Bruno Ertler
Die Königin von Tasmanien
Bruno Ertler

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Dichters Dornenstraße

Ich schrieb mein erstes Gedicht in einer geistlichen Erziehungsanstalt in finsterer Novembernacht beim zuckenden Irrschein eines Öllichtes, dessen Flackern und Knistern die einzige eigenwillige Regung in dem langen, ruhevoll atmenden Schlafsaal war.

Außer der Angst, das Ölflämmchen könnte plötzlich verlöschen und so dem Spinnen meiner Phantasie rücksichtslos ein Ende machen, hatte ich das Gefühl aufregenden, durchaus ungehörigen Tuns, das durch nichts zu entschuldigen, aber auch von keiner Macht aufzuhalten war. Deshalb verbarg ich das Gedicht am Morgen sorgfältig in meiner Brieftasche und nahm es die folgenden Tage nur, wenn ich vor jeder Störung sicher war, heraus, um es mit seltsamen Lustschauern durchzulesen und wieder zu verbergen. Dabei klopfte mir mein Blut eine heiße, schamvolle Unruhe in die Schläfen, trotzdem das Gedicht mit den Worten »Oh, gutes Kind!« begann und in allen seinen Strophen nicht eine böse Zeile enthielt. Diese Spannung bekam noch dadurch einen beinahe sündhaften Reiz, daß ich vor den frommen Brüdern, in deren Hände wir gegeben waren, ein Geheimnis hatte. Zwar war ich dessen lange Zeit nicht sicher, weil ich alle Brüder vom hageren Pater Claudius bis zum Novizen Bernardin für mehr oder minder allwissend oder doch in hohem Grade erleuchtet ansah. Je klarer mir jedoch nach vorsichtiger und scharfer Beobachtung ihre Ahnungslosigkeit wurde, desto schwerer drückte mein böses Gewissen und nicht einmal in der Beichte gelang mir die Befreiung. Denn alle Sünden wollte ich eher bekennen, als das Gedicht in meiner Tasche. Zudem schien auch der Beichtspiegel, der mich sonst durch seine überraschenden Fragen auf die verschämtesten Winkel meiner Seele aufmerksam machte, gegen verborgene Dichtung ganz gleichgültig.

Dennoch quälte mich zu allen Zeiten treibende Unrast, ja, manchmal hätte ich meine Tat jubelnd bekennen mögen, aber weil ich an meiner vorbildlichen Umgebung nie Ähnliches bemerkt hatte, so mußte mir das Ungewöhnliche, das ich deutlich fühlte, notwendig sündhaft erscheinen.

So nahmen meine Leiden immer wieder einen neuen Anfang, und ich fand nicht Grund noch Trost dafür. Während ich aber in der kühlen, verzichtenden Vollkommenheit des Klosterlebens still und abgewandt dem unerhörten Angriff gewaltsam fordernder Kräfte meines Innern ausgeliefert war und grübelnd nach deren Sinn und Rechtfertigung suchte, wurde ich allgemach ein Fremdling, fühlte es mit leisem Weh und konnte nichts daran ändern, hatte immer weniger Eifer für die derben Spiele meiner Kameraden und fand auf ihren neckenden Spott mit einemmal nicht mehr das leichte Spitzwort – bis eines Tages unerwartet und doch ganz selbstverständlich die Befreiung kam.

*

Das war der erste Sonntag im Dezember, sonnig, kalt und schneeblitzend.

Einer guten Tante, die in einem nahen Dorf wohnte, war es wieder einmal geglückt, mich aus dem Kloster frei zu bekommen, um mir das viele Fasten überreichlich zu vergüten. Denn wie alle gutmütigen Frauen, hielt sie bei Kindern mehr auf rosige Wangen und einen prallen Körper, als auf Beichten, Rosenkranzbeten und was dergleichen asketische Fertigkeiten noch sein mochten. Wer satt ist, schläft; und wer schläft, sündigt nicht – das war ihre Meinung.

Dorthin hatte ich nun eine Stunde über Land zu gehen, und im Schweben und Verschwingen der feierlichen Sonntagsglocken, in der starken, sichtigen Winterluft und all der lichtübergossenen Hügelweite geschah mir plötzlich das holde Wunder, wie es sonst gewöhnlich erst einige Jahre später, und zwar meistens im Mai, zu geschehen pflegt:

Ich liebte.

Aber auch dadurch unterschied sich diese Liebe von der gewöhnlichen Art, daß sie sich auf keine Geliebte richtete. Es war eine verfrühte, eine beziehungslose, freischwebende Liebe, und nur Schnee, Sonne und der blaue Himmel, vielleicht auch der Dreiklang der Kirchenglocken – am meisten aber wohl das Gefühl, das alles tief innerlich noch ein zweitesmal viel stärker empfangen zu können –, das war es, was in mir einen unermeßlichen, unbeschreiblichen Jubel aufweckte. Mit einem Schlage gab sich mir alles geheimnisvoll freundlich beseelt. Ein Rabe, der würdevoll steif über den Schnee stolzierte, schien mir voll drolliger Gedanken und Absichten, der Kirchturm des Dorfes hatte, wie er langsam aus der weißen Fläche stieg, auf einmal Auge und Mund statt Uhr und Fenster, und als ich an der sehr alten, wackeligen Windmühle bei der Wegbiegung vorüberkam, blieb ich stehen und wartete ein wenig, ob sie mir nicht etwas aus ihrem langen Leben erzählen wollte. Ich hätte in dieser Stunde gar nichts Absonderliches an einer redenden Windmühle gefunden.

Glücklich in der Überfülle von Erscheinungen und Entdeckungen stapfte ich durch den Schnee, in der weichen, blendenden Uferlosigkeit ein winziger, wunderlicher, mehrfach lebendiger Punkt.

*

Die Tante erwartete mich bereits mit einer klug und gütig abgestuften Folge von Gekochtem, Gebratenem und Gebackenem, und war, wie alles an diesem schimmernden Sonntag, voll Freude und Heiterkeit. Beim Essen gab es viel zu fragen und zu sagen. Wie es mir in der Schule gehe – ob die schwarzen Brüder noch immer soviel beteten – was ich von daheim hörte.

Ich hätte in dieser Woche zwei Fleißzettel bekommen, berichtete ich stolz, und Mutter habe mir einen langen Brief geschrieben, da stehe drin, daß es auch zu Hause in den Bergen schon viel Schnee gebe, daß sie ein Schwein geschlachtet hätten und daß zu Weihnachten wieder ein Krippenspiel auf geführt würde.

»Ich habe dir den Brief mitgebracht – und die Fleißzettel auch, in der Brieftasche im Mantel draußen muß alles sein –.«

Ich wollte danach gehen, aber die Tante hatte mir eben ein neues Stück Selchfleisch auf den Teller gelegt, das man, wie sie sagte, schnell essen mußte, weil das Fett sonst stockig würde.

»Den Brief lesen wir nachher,« meinte sie, »du mußt dann auch in den Stall hinüber. Vorige Woche sind sieben Kaninchen auf die Welt gekommen. Auch Meck mußt du begrüßen. Sie fragt immer nach dir.«

Meck war eine Ziege, die ich zu Ostern, als ihre Geschwister geschlachtet wurden, vor dem Messer errettet hatte – sie konnte also mit Grund in Liebe meiner gedenken.

Im Stall fand sich dann auch noch Rüppl, der Knecht, seit jeher mein besonderer Freund, weil er mir einmal ein Kegelspiel geschnitzt hatte. Nicht etwa acht gleichförmige, dumme Walzen und einen Zipfelkönig, nein: jeder dieser neun Kegel hatte seine eigene Gestalt, einen persönlichen, merkwürdigen Kopf, es waren wirklich Bauern und Damen, deutliche Charaktere und Temperamente, lachend und traurig, glotzend und zwinkernd, und der König hatte Bart und Krone, wie sich's gehört, und eine dicke, runde Knollennase. Man konnte mit ganz besonderen Gefühlen jeden der Neun aufs Korn nehmen, und jeder hatte auch seinen Namen: Einer hieß »der Göd«, ein anderer »der Zwicklvetter«, und die Damen nannten wir »Nudlbäuerin«, »Wab'n« oder »Speckmitzl«.

Auch diesmal hatte mir der Rüppl allerhand zu sagen und zu zeigen. Er war von der Bildhauerei zur Musik übergegangen und gab sich alle Mühe, mir in seiner Kammer, wo es nach Schwarzbrot, Tabak und eingesperrten Kleidern roch, die Geheimnisse der Ziehharmonika zu erklären. Immer wieder spielte er mir eine mit Schnarchbässen unterbaute Melodie vor und wollte dann, ich sollte sie ohneweiters nachspielen, setzte mit seinen harten, rindenbraunen Händen meine Finger zart und vorsichtig auf die runden Drucktasten und wunderte sich sehr, als die Töne nicht stimmen wollten.

»Weil du bist doch ein so ein feines Bübl,« sagte er, »das mußt du doch gleich heraußen haben. Aber es ist halt, daß deine Hände noch zu klein sind dazu. Aber später, wenn du einmal groß bist, da mußt du es lernen. Es tut eine sehr schöne Kunst sein für den Feierabend oder wann es Sonntag ist.«

Dann stiegen wir noch auf den Dachboden, wo sich um diese Jahreszeit in der Nähe des Rauchfanges die Fledermäuse anzusiedeln pflegten, fanden ihrer auch richtig eine ganze Gesellschaft höchst unbegreiflich kopfunter in den Sparren hängen, und wie immer, zwang mich auch damals diese vereinsamte, aus versunkenen Welten übriggebliebene Tierform in ihren geheimnisvollen Bann. Rüppl hingegen machte sich ein Vergnügen daraus, die Winterschläfer mit einer langen Stange herunterzustochern und lachte über ihre blinden Flugversuche oder wenn sie mit den Krallen der Hautflügel unbeholfen auf dem Boden herumkrochen. Erst als ich entschieden ihre Partei ergriff, gab er gutmütig nach und ließ von ihnen ab.

*

Von dem mannigfach Lebendigen dieses echten Sonntags hochgeschwellt und beglückt, wanderte ich gegen Abend durch den Schnee nach dem Kloster zurück, nachdem mir die Tante noch viel Gutes gesagt und gegeben und beim Abschied mit einem besonders warmen und zärtlichen Blick über die Haare gestreichelt hatte. Diese weiche Anwandlung lag sonst nicht in ihrem mehr handfest-heiteren Wesen, aber da mir in diesem Tage so vielfach Sinn und Liebe aufgegangen war, empfand ich sie sehr gut zum ganzen passend.

Rüppl, der Knecht, begleitete mich. Wir hatten beide die Kappe über die Ohren und den Schal über den Mund gezogen, waren also ziemlich einsilbig. Nur von den Brüdern im Kloster redete er einiges, und zwar war er durchaus nicht ihr Freund. Das tat mir leid und ich suchte ihn umzustimmen. Aber er blieb dabei.

»Der Mensch ist nicht für ein Kloster auf die Welt gekommen!« sagte er, »und du mußt auch schauen, daß du nicht alleweil drinnen bleibst. Es gibt heraußen mächtig viel zu schaffen.«

Am Abend eines solchen Tages mußten diese Worte auf mich einen starken Eindruck machen. Ich war zwiespältig bewegt, und deshalb schwieg ich. Gestern noch hätte ich leicht eine Antwort gefunden; heute konnte ich nicht mehr entscheiden, ob einer mit solchen Gedanken Recht oder Unrecht hatte.

*

Als das schwere Tor zufiel und ich in der hohen, leeren Halle stand, an deren Stirnwand, wie überall im Kloster, ein einsames, schwarzes Holzkreuz hing, senkte sich hart und düster das Gefühl der Sünde auf mich nieder. Hier gab es kein Licht und kein Lächeln, nur eine ernste, scheue Grußformel, gleichmäßig hastlosen Sandalenschritt und seinen nachziehenden Widerhall in den Gängen.

Und überall die stumme, vorwurfsvolle Frage: »Kannst du Rechenschaft geben?« Überall jenes »Bist du bereit?«, auf das nur der Heuchler ein lächelndes »Ja!« findet, das den satten Einfältigen nicht stört, aus wenigen aber, aus ganz wenigen nach ringenden Nächten und marternden Tagen den dunkelglimmenden Funken des Wahns oder die klare, kühle Flamme der Heiligkeit treiben kann.

Das alles wußte ich nicht zu nennen noch zu bannen; es wuchs nur wie eine Ahnung aus dem Schweigen des Hauses, nach dessen verzichtender, stiller Vollkommenheit bisher meine ganze Sehnsucht gegangen war. Weil ich aber an diesem Tage zum erstenmal mit unbezwingbaren Trieben nach etwas anderem verlangt, etwas anderes geliebt hatte, deshalb fand ich mich ruhelos und sündhaft und fühlte die Blicke des Novizen Bernardin voll geheimer Kenntnis auf mir, als er mit uns die Abendandacht hielt. An Stelle der täglichen Heiligenlegende schaltete er diesmal eine lange, schweigende Pause ein, nachdem er uns knapp und kühl aufgefordert hatte, an die Sünden des vergangenen Tages zu denken.

Das konnte nur mir gelten.

Angstgequält schielte ich nach dem Bruder, der im zuckenden Licht der vier Kerzen des Hausaltares regungslos, die Hände gefaltet, starren Blickes auf uns schaute. Er war noch sehr jung, seine vollen Haare blond und gelockt, und das rote Gesicht mit den wuchtigen Kieferästen stark ins Viereck geraten. Eine absichtliche Strenge seiner Mienen war noch nicht zu der selbstverständlichen inneren Kälte der meisten anderen Brüder erstarrt, die blaß, hager und dünnhaarig mit eingezogenen Schultern durch die Gänge schlichen. Daß er aber überwinden würde, was noch weltrot war in seinem Blut, dafür bürgte das harte Kinn und die feste, niedere Bauernstirn.

Meine Gedanken waren von neuem auf ferne Wege geraten, und ich erschrak, als Bruder Bernardin unvermittelt das Schlußgebet zu sprechen begann. Zugleich erkannte ich, daß alles das, was dem Novizen noch zur glatten Vollkommenheit fehlte, mich verwandt ergriffen und in jene Welt zurückgeleitet hatte, deren lockender Vielgestalt ich heute erlegen war und nun in Reue widersagen sollte. Ich war sogleich bereit es zu tun, wäre am liebsten vor dem Bruder hingekniet, meine Sünde zu bekennen – aber ich fand ihren Namen nicht.

*

Zwar wollte eine angenehme Müdigkeit meinen Körper immer wieder einschläfern, aber gleich unentwegt schossen Gedanken und Bilder durch meinen wachen Kopf, und so lag ich denn schließlich in quälendem Halbschlaf, aus dem uns nur ein festes Wollen nach der einen oder andern Seite retten kann. Die Bilder des Tages drängten und ballten sich wie farbige Wolken, nahmen Zerrformen an und verflogen wieder. Plötzlich fiel mir, durch irgend einen Seelenvorgang nach oben getragen, mein Gedicht ein. Schnell und lautlos tastete ich nach meiner Kleiderstelle, fand die Brieftasche im Mantel und zog den vielfach zerbogenen Zettel hervor. Und wie ich sie vor einer Woche im zuckenden Schimmer der Öllampe geschrieben hatte, so las ich die Verse jetzt mit neuer, sonderbarer Vertiefung, zweimal, dreimal, und was kein Gebet, kein Grübeln und Sinnen vermocht hatte, das gelang der geheimnisvollen Kraft des Geschaffenen: das Gedicht schlug eine Brücke zwischen den zwei Welten, denen ich nun – das fühlte ich klar – fortan gehören mußte, zwischen dem starren, ernsten Gebot der Zucht und der vielfältigen, lachenden Sinnenfreiheit, von den gewissenerforschenden, schwarzen Mönchen hinüber zur märchenplaudernden Windmühle, zum äugenden Kirchturm im sonnigen Land, zur lustigen Ziehharmonika und den abenteuerlichen Fledermäusen.

Daß all dies vereint sein könnte, ohne einander zu stören, wagte ich noch kaum zu glauben, aber die Ahnung einer solchen Möglichkeit war allein schon Glück, und indem ich dankerfüllt zu beten versuchte und keine Worte fand, schlief ich ein.

*

Im festen Gleichmaß der folgenden Tage verblaßte das vielfach Erschütternde dieses Sonntags mehr und mehr. Schließlich war es nur noch eine sehnsüchtige Erinnerung, farbig und unwahrscheinlich licht, wie wir jedes verschwebende Ereignis langsam und stet zum schönen Bild gestalten. Nur das Gedicht blieb Wirklichkeit, aber seine erlösende Kraft verlor sich nach und nach. Denn diese Verse, die mit »Oh, gutes Kind« begannen, waren noch ganz aus jener vorsonntäglichen Welt, die sich aus Einkehr und kühlem Gebet Vollkommenheit und Gottesnähe einbildete, indem sie sich vor dem wunderstarken Hauch des Lebens ängstlich und hochmütig hinter Kreuz und Litanei verschanzte. Ich aber ahnte nun etwas anderes, und je öfter ich unruhig prüfend meine Schöpfung durchsuchte, desto weniger konnte sie mich trösten.

Das aber, was mich unklar bewegte, vermochte ich mit keinem befreienden Wort zu nennen.

Mir blieb wieder nur Sehnsucht und Einsamkeit, und langsam gesellte sich dazu auch eine stete, stille Auflehnung gegen das starre Gleichmaß der vollkommenen Welt, in der ich lebte. In kleinen Dingen schlug ich ihr manchmal ein Schnippchen, versuchte da und dort mich dagegen zu stemmen, blieb in der Schule Antworten schuldig, die ich leicht hätte geben können, und plauderte, wenn Schweigen geboten war; aber der Erfolg war nur, daß man meine Bemühungen, die mich selbst in die gespannteste Aufregung versetzten, entweder gar nicht bemerkte, oder mich gleichsam mit der linken Hand zur Seite schob und mir Vernunft empfahl. Diese zweifellose Überlegenheit erbitterte mich sehr. Ich sah mich durchschaut und verhöhnt, und es gab Augenblicke, wo ich an allem zweifelte und zu glauben geneigt war, jener Sonntag sei doch nur ein lockendes Trugbild der Sünde gewesen.

Und wieder und immer wieder forschte ich vergeblich, wie diese Sünde zu nennen und damit auch zu bannen wäre.

*

Eines Tages aber griff von außen her eine Macht in den Gang der Dinge ein und stellte alles zu einer Entscheidung, die in so schwerer, düsterer Form erfolgte, daß sie unauslöschlich und bedeutend in meiner Seele stehen blieb. Es war das erste Bekenntnis zu meiner eigenen Welt gegen jene andere, die ich so lange herausgefordert hatte, bis sie sich in ihrer ganzen erdrückenden Macht vor mir aufstellte und in einer ewigkeitlangen Minute starr in meine Augen und viel tiefer schaute.

Und wenn ich auch später daraufkam, daß diese Kampfstellung auf Leben und Sterben nur in mir vorhanden war, indes es sich in Wirklichkeit um eine leichte, ja sogar ein wenig unterhaltende Sache handelte, so änderte das nichts an der Wucht meines Erlebnisses. Auch lag meine tragische Auffassung zum Teil in den unfreundlichen Formen des Klosterlebens, vor allem aber wohl darin begründet, daß ich seit dem Entstehen meines Gedichtes in einen Wirbel damit mehr oder minder zusammenhängender Ereignisse geraten war, wovon diese Geschichte ein Bild zu geben suchte, und die mich seit Tagen und Wochen so beherrschten, daß ich auf der Gegenseite notwendig Ähnliches voraussetzen mußte, während die Brüder in Wahrheit gar nicht an mich dachten. Da ich aber damals noch ein Recht darauf hatte, ganz in meinem Temperament zu leben, so war dieser Denkfehler sonst gewöhnlich ein Kennzeichen der Verliebten – ganz natürlich.

*

Das Ereignis begann damit, daß Bruder Friedrich in der Besprechung des Bibeltextes, der für diesen Tag zu lernen war, plötzlich innehielt und mich eine Weile schweigend ansah, als sei ihm bei meinem Anblick ein Gedanke durch den Kopf gegangen, der ihn nun festhielt. Er schien zu überlegen, ich war unruhig und witterte sofort einen Angriff; die Klosterschüler schauten mit gespannter Neugier bald auf mich, bald auf ihn. Schließlich sagte Bruder Friedrich langsam und jedes Wort betonend:

»Kennst du das Gedicht ›Oh, gutes Kind‹ . . .?«

Und er sprach die ersten zwei Verse.

Ich war, wie vom Blitz getroffen. Was war das? Woher wußte er – –? Hier war offenbar ein Wunder geschehen!

Er mußte meinen Schreck bemerkt haben.

»Nun?«, fragte er nach einer Pause, während welcher er mich unverwandt angesehen hatte.

Ich nahm mich zusammen.

»Ja«, sagte ich.

»So. Nun dann komm einmal zu mir heraus und sprich es mir vor.«

Zitternd, aber fest entschlossen, nun für alles einzustehen, bestieg ich das erhöhte Podium, auf welchem das Bibelpult stand, und sagte mein Gedicht herunter.

Die Klosterschüler hörten mit fragendem Lächeln zu. Ich hatte die Überzeugung, daß sie nicht wußten, was hier zwischen mir und Bruder Friedrich vorging. Auch ich wußte ja nur die Hälfte, und niemand beschreibt meine Aufregung, als ich in seiner Hand ein Blatt Papier bemerkte, auf welchem er das Gedicht Wort für Wort verfolgte, indem er bei jedem Vers wie zur Bestätigung leicht nickte.

»Es ist gut,« sagte er, als ich fertig war, und seine Stimme verriet weder Freude noch Groll oder Überraschung, »geh wieder an deinen Platz. Heute nach Mittag kommst du mit mir zu Pater Claudius hinauf.«

Die letzten Worte wirkten auf die Klosterschüler wie ein Schuß im Hühnerhof. Ein schwer unterdrücktes Murmeln heilloser Überraschung ging durch die Bänke. Am liebsten hätten sie alle durcheinandergeschrien:

»Wie?! Zu Pater Claudius?! Warum? Was hat er angestellt? Was ist's mit diesem Gedicht?«

In ihren Blicken lagen alle diese Fragen, aber Bruder Friedrichs Angesicht war unbeweglich wie aus Stein, und auch ich hätte mir in diesem Augenblick lieber die Zunge abgebissen, als ein Wort gesagt. Zudem gebot ihnen die Klosterzucht eisernes Schweigen, und Bruder Friedrich nahm sogleich wieder mit ruhiger, gleichmäßig hinfließender Stimme die Bibelexegese auf.

*

Zu Pater Claudius also!

Jeder im Kloster wußte, was das bedeutete.

Den hageren Prior sahen wir nur sonntags oder an hohen Feiertagen in der Kirche im Chorstuhl sitzen. Sein schmales, blasses Gesicht hatte lauter harte, senkrechte Falten. Sie zogen sich von den Augen, der Nase und den Mundwinkeln abwärts, kein lachender Querstrich milderte sie, und an der festen Nasenwurzel hatte Pater Claudius eine tiefe Willensfalte, die wie eine Narbe aussah und weiterlaufend der hohen, weißen Stirne Klarheit und Ruhe störte. Auch ohne das silberne Kreuz auf der Brust hätte ihn jeder für den ersten unter den Brüdern halten müssen, obgleich er bei weitem nicht der älteste war.

Verstohlen blickte ich oft zu ihm hinüber, vertiefte mich in das harte, eigenartig schöne Profil und suchte den Blick seiner unnachsichtigen, grauen Augen, wenn ich prüfen wollte, ob mein Gewissen rein wäre. Die Sklavenangst der meisten Klosterschüler vor Pater Claudius teilte ich keineswegs. Ich stand ihm etwa so gegenüber wie dem lieben Gott, den ich trotz Allwissenheit und Allmacht nie für zornig oder bösartig halten konnte, soviel ich auch von seiner gefährlichen Rachsucht zu hören bekam. Ich erfand mir denn auch, wenn ich wirklich ein Anliegen an ihn hatte, meine Gebete selbst und sagte ihm alles ohne Umschweife.

So leicht wie mit Gott Vater war der Verkehr mit Pater Claudius nun freilich nicht. Es gab gewöhnlich nur einen Weg zu ihm, und dieser Weg führte über die Prügeltreppe. Das war eine finstere, ausgetretene Holzstiege, die in einen öden Vorraum führte. Von da ging eine hohe, schwarze Doppeltür ins Zimmer des Priors, und in einer Seitenwand konnte man eine kleine Tapetenpforte entdecken, von der niemand recht wußte, was sie verbarg. Weil aber nur schwere Sünder vor Pater Claudius geführt wurden, die dann mit verweinten Gesichtern, am ganzen Körper schmerzempfindlich, zurückkamen, so spannen sich wilde Phantasien um diese Räume. Es handelte sich dort in Wahrheit wohl nur um eine ganz gewöhnliche Tracht Prügel; unsere junge Vorstellungskraft aber, stets mit den Bildern von Martyrium und Folter erfüllt, denen wir in den vielen schweigenden Klosterstunden ungestört nachhingen, zauberte hinter die geheimnisvolle Tapetentür eine wohlausgestattete Folterkammer mit Winden, Schrauben und Geißelpfahl. Denn was da oben wirklich geschah, das durfte keiner verraten – wohl damit die Angst vor dem Ungewissen desto quälender sei.

Die Prügeltreppe also mußte man gehen, wenn man ein Dichter war; das habe ich damals in zwingender Gegenständlichkeit erlebt, und als ich viele Jahre später auf der Seufzerbrücke in Venedig stand, fiel mir plötzlich der finstere Dezembernachmittag ein, an welchem ich neben dem schweigenden, schwarzen Bruder Friedrich die düstere Holztreppe hinaufstolperte.

Vor allem quälte mich der Gedanke, wie eine Abschrift meines Gedichtes überhaupt entstehen und in die Hände der Brüder kommen konnte. Der zerknitterte Zettel war nie aus meiner Brieftasche gekommen und befand sich auch jetzt darin. Meinem damaligen Seelenzustand entsprach es durchaus, daß ich mich sehr bald zu dem Glauben an ein Wunder entschloß; denn daß es dergleichen gab, wurde uns täglich vorgehalten, und von verschiedenen kleinen Gotteszeichen, wie etwa vom Zerreißen eines Rosenkranzes in bedeutsamer Sekunde oder vom nächtlichen Glühen eines Heiligenbildes wußte unter den Klosterschülern bald der, bald jener zu berichten.

*

Von Wunderglauben und Märtyrerbereitschaft beseelt, trat ich in das Heiligtum des Priors ein. Es war ein langes, ziemlich schmales Gemach, weiß und kahl, mit einer Kreuzgewölbdecke. An Stelle eines Tisches war ein sehr großes Doppelpult zu sehen, das fast den ganzen Raum einnahm und auf jeder Langseite drei oder vier Plätze hatte. Am Kopfende des Pulttisches saß in einem erhöhten, steifen Lehnstuhl gerade und unbeweglich wie eine Pharaonenstatue der hagere, bleiche Pater Claudius. Auf den etwas tieferen Seitenplätzen rechts und links von ihm bemerkte ich die Brüder Michael und Engelbert. Sie saßen in typischer Haltung, still, gottergeben und schläfrig, leicht vorgeneigt, und jeder hatte die Hände über dem Magen in die gegenseitigen Kuttenärmel geschoben. Ein Geruch von Weihwasser und alten Büchern lag über der eintönig dunklen Gruppe, nur die weißen Patten an den Halskragen der Talare und das silberne Kreuz auf der Brust des Priors schimmerten schüchtern und ernst durch die graue Dämmerung des Winternachmittags. Außer einem ziemlich großen Weihwasserbecken neben der Türe, einem bis zur Unkenntlichkeit verdunkelten Heiligenbild, und dem schmalen, schwarzen Kreuz über dem Haupte des Pater Claudius zeigten die kalkgetünchten Wände keinen Schmuck.

Auf meinen Gruß sprachen die drei Brüder gleichgültig leiernd die Antwortformel, ohne sich dabei irgendwie zu bewegen. Bruder Friedrich hieß mich durch ein Zeichen am unteren Tischende stehen bleiben und begab sich ohne Eile an seinen Platz am Pult. Während auch er die Hände in die weiten, schwarzen Ärmel schob, gab er, gleichtönig vor sich hinsprechend, einen genauen Bericht über alle Erfahrungen, die er jemals an mir gemacht hatte. Er erzählte, wie ich mich in der Schule hielt, wie ich die Klostervorschriften befolgte, und was sonst aus meinem sehr gleichförmigen Leben zu berichten war. Auch meine sonntägliche Abwesenheit wurde erwähnt, und zuletzt beschrieb er, was sich am Vormittag in der Schule zugetragen hatte, vermied aber – wie es mir schien im Einverständnis mit den andern – jede Andeutung, wie das Gedicht in seine Hände gekommen war.

Nach einer lautlosen Pause nahm Pater Claudius das Wort. Er nannte meinen vollen Namen, was allein schon höchst ungewöhnlich war, da wir sonst nur mit unseren Bettnummern gerufen wurden, und fuhr dann fort:

»Du bist ein Christenkind, ein Zögling des heiligen Aloisius, und wirst vor uns keine Lüge sprechen. Antworte mir also: Wer hat dieses Gedicht gemacht?«

Diese Frage nach einer ganz selbstverständlichen Sache kam mir sehr unerwartet, und ich schwieg einige Sekunden, weil ich damit gar nichts anzufangen wußte. Bruder Friedrich wandte sich langsam nach mir.

»Nun?«, fragte er halblaut.

»Ich – natürlich – ich –«, sagte ich da.

»Gut«, antwortete Pater Claudius. »Und wer hat dir dabei geholfen?«

Ich fühlte sehr gut die geringschätzende Voraussetzung in dieser Frage und sagte daher trocken:

»Niemand.«

»Denke genau nach«, sagte Pater Claudius. »Hast du zu keinem Menschen davon gesprochen?«

»Nein.«

Eine kurze Pause entstand. Die Brüder sahen ruhig vor sich hin; Pater Claudius richtete einen langen, geraden Blick auf mich, der gleichsam alle seine Fragen wiederholte und unterstrich. Dann sagte er:

»Hast du irgendwo Bücher, in denen Gedichte stehen?«

Ich hätte nur meine Schulbücher, sagte ich.

Er dachte ein wenig nach. Bruder Friedrich, der seine Gedanken erriet, sagte:

»Ich habe nachgesehen. Es kommt keines in Betracht.«

Wieder entstand ein Schweigen, wieder traf mich der forschende Blick. Mir war, als habe dieses Verhör den bestimmten Zweck, mich schuldig zu sprechen und zu verurteilen. Die Brüder dachten offenbar in dieser Richtung nach. Zugleich aber wußte ich, daß es ihnen nicht gelingen würde, mich mit Fug und Recht in die Folterkammer zu bringen, an deren Dasein ich in dieser Stunde fester denn je glaubte. Ein Unrecht aber würden sie nicht wagen. Gott war zugegen, und der knochige Prior mit dem Kreuz über dem Kopf und dem Kreuz auf der Brust war nicht minder in seine Hand gegeben, als ich. Das empfand ich mit tröstender Beruhigung, und hätte nicht die geheimnisvolle Kenntnis des Gedichtes und die mystischen Schauer dieses vielberufenen Ortes den Brüdern ihren Nimbus gewahrt und mich in scheuem Bann gehalten, so hätte sich der kühne Triumph, der in mir aufzustehen begann, wohl kaum niederdrücken lassen. Die Welt, in deren Namen ich hier zu stehen glaubte, erwies sich mir plötzlich als ebenso gottverwandt und vielleicht noch mächtiger, als jene andere, die meine vier finsteren Richter vertraten.

Ihr könnt mir nicht an. Denn was ich zu tun scheine, geschieht mit mir. Wie wollt ihr es hindern, ohne dabei auf den zu stoßen, der euer Richter ist?

Das war es, was in dieser Stunde undeutlich aber stark in mir zum Leben erwachte.

*

Pater Claudius begann wieder zu sprechen.

»Wir haben dich alle gehört,« sagte er, »ich habe dich vor der Lüge gewarnt. Nun wirst du uns beweisen, daß du die Wahrheit gesprochen hast; wir rufen Gott selber an, daß er für dich zeuge. Strecke deine rechte Hand aus und lege sie hier an die Tischkante.«

Ich fühlte mich wie auf einer Wolke schweben, als ich die zuckenden Finger nach der angegebenen Stelle ausstreckte. Die Brüder hatten die schwarzen Tonsurkäppchen abgenommen, als der Prior Gott anrief, und drehten langsam ihre Köpfe nach mir. Die unbarmherzig geraden Blicke von acht Augen lagen auf meiner Hand. Ich war im Innersten davon überzeugt, daß ein Blitz niederfahren oder meine Schwurfinger verdorren mußten, wenn irgend etwas von Lüge in mir war.

Ob die gewissenläuternde Spannung dieser Gottunmittelbarkeit lange oder kurz dauerte, weiß ich nicht zu sagen. Aber ich weiß, daß ich bis zu jenem Augenblick, da ich die Hand auf die Tischkante legte, in meinem ganzen Leben nichts von ähnlicher Tiefe und Bereitschaft erfahren hatte.

*

Was Pater Claudius dann noch sagte, daß die Gabe der Poesie ein Gottesgeschenk sei und uns nicht hoffärtig machen dürfe, indem wir auf das Ewige vergäßen und uns dem Irdischen ergäben, daß sie mein Gedicht von daheim bekommen hätten, wohin es die Tante geschickt, nachdem sie es auf der Suche nach Briefen und Fleißzetteln in der Manteltasche gefunden und schnell abgeschrieben hätte, während ich mit Rüppl Harmonika spielte und Fledermäuse aufjagte – alles das hörte ich nur halb und unklar, wie eine Predigt durch das geschlossene Kirchentor. Auch als der Pater mich am Ende aufforderte, alle künftigen Gedichte ohne jeden Umweg sogleich ihm selbst vorzulegen, war mir, als spräche er zu jemand ganz Fremdem.

Schweigend, bald fröstelnd und bald von seltsamen Glutwellen durchschauert, kam ich zu den Klosterschülern zurück, die mich neugierig, halb wissend, halb ahnend von der Seite ansahen und wahrscheinlich gerne erfahren hätten, welche Folter ich oben hinter der stummen Tür habe ausstehen müssen, um in wilder Vollendung davon zu träumen.

Aber ich konnte ihnen kein Wort sagen, und so vermuteten sie wohl, es müsse etwas ganz Unerhörtes gewesen sein.

*

Pater Claudius bekam kein zweites Gedicht von mir in die Hände.

Wahrscheinlich fragte er öfters danach, denn wiederholt wurden mein Bücher, Hefte und Notizen einer genauen Durchsicht unterzogen. Aber es fand sich nichts.

Denn erst als der Schnee geschmolzen war, die schöne Erde in Millionen Blüten aufging und das Kloster auf immer weit hinter mir lag, begann es in mir wieder zu dichten. Aber die gewissenerforschende Scheu diesen Stimmen gegenüber, die mir die Feder immer so schwer macht, ist wohl seit damals in mir geblieben.


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