrittes war auch ihre standhaft behauptete Energie plötzlich gebrochen, eine Art Willenslähmung kam über sie, und sie erklärte sich zu Benjamins gelinder Verzweiflung außer Stande, der Abmachung gemäß gleich nach der kritischen Begegnung von Sécheron wieder abzureisen: sie wollte überhaupt nicht mehr reisen, sich nicht mehr herumschleppen und versteckt halten lassen, sondern in Benjamins Nähe bleiben, und dieser mußte seine ganze Überredung aufbieten, um sie zur Vermeidung alles Aufsehens zu bestimmen, wenigstens vorläufig wieder zu seinem Vater nach Dôle zurückzukehren. Dort wollte er sie einige Zeit nachher, wenn der Sturm in Frau von Staëls verwundetem Gemüt ausgetobt haben würde, wieder treffen, und von dort aus sollte die Veröffentlichung ihrer Heirat erfolgen. Inzwischen blieb er selbst in Coppet und bemühte sich, seiner schwer erbitterten Freundin klar zu machen, daß und warum eine Geheimhaltung auf längere Dauer nicht möglich sei. Anfang Juni begleitete er sie, ihre Kinder und die Getreuen des Hauses nach Lyon, wo alles den dort gastierenden Talma spielen sehen wollte und wo auch Madame Récamier sich nach fast zweijähriger Trennung mit Frau von Staël wieder traf. Hier spielten sich neuerdings stürmisch erregte Szenen ab, und hier soll, nach einer Version, deren Richtigkeit nicht völlig geklärt ist, die ihrem Gatten nachgereiste Charlotte aus Verzweiflung einen Selbstvergiftungsversuch unternommen haben.

Zu keiner Zeit seines Lebens sah Constant die »Pfeil' und Schleudern des wütenden Geschicks« derart von allen Seiten auf sich gerichtet, wie in diesen Wochen. Niemand verstand ihn mehr, alles verurteilte ihn, der Kreis um Frau von Staël, wie der seiner Angehörigen, nur Charlotte scheint trotz ihrer vorübergehenden Hoffnungslosigkeit ihr geduldiges Vertrauen wiedergefunden zu haben und ließ sich vorläufig wieder nach Paris schicken. Benjamin selbst, durch sein gegebenes Ehrenwort empfindlich daran gehindert, anderen sein Verhalten zu erklären, riß von Lyon aus und fuhr nach Dôle, um mit seinem Vater die nötigen Maßnahmen zu besprechen. Aber hier holte ihn bereits einige Tage später der jetzt neunzehnjährige Auguste de Staël ein, den die seelische Verfassung seiner Mutter das Schlimmste befürchten ließ und der in verzweifelter Entschlossenheit Constant eine Forderung in Aussicht stellte, falls er nicht mit ihm nach Coppet zurückkomme. Ein solches Duell wäre schlimmer und für Constant kompromittierender gewesen, als jeder sonstige Skandal, und unter diesem Zwange stellte er sich Mitte Juli abermals in Coppet ein. Nun aber hielt sein Vater die Zeit für gekommen, seinerseits einzugreifen, und teilte Frau von Staël direkt mit, daß er den verwandten Familien in Lausanne Benjamins Verheiratung offiziell zur Kenntnis bringe.

Für diesen ward der Aufenthalt in Coppet, wo ihn nur noch kalte oder vorwurfsvolle Blicke trafen, unter solchen Umständen ein wahres Inferno, und nur der fessellose Schmerz, dem sich Frau von Staël ohne jeden Versuch der Selbstbeherrschung vor aller Augen hingab, hielt ihn im Bann, denn es blieb seine Hoffnung, daß sie sich in seiner Anwesenheit immer noch eher zur Beruhigung und zu einer vernünftigeren Beurteilung der Sachlage zurückfinden werde, als wenn er sie sich selbst überließ. In seinen Briefen an Frau von Nassau, die jetzt fast Tag für Tag einander folgen und in denen – es muß gesagt sein – die ewige Wiederkehr derselben Rechtfertigungsphrasen einigermaßen peinlich berührt, zeigt er sich beflissen, die Unmöglichkeit anders zu handeln mit Gründen zu belegen und immer wieder zu versichern, wie schwer ihm das Getrenntsein von Charlotte und die ihr auferlegten Opfer auf der Seele lasteten. Immer wieder führt er alles einzig auf seine Unfähigkeit zurück, einer Frau, mit der ihn seit fünfzehn Jahren Bande der engsten Art verbinden, den tödlichen Schmerz anzutun. und auf den Wunsch, ihr das Unvermeidliche und Unwiderrufliche wenigstens so erträglich als möglich zu machen. Kein Wort des Vorwurfs oder der Bitterkeit gegen Frau von Staël und ihr wahrhaft rabiates Verhalten fällt in diesen vertrauten Briefen: nur immer die Bitte, dafür zu sorgen, daß über sie nicht um seinetwillen Schlechtes gesprochen werde. Er äußert denselben Wunsch auch Rosalie de Constant gegenüber, die, seit sie die angewiderte Augenzeugin jener dramatischen Kniefall-Szene gewesen, eine unüberwindliche Abneigung gegen »la terrible et trop célèbre dame« hegte. Was alles an Gerüchten über ihn selbst in Lausanne und anderwärts umlief, wollte er für seine Person ertragen, solange sonst niemand dadurch geschädigt wurde, nur gegen die Behauptung, daß er Charlotte ihres Geldes wegen geheiratet und daß sie sechzigtausend Francs Rente habe – in Wahrheit war es kaum der vierte Teil davon – setzte er sich zur Wehr, da sie für sein Gefühl mehr eine Herabwürdigung seiner Frau als seiner selbst in sich schloß. Und für Charlotte, ihre Großherzigkeit, Selbstverleugnung und himmlische Güte ist ihm in all dieser Zeit kein Superlativ zu stark, kein Dankeswort zu heiß.

Wie die weiteren Kreise die Situation beurteilten, mag die Stelle eines Briefes erweisen, den eine Verwandte und Jugendgespielin der Frau von Staël, die geistig hochstehende Madame Rilliet-Huber in Genf, Ende August an Heinrich Meister nach Zürich richtete. »Frau von Staël,« heißt es darin, »trägt gegenwärtig an einem schweren Kummer: der Vermählung Benjamins, die für diesen Herbst festgesetzt ist. Seit sechs Jahren weigert sie sich, ihn zu heiraten, und vermag doch den Gedanken nicht zu ertragen, daß er eine andere zur Frau nimmt. Dieser Widerspruch könnte absurd erscheinen, aber er ist es nicht für diejenigen, die mit dem menschlichen Herzen einigermaßen Bescheid wissen: sind es doch just die Kreuzungen, die Sprünge und Gegensätze in dem, was wir wollen, die für die Wahrheit unserer Natur Zeugnis ablegen. Frau von Staël hat jedem in ihrer Umgebung und jedem, der sie besucht, verboten, auch nur mit einem Wort die Angelegenheit zu berühren, die alle ihre Gedanken beschäftigt und verzehrt: sie will ganz durch und aus sich allein die Kraft gewinnen, sich abzufinden, und sie ist gegen verschiedene Leute, die davon zu sprechen anfingen, schroff ausfallend geworden.«

Wie man sieht, existierte Benjamins neugeschlossene Ehe für die Öffentlichkeit und selbst für die Intimen von Coppet auch jetzt noch nicht, sie war nur inoffiziell durch die briefliche Anzeige seines Vaters an die verschiedenen Familienangehörigen bekannt geworden, und Frau von Staël benutzte diese Sachlage, um ihrerseits die Heirat zu ignorieren und sich anderen gegenüber nichtswissend zu stellen. Damit brachte sie Benjamin, über dessen Verbleiben in Coppet fern von seiner Frau ohnehin ein befremdetes Gerede umlief, auch noch insofern in eine schiefe Lage, als die Eingeweihten glauben mußten, er habe Frau von Staël, während er noch monatelang ihr Gast war, über den wahren Sachverhalt getäuscht. Indessen, er hatte sich in Sécheron das Versprechen entreißen lassen, drei Monate noch zu bleiben, und glaubte, nun an dieser letzten Gnadenfrist auch festhalten zu müssen, zumal Charlotte um diese Zeit noch in Paris die Regelung ihrer Vermögensangelegenheiten abzuwickeln hatte. Um seinen Abschied von der Stätte, die ihm in fünfzehn Jahren so oft und lange eine Heimat gewesen war, behutsam vorzubereiten und die Auffälligkeit eines Exodus mit Kisten und Kasten rücksichtsvoll zu vermeiden, sandte er den Seinen lieferungs- und paketeweise zu, was sich von Manuskripten, Papieren, Büchern und so weiter von ihm in Coppet angesammelt hatte. Mitte Oktober endlich trat er die Reise nach Paris an und bezog wenige Wochen später mit Charlotte das kleine Haus in Les Herbages, in dem sie schon zwei Jahre früher die Seine geworden war.

Frau von Staël schien indessen vorerst noch wenig geneigt, das Unvermeidliche zu tragen, und versuchte, die Erinnyen auf die Spuren des Flüchtlings zu hetzen. Nach Rosalie de Constants Zeugnis ließ sie Benjamins Verhalten und Charakter ihren gemeinsamen Freunden gegenüber im denkbar schlechtesten Lichte erscheinen und traf ihn noch empfindlicher dadurch, daß sie seinen Vater jetzt durch Zusicherung materieller Vorteile für seine Kinder zweiter Ehe – Benjamins Stiefbruder Charles de Rebecque verschaffte sie eine Anstellung in Genf – auf ihre Seite zu ziehen und gegen Benjamin einzunehmen wußte. Dieser litt schwer unter solcher Verunglimpfung, aber er trachtete, diese Erfahrungen nicht als Gift, sondern als heilsame Arznei auf sich wirken zu lassen, und forderte von den Seinen immer wieder genauere Mitteilungen, um seine entwürdigten Gefühle für die Urheberin dieser Schmerzen damit womöglich abzutöten. Seine Ehe, deren Rechtsgültigkeit mittlerweile durch Nachholung versäumter Formalitäten gesichert worden, ward jetzt offiziell bekannt gegeben. Er hatte die Genugtuung, von den in Paris weilenden Angehörigen seiner Frau – einer ihrer Brüder war Oberlandjägermeister am Hofe König Jérômes in Cassel – mit ebensoviel Auszeichnung als Herzlichkeit aufgenommen und nach Deutschland eingeladen zu werden. Der briefliche Verkehr mit Coppet dauerte inzwischen fort, doch betraf er vorwiegend die Regelung finanzieller Angelegenheiten zwischen ihm und Frau von Staël, den peinlichen Erdenrest ihrer fünfzehnjährigen intimen Beziehungen, der noch der Ablösung harrte.

Es wurde früher schon erwähnt, daß Constants Vermögensverhältnisse seit den großen Prozeßverlusten seines Vaters niemals glänzend und vor allem niemals sonderlich geordnet waren. Durch seine Landankäufe und -verkäufe, durch die finanziellen Krisen nach der Revolution, durch die Anforderungen, die sein Vater später immer häufiger an ihn stellte, durch seine Spielverluste und Gewinne, seine langwierige Ehescheidung, seine zahlreichen Reisen befand sich sein Besitzstand in einer ewigen Fluktuation, und obwohl er für seine Person anspruchslos und nach keiner Richtung hin Epikuräer war, traten Momente an ihn heran, wo er die ihm mit einem gewissen Ungestüm aufgedrängte Hilfe der Frau von Staël in Anspruch nahm und ihr Schuldner ward. Er war nicht der einzige, dem sie, großzügig und opferwillig, wie sie stets in solchen Dingen war, auf diese Weise ihre Zuneigung zu beweisen suchte: Camille Jordan und andere besonders die beiden Schlegel konnten davon erzählen. Jetzt fand Constant den Zeitpunkt gekommen, ehrenhalber auch diese pekuniäre »douloureuse« zu begleichen, und er kam Ende Februar 1810 nach Besuchen in Dôle und Lausanne noch einmal nach Coppet, um die nötigen notariellen Abmachungen zu treffen. Vorher hatte Frau von Staël nie von solchen Auseinandersetzungen hören wollen, jetzt ließ sie sich von der Notwendigkeit wenigstens einer formellen Regelung überzeugen. Doch lehnte sie eine Rückzahlung der Summe, die sich auf rund achtzigtausend Francs belief, schon deshalb ab, weil manches von dem, was Constant im Laufe der anderthalb Jahrzehnte von ihr empfangen hatte, auch ihren persönlichen Zwecken – namentlich auf gemeinsamen Reisen – zugute gekommen war; und so wurde nach längerem Hin und Her vertragsmäßig bestimmt, daß das Kapital samt Zinsen erst nach Constants Tode an sie oder ihre Erben ausbezahlt werden, er aber zu einer früheren Bezahlung in keinem Falle verpflichtet sein sollte. Es wird sich zeigen, daß wenige Jahre später Frau von Staël es war, die diese Abmachung rückgängig zu machen suchte.

Sie hatte jetzt nach mehrjähriger Arbeit ihr dreibändiges Buch über Deutschland beendigt und verließ Coppet im April 1810, um in Schloß Chaumont an der Loire die in Paris erfolgende Drucklegung des Werkes zu überwachen, bevor sie die geplante Reise nach Amerika antrat. Der Schmerz über Benjamins Abfall war nicht verwunden, aber er hinderte wenigstens nicht, daß ihr Herz in dieser Zeit noch stärker als zuvor für den mittlerweile zum Präfekten der Vendée aufgerückten Prosper de Varante schlug, wie es ihre Briefe an Juliette Récamier bezeugen. Er hinderte sie auch nicht im Herbst des Jahres, als sie nach der unerwarteten Konfiskation ihres Buches trostlos und entmutigt wieder nach Genf zurückkehrte, zu dem jungen, sie abgöttisch verehrenden Albert Jean de Rocca eine Zuneigung zu fassen, die dann zu einer heimlich geschlossenen Ehe zwischen der Vierundvierzigjährigen und dem kaum halb so alten Manne führen sollte. Der im spanischen Kriege verwundete Offizier, ein Neffe ihres Genfer Hausarztes und früherer Schulgenosse ihrer Söhne, wurde während seiner in ihrem Hause verbrachten Rekonvaleszenz von einer so glühenden Leidenschaft zu der ihn mitpflegenden Frau von Staël erfaßt, daß sie, die bis dahin tragischerweise nie diejenige Liebe gefunden und eingeflößt hatte, nach der ihr heißes und rasches Blut verlangte, sich seiner Werbung gerührt und besiegt gefangen gab. Die große Wunde ihres Lebens aber blutete trotzdem fort und sollte sich nicht eher für immer schließen als ihre Augen. Denn darin lag das Problematische und dem oberflächlichen Urteil schwer Faßliche in ihrer und Constants Natur und in beider Verhältnis, daß ihre einmal entketteten Seelen sich immer wieder unruhig und unbefriedigt über alle Fernen hinweg suchten. So oft auch, beinahe allzu oft, in seinen Briefen an die Verwandten Benjamin die engelgleiche Weiblichkeit Charlottens verherrlicht und sich im Besitz ihrer Liebe glücklich preist, er notiert doch zugleich in ein flüchtig skizziertes, nur aus Sainte-Beuves Zitaten bekanntes Tagebuch für dieses Jahr 1810 das geheime Selbstbekenntnis: »Ma tête se trouble entre Charlotte et Madame de Staël.« Und unter dieser Verwirrung des Gefühls sollte er noch oft in stillen Stunden und schmerzlich leiden.

Den Rest des Jahres 1810 verbrachte er mit Charlotte teils in Paris, teils auf seinem Landsitze Les Herbages, den er bald nachher verkaufte, vielleicht weil ihn einige besonders hohe Spielverluste – er selbst beziffert einmal den eines einzigen Abends auf zwanzigtausend Francs – dazu nötigten. Dazwischen allerdings hielt er sich im Laufe des Sommers mehrere Wochen in Chaumont auf, weil Frau von Staël für das vorbereitete Erscheinen ihres Werkes »De l'Allemagne« seinen Rat und seine Unterstützung bei den Pariser Kapazitäten in Anspruch oder wenigstens ähnliches zum Vorwand nahm. Im Januar des Kometenjahres 1811 verließ er mit Charlotte Paris, um vor beider Übersiedlung nach Deutschland noch seine Verwandten in Lausanne zu besuchen und ihnen seine Frau zum ersten Male offiziell vorzustellen. Er ließ Dôle diesmal links liegen, weil sein Vater sich noch immer feindselig gegen ihn verhielt: dafür kam dieser ihm an den Genfersee nachgereist, um ein notarielles Schriftstück von ihm darüber zu erzwingen, daß er seiner Stiefmutter Marianne und den beiden Stiefgeschwistern nach seinem, des Generals Tode eine Rente aussetzen werde. Das Unerquickliche dabei war, daß General Constant die Angelegenheit auf das Terrain von Coppet hinüberspielte, wo er und seine beiden jüngeren Kinder mit ostentativer Auszeichnung empfangen wurden. Es kam zu heftigen Auftritten zwischen Vater und Sohn, und Charlotte, die daraufhin ihrem Gatten aus Lausanne nach Genf nachgeeilt war, hatte dank der Einmischung Frau von Staëls in diesen Familienskandal bittere Tage. Zu alledem glaubte nun auch noch der heißblütige Rocca, der sich zur Eifersucht gereizt sah, den Beschützer seines Idols spielen zu müssen, und schickte Constant eine Säbelforderung, die am 20. April morgens an der Arve-Brücke ausgefochten werden sollte, aber im letzten Moment noch beigelegt wurde. Das urkundliche Zeugnis dafür bildet ein noch vorhandenes, vom Tage vorher datiertes Testament Constants, worin er Charlotte nochmals seiner uneingeschränkten Liebe versicherte und sie zur Universalerbin einsetzte, Frau von Staël und seinen Vater aber um Verzeihung für das Leid bat, das er ihnen angetan; gleichzeitig traf er in dem Schriftstück Verfügungen über den Verbleib von sieben versiegelten Paketen mit dem Zeichen Σ, die offenbar Corinnas Briefe an ihn enthielten und von deren Schicksal später noch die Rede sein muß.

Wenige Wochen darnach, am 15. Mai, verließ er die Heimat, um Charlotten in die ihrige zu folgen. »An einem Tage wie heute,« heißt es nach Jahren in dem jetzt wieder aufgenommenen Journal intime, »habe ich um elf Uhr morgens auf der Treppe des Hotels zur Krone in Lausanne von Frau von Staël Abschied genommen, die dabei die Überzeugung äußerte, daß wir uns nie im Leben wiedersehen würden.... Ach, meine gute Albertine!« Der Seufzer nach Albertine kehrt noch an anderer Stelle wieder, und es steht außer Zweifel, daß ihm die Trennung von ihr, mit der ihn die engsten Bande des Blutes verbunden hielten, mindestens so hart, manchmal härter ankam, als die von ihrer Mutter. Albertine war sein Liebling von jeher gewesen, und es ist bezeugt, daß namentlich in früheren Jahren er und Frau von Staël um die Wette einen förmlichen Kultus mit dem Kinde trieben, das die Frühklugheit von beiden Eltern geerbt hatte, ohne an Natürlichkeit dadurch zu verlieren. »Er pflegte sich ganz und gar wie ein Papa im Verkehr mit der hübschen Kleinen zu benehmen,« berichten die erst jüngst veröffentlichten Memoiren der Komtesse de Boigne, die ihn dabei zu beobachten Gelegenheit hatte und hinzufügt, daß das junge Mädchen die Indiskretion besessen habe, ihm Zug um Zug ähnlich zu sehen.

Die Reise nach Deutschland ging in absichtlich langsamem Tempo über Bern, Basel, Freiburg, Straßburg, Baden-Baden, Heidelberg, wo überall Aufenthalt genommen wurde, zunächst nach Frankfurt und von da nach Wiesbaden und Schwalbach, deren Spielsäle Benjamins Leidenschaft für das grüne Tuch zeitweilig gefährlich wurden. Mit jeder Meile Wegs, die sich zwischen ihn und die Stätte seiner langjährigen Unruhen legte, glaubte er dem ersehnten Seelenfrieden näher gekommen zu sein, und von dem Augenblick, da er deutschen Boden wieder betrat, kehrte auch der alte Arbeitseifer zurück, mit dem er sich jetzt seinem seit Jahren vernachlässigten wissenschaftlichen Werke wieder zuwandte.

In Cassel, wo man Anfang August eintraf, machte er die ihm sympathische Bekanntschaft des zwanzigjährigen Wilhelm von Marenholtz, Charlottens Sohn aus ihrer ersten Ehe, ebenso die der meisten Mitglieder der Familie Hardenberg, und es ward seiner weltmännischen Gewandtheit nicht schwer, sich in dem neuen Verwandtenkreise zurechtzufinden, trotzdem er sich als bürgerlicher Republikaner mit freiwillig abgelegtem Baronstitel inmitten all der angeheirateten Minister, Exzellenzen und Hofchargen in ihren goldbestickten Staatsfräcken und Uniformen einigermaßen verlaufen vorkam. Einige Wochen später reisten die Gatten dann nach Schloß Hardenberg nahe bei Göttingen weiter, wo Charlottens ältester Bruder, der Oberlandjägermeister Karl von Hardenberg und dessen Familie sie gastlich aufnahmen. Eine vorläufig unbegrenzte Zeit friedlicher Arbeit in der willkommenen Sphäre deutscher Wissenschaftlichkeit lag nun vor Benjamin, der sich auf die Schätze der damals an der Spitze aller deutschen Büchersammlungen stehenden Göttinger Universitätsbibliothek mit der Ungeduld eines Kindes freute und sich in solcher Stimmung wohl dem Glauben hingeben durfte, endlich auf gerettetem Boot den »Hafen« erreicht zu haben, nach dem er so oft im Laufe der Jahre in seinen Aufzeichnungen und Briefen wie ein Schiffbrüchiger gestöhnt hatte.


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