Bruno Ertler
Die Königin von Tasmanien
Bruno Ertler

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Der Märtyrer

Als wir aus dem kahlen Schlafsaal mit den dreißig gleichen Betten und dem Eis im Waschbecken vor Kälte zitternd über die finstere Holzstiege polterten und nun zwischen mannshohen Schneewänden durch den Klosterhof trippelten, waren einige von uns noch gar nicht recht wach und krochen in den aufgestellten Kragen und die Manteltaschen zurück. Der magere Bruder Irenäus ging mit der Laterne neben uns her und stieß die Schläfrigen in die Seite.

»He! Was ist denn? Auf!«

Der Schlüssel kreischte widerwillig im rostigen Schloß des Hoftores, das nicht aufgehen wollte. Bruder Irenäus stemmte eine Schulter dagegen. Da gab die zugefrorene Türe krachend nach, aber noch immer war sie nicht aufzubringen. Trotz der Kälte reckten wir die Hälse. Bruder Irenäus hatte die Laterne auf den Boden gestellt, wo ihr Licht einen flackernden Stern auf den Schnee zeichnete.

Etwas hielt von draußen die Türe zu.

»In der Reihe bleiben!« rief Bruder Irenäus.

»Karl und Drogo, ihr helft mir da!«

Karl und Drogo waren die beiden Stärksten unter uns. Sie gingen in die Oberklasse und waren schon bald vierzehn. Mit ihrer Hilfe brachte der Bruder das Tor so weit auf, daß Drogo hinausschlüpfen konnte.

»Was ist?« fragte Bruder Irenäus.

»Der Phylax!« rief Drogo zurück.

Wir sahen unwillkürlich alle nach der Hundehütte, die herinnen neben dem Hoftor stand. Bruder Irenäus nahm die Laterne und leuchtete hinein. Die Hütte war leer. Drogo kam zurück.

»Da draußen liegt der Phylax ganz steif und still,« sagte er, »ich glaube, er ist tot.«

Nun konnte man die Türe aufmachen. Phylax, der Hofhund, war ausgesperrt worden und in der Nacht vor dem Tor erfroren.

So bitterkalt war es in diesem Dezember.

Bruder Irenäus schob den toten Hund mit dem Fuß zur Seite und trieb uns zur Eile an.

»Vorwärts! Vorwärts! Um sieben beginnt die Messe. Der Herr Pfarrer kann nicht auf euch warten!«

Aber der kleine, blasse Hansmartin, der erst vor zwei Wochen weither aus den Bergen zu uns gekommen war und scheue, große Augen hatte, trat aus der Reihe, kniete neben dem erfrorenen Phylax nieder und streichelte mit der Hand über das eiskalte, steife Fell, in dessen Haaren der Rauhreif hing. Erst als wir schon ein Stückchen weiter waren, bemerkte ihn Bruder Irenäus, fuhr auf ihn los und stieß ihn in die Reihe hinein.

»Wenn du mir noch einmal ausbiegst, schlage ich dir die Laterne an den Kopf!« knirschte er wütend und fuhr mit der Hand an den Rosenkranz. Sein hageres Gesicht mit der kantigen Nase war bleich vor Zorn, und die schwarzen Augen funkelten. Wir sahen ängstlich nach ihm und dem kleinen Hansmartin, der mehr erstaunt als erschreckt zu dem zornigen Bruder aufschaute und kein Wort sagte.

»Was gafft ihr da? Marsch!« kommandierte Bruder Irenäus.

Der Hügel, auf dem die Kirche stand, war steil und wir stießen uns an dem hartgefrorenen Schnee Hände und Knie wund.

Außer uns waren nur ein paar alte Bauernweiber in der Kirche und beteten vor ihren Wachsstöcken den Rosenkranz. Ihre Hauchwolken schimmerten rötlichgelb im Kerzenlicht.

Der rothaarige Berner ministrierte heute, und wir alle zählten mit Freuden die Fehler, die er dabei machte. Nur Hansmartin schaute verwundert zu den Heiligenstatuen und Märtyrerbildern hinauf. Seine großen, stillen Augen sogen sich an den Wunden und Qualen fest, die da rings an den Wänden in grellen oder längst verdunkelten Farben im zuckenden Halblicht der Wachskerzen einen grausamen Reigen schlangen. Sankt Sebastian war zu sehen, pfeildurchbohrt und blutig, Sankt Laurentius auf dem glühenden Rost, Sankt Erasmus, dem sie die Därme herauswanden, und die hundert Märtyrer vom Berge Ararat, die nackt über einen Abgrund in ein hartes Dorngestrüpp geschleudert wurden. Sie hingen in verrenkten Stellungen in den Ästen und verbluteten langsam. Manchmal, wenn die warme Luft über den Kerzenflammen lebendige Wellen zog, sah es aus, als bewegten sich ihre zerstochenen Glieder in schmerzlichen Windungen. Der blasse Hansmartin wandte keinen Blick von ihnen; er hatte den Mund ein wenig offen, und es schien, als wachse er den Bildern entgegen. Er überhörte sogar die Wandlungsglocke und kniete erst nieder, als ihn sein Nachbar in die Rippen stieß. Dann schaute er wieder unbeweglich zu den gemarterten Heiligen hinauf, indes wir andern alle über den rothaarigen Berner kicherten, der das Knie beugte, wenn er sich hätte verneigen sollen, die Glocke auf die falsche Seite stellte, dem Herrn Pfarrer auf die Zehen trat, so daß Bruder Irenäus bald in stummer Wut die Fäuste ballte, bald an seinem Rosenkranz fingerte und sich die dünnen Lippen zerbiß.

Als wir nach der Messe den steilen Kirchenhügel hinuntertaumelten, sagte Bruder Irenäus auffallend freundlich zu dem roten Berner:

»Heute wirst du einmal fasten, mein Lieber –«, und als der Berner unsicher zu ihm aufschaute, gab er ihm eine Ohrfeige und schrie ihn an:

»Siebzehn Fehler! Welche Schande für das ganze Kloster!«

Dann tastete seine weiße, knochige Hand nach dem Rosenkranz am Gürtel. Diese Geste machte Bruder Irenäus immer, wenn ihn der Zorn packte.

Es hatte zu schneien angefangen, und das Tageslicht blieb noch immer hinter einer grauen Decke vergraben; Millionen Flocken kamen daraus hervor, erwachten im Lichtkreis der schwankenden Laterne zu einem kurzen, glitzernden Leben und sanken still aus der grauen Decke in die weiße herunter, die über die Erde gebreitet lag. Es wollte heute nicht Tag werden.

Auch im Klassenzimmer, wo der eiserne Ofen summte, war die graue, öde Dämmerung dieses Wintermorgens. Man sah nur über der Tafel das große schwarze Kreuz an der weißen Wand.

Bruder Irenäus hatte die Laterne ausgelöscht, und da der Unterricht erst in einer halben Stunde begann, wurde auch die Lampe nicht angezündet. Wir saßen im Halbdunkel und freuten uns, daß es wenigstens warm war, denn der Eisenofen begann bereits über der Feuertür zu glühen.

Bruder Irenäus benützte die Zeit zu einem Erbauungsvortrag über das Leben der Heiligen. Seine Stimme klang eintönig, und er zog die Silben in die Länge, wie das zuweilen Kanzelredner tun.

»– – Aber die Standhaftigkeit der reinen Diener Gottes war ohne Grenzen –,« sagte er, »Feuer und Eisen konnten ihren Leib nicht zwingen, denn der Herr wohnte in ihrem Herzen. Sie sangen Gottes Lob, indes ihnen glühende Zangen das Fleisch von den Knochen rissen und ihre Glieder zerbrachen –.«

Der kleine Hansmartin saß ganz vorn an der Ecke der ersten Bank und schaute regungslos den Ofen an, aus dessen rotglühenden Wänden blitzende Funken sprangen.

»– – Denn frei wird nur,« fuhr der Bruder fort, »wer des Leibes vergißt und ihn hinopfert auf dem Altar des Ewigen: All unser Beten, all unser Sehnen gehe dahin, daß der Herr uns der Gnade teilhaftig mache, die er den heiligen Märtyrern erwies, die die Palme des Sieges tragen –.«

»Haben die heiligen Märtyrer keine Schmerzen gespürt –?« fragte auf einmal Hansmartin mit schüchterner Stimme. Wir lachten alle. Bruder Irenäus wies uns zur Ruhe und sagte:

»Sie haben gelitten wie andere Menschen, aber der Glaube machte ihre Leiden süß, denn sie wußten: Kurz ist die Qual, und die ewige Glückseligkeit wartet unser –. Aber das kannst du noch nicht verstehen,« fuhr er fort, »die wenigsten Menschen können es fassen; wie solltest du es wissen. Das zu wollen wäre hoffärtig. Bete, daß Gott deine Seele in Demut kleide.«

Hansmartin schwieg und schaute vor sich hin. Der Ofen surrte und die Funken sprangen. Draußen fielen die Flocken still aus der grauen Decke in die weiße. Regungslos stand die hagere Gestalt des Bruders Irenäus im schwarzen Talar mit den zwei weißen Patten am Halskragen. Die leiernde Stimme erzählte das Leben des heiligen Aloisius, der ein Musterbild reiner Jugend war –.

Vielleicht hatten es einige bemerkt, wie Hansmartin aufstand und mit leichterhobenen Händen langsam und leise gegen den Ofen ging, als wollte er sich dort wärmen; plötzlich aber machte er einen schnellen Schritt und warf sich mit ausgebreiteten Armen gegen den glühenden Eisenkörper. Etwas zischte.

Bruder Irenäus, der nicht hingesehen hatte, fuhr herum und riß Hansmartin am Rockkragen zurück.

»Dummkopf!«, schrie er ihn an, »Was fällt dir ein?«

Wir alle drängten nach vorne. Es zeigte sich, daß Hansmartin heil war; nur sein Rock war an Brust und Ärmeln versengt. Bruder Irenäus war außer sich vor Wut. Er schleuderte den kleinen Hansmartin, der keinen Laut von sich gab, in die Bank.

»Keinen Augenblick darf man das Gesindel aus den Augen lassen, ohne daß ein dummer Streich geschieht!«

»Er wollte ein Märtyrer werden –!« spottete einer aus der Menge; andere lachten roh auf. Voll Zorn hieß sie Bruder Irenäus schweigen. Zu Hansmartin aber, der noch immer wortlos mit verwunderten Augen wie ein gefangener Vogel vor all den spottsüchtigen Blicken saß, sagte er hart und strafend:

»Ein Märtyrer willst du sein –!? Ein Gotteslästerer bist du, der den Herrn in frevelnder Hoffart versucht!«

Da zuckte es in den großen, offenen Augen des blassen Jungen, da stöhnte er auf, wie ein zu Tode getroffenes Tier, fiel vornüber und weinte seelentief, daß uns allen der Spott verging und wir beklommen auf unsere Plätze schlichen.

Bruder Irenäus stand ratlos vor diesem Ereignis und tastete verlegen nach seinem Rosenkranz.


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