Nataly von Eschstruth
Jung gefreit - 1
Nataly von Eschstruth

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IX.

So sonnenhell und wolkenlos wie sich der Himmel über die Erde spannte, und so maienfroh und lachend wie draußen »der Frühling über die Berge stieg!« so wetterschwül und unheilsschwanger wehte die Luft in dem Herrenhause von Jeseritz, als die flotten Rappen den Wagen des Landrats den Blicken entrückt hatten.

Frau von Welfen gehörte zu den Menschen, die erst nachträglich, bei kühlerem Überlegen ein Vorkommnis richtig beurteilen, und eine Sache, die sie im ersten überraschenden Ansturm leicht genommen, mit dem grübelnden Verstand desto schwerer nehmen. Hatte sie rechtgetan, diese Verlobung, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, zu dulden? Hatte sie nicht jede Aussprache verhindern und die jungen Leute rechtzeitig trennen müssen?

Wie konnte ein Mädchen wie Salome, die noch keinen Blick in Welt und Leben, noch keinen Blick in die ernsthafte Leitung eines Haushaltes getan, an Heiraten denken! Salome! Das Kind von siebzehn Jahren! – Es war ein unfaßlicher Gedanke! Und ein jahrelanger Brautstand ist in unserer heutigen rast- und ruhelosen Zeit des Vorwärtsstürmens ein trostloser Gedanke.

»Jung gefreit hat nie gereut!« sagt ein altes Sprichwort, aber es sagte wohlweislich nichts, ob auch »schnell gefreit nie gereut hat!«

Noch keine Viertelstunde kannten sich die jungen Leute und sprachen bereits das bindende Wort! Salome ahnte noch nicht einmal den Vornamen des Erwählten, als sie seinen Kuß erwiderte, war so etwas überhaupt auszudenken?

Lese man es in einem Roman, würden die Menschen die Köpfe schütteln und sagen: »wie übertrieben, so etwas passiert nicht in Wirklichkeit!« – – aber es passiert doch, wie das Leben überhaupt recht oft mit krasseren Farben malt, als die Feder eines Schriftstellers. Dieser paßt seine Geschichten dem Geschmack und Begriffsvermögen des Publikums an – das Schicksal ist weniger rücksichtsvoll und wirbelt seine Millionen von Romanfiguren auf dem Erdball in toller Laune hin und her; es fragt nicht: »wird man mir auch glauben, was ich diesem und jenem antue« – es handelt. – »Viel öfters gleicht das Leben einem Roman, als ein Roman dem Leben gleicht.« Warum? Weil ein Schriftsteller zu viel erwägt, klügelt und abmißt, weil er seine Helden zustutzt wie es Mode und Etikette verlangen, weil er ihre Schicksale lenkt, wie es die Geschmacksrichtung vorschreibt, weil er nicht gegen den Strom anschwimmen will, und der realistischen Zeit nur realistisches, der sentimentalen Zeit nur sentimentales Fühlen und Empfinden darbringen darf.

Wo bleibt da die gesunde, wahre Menschlichkeit? Der Roman bleibt wohl auch noch ein Spiegel des Lebens, aber er zeigt nur Verrenktes und Verzerrtes. Das Schicksal legt seine handelnden Personen nicht auf das Prokrustesbett einer Zeitrichtung; es schlägt heute wie morgen mit Keulen darein und taucht seinen Pinsel tief in Herzblut, ohne lange zu fragen, ob ein Häuflein wandelnden Staubes über seine Weltgeschichte zu Gericht sitzen wird oder nicht.

Frau von Welfen stützte das Haupt schwer seufzend in die Hand und blickte zu Salome hinüber, die immer noch am Fenster stand und mit strahlenden Augen hinauslächelte, als schaue sie immer nach dem letzten Gruß des Scheidenden.

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Sahen sich die beiden wirklich nur so kurze Zeit auf dem Perron des Bahnhofs in Halle? Wieder und wieder tauchte ihr dieser Gedanke auf, und mit dem Scharfblick der Mutter durchschaute sie das heiße Not, das auf den Wangen der Tochter gebrannt, als der Landrat sie scherzend mit »Durchlaucht« begrüßt hatte. Dahinter stak irgendein kleines Abenteuer, das ihr verheimlicht worden war.

Sie erhob sich und trat neben das junge Mädchen. Voll schwärmerischer Seligkeit schlang Salome die Arme um ihren Hals: »Mamachen, ach du liebes, süßes Mamachen, wie bist du doch so gut!«

Die Mutter schaute tief in die glänzenden Veilchenaugen der Tochter. »Ja Salome, ich bin gut, viel zu gut gegen euch gewesen, besser, als du es verdienst!«

»Als ich es verdiene?« – flüsterte es betroffen zurück.

»Ja. Oder findest du es etwa richtig und lobenswert, wenn ein junges Mädchen die eigentümlichsten Erlebnisse auf der Reise hat, und diese der Mutter verheimlicht?«

Wieder erglühte Salome betroffen. »Hat er es euch doch erzählt?« fragte sie gedehnt.

»Nein, er hat uns nichts erzählt, aber er würde es sicherlich getan haben, wenn er Zeit und Erlaubnis dazu gehabt hätte!«

Salome lachte silberhell auf und küßte stürmisch die Lippen der Sprecherin. »Ja, Mamachen, du sollst alles wissen!« flüsterte sie, »du bist ja jetzt unsere Verbündete, und wenn du mich auch tüchtig auslachst, so schadet es nun nichts mehr, ich habe es gründlich verdient! Komm, setze dich dort in das Sofaeckchen! Dann will ich dir beichten.«

Und dicht an die Mutter geschmiegt, berichtete Salome wahrheitsgetreu ihr Abenteuer in der Eisenbahn. Frau von Welfen schüttelte zwar bedenklich und vorwurfsvoll den Kopf, aber sie konnte es doch nicht wehren, daß ein immer verräterischeres Lächeln um ihre Lippen zuckte.

»Und siehst du, Mama, wie er mir nun plötzlich wieder gegenüberstand, wie er so taktvoll und ritterlich unser Renkontre verschwieg, als er merkte, daß ihr von nichts wußtet, da empfand ich es mit voller leidenschaftlicher Innigkeit, daß ich ihn liebe – über alle Begriffe liebe! Und er muß mein Mann werden, Mütterchen, sonst sterbe ich! Warum soll Papa seine Einwilligung verweigern? Er heiratet ihn ja nicht – also kommt es doch nur darauf an, ob er mir gefällt und ob ich ihn will. Wollen wir zu ihm gehen und ihn bestürmen? Ach ja! Bitte, bitte komm gleich mit!«

Frau Dora hielt die Sprecherin sanft zurück. »Nein, Herzenskind – das wäre sehr unklug. Du weißt, daß mit Papa nichts anzufangen ist, wenn er in zorniger Stimmung ist. Erst muß er sich beruhigen. Wenn Born an ihn geschrieben hat, ist der Zeitpunkt gekommen, eher nicht. Und nun gehe du einmal hinaus in den Park, wo du mit unserem lieben Herrgott allein bist. Da prüfe einmal vor ihm dein Herz, ob deine Liebe wirklich so groß und aufrichtig, und dein guter Wille tatsächlich stark genug ist, um dieses fremden Mannes willen dein Elternhaus zu verlassen – um für ihn all das Viele zu erlernen, was dir noch fehlt, um für ihn vieles abzustreifen, was dir noch fehlerhaft anhängt. Auch ich möchte jetzt allein sein und den unfaßlichen Gedanken fassen lernen! Heute abend aber, im traulichen Dämmerstündchen, komm zu mir in mein Zimmer – dann will ich dir sagen, mein Liebling, daß die Ehe kein Zeitvertreib und kein Kinderspiel ist, daß ihre Rosen viele Dornen tragen und vor ihre Sonne viele, dunkle Wolken ziehen. Das Finden und Binden ist leicht, aber das Gebundensein für ein ganzes, langes Menschenleben ist schwer, namenlos schwer. Unter tausenden sind es wohl nur zehn, die in ihrer Ehe so leben, wie es Gott und den Menschen ein Wohlgefallen ist!«

Frau Dora seufzte leise auf. Sie blickte in die lachenden Augen ihres Kindes und empfand es, und las es in dem großen, verständnislosen Blick, wie unendlich fern Salome noch alle Gedanken lagen, auf denen einzig und allein das Fundament für eine wahrhaft glückliche Ehe aufgebaut werden kann. Und sie war fest entschlossen, ihre Pflicht zu tun und einem übereilten Schritt zu wehren, so sehr es in ihren Kräften stand. Ein Lichtblick erhellte das bange Dunkel.

Was Salome gar nicht geahnt und bemerkt hatte, die kleine Komödie, die Born ihr als »Geheimpolizist« vorgespielt, und die Lektion, welche er ihr damit erteilt, hatte sie, die Mutter, sofort durchschaut und ihren Zweck völlig begriffen.

Der Landrat hatte eine vortreffliche Art und Weise, Salome mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und sie auf den rechten Weg zu leiten – besser und einflußreicher, als sie als Mutter es jemals können würde. –- Er, der ernste, geistvolle Mann könnte wieder gutmachen, was in der Fremde an ihr verdorben war – er vielleicht vor allen –- ja Frau von Welfen empfand es wie eine Ahnung im Herzen, nur er allein konnte das Kind zum Weibe erziehen!

Salome flatterte wie ein helles Sommerwölkchen in den knospenden Park hinaus – wie ein jubelndes Echo klang ihre Stimme zurück: »Im wunderschönen Monat Mai – als alle Knospen sprangen, da habe ich ihr gestanden – mein Sehnen und Verlangen!!«

Sehr lange blieb das junge Bräutchen nicht draußen, sie schien keine Ruhe zu finden, mit ihrem stürmisch klopfenden Herzen die verlangte Zwiesprache zu führen. Wozu auch? – Sie war fest entschlossen, Siegfried von Born zu heiraten, sie liebte ihn! Sie triumphierte in dem stolzen Gefühl, den ersten Mann, der ihren Weg gekreuzt, auf der Stelle erobert zu haben.

All ihre Wünsche, all ihr Hoffen war erfüllt. So hatten sie es alle in der Pension erträumt, und wem ist dieser Traum zur Wahrheit geworden, vielleicht ihr allein.

Die gute Mutter nahm alles so ernst und schwer. Du liebe Zeit! Sie stand noch mit beiden Füßen in der guten, alten Zeit, wo die Ehen noch im Himmel geschlossen wurden.

Heutzutage schloß man sie in den Spalten einer Zeitung, oder im Vorhof der Reichsbank, wo die Stimmen im Winde flüsterten, mit wie viel harten Talern der Weg gepflastert wäre, auf welchem »er« oder »sie« einherwandeln sollten.

Alles andere war altmodische Sentimentalität. Wie glücklich traf es sich nun bei ihr, daß Siegfried ein so schöner, stattlicher Mann war, daß er Stellung, Namen, Geld und Gut hatte, daß sie ihn nicht nur »Gatte«, sondern auch Geliebter nennen kann.

Ja, das war viel Glück –- Juilette behauptete ja immer, dies alles könne gar kein Mann in sich vereinen. Entweder – oder.

Gott sei Dank, daß es doch noch Ausnahmen von der Regel gab.

Was würden Juilette und Lola sagen! – Sie würden verkommen vor Neid und Mißgunst!

Und welch ein unbeschreiblicher Triumph für sie, nun all der boshaften Zweifelsucht der beiden Dämchen mit der gedruckten Anzeige antworten zu können.

Anzeige! – Wäre es nur erst so weit! Salome fieberte vor Ungeduld, diese Anzeigen schwarz auf weiß in die Welt hinauszusenden.

Das konnte aber immerhin noch tagelang dauern, darum mußte sie sofort an die Pensionsfreundinnen schreiben und tüchtig damit renommieren, daß »er« ihr nachgefolgt sei, daß er sie treulich gesucht, bis er sie gefunden habe, daß er sie demnach so leidenschaftlich und über alles liebe, wie sie angenommen. Sie hätten sich verlobt – in den nächsten Tagen hoffe man auf die Einwilligung des Vaters, der begreiflicherweise nicht sofort »Ja und Amen« gesagt habe, sondern die Tochter gern noch im Hause behalten möchte.

Oh, wie interessant, wie entzückend wichtig waren diese Mitteilungen! Wie würden sie verblüffend wirken, wie machten sie allen Spott und alle Ironie über ihr Abenteuer, das man sicherlich für Erfindung gehalten, zu nichte!

Salome jubelte über ihren Triumph, und wäre sie sich klar über ihre Gefühle gewesen, so hatte sie erkennen müssen, daß der Sieg, welchen ihre Eitelkeit den Freundinnen gegenüber errungen hatte, fast das junge, bräutliche Glück, und die Gedanken an den schönen, ritterlichen Freier zurückdrängte. Durch die kleine Nebentür huschte sie heimlich in ihr Zimmer hinauf, setzte sich an den Schreibtisch und verfaßte mit glühenden Wangen die Berichte an Juliette und Lola, die alles übertrafen, was Schwärmerei, Einbildung und Selbstvergötterung eines Pensionsbackfischchens jemals in dieser Beziehung geleistet hatten.

Als sie just mit dem Briefe an Juliette fertig geworden war, und sie nun eben daran gehen wollte, ihn für Jola abzuschreiben, pochte es kurz und hart an ihre Tür.

Sie schrak leicht zusammen und preßte die Hand auf das Herz: »Herein!«

»Aha, da bist du ja; ich habe eine kleine Arbeit vor, bei der du mir helfen kannst.«

Der Major stand auf der Schwelle, mit finsterem Gesicht und grimmigem Blick. Er trat an den Schreibtisch, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich wuchtig niederfallen.

In seiner Hand knisterte ein Brief.

»Von ihm!« jauchzte es durch Salomes Seele, und doch schnürte ihr die Angst momentan die Kehle zusammen. Aber sie richtete sich energisch auf. »Durch Kampf zum Sieg!« trotzte es auf ihrer weißen Stirn.

Welfen zog ein Buch aus der Tasche. Die Graphologie von Crépieux-Jamin.

Salome war überrascht, und erstaunte noch mehr, als der alte Herr in sehr ruhig kühlem, beinahe geschäftsmäßigem Ton jagte: »Ich möchte gern eine Handschrift deuten, mein Kind, du kannst mir dabei helfen.«

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»Gern – gewiß – zeige nur her!« murmelte sie bitter enttäuscht.

Welfen breitete einen Brief auf dem Tische aus, und Salome überlegte, daß es ja eigentlich ganz unmöglich sei, daß Siegfrieds Antrag schon jetzt eingetroffen sein könnte. Ehestens konnte das heute abend oder morgen früh der Fall sein. – Tief aufatmend neigte sie sich und blickte gleichgültig auf das Schreiben.

»Mein lieber Assessor –« stand darüber – also etwas furchtbar Gleichgültiges.

Welfen schlug langsam und bedächtig den Crépieux auf. »Die Schrift ist sehr groß und dick, stimmt's?«

Die Gefragte biß sich auf die Lippe und schielte nach ihrem Brief hinüber. Sie war ärgerlich über die Störung und hätte viel lieber weiter geschrieben. Aber den Vater jetzt verletzen? Unmöglich. Das würde böse Folgen haben können.

»Hm – dick und groß –!« nickte sie, »wie mit einem Schwefelholz geschrieben.«

»Richtig – hier habe ich's schon – bedeutet großen und maßlosen Stolz. – Sieh her!«

»Ja, ich sehe – das kann ich schon auswendig.«

»Gut, also stolz.« – Welfen kritzelte das Wort auf ein Stückchen Papier, dann fuhr er mit dem langen, hageren Zeigefinger, an dessen Ende sich ein spitzgeschnittener Nagel krümmte, unter den Zeilen des Briefblattes hin, dessen Unterschrift umgebogen und dadurch unsichtbar war. »Hier dieser Haarstrich, schroff und rückwärtsgebogen, stark markiert ... hier ist er wieder ... hier und hier nochmals – bitte lies mal hier, was er bedeutet!«

Salome warf einen flüchtigen Blick in den Crépieux, woselbst die betreffende Stelle bereits rot angestrichen war. »Widerspruchsgeist!« las sie mechanisch.

»Hm – schreiben wir's an. Und weiter, hier bitte, vergleiche diese Linien – sie wiederholen sich auch beinahe Wort für Wort, ›Hang zu kritischem Tadel und beißendem Spott – Kampfeslust‹. Nun, ist's richtig so?«

»Stimmt vollkommen!« bestätigte Salome immer ungeduldiger werdend, »scheint ja ein recht angenehmer Herr zu sein, dieser Briefschreiber!« fügte sie übellaunig hinzu.

Ein Blick des Vaters blitzte zu ihr auf. Halb Triumph und Genugtuung, halb Ironie. »O ja, das ist er! Gut, wenn man sich davon überzeugen kann!«

»Ist es denn so wichtig und interessant, einen solchen Menschen kennenzulernen?« fragte sie mit gelangweiltem Ton, ihr Blick hing an ihrem begonnenen Schreiben und ihre Fingerchen zuckten nervös.

»Ich denke, ja! Solche Studien sind immer interessant.«

»Und nun sieh hier diese sich aufrollenden Kurven an. Wir haben uns erst gestern damit beschäftigt.«

»Ja, ja, ich weiß noch – Anmaßung – Eitelkeit – Unbeständigkeit und Gott weiß was alles für abscheuliche Dinge!«

Der Major lächelte wie ein Mephisto. »Sehr gut; wird ja immer besser. Netter Junge das. Ferner finden sich in der Schrift vor: Rücksichtslosigkeit, materieller Sinn, der bis zur Brutalität gehen kann – Geiz, Mißtrauen –«

Salome hielt sich die Ohren zu und machte eine heftige Bewegung. »Halte ein in deinem Grimm! Dieser Mensch muß ja ein Ungeheuer sein –«

»Bitte, überzeuge dich –«

»Ich glaube es dir ja, Väterchen –«

»Überzeuge dich!« – So barsch und heftig hatte er noch nie zu ihr gesprochen.

Betroffen neigte sich Salome und starrte geistesabwesend auf das Buch nieder. Sie war zu aufgeregt, um sehen und lesen zu können, die Buchstaben tanzten wirr vor ihrem Blick.

»Nun?«

»Ja, es stimmt ganz genau, du hast recht, Papa.«

Welfen erhob sich und stand hochaufgerichtet vor seiner Tochter. Er zog die Stirn in finstere Falten: »Und willst du nun auch zur Belohnung wissen, wer dieser so sehr vortrefflich veranlagte Mann, dieser Mustergatte in spe, dieser ideale Liebhaber und Abenteuerheld ist?« fragte er scharf.

Salome blickte verwundert auf. »Gewiß! Wenn ich ihn kenne –?«

»O ja, du kennst ihn! Da hier – lies!« Und er klappte die untere Hälfte des Briefbogens herum und hielt ihn dicht vor die Augen der Tochter.

Diese neigte das Köpfchen und blickte flüchtig darauf nieder, dann zuckte sie zusammen und schrak jäh zurück, als habe sie einen Schlag erhalten. »Von Born – Landrat ...« stammelte sie. Alles Blut wich aus ihren Wangen, sie sah so leichenhaft fahl aus, daß der Major jäh erschrocken näher trat.

»Siegfried? Das soll Siegfried sein?« rang es sich wie ein Schrei von ihren Lippen: »Das ist nicht wahr – das ist Lüge – das glaube ich nicht!« rief sie außer sich. Welfen zog drohend die Brauen zusammen. »Du glaubst nicht, was du selber an der Hand der Wissenschaft bewiesen hast?« fragte er scharf.

Ein Zittern ging durch Salomes schlanke Gestalt. Wie in wildem Troß schnellte sie empor. »Nun gut! Dann mag es Wahrheit sein! Dann liebe ich ihn mit all seinen Mängeln und Fehlern, und liebe ihn, wenn er selbst ein Teufel in Menschengestalt wäre – und ich heirate ihn! – Papa – hörst du? Ich heirate ihn und wenn er noch zehnmal fürchterlicher schriebe!«

Die Heftigkeit der Tochter war ein Erbteil des Vaters und wirkte ansteckend.

»Du heiratest ihn nicht! Hörst du auf mich, du Gelbschnabel?

« brauste er auf. »Und wenn er ein Engel vom Himmel wäre, du heiratest ihn nicht

»Ich will es aber ... ich will es!«

»Und ich will es nicht.«

»Dann heirate ich ohne Erlaubnis!«

»Oho! Das bleibt abzuwarten! – Es gibt noch Mittel, um widerspenstige Frauenzimmer zu bändigen!«

Salome griff mit beiden Händen nach dem Herzen. »So werde ich sterben!« hauchte ste und sank an dem Vater nieder auf den Teppich.

Auf das höchste bestürzt, sprang der Major zu und richtete ihren starren Oberkörper empor. »Kind! Um Gottes willen, mein süßer Liebling!« schrie er auf, voll Entsetzen in ihr starres Gesichtchen schauend, »Salome, komme zu dir, sei doch vernünftig! Bist du denn rein von Sinnen? Kann man denn kein ernstes Wort mehr mit dir reden?!«

Aber Salome regte sich nicht, nur ein leiser, zitternder Klagelaut rang sich von ihren Lippen.

Welfen hatte noch nie einen derartigen Zustand gesehen und geriet außer sich. Er stürzte nach dem Klingelzug und riß ihn beinahe von der Wand. Und dann eilte er zu Salome zurück und hob sie mit starken Armen empor, sie in einen Sessel zu sehen.

»Kind! Herzblättchen –« flehte er in zitternder Angst, »um Himmels willen komm zu dir! Ich habe es sa gar nicht so ernst gemeint – in Gottes Namen sollst du ihn haben, wenn er dich will.«

Da schlug sie die Augen ein wenig auf, seufzte und schloß sie abermals. »Vater!« hauchte sie.

So cholerisch und heftig der alte Offizier auf der einen Seite war, so weichherzig und zärtlich war er auf der andern. Seine Salome, sein Stolz, sein Liebling, seine Wonne! Und er mordete sie womöglich aus schnöder Rachsucht gegen den Landrat, er wollte ihre junge, sonnige Liebe vernichten, weil ihm der künftige Schwiegersohn nicht in den Kram paßte!

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Entsetzliche Gewissensbisse zerfleischten sein Herz und marterten ihn mit unbarmherziger Selbstanklage. »Salome! – Öffne die Augen – es soll ja alles gut werden, ich will ja nur, daß du glücklich sein sollst –!«

Da richtete sie sich matt empor. »Siegfried! Mein Siegfried soll kommen!« hauchte sie mit erlöschender Stimme.

»Gewiß, mein Herzchen! Wir laden ihn zum Sonntag ein!« tröstete der bestürzte Vater.

Da schlug sie die Arme um seinen Nacken und drückte das Köpfchen an ihn – sie schluchzte bitterlich. »Ach Papa, lieber guter Papa, du kannst nicht so hart, so unmenschlich zu mir sein.«

»Nein, nein, gewiß nicht, mein Püppchen!« atmete Welfen erleichtert auf, »wenn du ihn absolut willst – dann ... nun in Gottes Namen!« und er seufzte schwer auf.

Salome richtete sich schon bedeutend wohler und kräftiger empor. »Du versprichst es mir – du gelobst es mir?« flüsterte sie zärtlich.

»Gewiß, gewiß! Beruhige dich nur erst und komme wieder zu dir! – Ach – Rose – gut, daß du kommst, schnell ein Glas Wein!«

»Nein... ein Brausepulver!« hauchte Salome, »es waren Herzkrämpfe, die ich hatte!«

»Herzkrämpfe!!« – Rose war starr vor Staunen. »Ich hole die Mama,« rief sie entsetzt und stürmte davon.

»Papa ... wenn mein Siegfried schreibt –«

Es ging bei diesen »mein Siegfried« wie ein Stich durch das Herz des gequälten Mannes, aber er nickte lächelnd und wiegte das verzogene Töchterchen so behutsam im Arm wie ein Wickelkind. »Ich versichere dir, mein Herzblättchen, ich lade ihn ein.«

»Wir haben uns verlobt – er wird anhalten –«

»Verlobt?!! –«

»Papachen ... um Gottes willen nicht so laut ... ach mein Herz – ein neuer Stich...«

»Nein, nein! Ich war ja nur so überrascht! Um Gottes Willen rege dich nicht wieder auf! Du bekommst schon wieder so schöne, rosige Bäckchen!«

»Du gibst dein Jawort, Papa? – Ach ich bin so krank!«

»Gewiß, gewiß – er ist ja sonst ein netter Mensch!«

»Ach so einzig nett! – So edel, so herrlich – so gut.«

Stolz, rechthaberisch, tyrannisch – eitel, brutal –! dachte der Major in Gedanken, und fühlte, wie ihm das Blut wieder in den Kopf schoß, aber er beherrschte sich und nickte nur »hm... hm...«

»Und ich liebe ihn so furchtbar, so über alles. –«

»Hm, hm...«

»Gib mir deine Hand darauf, liebes, süßes, einziges Väterchen – schwöre mir, daß du mein Lebensglück nicht zerstören willst – ich kann ja nicht ohne ihn leben!«

»Kind, du kennst ihn ja noch gar nicht!« stöhnte Welfen auf.

»Doch, Papa, doch, ich kenne ihn!«

»Vor allen Dingen beruhige dich und werde erst wieder gesund. Wenn Born wirklich um dich anhalten sollte, wollen wir mit Mama zusammen alles ganz vernünftig besprechen! Ich weiß ja nicht einmal, in welchen Vermögensverhältnissen er lebt!«

»Das ist ja ganz gleichgültig, Väterchen! Ich will voll Wonne trockenes Brot mit ihm essen!«

Der Major sah sein anspruchsvolles, verwöhntes Tochterchen betroffen an. Wenn Salome trockenes Brot essen wollte, mußte sie wirklich furchtbar verliebt sein, und sie war es in ihn, den Landrat, den einzigen, den Welfen sich nicht zum Schwiegersohn wünschte.

Die Tür wurde behutsam geöffnet, Frau Dora eilte mit allen Zeichen des Schreckens in das Zimmer, Rose folgte mit angstvoll großen Augen und trug ein Glas Brauselimonade in der Hand.

»Mama –ach, liebe Mama – ich glaube, ich muß sehr bald sterben!« hauchte ihr Salome wieder sehr leidend entgegen und ängstigte damit dem Vater neue Schweißtropfen auf die Stirn, »ich war ganz bewußtlos, Mama – und hier ... ach, mein Herz ... es tut noch immer so entsetzlich weh!«

Frau von Welfen warf einen prüfenden Blick in das Antlitz ihres Kindes. »Hatte sie eine Ohnmacht, Ernst?« fragte sie leise.

»Ja, sie fiel um wie vom Blitz getroffen!« stöhnte der Major, »bitte, trockne mir einmal die Stirn, Rose, mir ist so heiß!«

»Hattet ihr einen Wortwechsel?«

»Hm«...

»Ach Mütterchen, Vater verkennt ja meinen Siegfried so sehr ... und ... und ... wenn ich ihn nicht heiraten darf – ach mein Herz!! –«

»Rose ... hole einmal den Essigäther aus meinem Schlafzimmer!«

Das Backfischchen hatte die Augen weit aufgerissen, ein plötzliches Verstehen wetterleuchtete über das frische Gesichtchen, dann schoß sie diensteifrig davon.

»Ich sagte dir doch, Salome, daß du heute jede Aussprache mit Papa vermeiden solltest!« fuhr die Mutter in beinahe strengem Tone fort; sie war merkwürdig ruhig und schien sich nicht halb so aufzuregen und zu bangen wie ihr Mann. »Warum tatest du es doch?!«

Das junge Mädchen schloß matt die Augen. »Er kam ja zu mir herauf und fing an davon ... ach wie hat er den unglücklichen Siegfried so entsetzlich schlechtgemacht!« und abermals stürzten Tränen aus ihren Augen.

Der Major blickte seine Frau wie ein Gerichteter an. »Ich beurteilte seinen Charakter nach seiner Schrift, und das Kind überzeugte sich, daß ich recht hatte!«

»Papa – ich beschwöre dich ... wenn dir mein Leben lieb ist, fange nicht wieder davon an!«

»Nein, nein! – Gewiß nicht!«

»Am besten ist es, lieber Ernst, du läßt uns jetzt allein! Ich werde Salome zu Bett bringen, daß sie sich erholt und ausruht.«

»Du kommst nachher wieder zu mir, Väterchen!« schmeichelte das Töchterchen zärtlich. »Da sollst bei mir sein ... so wie früher an meinem Bett sitzen ... mein liebes, liebes Väterchen!«

Welfen neigte sich und küßte seinen Liebling. »Ja, ich komme! Sei nur ruhig, ganz ruhig ... und versuche ein wenig zu schlafen – hörst du, Herzchen?«

Sie drückte seine Hand und lächelte ihm so wehmütig zu, daß es ihm durch und durch ging.

Frau Dora konnte kaum ein Lächeln unterdrücken. Wie ist das starke Geschlecht doch so wunderlich schwach, wenn das schwache Geschlecht beliebt, in einer Ohnmacht stark zu sein!

Der Major, der als Tyrann und Eisenfresser bei seinem Bataillon gefürchtet war, der mit dem Kopf durch die Wand ging, wenn es galt, seinen Willen zu verfechten, er ließ sich von den zarten Händchen seiner Tochter gängeln und kneten wie weiches Wachs; er, der auf dem Schlachtfeld ungerührt über die Sterbenden und Wimmernden hinweggestürmt war, er schwitzte Angst und verkam vor Sorge und Bangigkeit, wenn es einem kleinen Dämchen beliebte, etwas Komödie zu spielen und ohnmächtig zu werden.

Frau Dora glaubte nicht recht an Herzkrampf und Ohnmacht, um so weniger, als Salome sich bedeutend frischer und kräftiger emporrichtete, als der Vater das Zimmer verlassen hatte und mit recht lebhaften Augen flüsterte: »Er gibt es doch zu, Muttchen! Er hat schon seine Einwilligung zugesagt!«

Armer Ernst – armer Born!

Frau von Welfen seufzte unwillkürlich auf. »Ach hätte ich sie nie, nie von mir gegeben! Ach hätte sie nie eine Pension gesehen!« klagte sie sich im eigenen Herzen an.

Aus der Hand der Eltern ist sie herausgewachsen, sie sind machtlos über das Kind geworden, nur der Liebe kann es noch gelingen, ihr eine Lehrmeisterin und Erzieherin zu werden – aber das Lehrgeld wird ein teures sein und manche Träne kosten.

Welfen rannte währenddessen im einsamsten Teile des Parkes umher. Wer ihn sah, mußte ihn für verrückt halten. Er sprach mit sich selber, gestikulierte, lachte, ballte die Fäuste und köpfte mit wuchtigen Stockhieben die knospenden Zweiglein.

Da tobte alles aus, was sich an verhaltenem Groll und Grimm in seinem Herzen aufgespeichert hatte. Zwar wußte er selber keinen triftigen Grund anzugeben, warum ihm der Landrat so unsympathisch war, und ein paarmal war er schon auf dem besten Wege, sich einzugestehen, daß er sich wohl nur aus Opposition in diesen Widerwillen hineingerannt habe. Aber er wollte es noch nicht Wort haben. Er wollte sich sein ganzes Unglück in seiner vollen Größe ausmalen. Ihm mußte so etwas passieren! Anstatt über den Gegner triumphieren zu können, triumphierte der über ihn! – Er kommt als höflich kühler Mann, eine Visite zu machen, und was geschieht? Salome wirft sich ihm sozusagen an den Hals, Rose macht eine indirekte Liebeserklärung für die Schwester und es stellt sich heraus, daß der Herr Landrat bereits auf der Reise ein interessantes kleines Abenteuer mit dem dummen, harmlosen Gänschen erlebt hat.

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Welch eine Blamage! Welch eine unauslöschliche Schmach! Wahrhaftig, der Major kann Gott auf den Knien danken, wenn Born den Anstand besitzt und noch um die so sehr entgegenkommende junge Dame wirbt!

Wenn er perfide, wenn er in der Tat die brutale und rücksichtslose Persönlichkeit ist wie seine Schrift verrät, so geht er jetzt hin, setzt sich an den Biertisch und erzählt den Herren mit Gelächter von dem so eigenartigen Empfang in Jeseritz!

Welfen fuchtelt bei diesem Gedanken wie ein Unsinniger mit den Armen durch die Luft und keucht wild auf. Solch eine Schande wäre gar nicht zu überleben!

Aber kann er es anders erwarten?

Born ist sein Gegner. Er ist von dem Major absichtlich gereizt und stets schlecht behandelt worden, selbst heute noch bei Tisch hat er ihm Unliebenswürdigkeiten gesagt, die jeder andere für Beleidigungen aufgefaßt haben würde. Auch Born tat es vielleicht, er war nur Kavalier genug, im Beisein der Damen einen Streit zu vermeiden.

Aber er rächt sich nun vielleicht nachträglich! Er hält den Major jetzt ja vollkommen in der Hand, er ist fähig, seine Tochter in der Gesellschaft unmöglich zu machen, wenn er das Eisenbahnrenkontre und Salomes Benehmen beim Wiedersehen in hämischer Weise beleuchtet und an den Pranger stellt. Der Major fährt sich mit den Händen nach dem Kopf, dieser Gedanke ist unerträglich, ist mordend!!

Nun ist es so weit gekommen, daß er auf den Heiratsantrag des Landrats warten muß, wie auf eine Erlösung aus quälender Angst, wie auf eine Gnade, die ihm von dem jungen Herrn erwiesen wird! O Schicksal, so bitter hat noch keiner deiner Leidensbecher dem alten Soldaten geschmeckt.

Er steht in dem Fegefeuer und sieht es ein, daß man niemals im Leben seinen Neigungen zügellos nachgeben soll und darf. –

Er fühlte sich so sicher, so hoch und erhaben, als er dem jungen Landrat, wo er nur wußte und konnte, ein Bein stellte, ihn verspottete und lächerlich machte, heute noch, als er nicht ohne Zutat von Schadenfreude und Gehässigkeit die Schrift am Frühstückstisch deutete, und das Schlechte hervorhob und das Gute verschwieg. Nun mußte er zur Strafe diesen bös charakterisierten Mann den Herren als lieben Schwiegersohn zuführen, und mußte noch tiefer im Herzen Gott danken, wenn dieser »Herr von Born von hinten und von vorn«, so gütig und herablassend war, diese etwas aufgenötigte Ehre der Sohnesschaft anzunehmen. – Schicksalstücke! Die Schatten sanken tiefer, die Nacht stieg herauf.

Der Major wandte sich, um nach dem Herrenhaus zurückzuschreiten. Was er vor wenigen Stunden noch als höchste Anmaßung von sich gewiesen, was Veranlassung gab, sein Kind im Herzkrampf zu morden, jetzt nach ruhiger, oder besser, sehr unruhiger Überlegung, war er dahingekommen, voll fiebernder Ungeduld auf den Heiratsantrag des Landrats zu warten.

Er glaubte nicht, daß ein solcher erfolgen würde, und er litt Folterqualen bei diesem Gedanken; was würde dann aus seiner Salome werden? – Sie würde in seinen Armen sterben, und er die Pistolen laden und Herrn von Born über den Haufen schießen.

Dieser letzte Gedanke erfüllte ihn mit großer Genugtuung. Ja, so würde es kommen, und morgen am Tage wollte er sein Testament machen.

»Herr Major! – Herr Major!!«

Man rief ihn, und er zuckte nervös zusammen. Sollte Salome kränker geworden sein?

»Hier! Ich komme schon!« antwortete er mit der alten Kommandostimme, aber sie klang heiser, wie eine zerrissene Violinsaite.

Wulf kam ihm atemlos entgegen.

»Herr Major.«

»Was gibt's! Schnell – heraus mit der Sprache!«

»Das gnädige Fräulein lassen den Herrn Major dringend bitten, zu kommen!«

»Wulf ... ist... sie etwa kränker?!«

»Nein, Herr Major, davon weiß ich nichts. Aber es ist ein reitender Bote mit einem Brief von dem Herrn Landrat von Born aus Feldheim da, und das gnädige Fräulein hat ihn in Empfang genommen.«

Wie ein Aufatmen nach Todesangst rang es sich aus der Brust des alten Herrn.

»Ich komme! Ich komme!« – und dann lachte er vor sich hin, und nickte, und murmelte unverständliches Zeug in den Bart.

Wie er lief! Wulf vermochte kaum zu folgen, und sonst klagte der gnädige Herr doch immer über das Reißen in den Knien und konnte kaum noch von der Stelle!

Wulf schüttelte unwillkürlich den Kopf.

 


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