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XXII.

Der Sturm heult über das Meer und fegt ganze Wolken feuchtkühler Blütenblätter in das Gesicht des einsam Dahinschreitenden.

Der leichte Mantel flattert, der Hut ist tief in die Stirn gedrückt.

Behutsam lugend und von Busch zu Busch vorwärts springend wie ein Fra Diavolo, welcher Böses im Schilde führt, nähert sich Klaus auf regenüberfluteten Gartenwegen der Favorita.

Und er braucht nicht zu warten.

Der rote Vorhang eines Souterrainfensters wird beiseite geschoben, Signora Julias Vollmondsantlitz späht in die Dunkelheit hinaus.

Sterley tritt in den Lichtschein und winkt ihr schweigend zu, und einen Augenblick später dreht sich lautlos der Thürschlüssel und der späte Gast tritt ein.

Seine Gönnerin blinzelt ihm verständnisinnig zu, legt den Finger auf die Lippen und schwankt ihm auf weichen Strohpantoffeln voraus, wie ein Schiff auf hohen Wellen.

Klaus folgt schweigend durch einen langen, mit Marmorfliesen ausgelegten Gang die Treppe empor.

Dort wendet sich die Signora nach einem Seitenflügel und winkt dem jungen Mann ermutigend zu. »So! – Hier hören sie uns nicht mehr! Diavolo! Ich glaubte jeden Augenblick, die Alte würde durch die Thür schauen! Zurück müssen Sie über den Balkon; es springt sich ganz bequem hinab, mit dem Emporklettern hält's bei dem nassen Wetter schwerer. – So, amico! Hier sind wir angelangt, treten Sie ein.«

Klaus folgte der Sprecherin in ein Zimmer, aus welchem ihm die Luft noch erstickend schwül entgegenströmte.

Eine einzelne Kerze brannte auf dem Tisch und ließ nur die nächsten Gegenstände deutlich erkennen.

Ein großes Bett unter dem unvermeidlichen Moskitonetz stand rechts zur Seite, Bambusmöbel reihten sich, etwas ungeordnet zusammengeschoben, an den Wänden auf, ein sich selbst drehender Fliegenwedel paradierte auf dem Schreibtisch.

Klaus blickte zerstreut umher, warf den nassen Mantel ab und starrte dann atemlos aus die Signora, welche an eine Seitenthür getreten war und leise durch das Schlüsselloch flüsterte. »Sie kommt sofort!« sagte sie, nickte mit einem Lächeln unendlicher Befriedigung, watschelte nach einem Bambussessel und ließ sich erschöpft nieder. Die Anstrengung war groß gewesen.

Klaus stand regungslos und umschoß mit den Händen krampfhaft eine Stuhllehne.

Jetzt erst kam ihm die ganze Eigenart seiner Situation zum Bewußtsein.

Wie sollte er sich eigentlich benehmen – wie ein stürmisch werbender Liebhaber, welcher mit der Angebeteten bei Nacht und Nebel flüchten will? Wie soll er sie begrüßen – mit leidenschaftlichen Worten als Braut und Geliebte? –

Gewiß! Wie anders? Diese nächtliche Scene paßt wohl zu keiner andern Art! –

Leise regt sich die Thür; Charitas tritt ein. Wie die Gestalt einer Königin steht sie auf der Schwelle, keusch und rein, wie das weiße Kleid, welches an ihr niederfällt, hocherhobenen Hauptes, stolz und unnahbar, und dennoch mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes in dem bleichen Antlitz, welches seine großen Augen so ernst, so dunkel umschattet, so feierlich auf ihn richtet, daß ihm die Worte auf den Lippen stocken. Dasselbe unerklärliche Gefühl von scheuer Befangenheit überkommt ihn, welches ihn in ihrer Nähe stets durchrieselt hat, wie ein kühler Hauch. Formell, respektvoll wie stets tritt er ihr entgegen und drückt ihre dargereichte Hand an die Lippen. »Wie danke ich Ihnen, mein gnädiges Fräulein, daß Sie meine unbescheidene Bitte erfüllt haben!« sagt er hastig, voll herzlicher Erregung. »Ich hätte mein Schuldbewußtsein kaum ertragen, ohne von Ihnen Verzeihung erfleht zu haben! – Glauben Sie mir, Fräulein Charitas, ich habe nicht im mindesten, wahrlich mit keinem Gedanken geahnt, welch ungeheure Unannehmlichkeiten ich Ihnen durch mein heimliches Porträtieren bereiten würde, sonst wäre es bei Gott nie geschehen! Aber die Leidenschaft ging mit mir durch, Sie werden sich, so Gott will, bald selber überzeugen, welch eine Königsperle ich in Ihrem Antlitz gefunden habe! Werde ich jemals im Leben einen Erfolg erringen, so verdanke ich denselben Ihnen, und beim Himmel, Fräulein Charitas, das Glück eines braven Gesellen begründet zu haben, ist schon ein Opfer wert!«

Sie hatte ihn ruhig aussprechen lassen. Ihre traurigen Augen blickten heller und glänzender bei seinen letzten Worten.

»Ich habe Ihr Bild gesehen, Herr Sterley, und Ihnen um Ihrer genialen, gottgesegneten Kunst willen gern verziehen. So malt nur ein Mensch, welcher berufen ist, Großes zu leisten, und das wird mir stets ein Trost in meinem Elend sein, daß mein armes, inhaltloses Leben nun doch einen guten und schönen Zweck gehabt hat.«

Er faßte erregt ihre niederhängende, kalte, kleine Hand.

»Ihr armes, inhaltsloses Leben soll reich werden, Charitas, reich und glückselig durch all die Liebe und Treue, mit welchem ich es schmücken will. Sie wissen warum ich in diesem Augenblick vor Ihnen stehe –«

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Sie entzog ihm die Hand, um sie voll ernster, beinahe düsterer Abwehr zu heben. Ihr Blick ward starr und kühl, langsam wich sie einen Schritt zurück. »Ja, ich weiß, warum Sie hier sind, Herr Sterley, um mir Schutz und ritterliche Hilfe anzubieten, falls ich sie gebrauche, und weil ich dieselbe gebrauche und fest und zuversichtlich an Ihre Gesinnung als Ehrenmann glaube, darum bin ich Ihrem Ruf gefolgt. Was Sie in der höchsten Erregung, in einem Augenblick größter Selbstanklage zu meinen Pflegeeltern sagten, will ich nicht gehört haben, weder jetzt noch je! – Daß Sie mich in der That lieben, hoffe und glaube ich nicht, denn es würde mich noch unglücklicher machen, als ich es schon bin. Versprechen Sie mir, daß Sie mich nie wieder durch eine Werbung demütigen werden wie durch ein Almosen, und ich werde Ihnen vertrauen wie meinem besten Freund und Ihre Hilfe in der Not anrufen!«

»Charitas – welch ein grausames Verlangen!«

Ein bitteres Lächeln huschte um ihre Lippen. »Grausam? – Eine Charitas kann nur barmherzig sein, und ich will meinen Namen mit Recht und Ehren tragen. Was sollte Ihre Werbung an meinem Schicksal ändern? Sie würde nur uns beide ins Unglück stürzen! Echte Freundschaft ist aufrichtig! Wovon wollten wir leben? Wir sind beide arm!«

»O, ich werde Mittel und Wege finden«, murmelte er, »welche eine Heirat ermöglichen ...«

»Wehe dem Künstler, welcher sich mit Bleigewichten an die Erde fesselt, seine Schwingen sind für ewig gebrochen, sein Flug zur Sonne vernichtet! Wer Thränen malt wie Sie, darf sie nicht selber weinen! Aber warum der Worte, unsere Zeit ist knapp.« – Sie reichte ihm mit flehendem Blick beide Hände dar: »Einen Freier werde ich nie im Leben vor mir dulden, aber einen Freund suche ich, Herr Sterley, – einen Freund und Beschützer! Und da Sie unabsichtlich meinen Leidenskelch um viel Bitternis vermehrt haben, so sind Sie wohl der natürlichste Retter, welcher mir erwachsen kann. Wollen Sie es sein?«

Klaus zog ihre Hände abermals an die Lippen! »Ich will jetzt das sein, wozu mich Ihre Huld macht, Charitas, was ich aber noch werden und mir erringen möchte, das lassen Sie der Zukunft frei! Vorläufig werden Sie mich unaussprechlich beglücken, wenn ich Ihnen all mein Haben und Sein zur Verfügung stellen darf!«

»Ich danke Ihnen, Herr Sterley, und ich erachte Sie von Stund an als Bruder, dessen Hilfe mich nicht kompromittiert und dessen Rechtschaffenheit in meiner Ehre auch die seine erblicken wird!« – Das junge Mädchen sprach sehr ernst und sehr ruhig, ein Ausdruck starrer, fester Entschlossenheit lag auf dem thränenmüden Antlitz.

»Ich stehe allein auf der Welt, ich besitze weder Anverwandte noch Freunde, zu welchen ich mich flüchten könnte. Ich habe das Leben im Hause meiner Stiefeltern geduldig ertragen, ich habe nicht geklagt und nicht gemurrt, aber es gibt moralische Mißhandlungen, welche ein anständig denkendes Mädchen nicht ertragen kann. Das Maß ist voll und meine Kräfte sind erschöpft. Ich bin fest entschlossen, das Haus meiner Peiniger zu verlassen, und da dies auf gütlichem Wege unmöglich ist, so muß es durch die Flucht geschehen. Ich kann aber unmöglich ohne Mittel und Schutz als Vagabundin durch die Welt streifen, bis ich Stellung und Unterkommen gefunden. Mir durch die Zeitung ein solches zu verschaffen, ist ganz ausgeschlossen, ich werde bewacht wie eine Gefangene. Nun möchte ich Sie anflehen, Herr Sterley, helfen Sie mir! Verschaffen Sie mir bei Freunden oder Verwandten, in durchaus achtbarem Hause ein Unterkommen, entweder als bleibende Stellung oder als vorläufigen Aufenthalt, bis ich etwas Sicheres gefunden habe. Bezahlen kann ich vorläufig nichts, ich verfüge nicht einmal über Taschengeld, man gab mir, was ich brauchte, aber ich kann arbeiten, – jede Arbeit, und ich scheue auch vor der härtesten nicht zurück. Ich lernte massieren, und würde gern Pflegerin einer kranken Dame werden, aber auch kochen und selbständig wirtschaften kann ich, ja, ich würde gern die Stellung einer Köchin oder Jungfer annehmen, wenn man mir nur eine freundliche und menschenwürdige Behandlung zusichert! Ich will auch meine Schuld später, wenn ich etwas verdiene, gern abtragen, nur vorläufig muß ich durch meiner Hände Arbeit meine Erkenntlichkeit beweisen! Jede Thätigkeit, auch die der Diakonissin wäre mir sehr lieb, ich muß nur in die Möglichkeit versetzt sein, mich um eine Stellung bemühen zu können. Und je eher ich dieser Hölle entrinnen kann, desto besser. Ich gehe zu Grunde in ihr. In drei Tagen reisen wir von hier ab, und zwar direkt nach Eisenach, man glaubt mich dort am sichersten bewachen zu können. Ich bitte Sie nun um das große, große Opfer, Herr Sterley, sich um ein Unterkommen für mich zu bemühen und, wenn Sie eins gefunden haben, mir entweder persönlich bei meiner heimlichen Abreise behilflich zu sein oder eine zuverlässige Dame damit zu beauftragen. Briefe erreichen mich nicht, in frühester Morgenstunde bin ich aber in Haus oder Garten anzutreffen. Und nun walte Gott des weitern. Ich habe mein Geschick in Ihre Hand gelegt, ich weiß mir keinen andern Rat und keine andere Hilfe. Seien Sie der Ehrenmann, für welchen ich Sie halte, respektieren Sie das Elend einer Verlassenen, seien Sie mein Bruder!«

Aufs tiefste ergriffen stand Klaus vor dem jungen Mädchen, welches in all seinem Unglück und seiner Hilflosigkeit dennoch so hoch und rein, so unantastbar würdevoll vor ihm stand wie ein Heiligenbild.

Nein, er liebte sie nicht, aber er hatte das Gefühl, als müsse er vor ihr niedersinken und das Ideal aller stolzen, edlen Weiblichkeit in ihr anbeten. Er vermochte kaum zu sprechen, aber der strahlende Blick seiner Augen umfing Sie voll warmer Innigkeit, und sein Händedruck war ein Schwur. »Ich helfe Ihnen, Charitas! Bei Gott dem Herrn, Sie sollen Ihr Vertrauen keinem Unwürdigen geschenkt haben! Ich glaube bereits eine sichere und behagliche Zukunftsstätte für Sie zu wissen, wo Sie die fernere Entwickelung Ihres Schicksals getrost abwarten können. Lassen Sie mich nur die nötigen Schritte besorgen, und halten Sie sich bei Ihrer Ankunft in Eisenach sogleich bereit, von mir zu hören! Ich reise morgen früh Ihnen voraus in die Heimat, es wird Ihre Peiniger beruhigen, wenn ich anscheinend das Feld geräumt habe!«

»Gott segne Sie für Ihre Güte! Ich glaube an Sie! – Und somit auf Wiedersehen! Wie ruhig werde ich nun schlafen können!«

Sie lächelte wie verklärt und drückte ihm die Hand! »Nochmals: Auf Wiedersehen, mein treuer Freund!«

Klaus umschloß mit fast krampfhaftem Druck ihre Rechte: »Ja, auf Wiedersehen! – Sie haben mich in dieser Stunde zu Ihrem Ritter geschlagen, Fräulein Charitas, Sie sollen mit meinem Thun zufrieden sein! Ich will mich Ihres Vertrauens wert zeigen! Gott mit Ihnen!«

– – – – Signora Julia hatte nichts von der Unterredung verstanden, aber sie schien von dem Benehmen der Liebenden doch recht enttäuscht. »Amico«, lachte sie, »du hast deine Vorteile nicht zu wahren gewußt! – Himmel, welch ein Rendezvous! Bei einer Beerdigung hätte es nicht feierlicher zugehen können! Aber so seid ihr Deutschen, ich weiß das! Fischblut! Selbst in der Leidenschaft Pedanten! Nun, es wird noch kommen! Aller Anfang ist schwer.«

Sie lachte noch mehr und streichelte zärtlich die heiße Wange des jungen Mannes.

»Diavolo! Ich wollte, Sterley, du wärst vor dreißig Jahren bei mir über das Gitter gestiegen! Wärest nicht so bald wieder gegangen wie heut!«

Klaus biß die Zähne zusammen. Es that ihm weh, diese weihevolle Stunde derart profaniert zu sehen. Und doch mußte er der Signora dankbar sein. Er zwang sich zu ein paar galanten Worten und einem Kuß auf die speckige Hand und war froh, als die Alte ihn selber zur Eile antrieb. Mit gewandtem Sprung schwang er sich über das niedere Balkongitter eines Parterrezimmers und stürmte lautlos wie ein Schatten durch Sturm und Regen zurück.

Charitas aber stand an dem Fenster ihres Stübchens und blickte zu dem dunklen Nachthimmel empor, ruhig und friedvoll, sie empfand keine Gewissensbisse über ihr Vorhaben. Sie hatte alles Elend in dem Hause der Pflegeeltern ertragen, sie hätte auch die schmachvolle Stunde in dem Garten heut willig als Kreuz auf sich genommen, sie hätte sich resigniert als Gefangene einsperren lassen, aber eins war zu viel der Demütigung geworden – die zärtlichen Nachstellungen des Onkels. Das Junggesellenleben in der Residenz hatte ihm den letzten moralischen Halt genommen. Er war heute nachmittag zu ihr gekommen und hatte ihr voll eifersüchtigster Auslassungen gegen den fremden Maler seine Zukunftspläne entwickelt. Das innere Leiden der Tante sei unheilbar, ihre Lebensjahre seien gezählt – und wenn sie erst glücklich unter der Erde läge, dann solle Charitas seine Frau und Herrin im Hause werden. Um des lieben Friedens willen müsse er ja jetzt seiner Frau beistehen, wenn es gegen Charitas losginge... und dabei war er ihr näher gekommen und hatte sie liebevoll, tröstend umfassen wollen.

Da kannte das gequälte Mädchen keine Rücksicht mehr. Voll Abscheu und Empörung hatte sie den Erbärmlichen von sich gestoßen, daß er gegen die Thüre taumelte.

»Das sollst du mir entgelten!« hatte er mit haßfunkelnden Augen geknirscht. Und nun wußte Charitas, daß ihres Bleibens in diesem Hause nicht länger sein konnte.

Eine ruhige, eiserne Entschlossenheit kam über sie, sie handelte und stellte es dem Herrn anheim, sie seine Wege zu führen.

Klaus aber kniete in seinem Zimmer vor dem Koffer und packte voll fliegender Hast seine Effekten, und als das Kofferchen reisefertig vor ihm stand, setzte er sich mit schwindelnden Sinnen an den Tisch und schrieb an Josef. Schlafen konnte er nicht, in dichten Schwärmen umkreisten die Moskitos, welche sich vor dem Regen doppelt zahlreich in die Häuser geflüchtet hatten, das Licht. Schwül und dumpfig war die Luft, und doch durfte er, der Insekten wegen, die Fenster nicht mehr öffnen. Er schrieb an Josef!

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Was sollte er schreiben? Eine ausführliche Darlegung der ganzen Verhältnisse? Dazu hat er keine Zeit, er ist auch sogar kein Freund von langem Briefschreiben, und mündlich läßt sich so etwas tausendmal besser erzählen. Ein geschriebenes Wort klingt oft so anders als ein gesprochenes, und Josef, welcher so prüde ist und ungeheuer strenge Ansichten hat, würde Charitas' Flucht vielleicht falsch deuten und womöglich einen Zweifel in die volle Ehrenhaftigkeit einer Dame setzen, welche sich zu solch gewagtem Schritt entschließt. Am besten ist es also, ganz kurz und lakonisch anfragen, – alle Details kann er ja dann später in einer vertraulichen Aussprache erfahren.

Er schreibt: »Mein lieber, teuerster Bruder! In einer ebenso wichtigen wie dringlichen und diskreten Angelegenheit bitte ich Dich heute um Deine Hilfe! – Laß mich kurz sein. Du sollst alles nähere mündlich erfahren! Kann ich eine hochachtbare, junge Dame, welche ich als meine Braut erachte, zu kurzem Aufenthalt nach Lichtenhagen bringen und unter den Schutz der Frau Geheimrätin Damasus stellen? Dieselbe ist Waise und sucht nach einer passenden Stellung, in welcher sie verbleiben kann, bis meine Mittel es mir erlauben, sie als Weib heimzuführen. Sorge nichts. Du weißt, daß ich Dir niemals zumuten würde, eine Unwürdige unter Dein Dach zu nehmen. Schreibe mir umgehend Antwort! Ein Telegramm benachrichtigt Dich von unserm Eintreffen! Gott lohne Dir, was Du für mich thust! In treuer Liebe Dein Klaus.« –

In der Hast und Aufregung vergaß der Schreiber, Ort und Datum über seine Zeilen zu setzen, und als er den Brief geschlossen, sah er, daß er keine Marke mehr bei sich führte.

So wird er hoffentlich auf dem Bahnhof eine kaufen können.

Er steckt den Brief in die Brusttasche und trinkt den Rest seines Weines aus. Ein Gefühl von Müdigkeit überkommt ihn.

Ohne sich zu entkleiden, wirft er sich auf sein Lager, schlägt noch ein paarmal nach den Insekten, welche sich unter das Moskitonetz verloren haben und sinkt in tiefen Schlaf.

Als der Piccolo am nächsten Morgen weckt, ist es bereits eine vorgerückte Stunde. In höchster Eile nimmt Klaus das Frühstück, begleicht seine Rechnung und denkt in der Hast nicht daran, der hübschen Ninetta Lebewohl zu sagen. Das Wetter ist noch immer schlecht. Er stürmt nach dem Bahnhof und kommt gerade noch zurecht, um in ein Coupé zu springen.

An den Brief hat er nicht gedacht.

Auf der nächsten Station stiegen die beiden Künstler ein, welche er in dem Wirtsgarten in Catania kennen lernte. Sie fahren ebenfalls geradeswegs nach der Heimat zurück, und Klaus schließt sich ihnen an.

Die Unterhaltung zerstreut ihn und bringt ihn auf andere Gedanken; als sie das erste Nachtquartier nehmen, vertauscht er seine leichte Kleidung mit einer etwas wärmeren, denn nun geht es in einer Tour, ohne Unterbrechung, Tag und Nacht weiter bis München.

Welch ein Temperaturwechsel!

Schneeluft weht ihm entgegen, als er daheim aus dem Coupé springt.

Frierend hastet er nach Hause, und unterwegs denkt er mit immer wachsendem Interesse an die Antwort Josefs, welche wohl morgen oder spätestens übermorgen eintreffen kann.

Und plötzlich stutzt er und steht jählings still auf dem Weg. Allmächtiger ... wo hat er denn eigentlich den Brief hingesteckt?

Er sinnt und grübelt – vergeblich – es fällt ihm nicht ein – das Schreiben steckt wahrscheinlich noch in seiner Rocktasche im Koffer.

Eine fiebernde Ungeduld und Bestürzung erfaßt ihn, er läßt sich nicht Zeit, etwas zu genießen, ruft nur der höchlichst überraschten Wirtin im Vorübereilen durch die Thür zu, daß sie sofort eine Stube heizen möge, und dann keucht er mit seinem Touristen-Köfferchen und seinem Malkasten, welche er sparsamerweise selber getragen, die Treppen empor.

In fliegender Hast reißt er den Koffer auf. Hier der Rock! – Wahr und wahrhaftig! Der Brief steckt noch in der Tasche!

Klaus stürmt nach dem nächsten Postschalter und befördert ihn.

– – – – – – – –

In Lichtenhagen ist es noch nicht Frühling geworden. Man hatte sich bitter getäuscht, dem köstlich warmen und sonnigen März zu glauben, er bringe den Lenz schon mit! Nun stürmte und toste es wieder in den Lüften, und dichter Schnee deckte aufs neue die grünen Hoffnungsspitzen und Knospen zu, welche die trügerische Märzensonne hervorgelockt. Rothtraut machte ein beinahe trauriges Gesichtchen. Sie hatte sich ebenso wie die Mutter und das Dienstpersonal ernstlich um den jungen Gutsherrn gesorgt.

Vor ein paar Wochen war es gewesen, als man gefürchtet, er werde ernstlich erkranken. Seine Unruhe und Zerstreutheit, seit er aus der Residenz zurückgekehrt, war allen aufgefallen. Plötzlich aber schien er bis zur Unkenntlichkeit verändert. Farblos, verstört, greisenhaft gealtert erschien sein Antlitz, die Augen übernächtigt und glanzlos, sein Blick starr und sein Wesen teilnahmslos und ohne alle Energie, wie bei einem Schwerkranken.

War ein Unglück mit den Bergwerksanlagen passiert? – Nein, alles befand sich in bester Ordnung, und die Aussichten auf Ertrag gestalteten sich immer glänzender.

Der Inspektor wußte nur, daß ein Brief eingetroffen sei, welcher den jungen Herrn so unaussprechlich tief zu bekümmern schien.

Rothtraut bot alles auf, den Armen zu zerstreuen, vergeblich, ach vergeblich! – Der Verkehr mit Menschen schien Torisdorff eine Qual zu sein, er kam immer seltener nach Lichtenhagen, nahm sogar die Mahlzeiten im Krembs und stand finster, wortkarg und in sich gekehrt auf seinem gewohnten Platz, die Arbeiten zu beaufsichtigen.

Allmählich schien er wieder etwas zugänglicher zu werden.

Er ritt sogar eines Tages wieder nach Lichtenhagen hinüber und fragte nach der Geheimrätin. Die alte Dame war gerade in der Wäschekammer beschäftigt, da sie all die alten, so lange aufgespeicherten und vergilbten Vorräte der Leinenschränke einmal durchwaschen lassen wollte.

Sie eilte sofort, herzlich erfreut über dieses neue Lebenszeichen ihres armen Wohlthäters, in das Wohnzimmer hinab.

Josef stand am Fenster und blickte mit müdem Blick auf die bunten Primeln und Hyazinthen, welche zwischen den Doppelfenstern blühten.

Er wandte sich bei dem Eintritt der alten Dame um und schritt ihr entgegen, die Hand so herzlich und freundlich wie immer darreichend.

»Störe ich, meine gnädige Frau, oder haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

Die Geheimrätin ward ganz rot vor Freude.

»Aber mein lieber Herr von Torisdorff, welch eine Frage! Sie wissen, daß ich keine größere Freude kenne, als Ihnen irgendwie dienlich zu sein!«

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen! Lassen Sie uns, bitte, Platz nehmen, meine gnädige Frau, ich habe Ihnen eine Bitte vorzutragen!«

Er schob höflich einen Sessel herzu und setzte sich der Geheimrätin gegenüber.

»Würde es viele Umstände machen, für längere Zeit einen Gast hier zu beherbergen?«

»Nicht im mindesten!«

»Eine Dame!«

»Um so leichter. Wir sind ja hier im Hause mit Zimmern und Betten so überreich versehen, daß die Betreffende einen ganzen Hofstaat mitbringen kann!«

»Gerade daran fehlt es dem jungen Mädchen. Sie ist eine Anverwandte meines Stiefbruders und steht allein in der Welt. Ehe sich ein neuer Wirkungskreis für das Fräulein gefunden, bedarf sie eines Unterkommens und vor allen Dingen den Schutz einer mütterlichen Freundin. Ist es sehr unbescheiden von mir, meine verehrte Frau Geheimrätin, Sie zu bitten, der jungen Dame diesen gütigen, mütterlichen Schutz zu gewähren? Mein Bruder sowohl wie ich würden Ihnen außerordentlich dankbar sein!«

»Keinerlei Ursache, bester Herr Baron! Es wird mir eine große und ehrliche Freude sein, ein Töchterchen mehr bemuttern zu können. Wann dürfen wir den lieben Gast erwarten?«

Josef zuckte die Achseln.

»Darüber liegen mir noch keine definitiven Nachrichten vor! Mein Bruder wollte die Ankunft telegraphisch anzeigen.«

»Also thun wir gut, uns sogleich darauf einzurichten! Die junge Dame wird sicherlich nicht gern allein in dem oberen Stock wohnen. Glauben Sie wohl, Herr von Torisdorff, daß ich ihr das Zimmer neben Rothtraut einrichten kann? Sie waren so gütig, es ehemals als Garderobenzimmer für uns zu bestimmen, doch steht es absolut unbenutzt, da mein Mädel mit mir zusammen in einer Stube schläft!«

»Gewiß, es wäre mir doppelt lieb, die junge Dame recht in ihrer Nähe zu wissen, da wir doch mit ihrer Ankunft die Verantwortung für ihr Wohl und Wehe übernehmen!«

»Wird das eine Zimmer genügen, oder ist das junge Mädchen sehr verwöhnt?«

Josef sah einen Augenblick unschlüssig vor sich nieder. »Das weiß ich beim besten Willen nicht, gnädige Frau, aber ich taxiere eher das Gegenteil. Sie scheint eine Münchnerin zu sein, wenigstens meldet sie mein Bruder durch einen Brief aus München an – und die Großstädterinnen kennen meist nur recht beschränkte Raumverhältnisse. Auch besitzt sie kein Elternhaus mehr.«

»Sie kennen die junge Dame nicht persönlich?«

»Nein, gnädige Frau, nicht einmal ihren Namen kann ich Ihnen nennen! Mein Bruder schreibt derart eilig, daß er das Notwendigste vergaß mitzuteilen.«

Frau von Damasus lachte.

»Wir werden ihn wohl noch bei Zeiten erfahren. Sollte ich merken, daß die Dame Ansprüche macht, so kann ich ja Versäumtes leicht nachholen. Unser Mittagstisch und sonstige Gewohnheiten bleiben dieselben?«

»Durchaus dieselben!«

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Die Thüre flog schmetternd auf. Rothtraut stürmte mit rotgefrorenem Gesichtchen in das Zimmer und streckte dem jungen Gutsherrn beide Hände entgegen. »Endlich, endlich lassen Sie sich einmal wieder sehen!« jubelte sie voll so ehrlicher Freude, daß ein warmer Strahl aus Josefs umschatteten Augen leuchtete. »Was haben Sie denn nur vorgehabt? Waren Sie krank – wirklich krank? Gott sei Lob und Dank, nun ist es aber vorüber und nun kommen Sie wieder alle Tage – und heute essen Sie mit uns, nicht wahr, lieber Herr von Torisdorff?«

Die Worte sprudelten ihr nur so von den Lippen, und dabei drückte sie seine Hände und war ganz außer sich vor Freude.

»Gewiß bleibe ich heute hier, und Ihre Langeweile soll nun auch ein Ende haben; ich habe Ihnen soeben Besuch angemeldet.«

»Besuch?« Wie ein Schrei klang's von ihren Lippen, sie preßte die Händchen gegen das Herz, und ihr Gesichtchen sah plötzlich aus wie in Feuer getaucht. »Kommt er – wirklich kommt er?«

»Er? – Von wem reden Sie, Fräulein Rothtraut?«

»Nun, von ihm, von Ihrem Bruder Klaus!« jauchzte sie auf, als sei sie ihrer Sache ganz gewiß.

»Ja, Klaus kommt allerdings auch mit, – er wird eine Anverwandte zu uns bringen.«

»Eine Anverwandte?«

»Ein junges Mädchen, welches Sie hoffentlich als liebe Freundin willkommen heißen!«

Rothtraut breitete stürmisch die Arme aus: »Ein junges Mädchen – und Ihr Bruder – Hurra, welch eine Überraschung! Und ob ich sie willkommen heißen will! Ach, das ist ja beinahe der Freude zu viel!«

Noch ein fröhliches Plaudern hin und her; die Aufregung und die muntere Frische der Kleinen thaten Josef wohl. Endlich schritt er nach der Thür.

»Ich will den Antwortsbrief an meinen Bruder hier schreiben, finde ich wohl Tinte auf meinem Schreibtisch oder ist sie eingetrocknet?«

»Sehen Sie nur mal zu!« lächelte Rothtraut schelmisch und huschte ihm voran in sein Arbeitszimmer. Wie wohlig, warm und traut! Blumen blühten und die Uhr tickte. Nein, er war nicht fremd geworden. Auf dem Schreibtisch stand alles in tadelloser Sauberkeit und Ordnung; und Rothtraut rieb sich schmunzelnd die Hände beim Anblick seiner freudigen Überraschung.

Plötzlich stutzte er und blickte auf das Bild des Stiefbruders. Es steckte verkehrt im Rahmen.

»Wer hat denn die Photographie herausgenommen?« fragte er. »Und die Blumen, welche davor liegen –«

Ein leiser Laut höchster Bestürzung. Rothtraut sah so todverlegen aus wie noch nie.

Sie schlug wie in namenloser Bestürzung beide Hände vor das Gesicht. »Ach, in der Eile ... Mama kam gerade ... ich wollte, nämlich das Bild mit Blumen ... der Rahmen sah so dunkel aus ... und dann brach sie kurz ab, wandte sich um und stürmte zur Thür. Josef lächelte. »Seltsames Kind, als ob sie eine Sünde begangen hätte!« Ein Menschenkenner war Josef nicht.


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