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Er richtete sich schwerfällig auf und starrte mit schlaftrunkenen Augen um sich her, – gähnte ein-, zweimal und schüttelte die Stroh- und Heuhalme aus dem verwilderten Haar und Bart.
Und dann rang sich ein Aufstöhnen aus seiner Brust. Er hatte geträumt, – nur geträumt, daß er wie ehedem in seinem Bett gelegen, ein Dach zu Häupten, ein Frühstück auf dem Tisch, anständige Kleider am Nagel und ein Portemonnaie in der Tasche …
Ein Fluch klang zischend über die schmalen, farblosen Lippen, mit kurzem, wütendem Ruck richtete er sich empor und schleuderte die Heubündel von sich. –
Jetzt war er erwacht, und er sah sein ganzes, bitteres Elend wieder vor Augen.
Wie ein Stück Vieh war er in einem Heuschober untergekrochen, Lumpen auf dem Leibe, nagenden Hunger im Leibe und keinen Heller Geld im Beutel, ein Strolch, ein verkommener, elender, tief gesunkener Mensch!
Wie ein scharfes Hohnlachen schrillt's aus seinem Munde. Er rafft sich empor, packt den schweren Knotenstock und blickt um sich her.
Milde, strahlende Frühlingssonne. Die nahen Berge prangen im winterlich grünen Tannenkleide, überhaucht von zartwallenden Duftschleiern, welche ihre hochragenden Häupter mit dem lichten Himmelsgrau zu verschmelzen scheinen.
Maigrüne Felder ziehen ihre zarten Streifen an den Berghängen empor und breiten sich im schmalen Tal zu künstlichem Teppich aus, zwischen dessen Saatmuster üppige Wiesen in junger Frühlingspracht leuchten.
Und mitten in diesem herrlichen Bild prangt das schmucke Dörfchen dicht vor ihm, mit roten Ziegeldächern durch knospende Baumzweige lachend, kräuselnde Rauchwolken über den Schornsteinen, ein freundlich helles Kirchlein auf freiem Platz.
Der verkommene Mensch vor dem Heuschober kneift die geschwollenen Augen zusammen und blinzelt mit haßerfülltem Blick über die friedliche Gotteswelt und Stätte wohnlichen Behagens hin, dann setzt er sich langsam wieder auf das Heu nieder und stützt ingrimmig das hagere Gesicht auf die Fäuste.
Ja, die da unten in den reichen Häusern wohnen, die haben's gut! Die sitzen im warmen, trockenen Nest, die haben Haus, Hof, Vieh, Feld und Garten, denen fliegen die gebratenen Tauben in den Mund! Er aber, Heinrich Selke, – er ist ein räudiger Hund unter ihnen! Er ist seit jeher ein Stiefkind des Glückes gewesen! Arbeitsscheu? träge und faul? lächerlich! Kein Glück und kein Stern! Ungerechtigkeit, Selbstsucht überall.
Und bäumt man auf gegen die Sklavenketten, dann zeigt es sich vollends, welche Macht das Geld hat und welch ein Narr wohl jeder ist, der sich auf schöne Worte und Versprechungen verläßt!
Heinrich Selke blickt spöttisch auf seine Lumpen nieder. Diese sind alles, was ihm geblieben! –
Für den einsamen, verlassenen und arbeitslosen Mann steht keiner ein!
Nun ist er geworden, was er früher nie gedacht, äußerlich und innerlich ein Lump!
Alles was er besaß, hat er verloren, und nur eines dafür eingetauscht, den maßlosen Haß, die menschenfeindliche Erbitterung, welche in jedem einen Todfeind erblickt, der noch einen Heller sein eigen nennt! Wie weh der Hunger tut! wie bitter weh!
Soll er noch einmal sein Heil versuchen und drunten von Tür zu Tür betteln gehn?
Er krampft die Hände zusammen und schüttelt wild den Kopf.
Nein! er hat es gestern abend getan, und keiner gab ein Nachtquartier, und nur ein Weib ein Stückchen Brot. Niemand mochte den unheimlichen, verwahrlosten Kerl unter sein Dach nehmen, und im Wirtshaus, wo er vielleicht einen Schnaps erbettelt hätte, saß der Gendarm.
Soll er sich ihm in die Hände liefern? Wenn sie ihn einsperren, bekommt er zu essen.
Aber nein, – er erstickt hinter Schloß und Riegel, – er möchte aufbrüllen wie ein wildes Tier, wenn ihn die engen Mauern bedrücken.
Und wozu noch diese Galgenfrist, – dieses Hinziehen? Er findet keine Arbeit, und das Betteln hat er satt. – Was man ihm zum Erwerb anbietet, mag er nicht.
Er kann nicht Knecht sein und sich einem groben großspurigen Bauer fügen, – er würde ihn bei dem ersten Schimpfwort zusammenschlagen, er würde ihm die Gurgel zudrücken, wenn der Herr am Fleischtopf säße und dem Knecht einen Napf Kartoffeln hinschöbe, – er kann es nicht! Er ist zum Arbeiter untauglich geworden. Also fort! vorwärts! Wie ein Hund an der Landstraße verrecken. Wer fragt nach ihm? Keiner! Wer sucht ihn? – Keiner! – Man scharrt ihn ein und ihm wird's wohl sein in der dunkeln, kalten Erde, – da, wo doch alle Menschen gleich sind, wo der Reiche als Häuflein Staub neben dem Staubhäuflein des Allerärmsten liegt! Da wird ihm wohl sein. – Und Heinrich Selke beißt in wildem Trotz die Zähne zusammen, erhebt sich taumelnd auf die Füße und wendet dem verhaßten Dorf den Rücken.
Immer ziel- und planlos gradaus, – in den Wald, in die Bergeinsamkeit hinein. – Wie schwach er auf den Füßen ist, – wie der Schmerz ihm in Magen und Eingeweiden wühlt! – Er überschreitet die Fahrstraße, und als er erschöpft auf einem Baumstumpf niedersinkt und die breite waldgesäumte Straße, welche so still und einsam im Sonnenlicht vor ihm liegt, hinabblickt, da kommt ihm ein wilder, verzweifelter Gedanke.
Soll er hier im Gebüsch lauern, bis ein einsamer Wanderer, ein Bäuerlein mit gefüllter Geldkatze vorüberzieht –? Soll er dem … o sein Stock wiegt schwer … und das Messer in der Tasche ist scharf … und wenn er Geld hat, viel Geld, dann noch einmal zum Dorfe zurück und zechen, essen, trinken, gut und viel, sehr viel … und dann??
Ja, – und dann! –
Sterben ja, – aber nicht eingesperrt sitzen sein Leben lang, – das ist schlimmer wie alles. Und wenn er keinen Totschlag beginge, sondern den Überfallenen nur zwänge, mit ihm zu teilen? So, wie es seine verdammte Schuldigkeit ist, weil aller Reichtum ja doch nur Raub am Nächsten bedeutet? –
Haha! wer teilt wohl gutwillig! Niemand! Niemand! Und wenn er bis zum Halse im Golde säße!
Und ist »Raub« in den Augen der parteiischen, ungerechten Richter nicht auch ein Verbrechen, welches mit Zuchthaus bestraft wird? – Und ließe der Beraubte ihn jemals dazu kommen, sich – wenn auch nur für Stunden – des Geldes zu freuen? Ehe er sich satt essen könnte, hätten ihn die Spürhunde schon gefaßt!
Und doch – totschlagen, um sich zu rächen! um zum letzten Male sein Mütchen zu kühlen! Heinrich Selke krallt mit einem fast tierischen Schrei die Fingernägel in die feuchtmoosige Erde.
Ja Rache! – Rache! – Vergeltung üben an all denen, welche ihn so elend gemacht! welche satt und glücklich sind, dieweil er in der Verzweiflung verschmachtet! Wilde, wahnsinnige Rachsucht glüht in seinem Herzen. Zahn um Zahn – Auge um Auge!
Und doch, was nützt es ihm, wenn hier ein armseliges Menschenkind, sterbend durch seine Hand, auf der Landstraße liegt? Leben dafür nicht tausend andere Feinde, Millionen andere, reiche, frohe, zufriedene Menschen?
Heinrich Selke schüttelt mit schrillem Gelächter die Fäuste. Ach, daß er die ganze Welt packen und vernichten könnte, – das – das – würde seinen Rachedurst kühlen, – Erde – Meer – Himmel – alles zermalmen möchte er – Horch … was ist das? – Glocken? – Heute am frühen Morgen Glockenläuten? Sind sie des Teufels im elenden Nest dort drunten? Glocken? – lächerlich – wozu solch ein Spektakel, welcher den Leuten nur in die Ohren gellt? –
Mit stierem Blick wendet der einsame Mann das Angesicht nach dem Dorfe zurück.
Feindselig brennt es in seinem Auge, da er des Kirchturmes ansichtig wird. Ein höhnisches Lächeln verzerrt seine Lippen.
Es ist ja Ostern heute! – richtig, er hatte es ganz vergessen. Ostern! – bah – für reiche Leute nur, die Schokoladen- und Marzipaneierkuchen und Kuchen backen können, für solche, die neuen Staat in die Kirche tragen und sich damit dicke tun wollen!
Ja, für sie ist's Ostern. – Für ihn nicht. – Er ist mit dem Himmel ebenso fertig wie mit der Erde – sie haben ihn beide im Stiche gelassen! Verfluchtes Gebimmele! – Er kann den Klang nicht ertragen, er hat das Gefühl, als sei jeder Glockenton eine Kralle, welche sich ihm in das Herz schlägt, – die Hände trotzig gegen die Ohren gepreßt, springt er auf und wankt weiter, wie ein Wild, welches die Meute hetzt. Nicht den sonnigen Weg entlang – er haßt das Sonnenlicht, hier … im Wald … da ist tiefer Schatten unter dem Fichtengezweig! – Mit zitternden Knien biegt er in den Waldweg ein und taumelt eine kurze Strecke weiter. Aber ein brennender Schmerz im Magen und in den Eingeweiden läßt ihn straucheln, – er ist so schwach, so todesmatt … vor seinen Augen wallen dunkle Schatten … kraftlos bricht er zusammen.
Voll Verzweiflung reißt er den jungen Steinklee, welcher am Wegrain sproßt, ab und schlingt ihn hinab, – und dann schlägt er mit den geballten Fäusten gegen die Stirn –. Schwacher elender Kerl, der er ist! Er will ja nicht mehr essen, – es soll zu Ende kommen, – sterben will er!
Erschöpft sinkt sein Haupt zur Seite, – er schließt die Augen und liegt regungslos, – und über ihn ziehen friedsam und wunderbar feierlich die Klänge der Osterglocken, welche der jubelnden Kreatur verkünden: »Welt lag in Banden, Christ ist erstanden, freue dich! freue dich, o Christenheit!«
Heinrich Selke will sie nicht hören, – aber er hört sie dennoch, – er muß es. Und wie sein Körper kraftlos zusammenbrach, so läßt auch seine Seele matt und gebrochen den Glockenton und seine selige Verheißung über sich ergehen. Wunderlich – es ist, als ob der Klang eine Stimme wär, – eine Stimme vom Himmel, die ruft unaufhörlich – komm – komm – komm! Ruft sie auch ihn, den Verirrten und Verlorenen? – Ein heiseres Lachen ringt sich von seinen Lippen. Ach nein! ihn nicht! Was hat der liebe Gott noch mit ihm zu schaffen? – Er hat sich nicht um ihn gekümmert und Heinrich Selke hat auch nichts nach ihm gefragt.
Lächerlich. Gott! – Gott! – Was ist Gott? Ein überwundener Standpunkt für jeden Aufgeklärten, für jeden, welchen die Freiheitspriester des neunzehnten Jahrhunderts klug gemacht.
Es gibt keinen Gott! – Die Vernunft, das Selbstbewußtsein – das stolze eigene Ich! das sind die Götter dieser Welt.
Wer glaubt noch an die Kindermärchen von einer Erschaffung der Welt, – von einem Sündenfall – von einer Erlösung? – Niemand, der so viel Gegenteiliges gehört hat davon wie er. Wer kann es beweisen? … komm! … komm! – – – komm …
Und wer kann das Gegenteil beweisen? hat einmal sein Meister gefragt – »wer ist schon von den Toten zurückgekommen, um zu sagen: ›Es gibt kein Jenseits?‹ – Niemand kam zurück, und solange sich nur die Lebenden darum streiten, behält keiner recht.« –
Nein, keiner, – wissen tut's keiner. –
Ach, wie schwach, wie schwach ist ihm! –
Mit weitaufgerissenen Augen starrt Heinrich Selke empor zu dem lichtblauen, sonnigen Himmelszelt, unter welchem jubelnd die Vöglein kreisen. Und wenn es doch nicht zu Ende ist mit dem Tod, wenn es dennoch ein Weiterleben da oben gibt? Was dann? Er hat nie zuvor daran gedacht, – jetzt – plötzlich – warum rufen die Glocken immer »komm«! wohin soll er denn kommen? Hinab in das Grab – oder hinauf in das Paradies … Ach … ein Paradies! Wie möchte es wohl sein, wahrlich so schön – so ohne alles Leid, Elend, Hunger und Qual …
Wie hieß es doch gleich, was damals der Pastor in der Konfirmandenstunde sprach, – er hat es ja auch auswendig lernen müssen … und ganz vergessen? »Und … und der Herr wird abwischen alle Tränen von ihrem Angesicht und der Tod wird nicht mehr sein, noch Angst und Geschrei …«
War's nicht so? – Ach, wer es wissen könnte! Ob wohl seine Eltern da droben im Himmel sind? Ob sie an einen Gott glaubten, fromm und brav waren? – Er hat sie nie gekannt. Er ist unter fremden Menschen herumgestoßen worden, bis er sein Brot verdienen konnte. –
Kein Mensch hat ihm gesagt: »Ich glaube, – glaube auch du!« – – Oder doch! – ja, der Pastor, welcher ihn einsegnete. Wie lange ist's schon her! Er entsinnt sich kaum noch der Zeit. Und doch war es auch damals Ostern, und er schritt mit den anderen Konfirmanden in die Kirche. – – Wie ihm die Erinnerung plötzlich kommt? Hinter dem Altar hing ein großes Ölbild, das hat er während der ganzen Feier angestarrt. Der Heiland inmitten der beiden Schächer am Kreuz. – – Und er, Heinrich Selke, mußte das Glaubensbekenntnis sagen. »Niedergefahren zur Hölle und am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten.« – – – Ja, damals glaubte er es, – jetzt glaubt er es längst nicht mehr. Man hat ihm Bücher in die Hand gegeben, darin stand, daß die Jünger betrogen und den Gekreuzigten bei nächtlicher Zeit aus dem Grabe gestohlen hätten. Ist das wahr? – – – Aufstöhnend wirft sich der einsame Mann herum und preßt das Gesicht auf die feuchte Erde. »Ja, es ist wahr!« will er trotzig schreien, aber die Stimme versagt ihm.
»Komm – komm – komm!« klingt's vom Himmel. Wenn die Jünger ihn gestohlen hätten, so wüßten sie selber ja am besten, daß Jesus kein Heiland der Welt, kein Gottessohn gewesen, warum würden sie dennoch hingegangen sein, sein Evangelium zu predigen? Brachte es ihnen Geld, Ruhm und Ehre ein? Nein, nur Verfolgung, Kerker, Qual und Martertod – – –
Heinrich Selke schrickt mit verstörtem Angesicht auf: »Welch ein Mensch würde das erdulden, würde den furchtbarsten Tod für seinen Glauben sterben, wenn er wüßte – er ist nicht auferstanden, er ist nicht aufgefahren gen Himmel – wir selber haben ihn ja heimlich aus dem Grab gestohlen! Wir wissen, daß er die Banden des Todes nicht gebrochen hat –! –«
Ein Zittern fliegt über den Körper des Denkers. »Gott! Gott!« stöhnt er jählings auf »nein, sie haben ihn nicht gestohlen – sie haben Riegel es wahr und wahrhaftig gesehen, daß er gen Himmel fuhr, sonst hätten sie ihr Leben nicht so freudig für ihn hingegeben!«
Jesus Christus! – Gottes Sohn! – wahrlich Gott selber? sein eingeborener Sohn? – Er hat es ja gesagt, er, aus dessen Mund keine einzige Lüge ging, der keiner Sünde fähig war, – er hat es als heilige Wahrheit bekannt, – nicht damals, als ihn das Volk zum König machen wollte, sondern vor seinen Richtern – angesichts des Kreuzes. –!
Heinrich Selke krampft wie in jähem Entsetzen die Hände zusammen. Wehe mir! –
Und wie er mit aufgerissenen, verglasten Augen zum Himmel aufstarrt, da schwebt das Bild aus der Kirche vor ihm – und er sieht seinen Heiland am Kreuz und hört im Geiste die Worte, welche er gesprochen – »Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!«
Ja, das betete er, – betete es in den furchtbarsten Todesqualen, angesichts jener, welche ihn beschimpft, verspottet – gemartert, gekreuzigt hatten! Und er, Heinrich Selke, verflucht die ganze Menschheit, er brütet über Mord und Totschlag, um seine Rache zu kühlen – und was hatte man ihm getan? – Man hatte ihn nach Verdienst behandelt. Ging es ihm schlecht, war es seine Schuld, denn er hatte selber die Arbeit von sich geworfen, er hatte sich selber die Grube gegraben, in welche er nun so tief – ach so grundlos tief gestürzt war. – »Vater vergib ihnen!« – So betet kein Mensch in den Todesqualen am Kreuz, – so kann nur ein Gott, ein heiliger, erlösender, allbarmherziger Gott beten, welcher sein Blut vergoß und sich selber dahin gab, das Verlorene selig zu machen! Ja, es gibt einen Gott – und er kennt ihn – und hat sich dennoch von ihm abgewandt.
Kalter Schweiß perlt auf seiner Stirn, eine unbeschreibliche Angst überkommt ihn, – eine Unruhe und zitternde Aufregung, welche das Herz in der Brust hämmern läßt. – Ist es die Todesangst – ist es das Ende? – »Allbarmherziger Gott, nur das nicht, – wie soll ich bestehen vor dir? Das Sterben ist ja nicht das letzte …« –
Er rafft sich auf die Knie: »Warum ließest du es so weit mit mir kommen?« schrie er und hob die Arme zum Himmel – »wenn du da bist Gott – wenn es Wahrheit ist – Herr Jesu – – – – ach, ein paar Groschen damals hätten ja alles gut machen können!« – – –
Er bricht wieder zusammen, kalte Schauer wehen über seinen Leib, – wie Nebel wallt es vor seinen Augen, – und nun kommt sie wieder, die Angst – die Todesangst.
Er schlingt die zitternden Hände ineinander. »Beten!« murmelt er, »beten … kann ich es denn noch … darf ich es noch … in all meiner Schlechtigkeit – – Ach, es ist ja zu spät – zu spät … ›Komm! komm! komm!‹ rufen die Glocken.« Und ihm ist's, als stünde er wieder als Konfirmand in der Kirche und sieht auf das Altarbild. – Der Schächer am Kreuz regt die Lippen, er klopft noch in der zwölften Stunde an die Himmelspforte an – er, der sein Leben lang dem Herrn so fremd gewesen, so weit entfernt von ihm, wie die Erde von dem Himmel, – und welch eine Antwort wird ihm?
»Wahrlich, ich sage dir, heute noch sollst du mit mir im Paradiese sein!« – Welch ein Ostergruß! welch ein selig Sterben! Auch dem Sünder wird vergeben … Wie ein leiser Schrei ringt es sich von den Lippen des heimkehrenden Sohnes.
»Laß mich leben, Herr – gib mir Zeit, daß ich noch Früchte trage – laß mich nicht als Schächer zu dir kommen … um meines Vaters – um der Mutter willen … Herrgott hilf!« –
Und von allen Qualen der tiefsten Herzensnot gefoltert richtet er sich auf die Knie: »Ich habe gestohlen! ich habe betrogen – ich will's wieder gut machen! Ich darf noch nicht sterben, – ich muß noch leben – ich muß! ich muß!« –
Und wie ein Verzweifelter wühlt er die Finger in den jungen Klee, auszuraufen und mit zuckenden Lippen zu essen – – – Da … etwas Hartes zwischen seinen Fingern, rund – und fest.
Mechanisch starrt er mit umflorten Augen darauf nieder, – und dann rieselt es ihm glühheiß vom Kopf zum Herzen, – – – er will sprechen, er kann nicht, gurgelnde Schluchzlaute ringen sich aus seiner Brust. Er hält einen Taler in der Hand, einen blinkend hellen Taler. Wie neue Lebenskraft strömt es von ihm aus und strafft jede Faser und jeden Nerv an dem Körper.
Mit weit aufgerissenen Augen starrt er das Wunder an, – das Gotteswunder! Welch ein sonderbarer Taler, – ein Marientaler mit dem Bild der Gottesmutter und dem Jesuskinde. Oben am Rand befindet sich eine Öse, – sicherlich hat jemand das Geldstück als Anhänger an der Uhrkette getragen.
Heinrich Selke hält den Taler in zitternden Fingern, und plötzlich blickt er zum Himmel empor, Tränen stürzen aus seinen Augen.
»Ja, du lebst, Gott, – du bist da, – und heute ist Ostern, wo die Sünder erlöst werden!« –
Krampfhaft preßt er das Geldstück in der Hand, lehnt sich zurück und schließt die Augen, lächelnd, wunderbar friedlich, – alle Angst ist von ihm genommen, er weiß, daß er leben soll, warum sonst das Geld? –
»Komm – komm – komm!« rufen die Glocken. Es tönt Hundegebell an sein Ohr, menschliche Stimmen und Schritte auf dem Waldweg.
Mit letzter Kraftanstrengung richtet sich Heinrich empor.
»Hilfe! – Hilfe!« – Da stürmt es näher. Ein grüner Jägerrock – ein helles Sommerkleid, – es verschwimmt wie Nebel vor seinen Augen.
»Hunger!« schreit er noch einmal auf, und dann wird es schwarz vor seinen Augen, die Glocken schlagen noch einmal an, – dann ist's still, ganz still um ihn her.
Ein Kochen und Sausen vor seinen Ohren, er reißt die Augen auf und starrt verständnislos in fremde Gesichter.
Etwas Heißes brennt auf seinen Lippen, und gluckert in der Feldflasche, welche ihm ein Jägersmann fürsorglich an die Lippen hält.
»Er kommt wieder zu sich, – Gott sei gelobt!« flüstert eine weiche Stimme, und ein Sonnenstrahl zittert über die Goldflechten eines Köpfchens, welches sich tief herabneigt, da die Samariterin die kalten Hände des Ohnmächtigen sanft zwischen den ihren reibt.
»Wo bin ich? – was ist mit mir geschehen?« will der Kranke fragen, – aber er ist zu matt, – er schließt wie betäubt die Augen, er kann sich gar nicht entsinnen, was das alles bedeuten soll.
»Komm – komm – komm! –« Ach die Glocken! – Ein Beben fliegt über sein eingefallenes Gesicht, aufs neue rinnen die Tränen in den struppigen Bart, ja, nun weiß er es wieder, – es ist Ostern! – »Freue dich, freue dich, o Christenheit! –«
»Da kommt Karl schon zurück und bringt Essen!« murmelt der Oberförster, und er stützt den kraftlosen Körper, damit ihm die junge Frau ein Glas Milch an die Lippen halten kann. In langen tiefen Zügen trinkt der Verschmachtende und dann lehnt er sich tief aufatmend wieder zurück und faltet mit krampfhaftem Zucken die Hände.
Er lächelt, seine Lippen regen sich, – er betet wohl und dankt seinem Gott.
Der Oberförster tauscht schweigend mit seiner Frau einen Blick, – tiefe Rührung malt sich auf beider Angesicht.
»Kommt der Wagen, Karl?« Der junge Mann nickt. »Im Augenblick, Schwager.« »Ach Fritz – und welch ein Wunder –« flüstert die Oberförsterin leise dem Gatten zu, der arme Mensch hält ja meinen Marientaler in der Hand!« – »Den Taler? – wahrlich? Das nenne ich ein seltsames Wiederfinden!«
Da schnauft ein Pferd, ein Wagen rollt auf dem weichen Sandweg herzu.
»Nun hilf anfassen, Karl, daß wir ihn hochheben und heimbringen! Komm! – komm!« –
»Ja, ich komme, lieber Herrgott, – ich komme!« – – –
Ein Jahr ist vergangen, abermals läuten die Osterglocken. Der Oberförster geht mit seiner Familie hinab zum Dorf, dem Gottesdienst beizuwohnen.
Sein Gesinde folgt ihm, auch der Knecht Heinrich, welcher seit einem Jahr bei ihm in Diensten steht, und welcher sich so ausgezeichnet führt, wie noch nie ein anderer Bursch vor ihm.
Man hält große Stücke auf ihn, alle haben ihn gern und die Kinder rechnen ihn ganz zur Familie und nennen ihn » unser Heiner!«
Man weiß, daß Oberförsters ihn vor einem Jahre halb verhungert im Walde aufgefunden und daheim zu Kräften gepflegt haben, sie nahmen ihn sogar in ihren Dienst, und die Dankbarkeit des verlassenen Menschen lohnt ihnen solchen Opfermut.
Still und heiter tut er seine Pflicht, er arbeitet für zwei, und dabei ist er ein frommer Mann, so kindlich fromm und gläubig, wie man es heutzutage selten findet.
Sein ganzes Gesicht strahlt, wenn er die Glocken läuten hört.
»Ja, solche Osterglocken,« flüstert er, »sie sind Stimmen vom Himmel und rufen die Verirrten beim.« – Als ihm der Oberförster den ersten Lohn auszahlen wollte, blickte ihm der neue Knecht flehend in die Augen, und sprach eine wunderliche Bitte aus, »nur den Marientaler von der Frau Oberförsterin, welchen er damals im Walde gefunden, möchte er zum Lohn haben, und sei das zu viel verlangt, so wolle er gern sein halbes Leben darum dienen!« –
Seit jenem Tage trägt er seinen »Segenstaler« an einer Schnur auf der Brust. – Und heute ist wieder Ostern und alle gehen zur Kirche. Die Sonne flimmert durch den Wald und die Glocken läuten wie damals: »Komm! – komm! – komm!«
An dem Waldwegsaum, wo der junge Steinklee sproßt, kniet ein schmucker Bursch, wohlgekleidet, mit gepflegtem Haar und Bart, ein Sträußchen im Knopfloch, – der feiert hier ganz still und doch viel ergriffener noch wie nachher in der Kirche sein Osterfest.
Da denkt er an sein Ostern vor einem Jahr, – und an die wunderbaren Himmelsstimmen, welche ihn zur Heimat gerufen.
Auch heute zieht ihr jubelnder Auferstehungsklang über ihn hin, und in seinem Herzen frohlockt ein Dankesgefühl ohnegleichen:
»Lobe den Herrn meine Seele, – und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!« – – –
Und als abermals die Osterglocken läuteten, kniete Heinrich Selke mit einem treuen Lieb vor dem Altar der kleinen Dorfkirche, und der Trautext, welchen er sich selber gewählt, lautete: »Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen!« –