Bruno Ertler
Die Königin von Tasmanien
Bruno Ertler

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Charakter

Mein Freund Robert und ich schliefen mitsammen in einem Zimmer, aßen am nahrhaften Tische einer Kostfrau, drückten ein und dieselbe Schulbank an einem kaiserlich-königlichen Staatsgymnasium und liebten zu gleicher Zeit mit gleicher Glut ein und dasselbe Mädchen, dessen Namen Robert in Schulbänke und Sessellehnen, ich hingegen in meinen lebendigen linken Unterarm schnitt, daß rotes, heißes Blut herausrann.

Man darf nun gar nicht glauben, daß diese unerträglich scheinenden Zustände irgendwie unsere Freundschaft gestört hätten; diese ging vielmehr mit allen romantischen Begleiterscheinungen einer knabenjungen Phantasie einher, wie sie in den märzherben Jahren zwischen vierzehn und siebzehn bald in langsamen Träumen, bald jäh aufflackernd den werdenden Mannescharakter vorausdeuten.

Daß Robert wuchtige Lettern in lebloses Holz grub, ich aber tief ins eigene, zuckende Fleisch schnitt, das war auch so eine Ahnung und gab ziemlich sicher den Grundton für alles weitere an. Denn während mein Freund unserer gemeinsamen süßen Unrast, die ein zierliches, blond-braunäugiges Mädel namens Minna war, an allen Ecken auflauerte, seine Männlichkeit durch hohen Kragen, Zigarette und Spazierstock betonte, ihr aller mütterlichen Wachsamkeit zum Trotz Briefchen zuschmuggelte und sogar hie und da ein Stelldichein erlebte, saß ich daheim am Fenster, schaute in den wunderbaren, gelbroten Brand der herbstlichen Baumwipfel und sehnte mich nach ihr in all der Schönheit. Und da sie nicht gegenwärtig war, dichtete ich sie mir mit großem Aufwand innerer Kräfte herbei. Auf diese Weise erlebte auch ich mein Glück, und wenn Robert glühend von seinen Erlebnissen nach Hause kam und mir mit flackernden Augen alles erzählte, so war keine Spur von Neid in mir. Ich drückte nur heimlich auf meinen zerschnittenen Arm oder tastete nach den Gedichten in meiner Brusttasche und fühlte alle die ziehenden, sehnenden, süßen Schmerzen, die er in Blicken, Worten und Küssen genoß.

Denn sie hatten einander geküßt – ach ja – er sagte mir genau, zu welcher Stunde, unter welchem Baum im Park es gewesen war; und am andern Abend schaute ich vom Fenster hinüber in die flüsternden, gelben Wipfel und machte mein schönstes Gedicht über diesen Kuß. Und ich las es ihm vor, denn er sollte sehen, daß auch ich was erlebte.

»Herrlich!« rief er, »du, das mußt du mir geben! Gib her! Ich schreib es nur ab, dann kannst du es wieder haben. Gib her! Du brauchst es ja so nicht –.«

»Ja – ja – natürlich. Ich will dir's diktieren«, sagte ich; und er schrieb fiebernd vor Freude, während ich mit tausend Schmerzen mein Werk herunterdeklamierte. Freilich, er hatte ja recht, mein Robert; wozu machte man so etwas, wenn man's ängstlich in die Lade sperrte?

Als er fertig war, schüttelte er mich an den Schultern, fiel mir um den Hals, tanzte wild mit mir durch die Stube, wobei er lachend Stühle umtrat und Bücher vom Tische stieß, gab mir verrückte Namen und schließlich küßte er mich so kräftig auf die Wange, daß ich seine Zähne spürte. Ich freute mich an seiner ungestümen, wilden Art und daß er mich überhaupt lieb hatte, und es schien mir plötzlich, als sei er in den letzten Wochen doppelt so groß und stark geworden. Mit einem raschen Entschluß griff ich in meine Tasche und hielt ihm das ganze Bündel Gedichte hin.

»Da hast du! Nimm! Ich habe das alles für sie gemacht – aber ich kann es ihr nun doch nie geben –. Nie –! Gib du ihr die Sachen, da freut sie sich wenigstens darüber –.«

Ich konnte plötzlich nicht recht weiter; meine Rede hatte offenbar zu viel inneres Schwergewicht. Etwas würgte mich. Aber Robert merkte nichts; er saß schon da und schrieb und schrieb.

»Die gebe ich ihr einzeln,« sagte er glühend vor Eifer, »weißt du, das sieht natürlicher aus. Denn sonst glaubt sie mir's am Ende nicht, das schlaue Luder.«

Es tat mir sehr weh, daß er sich so ausdrückte.

In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen.

Am andern Tage waren auch die schönen rotgelben Blätter auf einmal nicht mehr da, denn es war plötzlich Reif gefallen. Da hörte auch mein Dichten auf, und meine unglückliche Liebe trieb einen harten, spitzen Kristall nach innen.

*

Als der Winter eine glatte Eisbahn brachte, empfand ich das als eine Erlösung. Ich hatte nun etwas, was Körper und Geist in gleicher Weise gefangen nahm, und meine ganze gestaute Leidenschaft warf sich auf Pirouetten, Bogen und Schlingen, so daß ich bald zu den allseits anerkannten Künstlern gehörte, die, in einer abgegrenzten Ecke ringsum angestaunt, mit beachtenswerter Grazie ihre Kreise zogen.

Unser Ideal hatte ich einige Male auf der Eisbahn vorbeigleiten sehen; da sie aber Robert »angehörte«, sah ich ihr nicht nach. Das war freilich schwerer, als es den Anschein hatte. Aber es ging.

*

Eines abends warf Robert das Physikbuch, aus dem wir eben lernten, plötzlich auf den Tisch, sprang auf, stieß seinen Stuhl zur Seite, sagte: »Dumme Gans!« und ging in langen Schritten auf und nieder. Ich sah ihm eine Weile zu, dann fragte ich:

»Was hast du denn?«

»Jetzt rennt sie mir jeden Nachmittag auf die Eisbahn –!« rief er.

Es gab mir einen kleinen Stich, wie immer, wenn von »ihr« die Rede war.

»So geh doch auch«, sagte ich ruhig.

»Das ist mir zu dumm!« antwortete er zornig, »und überhaupt: Ich kann's ja gar nicht –.«

»Ich werd' es dir schon zeigen.«

»Ach was! Das lernt sich nicht so schnell. Und dann können's alle andern besser und sie lacht mich aus!«

»Schade«, sagte ich.

»Ja, du! Du hast es gut. Du bist ein Künstler. Alle wollen's dir nachmachen. Neulich hat sie dir zugeschaut und mich dann nach deinem Namen gefragt.«

Mein Herz pochte unglaublich schnell und stark. Aber ich brachte es fertig, indem ich im Physikbuch fest auf die Atwoodsche Fallmaschine starrte, ganz ruhig zu bleiben.

»So?« sagte ich scheinbar nebenhin.

»Ja. Hörst du: jetzt laß diesen Schmarren da!« rief Robert, indem er vor mir stehen blieb und mir das Buch vor der Nase zuklappte, »Gestern habe ich den Högemann und den Wellheim mit ihr herumschleifen sehen. Das gibt's nicht! Denen hau ich die Rippen ein, wenn wir im Frühjahr wieder Fußball spielen. Aber es ist noch nicht Frühjahr. Und das gibt's aber trotzdem nicht! Deshalb brauche ich dich. Ich stelle dich morgen vor, und du läßt sie nicht aus, solange sie auf der Eisbahn ist. Dann sollen die zwei faden Kerle nachschauen!«

Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf schoß. Wütend drückte ich auf meinen tätowierten Arm.

»Also ja?« sagte Robert. »Nicht wahr, du tust mir das? Wir sind doch Freunde!«

Er legte einen ganz schweren Charakterton auf das letzte Wort.

»Ja, ich bin dein Freund«, sagte ich feierlich und gab ihm die Hand; es war mir zu Mute, wie einem Bekenner, zu dessen Füßen eben der Scheiterhaufen angezündet wird. Aber ich zuckte mit keiner Wimper und spürte nicht ohne Stolz, wie fest mein Charakter war.

Dann lernten wir mit grimmigem Eifer die Gesetze der Schwerkraft, die alle Körper, ob gute oder böse, unweigerlich zur Erde zieht.

*

Mit meiner schönsten Verbeugung und einem männlichen Händedruck nahm ich am nächsten Tage die Schöne sozusagen aus den Armen meines Freundes Robert entgegen, fest entschlossen, jede Gefahr für sie zu wagen und das Kleinod wieder seinem Besitzer zurückzustellen, wenn er es von mir fordern würde.

Högemann und Wellheim kreuzten mehrmals unsere Bahn, und einmal stießen sie nicht ganz absichtslos an mich an. Aber ich war sehr sicher auf den Eisen, und beim nächsten Versuch flog Wellheim kläglich vor die Füße meiner schönen Partnerin. Sie lachte hell auf.

»Das war recht!« sagte sie zu mir, »ich kann diese zwei Gigerln nicht leiden –.«

Zufällig drückte sie mir hierbei fest die Hand, denn wir waren eben an der Kurve und mußten übertreten.

Die Unterhaltung mit meiner Schönen kam nie ins Stocken. Wir verstanden uns rätselhaft gut. Auch wurde ich nie müde, sie heimlich anzusehen, freute mich an den schmalen, kleinen Händen, die in ungemein feinen Lederhandschuhen staken und in meinen griffigen Wolltatzen vollkommen verschwanden, bemerkte mit nie gekannter Lust, daß an ihren winterfrischen Wangen ein zarter Flaum zu sehen war, wie ich ihn bisher nur an reifen Pfirsichen kannte, daß ihr Kinn merkwürdig fest, der Mund hingegen kindlich weich war, und daß sie zwischen den seltsam goldbraunen Augen ein kleines Trutzfältchen hatte, das mir ganz besonders reizend erschien. Ich suchte herauszubringen, was für ein Charakter sich da bildete, denn solcher Art waren damals meine liebsten Gedanken, und ich hatte schon manches Buch durchstudiert, das mit erstaunlicher Gelehrsamkeit über die Zusammenhänge von Gesichtsbildung und Charakter handelte. Bei Minna aber versagte mein wissenschaftliches Urteil vollkommen. Ich kam überhaupt gar nicht zu ruhiger Betrachtung und befürchtete nur, ihr Charakter könnte am Ende mit dem meinen nicht recht zusammenklingen. Dann kam es mir wieder in den Sinn, daß alle diese Erwägungen ganz zwecklos waren – denn sie gehörte ja doch meinem Freund, wie ich mit Wehmut, aber neidlos feststellte. Und ich begann, wie um mich vor mir selbst zu rechtfertigen, allsogleich von Robert zu sprechen und lobte seinen hellblonden Scheitel, seine lustigen Augen und seine Kraft und Gewandtheit. Aber Minna zog die Trutzfalte fester, warf wie ein junges Pferdchen das Kinn und sagte nur: »Ach der –« oder sie schwieg überhaupt. Ich glaubte zu verstehen, und um ihre Zartheit nicht zu beleidigen, sprang ich von diesem Thema ab und erzählte von Berg und Feld und Wald meiner Heimat, von Erlebnissen und Abenteuern, deren vage Voraussetzungen ich vielleicht irgendeinmal wirklich erlebt hatte und die ich nun mit wunderbar beschwingter Phantasie in kühne Ranken auswachsen ließ, so daß ich am Ende selbst daran glaubte. Sie hörte atemlos zu, und zuweilen blieben wir ganz von selber stehen, und während wir uns an den Händen hielten, kam in die goldbraunen Augen ein lebendiges Schimmern und Leuchten, und einmal rief sie:

»Es ist so schön, wenn Sie erzählen – man glaubt, man erlebt es wirklich.«

Ich war verwirrt.

»Ach das ist nur so«, sagte ich, indem wir weiterliefen.

»Machen Sie auch Gedichte?« fragte sie unvermittelt.

Ich erschrak.

»Nein,« log ich, »eigentlich nicht –. Nur einmal hab ich's probiert aber das ist schon sehr, sehr lange her –.«

*

»Jetzt tuscheln sie über euch zwei,« sagte Robert einmal, als der Winter schon zu Ende ging, »weil ihr immer beisammen seid. Sollen sie nur, die dummen Esel!«

»Mach dir nichts daraus,« sagte ich, »wir wissen's ja doch besser.«

»Es ist mir auch gleich. Wenn wir wieder Fußball spielen, trete ich ihnen doch die Schienbeine ein«, sagte Robert grimmig, und zögernd fügte er hinzu: »Deswegen war es nicht –.«

»Warum also?« fragte ich.

»Wegen Minna.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich weiß es nicht. Das ist es ja eben. Früher hab ich immer gewußt, was mit ihr ist. Sie ist anders.« Und indem er mich mit einem schnellen Blick ansah, fragte er: »Hast du ihr etwas gesagt?«

»Was sollte ich –?«

»Von den Gedichten, mein ich –.«

»Kein Wort! Daß du überhaupt so etwas denken kannst! Wir sind doch Freunde!«

Ich war stürmisch bewegt. Mein Gewissen war rein wie ein Kristall, und dennoch empfand ich eine schamvolle Unruhe. Eine ungeheure Freude jubelte in mir auf, aber zugleich rief eine harte, feste Stimme: »Schweig!«

»Sie merkt was,« sagte Robert, »neulich hat sie in einemfort von deiner Phantasie gesprochen – und als ich sie küßte, da war sie gar nicht recht dabei. So was spürt man.«

Der Sturm in mir wurde zum Wirbel. Wie er da so vom Küssen sprach – ich hätte ihn erwürgen oder mit ihm durch die Stube tanzen mögen! Aber nichts von dem geschah. Im Gegenteil: Wie der Spartaner, dem ein geraubter Fuchs die Brust zerfleischte, zuckte auch ich mit keiner Wimper. Ich erlebte mit vollem Bewußtsein den Heroismus jenes Jünglings aus marmorner Vergangenheit, als ich ruhig zu meinem Freunde sagte:

»Wenn du es willst, so rede ich kein Wort mehr mit ihr und schau sie auch gar nicht mehr an.«

Eine Pause entstand.

»Nein,« sagte er dann, und seine Stimme, die sonst immer hell und angriffslustig klang, hatte einen weichen, tiefen Unterton, »Jetzt gerade nicht. Es soll eine Probe sein. Ich kenne dich. Du bist mein Freund. Wenn etwas anders wird – du bist nicht schuld.«

*

Es soll eine Probe sein.

Frohe, helläugige Jugend, die das sagte!

Mit einem Freunde Hand in Hand gehen und wissen: Du bist reinen Herzens! Wer das kann, dem braucht vor keinem Schicksal bang zu sein.

*

Stet und still diente ich seiner Sache, lenkte Minnas Blick immer wieder auf seine Vorzüge, selbst auf die Gefahr hin, ihren Unwillen damit zu erregen, was leider meistens der Fall war. Auch meine stille Annahme, daß sie nur mir gegenüber kein Interesse an Robert verriet, um ihr Geheimnis keinem Dritten preiszugeben, erwies sich bald als ein Irrtum. Denn immer fand ich meinen Freund wortkarg und verdrossen, voll Unruhe und zu jähem Zorn geneigt, selbst dann noch, als ein merkwürdig aufwühlender, warmer Wind längst schon alles Eis gebrochen hatte und eilige, vielförmige, weiße Wolken über den blauen Märzhimmel trieb. Die Dachtraufen rieselten, und vor der Stadt rochen die braunen Felder aufregend nach junger Erdenkraft. Mir war noch nie ein Frühling so persönlich, so gewaltig und auffordernd erschienen. Ohne Hut, den Hemdkragen offen und die Hände auf dem Rücken bohrte ich meinen Kopf in den angreifenden Wind, der meine Gefühle und Gedanken ungefähr ebenso durcheinanderwühlte wie meinen ungezähmten Schopf. So unklar mir mein Selbst im einzelnen war, so mächtig und eindeutig war die Summenwirkung aller dieser Vorgänge: Freude, ungestüme, gottunmittelbare Freude ohne warum und darum. Ich verstand nun mit einem Male, was es hieß: Der ganzen Welt um den Hals fallen mögen.

Aber Robert, mein Freund, trug schweres Leid. Er wurde blaß und einsam; nicht einmal auf den Fußballplatz war er zu bringen. Manchmal sah er mich traurig an, und ich wartete, daß er was sagen würde. Aber es schien, als finde er das Wort nicht. Da nahm ich das Heft in die Hand.

»Was ist mit dir?« fragte ich geradezu.

»Nichts«, sagte er trüb. »Es ist aus.«

»Was?«

»Du weißt es schon.«

Ich war fassungslos.

»Das darf nicht sein!«

»Wie willst du's ändern?«

»Ich sage es ihr ganz einfach.«

»Was?«

Ich wußte nicht gleich, was ich ihr sagen würde. Aber das machte mir keine Sorge.

»Ich gehe zu ihr,« sagte ich, »und werde ihr den Kopf zurechtrücken. Ich bin doch dein Freund.«

Robert sah mich nachdenklich an. Zweifel und Hoffnung stritten in seiner Miene. Er zuckte die Achseln.

»Wenn du glaubst –.«

*

Einige Tage später gingen wir beide mit sehr verschiedenen Gefühlen durch die engen, holprigen Gassen des Städtchens, bis wir vor dem alten Giebelhause standen, das vom Scheitel des Torbogens ein großes, mit schmiedeeisernen Ranken und Nelken verziertes Schild in die Gasse vorstreckte, an welchem aus schwarzem Eisenblech geschlagen die Silhouette eines Zinnkruges zu sehen war. In sämtlichen Fenstern des niedrigen Erdgeschosses standen und hingen Zinnhumpen, Krüge, Becher, Schüsseln und Teller, deren Flächen und mannigfache Zierate in mattgrauem Glanze behäbig aber unaufdringlich schimmerten. Alle Eigentümer dieses uralten Hauses waren bürgerliche Zinngießer gewesen, auch Minnas Vater hatte zu seinen Lebzeiten dieses Handwerk mehr überwacht als selbst betrieben.

Trotz meiner dringenden Anforderung wollte Robert nicht mit hinaufkommen.

»Ich bleibe hier unten und warte«, sagte er, indem er mir entschlossen die Hand drückte.

Langsam ging ich die alte Holzstiege hinauf, freute mich an dem geräumigen Vorhaus mit dem weißen Stiegengeländer, darauf die Märzsonne spielte, und betrachtete voll Interesse einige riesige, sehr alte Zinnteller, die auch hier an der Wand hingen. Ich war eben bemüht, eine verschnörkelte Inschrift zu entziffern, als eine Tür aufging und Minna vor mir stand.

Lieber Gott! Wie war sie schön!

Ich hatte sie bisher nur im Straßenkleid gesehen und erlag nun rettungslos dem Zauber einer netten, weißen Spitzenschürze, die sehr vorteilhaft ihre Häuslichkeit betonte. Auch das sonnenblonde Haar hatte ich noch nie unbedeckt gesehen, und die erwartungsvolle, frohe Spannung in den goldbraunen Augen, die lächelnd auf mich schauten, machte mich einen Augenblick vollends verwirrt und grub zugleich eines jener unvergänglichen Bilder in meine Seele, die uns mehr geben, als alle Weisheit der Welt.

Dieser tief lebensvolle Augenblick in dem sonnenstillen, weiten Stiegenhaus glitt indes schnell vorbei, und Minna hieß mich in das Zimmer eintreten, aus dem sie gekommen war. Da ich mich am Vortage brieflich angemeldet und artig auch einen »Handkuß an die Frau Mama« beigefügt hatte, war ich ein wenig erstaunt, zu erfahren, daß die Mutter zufällig gerade nicht zu Hause war, empfand jedoch die Situation deswegen weder unpassend noch peinlich. Im Gegenteil: Ich würde nun mein Anliegen ungeschminkt und schneller vorbringen können. Minnas Mutter hätte diese heikle Sache wohl kaum richtig beurteilt.

Mit solchen Gedanken nahm ich auf einem der alten Sessel Platz, die wie die übrige Einrichtung des Zimmers aus Urgroßvaters Tagen schicksalverständig herüberlächelten, während mein heimlich geliebtes Mädchen sich vor das merkwürdig alte, lange, dünnbeinige Klavier setzte, auf dessen Notenbrett ein Heft aufgeschlagen war, als habe sie gerade etwas gespielt. Und während ich in einer ziemlich gespannten Pause den Hut in der Hand drehte und nach dem anknüpfenden Wort suchte, kam sie mir mit der sehr naheliegenden Frage zuvor, ob ich Klavier spielte.

»Eigentlich nicht –«, sagte ich zögernd; meine Klavierlehrerin kam mir in den Sinn, die – nach ihrer Aussage – den Versuch, mich musikalisch zu bilden, mit einem schweren Nervenleiden bezahlt hatte.

»Schade,« sagte Minna, »wir hätten sonst hie und da vierhändig musizieren können. Denn mit dem Eis ist's ja nun leider aus –.«

»Aber Robert,« sagte ich unvermittelt, indem ich an meine Mission dachte, »Robert spielt recht gut –.«

Sie überhörte das anscheinend; nur die kleine Trutzfalte zuckte ein wenig, während sie suchend im Notenheft blätterte.

Wieder war es still. Durchs offene Fenster hörte ich jetzt die Schritte meines Freundes, die in der leeren, engen Gasse sonderbar eindringlich gleichmäßig auf das Steinpflaster schlugen.

»Sie sollten nicht hart mit ihm sein,« begann ich da, »ich weiß ja, wie sehr er Sie lieb hat – und er leidet so schwer – man soll nicht eines Menschen Glück zerstören –.«

Ich hatte mir eine große Wirkung von meinen schönen, zu Herzen gehenden Worten erhofft; aber Minna sah mich nur mit einem langen, fragenden Blick an, und es zuckte um ihren Mund. Da wäre ich nun freilich am liebsten hingesprungen, hätte sie auf diesen Mund geküßt, ihre Haare gestreichelt und ihr unter Lachen und Weinen gesagt, wie anders all mein Leben war, seit ich sie kannte, ihr gedankt und sie gebeten, mir ein wenig gut zu sein; hätte ihr wohl auch gesagt, wie ich mich darnach sehnte, mit ihr einmal draußen über Hügel und Felder zu gehen, wenn die Amseln rufen und die Erde vor Leben aufspringt, und daß ich ihretwegen immerzu dichten mußte und ihren Namen jede Woche von neuem in meinen Arm schnitt.

Aber ich sagte nichts; ich blieb ruhig sitzen und zerknitterte nur ein wenig die Krämpe meines Hutes.

»Jetzt hab ich es –«, hörte ich plötzlich wie von weit her Minnas Stimme.

»Was denn?« fragte ich mechanisch.

»Das Lied – mein Lieblingslied – kennen Sie es?«

Sie schlug einige Akkorde an, die bald in eine Weise übergingen, die mir bekannt war. Es war ein sentimentales, kleines Liebeslied, das die Mädchen meiner Heimat an Sommerabenden sangen, wenn sie untergefaßt durch die dämmernden Dorfstraßen gingen und sich nach der Liebe sehnten. Von einem Herzen war da die Rede, das im Traume gefunden und zum Himmel emporgehoben wird.

Minna legte sehr viel Empfindung in das kleine Lied, und wenn sie zu besonders ausdrucksvollen Stellen kam, schaute sie mich mit großen Augen an. Ich glaubte zu verstehen. Indem sie da von einem liebenden Herzen sang, kam ihr das ganze Erleben der vergangenen Monate wieder lebhaft ins Gedächtnis, und solcherart schienen mir die Töne den verlorenen roten Faden wieder anzuknüpfen, der sie mit meinem Freunde verband. Während ich noch in der Betrachtung dieses hochinteressanten Seelenereignisses versunken dasaß, hatte sie zu spielen aufgehört und verharrte eine Weile stumm in jener Stellung, die man oft beobachten kann, wenn jemand fliehenden Tönen durch eine leichte Neigung des Körpers gleichsam ein wenig nachgeht. Sie schien mir sehr bewegt, und ich sah den richtigen Augenblick gekommen, indem ich im stillen auf meine Seelenkenntnis stolz war.

»Nun also –,« sagte ich möglichst schonend, »dann wird ja alles wieder werden – nicht wahr?«

Sie hob den blonden Kopf, als hätte ich sie aus tiefen Träumen erweckt. »Wie –?« fragte sie.

»Nun – das mit Robert. Das war wohl nur eine kleine, vorübergehende Trübung nicht wahr? Das ist ja schon wieder vorbei –.«

Da aber sah sie mich so voll Schreck an, als hätte ich das grausamste Wort gesprochen, fiel im selben Augenblick vornüber auf das Lampenbrettchen des Klaviers und weinte herzzerbrechend.

Ich sprang auf und ging auf sie zu.

»Aber – was haben sie –? Was ist –?«

Sie schüttelte den Kopf, ihre Schultern hoben und senkten sich stoßend; ich sah: Ein ungeheurer Schmerz war hier am Werk.

Bang schlichen die Sekunden. Ein Sonnenstrahl funkelte plötzlich in einem Glasschliff auf der Kommode, vor dem Fenster hörte ich ruhige, gleichmäßige Schritte.

»Weinen Sie doch nicht,« sagte ich, indem ich ihr übers Haar zu streifen versuchte. Aber der blonde Kopf zuckte von meiner Hand weg.

»Weinen – Sie – nicht –«, sagte ich wieder. Aber sie schluchzte weiter.

Da nahm ich meinen Hut und ging.

Das weite Vorhaus, das helle Treppengeländer, die mattschimmernden Zinnteller – alles schwebte an mir vorbei, unwirklich und fremd. Eine große, weiße Katze, die im sonnigen Fenster saß, schaute mir mit runden Augen, gleichsam kopfschüttelnd nach.

*

An der nächsten Ecke wartete Robert.

»Nun – was ist?« war seine schnelle Frage.

»Sie weint«, sagte ich.

»Warum?«

Ich zuckte die Achseln.

»Sie hat gesungen«, sagte er.

»Ja – auch. Aber jetzt weint sie.«

Wir gingen wortlos weiter. Oft wollte ich zu reden beginnen – aber ich konnte nicht. Alles, was ich sagen wollte, kam mir unecht und dumm vor. Zum erstenmal in meinem Leben empfand ich rücksichtslos die Armseligkeit des Wortes, wenn die Ereignisse stürmen. Liebe, Freundschaft, Charakter – wie diese durchwegs schönen, einfachen und geraden Begriffe sich nun plötzlich stießen, bekämpften und verhöhnten, daß mir ordentlich das Herz aus den Fugen gehen wollte, das war mir vollkommen neu und unerhört, schien mir noch nie dagewesen und auch in keinem Buche zu stehen. Ich rannte in einem stürmischen Takt durch die Gassen, die mir plötzlich noch enger erschienen, und machte zuweilen mit der Hand eine jähe, eckige Geste, so daß mein Freund mich verwundert anschaute.

Plötzlich hatten wir Wiese und Feld um uns. Die Erde dampfte, der kleine Bach riß wild und angriffslustig ganze Stücke vom feuchten Ufer, hoch oben hielten junge, kecke Wolken der Sonne abwechselnd die Augen zu.

Ich schleuderte meinen Hut in die Luft, stieß einen lauten Juchschrei aus, und während Robert mich ganz erstaunt anschaute, hatte ich ihn schon gepackt, und im nächsten Augenblick balgten wir uns wie zwei junge Hunde, feindlich und lachend zugleich auf dem weichen Boden.

Und ich weiß nicht, wie es kam: Ich kriegte ihn mühelos unter, obgleich er sich ernsthaft wehrte und sonst immer der Stärkere gewesen war.


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